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IX

Die gerade Linie des Horizontes war überall eingezackt durch unzählige kleine, weisse Flügel, die sich paarweise näherten. Mit Wind von achtern kamen die Boote zurück.

In diesem Jahr beschützte Gott die Armen. So sagten wenigstens die Frauen von Cabañal, die zwei Tage nach der Ausfahrt abends am Strande standen. Cristo! Man sollte glauben, dass die Fische nur darauf warteten, in die Netze gehen zu dürfen, um das Elend der Strandbevölkerung zu erleichtern!

Die Barken zogen ihre riesigen Segel ein und schaukelten in kurzer Entfernung vom Ufer auf den ruhigen Wellen. Sobald ein neues Paar anlegte, drängten sich die Händlerinnen bis zum Rande des Wassers. Ein Wirrwarr von schmutzigen, baumwollenen Röcken, roten Gesichtern und wirren Haaren.

Kreischend zankten sie sich, wer die Fische bekommen sollte. Inzwischen sprangen die Matrosen am Heck ins Wasser und schleppten die vollen Körbe an den Strand.

Hier zeigte sich erst der ganze Reichtum: Seelachse mit zinnoberroten Rücken, klebrige Tintenfische und Polypen, die ihre Arme ineinander verstrickten; Seezungen, flach und dünn wie Schuhsohlen; im Todeskampf sich krümmende Rochen und der wertvollste Fang, der in diesem Jahr erstaunlich zahlreiche Hummer, dessen zarte Perlmutterfarben sich angenehm von dem dunklen Rohr der Körbe abhoben.

Der schmale Wasserstreifen zwischen Ufer und Booten bevölkerte sich, als wäre er ein Festland. Schiffsjungen eilten hindurch und brachten der Mannschaft, die das lauwarme Wasser an Bord satt hatte, grosse, an der Font del Gas gefüllte Krüge. Einige Boote mussten an Land überholt werden, und um sie aufs Trockene zu ziehen, gingen die Ochsen der Fischergenossenschaft ins Wasser, prächtige rot und weiss gescheckte Tiere, – gross wie Mastodonten – die ihre enormen Wammen mit der Würde eines römischen Patriziers bewegten.

Lenker dieser Gespanne war Chepa, ein buckliger Knirps mit dem Gesicht einer alten Hexe, der ebensogut fünfzehn wie dreissig Jahre alt sein konnte. Unter seinem Umhang von gelbem Öltuch bewegten sich zwei kurze Beinchen, auf deren Haut die spitzigen Gelenke und fleischlosen Knochen dieses Skeletts scharf hervortraten.

Rings um die Boote mit ihrem Ochsenvorspann schwamm ein Gekribbel zerlumpter Kinder. Wie Nereïden und Tritonen ragten sie nur mit den Schultern aus dem Wasser und bettelten um eine Handvoll kleiner Fische.

Hinter ihren vollen Körben feilschten die Frauen der Patrone mit der zungenfertigen Gesellschaft der Händlerinnen, die für den Markt in Valencia einkauften. Und hatte man sich endlich über den Preis für eine Arroba Arroba = ¼ Zentner geeinigt, so entspann sich sofort eine neue kreischende Diskussion, weil die Verkäuferin die grossen Stücke extra berechnen wollte. Zwei an Seilen hängende Körbe, von denen einer mit grossen Steinen beschwert wurde, dienten als Wage, und nie fehlte ein »gelehrter« Junge aus dem Dorf, der auf einem Stück Papier die Rechnung führte.

Die würdigen Bürger von Valencia, die vom Badestrand herübergekommen waren, um die frischen Fische zu bewundern, flohen entsetzt vor den Ellenbogenstössen dieser aufgeregten Menge, die beim Anlegen jeder neuen Bark wie eine Schar Wilder fortstürzte und die harmlosen Zuschauer beinahe unter die Füsse trat.

Dolores sah ihre kühnsten Träume verwirklicht. Viele Jahre hatte sie sich beim Einkauf herumstossen lassen müssen, immer mit dem brennenden Wunsch im Herzen, eines Tages ein Boot zu besitzen, um ihrerseits die Händlerinnen anfahren zu können. Befriedigt blähte sie ihre feinen Nasenflügel und reckte sich hochmütig hinter ihren Körben, während Tonet die Wage handhabte und die Verkäufe notierte.

