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10. Eine kleinstädtische Gesellschaft.

»Minni, stehst du denn heute gar nicht auf?« klagte am ersten Feiertagsmorgen Bruno.

»Ach, Bruno, es ist so herrlich im Bett zu liegen mit dem Bewußtsein: Heute ist Feiertag!«

»Aber ich möchte gern zeitig zu meinen Büchern und meiner Laubsäge kommen.«

»Du bist ein rechter Tyrann!« Minna seufzte und erhob sich.

»Ach, liebe Minni, ich will dich ja nicht quälen. Ich habe mir gestern abend vorgenommen, dir nur Freude zu machen, denn so einen schönen Weihnachtsabend, wie du uns gemacht hast, haben wir noch niemals erlebt.«

»Wie kannst du so etwas sagen! Hast du vergessen, wie schön es war, als die liebe Mama noch lebte?«

»Ja, weißt du, wir hatten alle eine so großartige Bescherung nicht erwartet; in unsern beschränkten Verhältnissen ...«

»Ach, Bruno, rede doch nicht so altklug! Ich wollte, du wärest mehr wie andre Jungen!«

»Das wollte ich auch. Aber wie soll ich ein richtiger Junge sein, wenn ich mich nicht raufen und balgen kann, wenn ich nicht zur Schule gehen darf und nur immer in der Stube sitzen muß?«

Anstatt der Antwort beugte sich Minna hinüber und küßte das kranke Kind. »Ich bin jetzt ganz munter,« rief sie, »und nun will ich auch aufstehen. Mit dem Kirchgehen wird's heute freilich nichts werden. Sieh nur, wie der Wind den Schnee vorübertreibt! Hu, und wie kalt es ist! Du mußt warten, bis es in der Stube warm geworden ist, ehe du aufstehst, mein Liebling.«

Die Semmelfrau ließ sich gar nicht blicken. Aber mit der Weihnachtsstolle konnte man sich schon für die fehlende Semmel trösten. Wer aber trotz des schrecklichen Wetters nicht zu Hause bleiben durfte, das war der arme Postbote. Dafür wurde er mit warmem Kaffee und Stolle traktiert. »Ach,« sagte er, »wie gut sind Sie! Die wenigsten Leute denken daran, was unsereiner bei einem solchen Wetter ausstehen muß.«

Nach dem Frühstück versammelte Minna ihre kleine Schar und las ihnen aus der Bibel die Geburt des Heilands vor. Darauf stimmten sie ein Weihnachtslied an, und dann war ihnen allen so froh und fromm zumute, als wären sie in der Kirche gewesen.

Adele schien seit dem gestrigen Abend ganz umgewandelt. Geschäftig rannte sie hin und her, um ihren kleinen Schreibtisch einzurichten. Alle ihre Schreib- und Nähsachen brachte sie darin unter; und zum erstenmal wieder begleitete sie die Arbeit mit ihrer hellen Stimme. Oftmals aber hielt sie ein, stürzte auf Minna zu und umarmte sie stürmisch; sie hatte ja dieser guten Schwester so viel zu danken und so viel abzubitten!

Ella durchlebte in ihrem Winkelchen noch einmal alle Weihnachtsfreuden mit ihren lieben Puppen, und Bruno wechselte mit Sägen und Lesen ab.

Herr Uslar, der in seiner Stube arbeitete, denn es war ihm unmöglich, sich einmal ganz der Ruhe hinzugeben, kam oftmals zu seinen Kindern herüber, scherzte mit Ella, beobachtete Bruno bei seiner Arbeit, neckte Adelens Vögelchen und streichelte mit zufriedenem Lächeln das schöne braune Haar seiner Ältesten.

Der Festtagsbraten, eine mit Äpfeln, Kastanien und Rosinen gefüllte Gans, war herrlich geraten, und auch Maruschka bekam ihr Lob, worüber sie sehr stolz war.

Wer diese glückliche, zufriedene Familie hier beisammengesehen hätte, der hätte die Stube nicht mehr häßlich gefunden und gesagt, sie sei altmodisch und ganz ordinär eingerichtet. So etwas konnte keinem Menschen einfallen, der sie mit dem geschmückten Baume und den fröhlichen Kindergesichtern sah. Die Hyazinthen dufteten so lieblich zwischen dem kräftigen Geruch der Tannennadeln, die Laubsäge rasselte, der Vogel zwitscherte, Ella schwatzte mit ihrer Puppe, und Adele sang. Eine Festtagsfreude herrschte darin, als wäre die Stube voll des hellsten Sonnenscheins.

