M. Artzibaschew
Ssanin
M. Artzibaschew

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XI

»Wollen wir zu mir gehen, um des in Gott entschlafenen treuen Knechtes zu gedenken,« sagte Iwanow feierlich zu Ssanin.

Ssanin nickte schweigend mit dem Kopf.

Im Vorbeigehen kauften sie in einem Laden Wodka und einige Kleinigkeiten zum Essen und holten dann Jurii Swaroschitsch ein, der langsam mit gesenktem Kopf den Boulevard entlangschritt. Der Tod Semionows hatte auf Jurii trübe und niederdrückend eingewirkt; es schien ihm ganz unmöglich, sich damit abzufinden.

– – – Ja, das ist so; das alles ist sehr einfach. – – – Jurii versuchte in seinen Gedanken eine gerade und kurze Linie zu ziehen. Der Mensch existiert nicht früher, als bis er geboren ist und niemandem scheint das entsetzlich und unbegreiflich. Der Mensch wird nicht mehr sein, wenn er gestorben ist, und das ist gerade so einfach und verständlich. Der Tod als völliges Stehenbleiben einer Maschine, die die Lebenskraft produzierte, ist vollkommen natürlich, und es gibt nichts darin, was Entsetzen einflößen könnte. Es gab einen Jura, der einst aufs Gymnasium ging, seinen Feinden in der Sexta die Nasen blutig schlug und Distelköpfe mit Stöcken abhieb. Er besaß ein eigenes und wunderbar kompliziertes Leben. Dann ist dieser Jura gestorben, und jetzt geht an seiner Statt ein ganz anderer Mensch herum, der Student Swaroschitsch. Könnte man diese beiden gegenüberstellen, so würde Jura nicht imstande sein, Jurii wiederzuerkennen. Ja, er würde sogar gegen ihn einen instinktiven Haß empfinden, wie gegen einen Menschen, der sein Repetitor werden soll und ihm noch eine Menge Unannehmlichkeiten bereiten kann. Folglich liegt zwischen ihnen eine breite Kluft, folglich ist der Junge Jura wirklich gestorben ... ich selbst bin gestorben, und habe es bis jetzt noch nicht einmal bemerkt.

Das war so einfach und natürlich geschehen. Und mit allem, was wir im Tode verlieren, wird uns im Grunde nichts genommen. Im Leben gibt es auf jeden Fall mehr unangenehme als freudige Ereignisse. Zwar wird es einem schwer, auch die wenigen Freuden hingeben zu müssen. Aber die Befreiung von der Last des Schlechten, die der Tod mit sich bringt, muß doch zuletzt ein Plus ergeben.

»Ja, wirklich, das ist ja ganz einfach und gar nicht furchtbar,« sagte Jurii leise mit einem erleichternden Seufzer vor sich hin, aber sofort unterbrach wieder ein schneidendes Gefühl feinsten, seelischen Schmerzes diesen Gedanken. Nein, daß eine volle, lebende, unendlich feine und komplizierte Welt in einem Augenblick in ein Nichts verwandelt wird, in einen Klotz, in ein gefrorenes Scheit, das ist nicht mehr die Verwandlung des Knaben Jura in Jurii Swaroschitsch, sondern das ist eine bis zum Ekel abschreckende Widersinnigkeit und darum entsetzlich und unbegreiflich.

Ein feiner, kalter Schweiß bedeckte die Stirn Juriis. Er mußte alle Kräfte seines Hirns zusammennehmen, um sich den Zustand, den zu erleben jedem Menschen unmöglich erscheint und den doch ein jeder erleben wird, vorzustellen. So wie ihn eben Semionow erlebt hatte. Und der war auch nicht vor Angst gestorben, dachte Jurii und lächelte über das Sonderbare dieses Gedankens. Er verspottete sogar noch diesen Popen, den Gesang und die Tränen.

Es schien, daß hier irgend ein Punkt verborgen sein mußte, der, wenn er erst einmal begriffen war, auch alles andere erleuchten würde.