Auf der Flor de Mayo half der Rektor seinen Leuten, das Segel zu bergen, hielt aber zwischendurch immer wieder inne, um zu sehen, wie seine Frau mit der Kundschaft verhandelte. Ganz eine Königin! Und der arme Mann empfand eine frohe Genugtuung bei dem Gedanken, dass Dolores alles ihm verdankte, nur ihm …

Vorn am Bug stand – eine drollige Galionfigur – der kleine Pascualet, barfuss und schmutzig, rot wie gebrannter Ton. Ihm gegenüber verharrte regungslos eine Schar zerlumpter, kleiner Herumtreiber, deren Augen in scheuer Bewunderung an diesem alten Seebären hingen.

»Hat der Rektor Glück gehabt! Die Flor de Mayo ist stoppenvoll, fast nur Hummer, zu zwei Pesetas das Pfund! …«

Und die Armut am Strande sah schon im Geiste einen blinkenden Strom von silbernen Pesetas.

Pascualo, mit seiner Arbeit an Bord fertig, ging an Land, wo er glückstrahlend auf Dolores' geraffte Schürze schaute, die unter dem Gewicht der Münzen beinahe zerriss.

»Das lohnt sich, was? Wenn es so weiter geht, können wir vielleicht schon übers Jahr die Partnerbarke für Flor de Mayo bauen. Wunderbar, wie der alte Batiste die besten Stellen kennt!«

Er unterbrach seine begeisterten Worte, um nach der Hand seines Bruders zu sehen. Der Verband war verschwunden.

»Deine Hand ist wieder gut, Tonet? … Freut mich! Da kannst du gleich die zweite Fahrt mitmachen. Junge, die Freude, solch volle Netze hochzuziehen!«

Als Dolores ausverkauft hatte, fragte sie ihren Mann, ob er mit nach Hause käme.

»Das Boot allein lassen? …« meinte der Rektor unschlüssig. »Sobald ich den Rücken drehe, läuft die Mannschaft in die Taverne. Dabei wimmelt es am Strand von Langfingern, die scharf auf jede Gelegenheit achten. Auch ist noch allerlei zu tun … Wenn ich also bis neun Uhr nicht zu Hause bin, leg' dich ruhig schlafen, ohne auf mich zu warten. Und du, Tonet, sagst jetzt am besten Rosario Bescheid. Bevor es hell wird, musst du an Bord sein.«

Ein schneller Blick flog von Dolores zu ihrem Schwager … Umsonst versuchte sie noch, den kleinen Pascualet mitzunehmen – der Junge wollte durchaus auf der Flor de Mayo bleiben. So machte sie sich allein auf den Heimweg, gefolgt von den Blicken der beiden Männer, die dem graziösen Wiegen ihrer prächtigen Gestalt nachsahen, bis sie in der Dunkelheit verschwand.

Es war still geworden am Strande. Vom Deck der Barken leuchteten die Herdfeuer, vor denen dann und wann schwarze Schatten vorüberhuschten. Ab und zu blinkte das Meer mit schwachem, phosphoreszierendem Glanze auf. In der Ferne ertönten Hundegebell und die Lieder der Schiffsjungen, die nach Cabañal gingen.

Frohgelaunt wanderte der Rektor auf dem Sande hin und her, aufmerksam nach dem schmalen, rötlichen Streifen am Horizont schauend, wo die Sonne untergegangen war. Sollte das Wetter umschlagen? …

Eine Frau kam ihm langsam entgegen, … wohl eine Arme, die bei den Booten Fischabfall zu bekommen hoffte.

»Válgame Dios! Wieviel Elend gibt es doch auf der Welt!« murmelte er und griff in den Gürtel, wo er etwas Kleingeld verwahrte.

»Pascualo,« sagte die Frau mit leiser, zaghafter Stimme, »bist du es, Pascualo?«

Cristo! Welche Dummheit hätte er beinahe begangen! Vor ihm stand seine Schwägerin …

»Suchst du deinen Mann, Rosario? Der ist schon vor einer Stunde fortgegangen.«

»Nein, ich komme deinetwegen.«

Verblüfft riss er die Augen auf. Was konnte sie von ihm wollen? …

Die Arme gekreuzt, blickte er nach der Flor de Mayo, wo Pascualet mit dem Schiffsjungen um den Kochtopf hüpfte, wartete aber vergeblich auf die Worte dieses düsteren Schattens vor ihm.

»Bitte, Rosario, sprich.«

Jetzt endlich überwand sie ihre Schüchternheit.

»Pascualo, ich kann dieses Elend nicht länger ertragen. Wir beide sind zum Gespött von ganz Cabañal geworden.«

»Na nu?« rief der Rektor. »Man lacht über mich? Und warum denn? Ich sehe wirklich keinen Grund, weshalb man sich über den Patron der Flor de Mayo lustig machen sollte.«

»Pascualo,« fuhr Rosario mit eindringlicher Stimme fort, »Pascualo! Dolores betrügt dich.«

»Wer? Meine Frau? Mich?«

Wie ein Stier, der in der Arena einen Stich erhält, neigte er sekundenlang den Kopf. Doch sofort kam die Reaktion.