Minna, die als Feiertagsvergnügen wieder einmal in Freytags Ahnen las, ließ das Buch in den Schoß sinken. Vor ihren Augen stiegen die glänzenden Räume auf, in denen sie ihre Kindheit verlebt hatte, die Weihnachten, an denen sie mit Spielzeug überschüttet worden war. Sie nahm damals alle diese Gaben hin, als könnte es nicht anders sein. Unglückliche und Arme fanden in dem Uslarschen Hause freilich stets Teilnahme und Hilfe; aber wie fern lag ihr der Gedanke, daß sie auch einmal ein Unglück erleben, daß Kummer, Sorge und gar Mangel ihr jemals nahetreten könnten!

Da fiel der Schlag! Wie der ärmste seiner Arbeiter wurde auch Herr Uslar brotlos; und dem ersten Schlage folgte ein zweiter, noch härterer. Die teure Mutter wurde ihr entrissen; und noch nicht genug, bekam nach dem Scharlachfieber der blühende, begabte Knabe, des Vaters Stolz, ein Hüftleiden, das ihn zu ewigem Siechtum verdammte, vielleicht gar einem frühen Ende zuführte.

Wie war es denn möglich, daß sich Minna nach all diesen Unglücksfällen jetzt glücklicher fühlte, als früher? Hatte sie in jenen Zeiten des Reichtums wohl jemals das Gefühl von Behagen und Befriedigung empfunden, wie sie es jetzt in dieser schlichten Stube empfand? Nein, gerade durch das Unglück war erst in ihr diese Kraft der Liebe erwacht. Der Wunsch, mit dem Vater die Sorgen zu teilen, den Geschwistern die Mutter zu ersetzen und alle glücklich zu machen, hatte jeden andern Wunsch verdrängt. Nun war ihr gelungen, wonach sie gestrebt hatte, und darum fühlte sie sich auch so befriedigt. Daß sie vieles entbehrte, war ihr wohl bewußt. Sie liebte leidenschaftlich Musik, das Klavierspiel war ihr die liebste Unterhaltung; manchmal erfaßte sie eine heftige Sehnsucht nach diesen unerreichbaren Genüssen, aber weil sie wußte, daß ihr Vater jetzt kein Instrument kaufen könnte, und daß ihr auch selbst die Muße fehlen würde, es zu benutzen, suchte sie jeden Gedanken daran, wie an die andern Vergnügungen, die ihr im Hause der Tante geboten wurden, zu unterdrücken; denn sie liebte auch das Theater und war durch die Gesellschaft verwöhnt. Manchmal, wenn sie in der Küche schaffte, am Plättbrett stand, oder in der kalten Stube strickte und lernte, empfand sie den Gegensatz ihres jetzigen Lebens mit dem früheren fast mit Schmerz. Aber als sie sich jetzt umblickte und die Geschwister so fröhlich und zufrieden sah, da wurde ihr so recht klar, daß Glanz, Reichtum und Bewunderung, ja selbst die Kunst ihr niemals hätten diese Befriedigung gewähren können, und daß die Liebe zu Vater und Geschwistern tausendmal süßer wäre, als jeder Vorzug, den sie sonst genießen durfte.

Indes hatte Frau Rosine in ihrem Hause alle Hände voll zu tun, denn am Abend sollte große Gesellschaft sein. Sie fand sogar nicht Zeit bei Uslars hineinzugucken, um nach ›ihren Kindern‹ zu sehen. Der gute Grimmel war ihr nur im Wege und verstand nicht einmal für seine eigne Garderobe zu sorgen. Ottel sogar erhob noch ungewohnte Ansprüche. Er wollte sich vor Minna gern fein zeigen, für die er natürlich ›riesig‹ schwärmte. Die Mutter sollte ihm deshalb ein Kompliment und einen Walzer einlernen. Die arme, geplagte, dicke Frau, auch noch walzen!