Aber zwischen seiner Seele und diesem unbekannten Punkt befand sich eine dichte, undurchdringliche Mauer. Seine Gedanken glitten über eine ungreifbar glatte Fläche und in dem Augenblick, als er glaubte, der Lösung des Rätsels nahe zu sein, befanden sie sich wieder unten auf demselben Platz. Und nach welcher Seite er auch das Netz der feinsten Gedanken und Vorstellungen auswarf, er fing nur immer dieselben platten und bis zur Schmerzhaftigkeit überdrüssigen Worte: Entsetzlich und unbegreiflich.

Dieses Spiel quälte und schwächte ihn seelisch und körperlich. Bis ins Herz stieg die wehe Trübsal, die Gedanken wurden farblos, der Kopf begann zu schmerzen und ihm kam der Wunsch, sich jetzt hier auf dem Boulevard niederzulegen, und alles, alles beiseite zu schieben, – selbst die Tatsache des Lebens.

Aber wie konnte Semionow lachen, da er wußte, daß nach einigen Augenblicken das Ende kommt? Was war er? Ein Held! Nein, das hatte mit Heldentum nichts zu tun. Es bedeutete einfach: Der Tod ist nicht so schrecklich, als ich denke.

In diesem Augenblick rief ihn Iwanow an: »Ach, Sie sind es?« Jurii fuhr mit dem ganzen Körper zusammen.

»Ja, und des Sterbens des soeben dahingeschiedenen Knecht Gottes gedenkend,« antwortete fröhlich und gerötet Iwanow.

»Wollen Sie mit uns gehen? Warum treiben Sie sich immer allein herum?«

Jurii war es so ängstlich und traurig zumute, daß ihm Ssanin und Iwanow nicht so antipathisch wie sonst erschienen.

»Schön, wollen wir gehen!« – Doch kaum hatte er eingewilligt, als er sich seiner Ueberlegenheit erinnerte und sich sagte: Nun, was werde ich mit ihnen anfangen. Wodka saufen und Gemeinheiten reden. Er wollte sich schon zwingen, die Einladung doch noch abzulehnen, aber sein ganzes Wesen widerstrebte der Einsamkeit und so ging er mit ihnen mit.

Iwanow und Ssanin schwiegen; sie gingen ohne ein Wort bis zur Wohnung Iwanows. Es war schon tiefe, nächtliche Dunkelheit und nur auf einer Bank an der Pforte spukte die Figur eines Menschen, der einen dicken gekrümmten Knüppel in der Hand trug, herum.

»Ah, Onkel? Pjotr Iliitsch?« rief laut Iwanow.

»Ich!« rollte es im tiefsten Ton einer menschlichen Stimme zurück; kraftvoll und männlich schallte es durch die Luft.

Jurii erinnerte sich, daß der Onkel Iwanows ein dem konsequenten Trunk ergebener Sänger des Domchors war.

Er hatte einen grauen Schnurrbart, wie ein Soldat Nikolai des Ersten und sein abgetragenes Jackett strömte einen häßlichen Geruch aus.

»Bububu,« – klang es wie ein dumpfer Stoß gegen ein leeres Faß von ihm her, als ihn Iwanow mit Jurii bekannt machte. Jurii reichte ihm eingeschreckt die Hand und wußte nicht, was er sprechen und wie er sich ihm gegenüber benehmen sollte. Doch im Augenblick fiel ihm ein, daß ja für Jurii Swaroschitsch alle Menschen gleich sein müßten, und so ging er neben dem alten Sänger einher, wobei er darauf achtete, ihn bei jeder Gelegenheit höflich voranschreiten zu lassen. Iwanow wohnte in einem Zimmer, das einer Rumpelkammer mehr als einer menschlichen Wohnstätte ähnelte, so viel Plunder, Staub und Unordnung war da. Doch als ihr Wirt die Lampe ansteckte, sah Jurii, daß alle Wände mit Gravüren von Wasnitzow beklebt waren und die Haufen Plunder entpuppten sich als Bücherstöße.

Jurii fühlte sich immer noch etwas peinlich berührt, und um es zu verbergen, begann er aufmerksam die Bilder zu betrachten.

»Lieben Sie auch Wasnitzow?« fragte Iwanow, wartete aber nicht auf die Antwort, sondern lief fort, um das Geschirr zu holen. Ssanin erzählte Pjotr Iliitsch, daß Semionow gestorben sei.