»Lüge, ganz verdammte Lüge! … Geh weg, du giftige Schlange!«

Wäre es nicht so finster gewesen, so hätte sich Rosario vielleicht vor seinem Gesicht gefürchtet. Er stampfte auf den Boden, als spränge die Verleumdung unter seinen Füssen aus dem Sande heraus, und stammelte wuterstickt:

»Ah, du Natter! Glaubst du, ich kenne dich nicht? … Der Neid treibt dich – stinkender, hässlicher Neid! Ist es nicht genug, dass Tonet keinen Frieden zu Hause hat? Jetzt willst du auch noch Dolores die Ehre abschneiden, dieser Heiligen, die himmelhoch über dir steht?

Mach' dich fort,« brüllte er auf, »mach' dich fort oder ich bringe dich um!«

Aber Rosario blieb stehen, unbeweglich, zum Äussersten entschlossen.

»Es ist wahr, Pascualo,« beteuerte sie mit verzweifelter Hartnäckigkeit. »Dolores betrügt dich, betrügt dich mit Tonet.«

»Himmel und Hölle! Auch meinen Bruder mengst du noch hinein? …«

In seiner Wut konnte er nur wiederholen:

»Fort, Rosario, fort! Oder ich bringe dich um!«

Er packte sie an den Handgelenken und schüttelte die arme Frau so roh, dass sie jetzt wirklich für ihr Leben zitterte. Mit einem heftigen Ruck riss sie sich los.

»Ich kam, um dir einen Dienst zu erweisen,« rief sie empört und wich einige Meter zurück. »Du tatest mir leid, aber dir ist ja nicht zu helfen. Du Biest! … Du Hahnrei! …«

Und nachdem sie ihm diese beiden Schimpfworte ins Gesicht geschleudert hatte, ergriff sie die Flucht. Doch Pascualo machte keine Miene, ihr zu folgen.

»O, dieses schlechte Weib! Welches Unglück für Tonet, mit dieser Frau verheiratet zu sein!«

Wieder ging er auf dem Sande auf und ab, so nahe am Wasser, dass es bisweilen in seine derben Schuhe eindrang.

Es freute ihn, ihr seine Verachtung gezeigt zu haben. Aber trotz dieser Genugtuung begann sich etwas in seiner Brust zu regen – etwas, das ihn quälte, manchmal anschwoll und ihm die Kehle zudrückte.

Konnten Rosarios Anklagen nicht auf Wahrheit beruhen? … Sein Bruder war mit Dolores verlobt gewesen … Die Beiden sahen sich beständig, verbrachten auch viele Stunden miteinander allein … Carajo! Und er Einfaltspinsel hatte nicht den geringsten Verdacht gehegt, niemals auch nur eine Ahnung von seiner Schande gehabt! Wie musste das Dorf über ihn gelacht haben! …

Wütend fuchtelte er mit den geballten Fäusten und stiess entsetzliche Fluchworte aus, die sonst nur bei Sturmwetter aus seinem Munde kamen.

Aber nein, alles Hirngespinste! Was hatte ihm Rosario denn schliesslich gesagt? … Nur denselben Tratsch, mit dem ihn manchmal seine besten Freunde neckten. Unsinn! Dolores sollte Untreue begehen? … Diese Frau, die ihren kleinen Sohn vergötterte? …

Um seiner beklemmenden Angst zu entrinnen, ging er immer eiliger und brüllte mit einer durch die Erregung entstellten Stimme:

»Lügen, Lügen, nichts als gemeine Lügen!«

Dieser Ausbruch schaffte ihm Erleichterung. Er atmete tief auf, als hätte er dem Meer, den Schatten und den Barken die Verdächtigungen Rosarios widerlegt. Doch ach, der Feind in seinem Innern schwieg nicht, und während sein Mund das Wort »Lüge« unablässig wiederholte, dröhnte in seinen Ohren das letzte Wort seiner Schwägerin »du Hahnrei«.

Und warum sollte es nicht Wahrheit sein? Wenn eine Frau wie Rosario nur der Neid triebe, würde sie sich damit begnügen, Dolores im Dorfe zu verleumden. Aber ihr Gang hierher, zu ihm, bewies, dass sie von der Schuld der beiden völlig überzeugt war. Sicher hatte sie nur tiefste Verzweiflung zu diesem letzten Mittel greifen lassen.