Je näher der Abend kam, desto mehr nahm Frau Rosinens Aufregung zu. Vor ihren Augen stand, was noch alles geschehen mußte, und so viel sie sich auch tummelte, die Geschäfte schienen sich nicht zu verringern. Sie war bald oben, bald unten, man hörte ihre laute Stimme in der Küche und in der Stube; sie schalt Grimmel und zankte mit Anuscha – ja sie drückte ihrem Einzigen sogar den Besen in die Hand!

Aber da kam sie bei dem Herrn Gymnasiasten schlecht an. »Das ist Mägdearbeit,« schrie der beleidigte Ottel. »Es fällt mir gar nicht ein, zu kehren, das ist unter meiner Würde.« Damit stürmte er die Treppe hinauf und schlug die Tür seiner Stube krachend zu.

Als aber die Gäste kamen – ei, siehe da – von Angst, Hast und Aufregung war nichts mehr zu spüren. Anuscha empfing die Ankommenden mit weißer Schürze in der Hausflur, und sobald sie in die Stube traten, empfing Frau Rosine in einem schwarzseidenen Kleide und einer Haube mit gelben Bändern, und Grimmel in seinem Hochzeitsfrack.

Wer von draußen aus der scharfen Winterkälte kam, dem fiel freilich die Wärme in den niedrigen Stuben auf, aber es war doch sehr behaglich darin; die Lampen und Lichter brannten hell, auf dem weißen Tischtuche standen hochaufgetürmt Teller mit Rosinen- und Mohnstolle, das auf den Ofen gestreute Räucherpulver verbreitete einen lieblichen Duft, und eine Tasse Tee, den Frau Rosine noch mit Vanille würzte, war auch nicht zu verachten.

Das Sofa schien ein Stein des Anstoßes; keine der Damen wollte sich hinsetzen, denn jede hielt es für höflich, sich gegen diese Ehre zu sträuben. Erst als die Frau Steuerkontrolleur erschien und sich breit darauf niederließ, nahm auch Frau Inspektor Leiser an ihrer Seite Platz.

Grimmel erzählte die Lebensgeschichte der Uslars – die noch nicht erschienen waren – den Herren, und Frau Rosine den Damen; der Generalin von Cronitz, Exzellenz, wurde dabei nicht vergessen, denn man hat nicht alle Tage die Ehre, Nichten von Exzellenzen in seinem Hause zu bewirten.

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Frau Rosine vergass nicht, Tee einzuschenken ...

Frau Rosine vergaß auch nicht, Tee einzuschenken und anzubieten und vor allen Dingen zu nötigen; keine der Damen würde, ohne genötigt zu werden, zugelangt haben. Wer aber die gute Frau beobachtete, hätte bemerkt, daß ihre Blicke immer ängstlicher nach der Tür gingen, denn ihr Ottel hatte die Kränkung mit dem Besen noch nicht verschmerzt und war auf seiner Stube geblieben.

Herr Uslar, in eine mathematische Aufgabe vertieft, vergaß die Gesellschaft; das war die Ursache, weshalb er und Minna so spät erschienen, aber die Damen fanden das Spätkommen sehr vornehm, und jede beschloß, bei der nächsten Gesellschaft auch auf sich warten zu lassen. Als der Rendant Minna vorstellte, erhoben sich alle mit großem Geräusch, wie auf ein Kommando, und machten ihr das tiefste Kompliment; ja die Frau Steuerkontrolleur bot ihr sogar den Sofaplatz an, und es kostete Minna viel Mühe, sich dieser Ehre zu entziehen. Sie wollte lieber Frau Rosine helfen, denn sie merkte gleich, Anuscha sei zum Aufwarten nicht zu gebrauchen. »Liebe Frau Rendant,« bat sie herzlich, »Sie haben an uns wie eine Mutter gehandelt, nun betrachten Sie mich jetzt auch einmal als Ihre Tochter.« Und so bittend nahm sie ihr das Teebrett aus der Hand.

Kaum sahen das die drei Fräulein Leiser, so sprangen sie auf, stürzten sich auf die Kuchenschüsseln und schoben sich zwischen die Herren, die in ein Knäuel zusammengedrängt um den Ofen standen. Die Damen, die keine Schüsseln mehr zum Präsentieren fanden, folgten ihnen mit neidischen Blicken, denn indem die Fräulein Leiser die Herren nötigten und die Stolle anpriesen, hatten sie viel Spaß und Neckerei.