»Mög' ihm das Himmelreich beschieden sein,« so ertönte es wieder wie aus einem Bierfaß zurück. Und nach kurzem Schweigen fügte Pjotr Iliitsch hinzu: »Nun gut, so ist also alles vollbracht.«

Jurii sah ihn nachdenklich an und empfand mit einemmal Sympathie für den Alten. Iwanow kam zurück, brachte Brot, saure Gurken und Weingläser. Er stellte alles auf dem Tisch zurecht, der mit Zeitungspapier bedeckt war, und mit einem kurzen Schlag der Handfläche gegen die Flaschenböden trieb er die Pfropfen hinaus, ohne einen Tropfen zu verschütten.

»Das ist geschickt!« lobte Pjotr Iliitsch.

»Man merkt es doch gleich, wenn ein Mensch sein Handwerk versteht,« scherzte Iwanow selbstgefällig und goß die grünlich-weiße Flüssigkeit in die Gläschen ein.

»Nun, meine Herrschaften,« er nahm sein Glas in die Hand und erhöhte seine Stimme, – »auf die Ruhe der Seele und alles sonstige.«

Man griff zum Essen und trank bald mehr und mehr. Es wurde nur wenig gesprochen. Zumeist tranken sie.

In dem kleinen Zimmer wurde es bald heiß und dumpf. Pjotr Iliitsch zündete eine Zigarette an und überschwemmte alles mit blauen Streifen schlechten Tabaksqualmes. Von dem Wodka, dem Rauch und der Hitze begann Jurii der Kopf zu schwindeln.

Er erinnerte sich wieder an Semionow: »Eine dumme Geschichte ist der Tod!«

»Warum denn?« fragte Pjotr Iliitsch, »der Tod, – oho – aber im Gegenteil, er – er ist ja etwas durchaus Notwendiges. Der Tod, – und wenn man ewig leben sollte. Oho! – Nehmen Sie sich in acht, – – so zu sprechen. Ewiges Leben – was ist das? ...«

Jurii dachte plötzlich, daß falls er ewig leben sollte ... Vor ihm breitete sich ein unendlicher grauer Streifen aus, der sich qualvoll und ziellos im Leeren aufrollte, als wenn er von einer Walze auf die andere herübergezogen würde. Jede Vorstellung von Farben und Lauten, von Tiefe und Fülle der Erlebnisse verwischte sich und verblaßte wieder, zerrann zu einer grauen Masse, die ohne Bett und Strömung dahinfloß. Das war nicht mehr Leben, das war wieder Tod. Jurii wurde geradezu schreckhaft ängstlich.

»Ja, gewiß!« murmelte er.

»Auf Sie scheint der Tod einen großen Eindruck gemacht zu haben,« bemerkte Iwanow.

»An wem könnte er so vorübergehen?« fragte Jurii statt einer Antwort.

Iwanow nickte unbestimmt mit dem Kopf und fing an, Pjotr Iliitsch von den letzten Augenblicken Semionows zu erzählen.

Im Zimmer wurde es allmählich unerträglich schwül. Jurii beobachtete mechanisch, wie der Wodka, im Schein der Lampe glänzend, in die dünnen, roten Lippen Iwanows hineinfloß und fühlte, wie alles um ihn langsam zu drehen und zu zerrinnen begann. »Aaaaah –,« sang es in seinen Ohren mit dünner, geheimnißvoll trauriger Stimme.

»Nein, der Tod ist eine furchtbare Sache,« wiederholte er, ohne es selbst zu bemerken, als müßte er dieser geheimnisvollen Stimme eine Antwort geben.

»Sie sind zu nervös,« meinte Iwanow mit noch lässigerer Herablassung zu ihm.

»Und können Sie das nicht empfinden?«

»Ich – nein, nicht! Zu sterben habe ich gewiß keine Lust. Das ist eine dumme Geschichte und es ist ganz ohne Vergleich vergnüglicher zu leben ... Aber wenn es denn einmal zum Sterben kommt, gut, ich mache mit. Ich sterbe innerhalb einer Stunde und ohne jeden Apparat.«

»Du stirbst nicht und weißt deshalb nichts davon,« sagte Ssanin lächelnd.