Er bereute, seine Schwägerin so brutal behandelt zu haben. Hätte er nicht besser getan, sie ruhig anzuhören, um die ganze bittere Wahrheit zu erfahren? Lieber leiden – aber Gewissheit haben – als diese grausamen Zweifel!

»Vater! … Vater! Zum Essen,« rief eine fröhliche Kinderstimme vom Deck der Flor de Mayo.

Essen? Mit dieser Qual in seinem Innern, mit diesem bleiernen Gewicht, das auf ihm lastete?

Pascualo näherte sich seiner Bark.

»Ihr esst ohne mich,« befahl er der Mannschaft. »Ich muss noch zum Dorf. Falls ich nicht zurückkomme, schlaft an Bord. Und beim Morgengrauen ist das Boot klar.«

Ohne sein Söhnchen zu beachten, machte er kehrt und durchquerte stieren Blicks den finsteren Strand. Manchmal stiess er gegen eine alte, abgetakelte Barke, manchmal versanken seine Schuhe tief in den grossen Wasserlachen.

Mit seinem Entschluss, Rosario aufzusuchen, kam eine wohltuende Ruhe über ihn. Das schreckliche Dröhnen in den Ohren liess nach, auch die scharfen Stiche im Kopf hörten auf. Der schwere Druck auf der Brust verschwand, und er fühlte sich jetzt leicht, ganz leicht. Nur der erstickende Knoten in der Kehle blieb und ein salziger Geschmack auf der Zunge, als hätte er Seewasser getrunken.

Jetzt würde er alles erfahren, alles! Eine grausame Befriedigung! … Hätte er es sich jemals träumen lassen, einmal nachts wie ein Verrückter nach Rosarios Hütte zu laufen – quer über den Strand, um die belebten Strassen zu vermeiden? …

Endlich konnte er in die ärmliche Gasse einbiegen, in der nichts als baufällige Hütten hinter windschiefen Bretterzäunen standen.

Vor Rosarios Häuschen angelangt, stiess er die Haustür mit solcher Wucht auf, dass sie laut gegen die Wand knallte. Seine Schwägerin sass, das Gesicht in den Händen vergraben, neben einer kleinen, schwelenden Lampe. Ihre trostlose Haltung passte zu ihrer erbärmlichen Umgebung, diesem mehr als dürftigen Raum, an dessen kahlen Wänden eine Guitarre und einige zerrissene Netze hingen. Die Nachbarn hatten recht: diese Hütte roch nach Hunger und Hieben.

Bei dem Lärm hob Rosario den Kopf, und als sie den Rektor erkannte, dessen vierschrötige Figur die ganze Türöffnung füllte, zuckte ein bitteres Lächeln um ihren Mund.

»Ah … da bist du … Ich habe dich erwartet. Ich wusste, dass du kommen würdest. Ach, allen passiert ja dasselbe! Als man mir zum ersten Male schlecht von Tonet sprach, glaubte ich nichts und zankte mit meiner Freundin, die mir über seine Untreue die Augen öffnen wollte. Und dann … dann … suchte ich sie auf, flehte sie an, mir um Gottes willen alles zu sagen. So geht es jedem, der wirklich liebt und sich betrogen sieht. Erst bebt man vor Entrüstung, vor Wut auf den Verleumder; doch dann siegt die verfluchte Begierde, alles zu wissen, und sollte es einem auch die Eingeweide zerreissen. Ach, Pascualo, wie unglücklich sind wir beide!«

Der Rektor hatte die Tür hinter sich geschlossen und schaute feindselig auf seine Schwägerin herab. Ihr Anblick erweckte in ihm den instinktiven Hass, den man gegen jeden fühlt, der unsere Illusionen tötet.

»Sprich,« sagte er mit dumpfer Stimme, »aber sprich die lautere Wahrheit!«

Die Ungeduld verzehrte ihn, und dennoch wünschte er, dass die Sekunden zu Jahrhunderten würden, um Rosarios Enthüllungen in alle Ewigkeiten hinausschieben zu können.

Doch schon sprach sie.

»Bist du auch stark genug, alles zu hören? Ich muss dir sehr wehe tun und bitte dich, mir deswegen nicht zu grollen. Dolores betrügt dich, und nicht erst seit gestern. Die Beziehungen zu Tonet begannen schon wenige Monate nach meiner Heirat. Als diese Hündin sah, dass Tonet einer anderen Frau gehörte, bekam sie Appetit, und ihr verdanke ich die erste Untreue meines Mannes.«

»Beweise! … Ich will Beweise haben,« stöhnte der Rektor und stierte sie mit blutunterlaufenen Augen an.

Rosario lachte ironisch.