»Wo ist denn Herr Ottel?« fragte Minna.

Frau Rosine hatte den Damen erzählt, daß sich ihr Sohn bei einem Besuche verspätet habe, aber auf Minnas Frage gestand sie ihr, freilich nur flüsternd, daß ihr Ottel ein Schlingel wäre, und weshalb er oben in der kalten Stube säße und trotzte.

Minna ergriff ein Brett mit leeren Tassen und schlüpfte hinaus, lief gleich die Treppe hinauf und klopfte bei Ottel an. »Ich bin's – Minna Uslar,« rief sie.

Er öffnete und sah ungeheuer verlegen aus. Seine Mutter konnte nicht ängstlicher nach ihm verlangen, als Ottel danach verlangte, sich in der Gesellschaft zu zeigen; aber er wußte nur nicht, wie er es anfangen sollte, ohne seiner Würde etwas zu vergeben.

Er hatte sich schon vollständig in Toilette geworfen, bis auf den Rock, und stand frierend in Hemdärmeln da.

»Machen Sie schnell,« sagte Minna. »Ich nehme Sie gleich mit hinunter. Während Sie aber den Rock anziehen, werde ich Sie auszanken. – Hätten Sie es denn unpassend gefunden, wenn Ihre gute Mutter die Hausflur kehrte? Nun, glauben Sie denn, daß Sie etwas Besseres sind als Ihre Mutter? Wenden Sie mir nicht etwa ein, Sie seien ein Mann; damit imponieren Sie mir gar nicht. Straßenkehrer sind Männer, und Bediente sind auch Männer und kehren doch. Hochmütig sind Sie, das ist der wahre Grund. Jetzt werden Sie sich aber doppelt gefällig und höflich erweisen, damit Sie den Ärger, den Sie Ihrer lieben Mutter bereitet haben, wieder gutmachen.«

Ottel hatte wirklich nur die eine Entschuldigung, daß er ein Mann wäre, und da diese von Minna verworfen wurde, folgte er stillschweigend, vergaß in der Verlegenheit das eingelernte Kompliment, trat dafür Fräulein Leiser auf den Fuß und stieß mit dem Ellbogen eine Tasse herunter.

Trotz dieser Unfälle war Frau Rosine doch froh, ihren Einzigen endlich in der Gesellschaft zu sehen.

Die sogenannte ›gute Stube‹ war, bis auf ein ganz altmodisches Klavier, ausgeräumt worden, denn hier sollte getanzt werden. Ein kleiner verhungerter Klavierspieler ließ jetzt in den dünnen, klappernden Tönen des alten Klaviers die Aufforderung zum Tanz von Weber erklingen.

Wie von einem elektrischen Schlage berührt erhoben sich die drei Fräulein Leiser und Fräulein Alwine und Leokadia, die Töchter der Frau Steuerkontrolleur Birke; zugleich aber sprachen sie so laut und lebhaft durcheinander, als wollten sie geflissentlich eine Aufforderung zum Tanze nicht beachten.

Auch in das Knäuel der Herren kam Bewegung. Sie machten Front gegen die Damen, und ihre Miene schien zu sagen: ›Aha, jetzt geht's los.‹ Jeder griff in seine Tasche und zog die Handschuhe an. Dann trat eine beklemmende Pause ein. Die Herren zögerten – und die Damen sprachen noch eifriger und lauter.

Minna war dem Lachen sehr nahe; diese kleinstädtische Gesellschaft erschien ihr auf einmal überaus komisch. Sehr junge Personen, besonders wenn sie in vornehmen Kreisen verkehren, legen bei Beurteilung der Menschen das meiste Gewicht auf die Manieren, mit denen sich diese in der Gesellschaft bewegen. Minna kämpfte gegen eine gewisse Verachtung an, die ihr diese kleinbürgerlichen Leute einflößten; doch sagte sie sich, daß es gewiß brave und tüchtige Menschen wären, und gab sich so lange gute Lehren, bis sie die Lachlust überwunden hatte.