»Das stimmt auch,« Iwanow lachte auf.

»Alles das haben wir schon gehört,« Jurii sprach plötzlich mit trübseliger Erbitterung. »Reden kann man vieles, aber Tod bleibt Tod. Er ist an sich entsetzlich. Und einem Menschen, der sich– – –nun, der sich von seinem Leben Rechenschaft gibt, dem muß dieses im Keim tödliche, gewaltsame Ende jede Lebenslust ertöten.«

»Was hätte das für einen Sinn? ...«

»Auch das haben wir schon gehört,« unterbrach ihn spöttisch Iwanow, der plötzlich ebenfalls erbittert wurde. »Ihr meint alle, daß nur ihr ...«

»Welchen Sinn hat es?« fragte nachdenklich Pjotr Iliitsch.

»Aber gar keinen,« brüllte Iwanow mit derselben unbegreiflichen Erbitterung.

»Nein, das ist unmöglich,« erwiderte Jurii. »Alles um uns ist zu weise.«

»Na, ich denke, es gibt nichts Gutes,« meinte Ssanin.

»Und die Natur?«

»Was? die Natur?« Ssanin schwenkte mit einem schwachen Lächeln abwehrend mit der Hand. »Es ist ja Brauch, zu sagen, daß die Natur vollkommen ist ... In Wirklichkeit ist sie genau so schlimm, wie der Mensch. Jeder von uns wird sich ohne jede besondere Anstrengung der Phantasie eine Welt vorstellen können, die hundertmal besser wäre, als die heutige. Warum sollte es nicht ewige Wärme und Licht und einen ununterbrochenen Garten geben, ewig grün und freudig.

Und der Sinn? Einen Sinn gibt es natürlich. Der kann nicht fehlen. Einfach darum, das Ziel muß außerhalb unseres Lebens liegen, in den Gründen des Universums selbst. Das ist begreiflich. Wir sind nicht der Anfang, also können wir auch nicht das Ende sein. Uns ist nur ganz allein eine Aushilfsrolle bestimmt, eine passive Rolle. Durch die Tatsache, daß wir leben, erfüllen wir schon unseren Zweck. Unser Leben ist nötig und folglich ist auch der Tod nötig.«

»Für wen? ...«

»Woher soll ich denn das wissen,« lachte Ssanin. »Und was geht es mich denn im Grunde an. Mein Leben, das sind meine Empfindungen; die angenehmen und unangenehmen. Und was hinter ihren Grenzen liegt, – ich spucke drauf. Welche Hypothese wir auch hinstellen mögen; es bleibt immer nur Hypothese und auf dieser Grundlage sein Leben aufzubauen, das wäre Dummheit. Wem es Bedürfnis ist, der mag sich dafür absorgen; ich aber will leben.«

»So trinken wir aus diesem Anlaß aus,« schlug Iwan vor.

»Und glauben Sie an Gott?« fragte Pjotr Iliitsch, Ssanin seine trübgewordenen Augen zuwendend. »Jetzt glaubt ja niemand mehr. Man glaubt nicht einmal, daß man an Gott glauben darf.«

»O, an Gott glaube ich schon,« sagte Ssanin wieder lächelnd. »Der Glaube an Gott steckt noch von der Kindheit her in mir und ich sehe keine Notwendigkeit, ihn zu bekämpfen oder auch ihn zu stärken. So ist es am besten. Gibt es einen Gott, so werde ich wahrhaft aufrichtig an ihn glauben; gibt's keinen – – nun, um so besser für mich.«

»Aber auf der Grundlage des Glaubens oder Nichtglaubens baut sich ja das ganze Leben auf,« bemerkte Jurii.

»Nein,« Ssanin machte eine abwehrende Kopfbewegung und seine Züge legten sich in ein gleichgültig fröhliches Lächeln. »Ich brauche diese Grundlage des Lebens nicht.«

»Welche haben Sie denn?« fragte müde Jurii. – – – Ah, ich darf nicht mehr trinken, dachte er traurig und strich mit seiner Hand über die mit kaltem Schweiß bedeckte Stirn.