»Du willst Beweise? Hole sie dir im ganzen Dorf, das seit Jahren dieses Verhältnis fröhlich bekrittelt. Weisst du wohl, dass die Matrosen, wenn sie von einem betrogenen Ehemann sprechen, nur noch den Ausdruck gebrauchen: der hat Hörner wie der Rektor?«

»Carajo!« brüllte Pascualo ausser sich, »Rosario gib acht auf deine Worte. Es geht um dein Leben! …«

»Glaubst du, mir liegt etwas am Leben?« erwiderte Rosario. »Im Gegenteil, ich wäre froh, wenn es ein Ende nähme. Ohne Kinder, immer allein, lebe ich wie ein Tier und muss Hunger leiden, damit ich diesem Herrn ein paar Pesetas zustecken kann und so seinen rohen Schlägen entgehe. Sieh her, Pascualo, sieh her!«

Die Ärmel hochstreifend, zeigte sie ihm blutrünstige Stellen und grosse blaue Flecken.

»Das ist nicht alles! Am ganzen Körper kann ich gleiche Male aufweisen – Zärtlichkeitsbezeugungen meines Mannes, wenn ich ihm seine Beziehungen zu Dolores vorwerfe. Warum hat Tonet die erste Fahrt nicht mitgemacht? Weisst du, dass seine merkwürdige Verletzung an der Hand nur solange dauerte, bis die Flor de Mayo aus dem Hafen war? Schon am nächsten Tage haben ihn alle ohne Verband gesehen.

Armer Pascualo! Während du dich draussen plagtest, lag Tonet in deinem warmen Nest und machte sich mit Dolores über den einfältigen Bruder lustig. Jawohl, das ist wahr! Solange du auf der See warst, hat Tonet nicht ein einziges Mal hier geschlafen. Wie du siehst, ist er auch diese Nacht fort. Er kam nur auf einen Sprung, um seinen Sack zu holen.

Weine Pascualo! Deine Frau und dein Bruder glauben, dass du die Nacht über an Bord bleibst und sind vielleicht gerade jetzt im Begriff, sich in das breite Bett des Patrons zu legen.«

»Allmächtiger!« ächzte der Rektor. Er hob den Kopf, als suchte er dort oben Hilfe.

Aber noch immer ergab er sich nicht. Sein biederer Charakter konnte diese Ungeheuerlichkeit nicht fassen. In seiner Pein murmelte er wieder mit gepresster Stimme:

»Lügen … nichts als gemeine Lügen!«

Doch jetzt wurde Rosario zornig.

»Lügen? … Für Männer, die so mit Blindheit geschlagen sind wie du, gibt es keine Beweise. Ach, Pascualo, du tust mir leid! Ist dir denn noch nie aufgefallen, wem dein Kleiner ähnlich sieht?«

Das war der härteste Schlag! Trotz der Bronzepatina wurde das Gesicht des Rektors leichenblass. Als hätte ihn eine Kugel getroffen, schwankte er auf seinen robusten Beinen.

»Mein Sohn? … mein Pascualet? …« stammelte er. »Mein ist er, ganz mein, und nur mir kann er gleichen!«

Wie diese verfluchte Kreatur lachte! Fand sie es komisch, dass er seine Vaterschaft betonte? …

»Was hat Pascualet von dir? Nichts! … Aber seinem Onkel ist er wie aus dem Gesicht geschnitten. Augen, Gesichtszüge, die schlanke Figur, alles hat er von Tonet. Armer Rektor! Denk' zurück an die Bark eurer Mutter. Genau wie Pascualet sah der kleine Tonet aus, als er sich den ganzen Tag am Strande herumtrieb.«

Der Rektor zweifelte nicht mehr. Alles – Menschen und Dinge – erschien ihm jetzt in seltsamer Klarheit, wie einem Blinden, der plötzlich sehend wird. Rosario sprach die Wahrheit: sein Sohn war ein getreues Abbild seines Bruders. Oft schon hatte er den vagen Eindruck einer Ähnlichkeit gehabt, doch ohne sich klar werden zu können, an wen ihn das Kind erinnerte.

Seine gekrampften Hände griffen an die Brust, als wollte er etwas herausreissen, das ihn tief drinnen verbrannte. Dann hieb er sich wild mit der Faust vor die Stirn.

»Verflucht!« stöhnte er heiser, »verflucht! …«

Taumelnd wie ein Betrunkener machte er zwei Schritte und brach wie ein Klotz zusammen.

Als er wieder zu sich kam, fühlte er auf seiner Backe ein warmes Rieseln. Mühsam hob er eine Hand an sein schmerzendes Gesicht und zog sie blutbedeckt zurück. Was war passiert? …

Erst der Anblick Rosarios, die mit einem feuchten Tuch neben ihm kniete, brachte ihm alles wieder zum Bewusstsein.