Indes paukte der Klavierspieler das Stück zum zweitenmal durch. Frau Rosine wurde diese Einleitung zu kostspielig, denn sie mußte den Mann nach der Stunde bezahlen. Da ihr guter Grimmel weder Blicke noch Pantomimen beachtete, nahm sie ihn, wie man sagt, am Schlawittchen und führte ihn vor die Frau Steuerkontrolleur. Sie selbst machte Herrn Uslar einen Knicks und sagte: »Eine Polonäse können Sie mit einer alten Frau schon einmal versuchen.«

Die Entschlossenheit Frau Rosinens wirkte.

Ottel und der Hauslehrer des Direktors Karling, Kandidat Fritz Steube, stürzten beide wie Habichte auf Minna zu. Aber diese hatte schon überlegt, daß aus Mangel an Herren eine der jungen Damen übrigbleiben würde. Darum erklärte sie, schon mit Frau Inspektor Leiser engagiert zu sein, bot dieser Dame den Arm wie ein Kavalier und trat mit ihr zur Polonäse an. Den beiden Fräulein Leiser, die noch nicht engagiert waren, fiel ein Stein vom Herzen; sie bekamen nun doch Herren und noch dazu die einzigen unverheirateten.

Herr Rendant führte nun den Zug mit allerhand verwickelten Umgängen durch alle Stuben, ja selbst über die Hausflur, und als Frau Rosine alles im besten Gange sah, erklärte sie Herrn Uslar, wenn er nichts dawider habe, wolle sie mit Anuscha jetzt den Tisch decken.

Während die Polonäse in einen Walzer überging und sich der Herr Rendant steif mit der Frau Steuerkontrolleur durch die andern Paare winden mußte, indes sich Ottel hopsend alle Ecken aussuchte, um an ihnen mit Fräulein Leiser anzurennen, ertönte aus der Nebenstube das verheißungsvolle Klirren von Tellern und Gläsern, wie das Klappern von Messern und Gabeln; durch die halboffene Tür aber konnte man Frau Rosine und Anuscha abwechselnd mit gefüllten Schüsseln und belegten Platten vorüberlaufen sehen.

Die Quadrille wäre beinahe nicht zustande gekommen, denn alle Damen erklärten, sie könnten nicht wagen, sich vor einem jungen Fräulein zu zeigen, das in Berlin tanzen gelernt habe. Dabei aber brannten sie vor Verlangen, Minna zu beweisen, daß man in Tarnowitz ebenfalls nach der neuesten Mode zu tanzen verstände. Als endlich die Paare wirklich angetreten waren, gaben sie sich auch die größte Mühe zu zeigen, was sie leisten konnten; sie führten die Pas sehr korrekt aus, hielten die Kleider ungeheuer breit und machten sich die steifsten Reverenzen. Minna ließen sie nicht aus den Augen, doch tadelten die Fräulein Leiser, daß sie die Sache so leicht nähme und nur zu gehen schiene; trotzdem beschloß jede im stillen, es bei nächster Gelegenheit ebenso zu machen.

Nicht gerade alle Konfusionen, die vorkamen, hatte Ottel auf seinem Gewissen, aber die meisten. Er war zu schnell, zu eifrig und hörte nicht auf das Kommando des Kandidaten. Unaufhörlich verwechselte er rechts mit links, reichte einem Herrn die Hand, wenn eine Dame an der Reihe war, und tanzte ein kühnes Solo, wenn es seine Pflicht war, stehen zu bleiben. Dabei war er aber ungeheuer vergnügt und erklärte, zu einem richtigen ›Konter‹ gehöre auch eine richtige Konfusion.

Plötzlich tat sich nun aber die Tür auf: ein mit Speisen reich besetzter Tisch präsentierte sich; einer großen Suppenterrine, worin Kenner einen heißen Punsch vermuteten, entstiegen lockende Dampfwölkchen, und der hungrige Klavierspieler, von diesem Anblick überwältigt, schloß mit einer grellen Dissonanz.

Sofort verließen die Herren ihre Damen und drängten sich um den Tisch. Minna erwartete, daß sie die Damen bedienen würden, aber zu ihrem höchsten Erstaunen sah sie, daß sich jeder, in einer Hand einen mit Speisen aufgehäuften Teller, in der andern ein Glas mit rauchendem Punsch, mit irgend einem guten Freunde in ein Winkelchen zurückzog, um sich's nach den Anstrengungen des Tanzes wohl sein zu lassen.