Vielleicht hatte Ssanin irgend etwas darauf geantwortet, vielleicht auch nicht. – Jurii hörte nichts mehr, ihm schwindelte der Kopf und für einen Augenblick wurde ihm übel.

»... Ich glaube, daß ein Gott existiert. Aber dieser Glaube ist in mir ganz abgesondert. Hat seine eigene Ecke,« sprach Ssanin weiter. »Doch ... mag er existieren oder nicht, ich kenne ihn nicht und weiß nicht, was er von mir will. Woher sollte ich es auch wissen; selbst bei dem heißesten Glauben. Gott ist Gott und kein Mensch, – – – mit keinem menschlichen Maß kann er gemessen werden. In seiner Schöpfung, soweit wir es beobachten können, gibt es alles: Gut und Böse, Leben und Tod, Schönheit und Häßlichkeit... Alles. Und da jede Bestimmtheit oder Sinn in ihr verschwindet und sich ein Chaos offenbart, so ist sein Sinn folglich kein menschlicher, – – sein Gut und Böse ist kein menschliches Gut und Böse. Unsere Definition Gottes wird immer eine Götzenanbeterei sein und wir werden unseren Fetisch stets mit dem Gesicht und den Kleidern ausstatten, die den lokalen klimatischen Verhältnissen entsprechen. Unsinn.«

»So,« Iwanow räusperte sich stark, »richtig, sehr richtig!«

»Wofür denn aber eigentlich leben?« fragte Jurii und stieß sein Weinglas mit Widerwillen von sich.

»Und wozu sollte man sterben? ...«

»Ich weiß nur eines,« antwortete Ssanin. »Ich lebe und will, daß das Leben für mich ohne Unannehmlichkeiten sei. Deshalb muß man zunächst die natürlichen Begierden befriedigen können. Sie sind alles. Sterben im Menschen die Wünsche, so stirbt auch sein Leben, und wenn er in sich die Wünsche ertötet, so tötet er sich selbst.«

»Aber die Wünsche könnten doch schlecht sein...«

»Das ist schon möglich.«

»Und was denn?«

»Dasselbe!« antwortete Ssanin mit seiner zärtlichen Stimme, und schaute Jurii mit hellen Augen, ohne zu blinzeln, ins Gesicht.

Iwanow zog die Augenbrauen an, sah mißtrauisch auf Ssanin und schwieg. Auch Jurii sprach nicht mehr; aus irgend einem Grunde wurde es ihm bänglich in diese hellen, klaren Augen zu sehen, und doch bemühte er sich wieder, seinen Blick nicht zu senken.

Einige Minuten war es still; man hörte deutlich, wie sich ein Nachtfalter, einsam und verzweifelt, an der Fensterscheibe zerschlug. Peter Iliitsch schüttelte traurig den Kopf, während er sein betrunkenes Gesicht auf eine Zeitung gesenkt hielt.

Ssanin lächelte immer noch.

Dieses beständige Lächeln reizte Jurii und zog ihn gleichzeitig an. – – – Wie hell seine Augen sind, dachte er unbewußt.

Ssanin stand plötzlich auf, öffnete das Fenster und ließ den Falter heraus. Wie ein großer weicher Flügelschlag rauschte eine Welle reiner kühler Luft durch die Stube.

»Ja,« sagte Iwanow auf seine eigenen Gedanken eingehend, »es gibt verschiedene Leute. Also darum, Rest weg.«

»Nein,« Jurii schüttelte den Kopf, »ich trinke nicht mehr.«

»Warum?«

»Ich trinke überhaupt wenig.«

Vom Wodka und von der Hitze hatte Jurii bereits Kopfschmerzen und wünschte an die frische Luft zu kommen.

»Nun, ich gehe,« sagte er sich erhebend.

»Wohin? Trinken wir doch noch aus!«

»Nein! Ich muß wirklich fort,« er suchte zerstreut nach seiner Mütze.

»Na, auf Wiedersehen!«

Als Jurii die Tür schloß, hörte er, wie Ssanin Pjotr Iliitsch die Antwort gab: »Ja, wenn ihr nicht wie Kinder sein werdet! Kinder unterscheiden doch nicht Gut und Böse, sie sind nichts als aufrichtig. Und darin lügt ihr ...«

Jurii drückte die Tür ins Schloß und ganz plötzlich wurde es still um ihn.