»Lass sein! Ich will keine Hilfe von dir,« sagte er mit hasserfüllten Augen. »Und bitte keine Entschuldigungen! Im Gegenteil, ich muss dir danken … Gut, dass ich so viel Blut verloren habe, sonst hätte mich vielleicht der Schlag gerührt … Aber wartet, jetzt ist die Reihe an mir, sich zu amüsieren. Ich bin es satt, mich abzurackern, wenn Lumpen und liederliche Frauen derweile das Heim beschmutzen. Ah, Cabañal soll sich noch lange an den Rektor erinnern, an den berühmten Hahnrei!«

Er ging zur Tür. Doch der Ausdruck seines Gesichts war so grauenhaft, dass Rosario ihm den Weg vertrat. Im Moment, als sie für Tonets Leben zitterte, lebte die alte Leidenschaft wieder auf.

»Bleib, Pascualo! Du musst erst ruhiger werden. Und vielleicht behältst du recht, dass alles nur Geschwätz ist.«

»Deine Worte sind vergeblich, Rosario. Ich bin vollkommen überzeugt – mein Herz sagt mir, dass es Wahrheit ist. Du hast jetzt Angst um Tonet, weil du ihn noch immer liebst. So geht es mir mit Dolores. Ich glaube, sie könnte anstellen, was sie wollte – es wäre mir unmöglich, die Liebe zu dieser Hure aus meinem Herzen zu reissen. Und trotzdem sollst du samt dem ganzen Dorf sehen, wie der Hahnrei mit so etwas fertig wird.«

»Bitte, Pascualo,« flehte Rosario, sich an seinen Arm klammernd, »warte noch! Nicht heute Nacht!«

»Du kannst ruhig sein, Rosario. Heute Nacht, nein … Übrigens habe ich auch mein Messer an Bord gelassen. Aber zum Teufel, mach' jetzt Platz! …«

Er riss sich los und stürzte auf die Strasse.

Draussen war seine erste Empfindung ein Gefühl des Wohlbehagens. Er glaubte aus einem Backofen zu kommen und atmete mit Wonne die kühle Luft ein.

Kein Stern erhellte die dunkle Nacht. Und trotz allem, was er eben durchgemacht hatte, prüfte Pascualo aus alter Seemannsgewohnheit den bedeckten Himmel: schlechtes Wetter war im Anzuge. Doch dann vergass er sowohl die See als auch den drohenden Sturm. Er versank in einen Dämmerzustand und wanderte, ohne irgend etwas zu denken, zweck- und ziellos umher. Rein automatisch bewegten sich die Beine, während das Geräusch seiner Schritte in seinem leeren Hirn widerhallte.

Welche Wohltat, im Schutze der Dunkelheit durch die Strassen zu gehen! Das Schweigen der Nacht löste in ihm dieses Gefühl der Erleichterung aus, das der Flüchtling empfindet, wenn er, fern von seinen Verfolgern, die Geborgenheit der Einsamkeit erreicht.

Aus der geöffneten Tür einer Taverne fiel ein breiter Lichtstreifen quer über die Strasse, und zitternd floh er zurück, als drohte ihm dort eine Gefahr.

Ah, wenn ihn jemand gesehen hätte! … Was er suchte, war Dunkel und Stille! Und unermüdlich schritt er aufs Geratewohl weiter, bald durch die öden Dorfstrassen, bald über den verlassenen Strand, der ihm gleichfalls Furcht einjagte. Carajo! Wie mochten ihn die Fischer vorgenommen haben, wenn sie hier zusammenstanden!

Einmal fand er sich ganz nahe bei seiner Barke wieder, ein anderes Mal vor seiner Haustür, die Hand schon nach dem Türklopfer ausgestreckt … Wie toll rannte er davon. Erst sich beruhigen, sich sammeln! Es blieb Zeit genug …

Allmählich riss ihn dieses mechanische Überlegen aus seiner Erstarrung heraus und führte ihn in die Wirklichkeit zurück. Nein, er gab nicht klein bei. Niemals! Die ganze Welt sollte erfahren, wie er seine Schande rächte. Aber das hinderte nicht, dass er Entschuldigungsgründe für Dolores fand. Was konnte sie für ihr Blut? Sie war der echte Spross des alten Paella, dieses Trunkenboldes, aus dessen Munde sie nichts als Schweinereien gehört hatte. Wie sollte sie nicht liederlich werden? Nein, die Schuld lag ganz auf seiner Seite. Warum beging er die ungeheure Dummheit, sich eine Frau zu nehmen, die in solchem Schmutz aufgewachsen war?