Minna winkte Ottel, der eben mit seinem Raube an ihr vorüberschleichen wollte. »Frau Steuerkontrolleur sitzt nicht in dieser Stube,« sagte sie, als habe sie Ottels Absicht, ihr diesen Teller zu bringen, erraten. »Und wenn Sie dann für Fräulein Leiser etwas aussuchen, so häufen Sie den Teller lieber nicht so hoch an. Ich will Frau Inspektor jetzt bedienen. Sollten Sie später Ihre Mama versorgt haben, gebe ich Ihnen die Erlaubnis, auch mir von dem schönen italienischen Salat ein wenig zu bringen.«

Ottel war stumm vor Erstaunen, aber er gehorchte. Wer würde wohl Minna Uslar nicht gehorcht haben?

Frau Rosine hatte sich über ihre Kräfte angestrengt, um ein reichhaltiges Büfett herzustellen, und es war ihr gelungen; von allen Seiten erntete sie Lobsprüche. Herr Steuerkontrolleur ließ die ausgezeichnete, die vortreffliche Wirtin leben, und Frau Rosine strahlte vor Befriedigung. Da plötzlich wurde sie ihrem Freudenhimmel entrissen. Heftig wurde mit einem Messer an ein Punschglas geschlagen, und dann ertönte im Nebenzimmer Ottels ungefüge Stimme, bald zu hoch und bald zu tief, bald zu laut und bald nur murmelnd. Er hatte sich Mut getrunken, um auf die Gäste einen Toast auszubringen, aber leider tat er des Guten ein bißchen zu viel; der Punsch war ihm zu Kopf gestiegen, nun schwatzte er Unsinn und konnte kein Ende finden. Die Damen zischelten und rückten hin und her, die Herren riefen Bravo und klatschten in die Hände. Frau Rosine saß wie auf Kohlen, und Ottel toastete weiter.

Leise erhob sich Minna und flüsterte dem Klavierspieler, der in einer Fensternische für eine Woche im Voraus aß, ein Wort zu. Gleich darauf erklang ein rauschender Galopp.

»Sie lebe hoch! Minna Uslar lebe hoch!« rief Ottel und verstummte dann. Frau Rosine war erlöst. –

»War man eine sehr gelungene Gesellschaft. Jetzt kannst du auf deinen Lorbeeren ruhen, Sinchen,« sagte der Rendant, nachdem sich die Gäste entfernt hatten, und gähnte furchtbar.

Aber Frau Rosine hatte zum Ruhen noch keine Zeit. Sie stellte die Möbel an ihren alten Platz und legte die Servietten und das Tischtuch zusammen, kurz es schien, daß sie die Absicht hegte, nach Mitternacht noch jede Spur der Gesellschaft zu verwischen; dabei sang sie Minnas Lob, mit einigen Hieben auf ihren Ottel, der im Sofawinkel eingeschlafen war.

»Wenn unsre Gesellschaft so gut abgelaufen ist, habe ich das nicht etwa unserm Ottel zu verdanken,« sagte sie ein bißchen gereizt, »daran ist Minna Uslar schuld. Die Frau Steuerkontrolleur hat's auch gesagt, so ein Mädchen wäre ein Schatz. – Und 's ist merkwürdig, man geniert sich nicht vor ihr, und sie ist auch gar nicht stolz, hat die Frau Inspektor gemeint. Und sie denkt auch an alles, und wenn sie was tut, da ist's, als müßte es auch gerade so getan werden.«

»Da hast du recht, Sinchen; wenn ich jetzt aber auch anfange, ihr Lob zu singen, kommen wir gar nicht ins Bett, und 's ist schon halb ein Uhr.«

»Dann nimm deinen Ottel und zieht ab, ich mache erst Ordnung. Gute Nacht!«

Und so zog der Rendant mit seinem Ottel ab, was nicht ganz leicht war, weil Ottel mehr noch als sonst an jede Ecke anzurennen beliebte. Frau Rosine aber räumte, zum großen Bedauern von Anuscha, noch ein Stündchen, ehe es im Häuschen dunkel wurde und die Stille der Nacht auch darin einkehrte.


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