Der Mond stand hoch, und strahlte in leichter Helligkeit hernieder. Die Luft wehte auf ihn, vom Tau durchfeuchtet, frisch ein. Alles war wie aus Mondenschein gewebt, war schön und nachdenklich. Als Jurii allein durch die Straßen schritt, die von dem gelben Licht geglättet waren, berührte ihn die Erinnerung eigentümlich, daß es irgendwo ein schweigsames, schwarzes Zimmer gibt, wo auf einem kahlen Tische gelb und unbeweglich der tote Semionow liegt.

Doch es war ihm nicht möglich, jene furchtbaren und schweren Gedanken wieder in sich hervorzurufen, die seine Seele noch vor kurzem niederdrückten, und die ganze Welt in einen schwarzen Nebel hüllten. Ihm war nur still und traurig zumute und er wünschte mit seinen Blicken unverwandt den fernen Mond festhalten zu können.

Als Jurii einen leeren Platz, der im Mondenlicht besonders weit und eben erschien, überschritt, kam ihm wieder Ssanin in den Kopf.

– – – Was ist das für Einer, fragte er sich und konnte lange nicht ins Reine kommen.

Ihm war es unangenehm, daß da mit einem Mal ein Mensch aufgetaucht war, der sich von ihm nicht in eine Formel fassen ließ; deshalb wünschte er unbedingt, über ihn aburteilen zu können. Ein Phraseur, dachte er mit häßlicher Freude. Einst posierte man mit Lebensverachtung, mit höheren, unverstandenen Aphorismen und jetzt erlangt die Pose der Bestialität ihre Geltung.

Jurii lenkte seine Gedanken von Ssanin ab und begann sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er überlegte, daß er sich niemals in Pose stelle, sondern daß sein Leiden, wie jeder seiner Gedanken ganz originell und keinem ähnlich sei. Das war angenehm, aber es fehlte ihm noch etwas und so begann er sich wieder des verstorbenen Semionow zu erinnern. Es machte ihn traurig, daß er den kranken Studenten niemals wiedersehen würde; dieser Semionow, der ihm garnicht besonders gefallen hatte, stand ihm mit einem Male nahe und wurde ihm teuer. Es rührte ihn zu Tränen.

Jurii stellte sich den Studenten vor, wie er im Grabe liegt, mit verfaultem Gesicht, mit einem Körper voller Würmer, die langsam und ekelhaft in dem zerfallenden Brei, der von einer grünen und feuchten Studentenuniform eingeschlossen wird, herumwimmeln.

Und vom Ekel durchrüttelt, erinnerte er sich der Worte des Toten.

– – – Ich werde liegen und Sie werden hier vorbeigehen und an meinem Grabe irgend eines Bedürfnisses wegen stehen bleiben ....

Auch das waren doch alles Menschen, dachte Jurii mit Entsetzen und starrte auf den fetten Straßenstaub herunter. Ich gehe und trete auf Gehirne, Herzen und Augen. Eh! – – – er fühlte mit einem Mal eine widrige Schwäche in den Knieen. Ich werde auch sterben, werde es auch, – und über mir wird man ebenso hinweg schreiten und sich dieselben Gedanken machen, wie ich jetzt. Ja, man muß leben, solange es noch nicht zu spät ist. Es ist schön zu leben, aber nur so, daß kein Augenblick ungenützt vorübergeht.

Doch wie soll man das tun? – –

Auf dem Platz war es leer und licht und über der ganzen Stadt schwebte eine leuchtende, rätselhafte Mondenhelle.

– – – Und Bajans helle Saiten tönten,
Kein Lied, das uns von ihm erzählt.

sang leise Jurii.

Langweilig, traurig, furchtbar, rief er laut, als wollte er gegen irgend etwas seine Anklage richten. Doch er erschrak selbst über seine Stimme und wendete sich um, ob ihn auch niemand gehört hatte.

– – – Ich bin betrunken, dachte er.

Die Nacht war hell und schweigsam.


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