Aber Tonet? … Den eigenen Bruder zu entehren! Ah, dem würde er die Seele aus dem Leibe reissen!

Doch kaum stieg in seinem Herzen dieser glühende Rachedurst auf, als auch schon die Stimme des Blutes Protest erhob. Kann man überhaupt einen Bruder töten? … Nur Kain hatte es fertig gebracht – Kain, von dem der Pfarrer von Cabañal mit solchem Abscheu sprach.

Und dann, war Tonet wirklich so schuldig? … Nein, auch hier traf ihn selbst die grösste Schuld. Wusste er vielleicht damals nicht, dass er Tonet die Braut nahm?

Alles hatte notwendigerweise so kommen müssen. Konnten die beiden dafür, dass die alte Liebe wieder erwachte?

Niedergeschmettert durch das Gefühl seiner eigenen, für ihn so klar zutage liegenden Schuld, machte er halt. Als er um sich blickte, sah er ganz in der Nähe die Taverne seiner Mutter.

Die düstere, von einem morschen Bretterzaun umgebene Bark liess die Vergangenheit vor ihm aufstehen. Er sah sich wieder am Strand, mit Tonet auf dem Rücken, diesem ruhelosen Teufelchen, das ihn mit seinen Launen quälte; meinte wieder die Wärme dieses kleinen Körpers zu spüren, der sich auf der schmalen Matratze an ihn drängte und das braune Köpfchen an seine Schulter legte.

Sein Bruder – mehr als das, fast sein Kind! Und ihn sollte er töten? … Grosser Gott, wie hatte er nur solche ungeheuerliche Idee fassen können! Nein, er würde verzeihen. Nicht umsonst war er Christ.

Die tiefe Ruhe am Strand und die Abwesenheit von Menschen machten sein wundes Herz weich. Das Unglück schärfte seine Einsicht.

Nur Gott sah ihn in diesem Augenblick, nur ihm hatte er Rechenschaft abzulegen. Und was kümmerte es Gott, ob eine Frau ihren Mann betrog? … Kleinigkeiten, Erbärmlichkeiten dieses Gewürms, das die Erde bevölkert. Das Einzige, worauf es ankam, war, gut zu sein, auf den Betrug nicht mit einem neuen Verbrechen zu antworten.

Langsam kehrte der Rektor nach Cabañal zurück. Er fühlte eine ungeheure Erleichterung, als dränge die Kühle der Nacht in sein glühendes Innere.

Die Kirchturmuhr schlug zwei. Wie schnell die Zeit vergangen war. Aber wie endlos würden die Stunden bis zum Morgengrauen sein!

Als er in die erste Dorfstrasse einbog, hörte er eine singende Knabenstimme und konnte allmählich auf dem anderen Trottoir einen Schiffsjungen erkennen, der mit zwei Riemen und einem Bündel Netze zu seinem Boot zurückkehrte.

Im Nu warf diese Begegnung alle seine guten Vorsätze über den Haufen, liess ihn nur noch an seine dem ganzen Dorf bekannte Schande denken.

Ein höhnisches, schneidendes Lachen.

Wer sprach von Verzeihung? … Solche Hirnverbranntheit! Feigling! Sein ganzes Gewinsel eben weiter nichts als Entschuldigungen einer Memme, Vorwände eines Mannes, dem es an Mut zur Rache fehlt. Don Santiago, der so schön zu predigen verstand, der mochte verzeihen! … Aber er, Pascualo? Er war ein Seemann, mit derselben Bravour wie ein Stier in der Arena.

Verzeihen! … Das wäre in einer Wüste möglich gewesen, doch nicht in diesem Dorf, wo alle ihn kannten. In wenigen Stunden würden Hunderte von Menschen durch die Strassen eilen und sich bei seinem Anblick schmunzelnd anstossen: »dort geht Pascualo, der Hahnrei.«

Carajo! Tonet musste sterben, ebenso Dolores … und das halbe Dorf, wenn es versuchen sollte, sich seinem Vorhaben entgegenzustellen. Dann später … nach Gottes Willen! Ob auf dem Deck seiner Bark oder am Galgen – ihm machte es verflucht wenig Unterschied, auf welchen Brettern er umkam. Und jetzt, zum Teufel, vorwärts!

Mit gekrümmten Armen, den Kopf gesenkt, stürmte er los, stiess sich in seiner blinden Wut an den Häuserecken. Doch Instinkt und Mordlust führten ihn auf dem nächsten Wege nach seinem Hause.

Er ergriff den Klopfer, und die wilden Schläge liessen die starken Bohlen der Türfüllung erdröhnen. Er wollte schreien, dieses verruchte Paar zwingen herauszukommen – er konnte nicht. Sein Kopf war gelähmt, sein ganzes Leben konzentrierte sich auf die Hände, die den Klopfer beinahe abrissen.

Ah, das genügte nicht, um die Kanaillen aufzujagen? Schnell bückte er sich, nahm von der Strasse einen schweren Stein und schmetterte ihn mit solcher Gewalt gegen die Tür, dass das ganze Haus erbebte.

Dem Lärm folgte eine tiefe Stille, in der sein Ohr das leichte Geräusch vorsichtig sich öffnender Fenster vernahm. Nur das nicht! Nur nicht den Nachbarn neuen Grund zum Spott geben! Das Lächerliche dieses Auftritts – sein vergebliches Hämmern an der Tür seines eigenen Hauses, während sich die beiden drinnen befanden – kam ihm zum Bewusstsein, und eiligst lief er fort, um sich an der nächsten Strassenecke auf die Lauer zu legen.

Einige Minuten noch erklang Flüstern und Gekicher. Dann versank die Strasse wieder in Schweigen.

Jetzt aufpassen, dass sein Bruder ihm nicht entwischte! Sein Bruder? … Nein, nicht sein Bruder ein Schurke, den man züchtigen musste. Schade, dass er das Messer nicht bei sich trug! Aber irgendwie würde er ihm schon ein Ende machen, ganz gleich, ob er ihn erwürgte oder ihm mit einem Stein den Schädel einschlug. Und dann ins Haus, um Dolores den ruchlosen Leib mit einem Küchenmesser aufzuschlitzen … Doch, wer weiss, vielleicht fiel ihm beim Warten noch etwas Besseres ein!

In seinem Winkel zusammengekauert, dachte er sich mit wilder Lust die grausamsten Martern aus und wandte sie im Geist eine nach der anderen bei dem infamen Paar an – spielte sogar mit dem Gedanken, die beiden auf einem alten Wrack am Strande langsam zu rösten.

Welche Kälte! Eine lähmende Schwäche ergriff den ganzen Körper. Die Feuchtigkeit der Nacht drang ihm bis in die Knochen, und der leere Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Drei Uhr! Verging die Zeit denn überhaupt nicht? … Und Pascualo hockte weiter in seiner Ecke mit dem verschwommenen Empfinden, dass die Erstarrung seiner Glieder allmählich auch auf seine Gedanken übergriff. Er dachte nicht mehr an schauerliche Vergeltungsakte. Sein Hirn schien ausgebrannt, und die ganze Energie, deren er fähig war, verwendete er darauf, die Augen auch nicht eine Sekunde von seiner geschlossenen Haustür zu trennen.

Längst schon hatte es halb vier geschlagen, als er ein leises Knarren zu hören glaubte. Sachte, ganz sachte öffnete sich die Tür. Eine Gestalt hob sich undeutlich von der dunklen Öffnung ab und blieb sekundenlang regungslos stehen.

Wieder das gedämpfte Knarren. Die Tür schloss sich. Im selben Moment richtete Pascualo mühsam seinen steif gewordenen Körper auf. Seine Stunde war gekommen.

Er lief auf die Gestalt zu; aber der Mann, der das Haus verlassen hatte, verfügte über ausgezeichnete Beine. Als er jemanden nahen sah, machte er einen Riesensatz und rannte in Windeseile davon. Und die Nachbarn hörten in ihren Betten die wilde Jagd der beiden Männer, unter deren Stiefeln das Pflaster erdröhnte.

Keuchend folgte Pascualo seinem Todfeind, dessen Figur kaum zu erkennen war. Nur das helle Bündel, das der Mann vor ihm auf der Schulter trug, ermöglichte es dem Rektor, auf der Spur zu bleiben. Doch trotz aller Anstrengungen vergrösserte sich die Entfernung zwischen ihm und dem Verfolgten immer mehr. An einer Strassenkreuzung verlor er ihn ganz aus den Augen. Vergebens spürte er noch eine Zeitlang in den angrenzenden Strassen umher: der Flüchtende blieb verschwunden, von der Nacht verschluckt.

Welche Beine dieser Lump besass! … Und diese Schnelligkeit verriet dem Rektor nur zu gut, dass er es mit seinem Bruder zu tun hatte, dessen Behendigkeit jedermann in Cabañal kannte.

Schon öffneten sich die Haustüren; die ersten Frühaufsteher gingen zur Arbeit, und die Angst, von irgend jemandem gesehen oder angesprochen zu werden, trieb Pascualo zum Strand.

Bei den Barken, wo die kleinen Laternen der Matrosen wie Leuchtkäfer blitzten, herrschte schon emsige Tätigkeit.

In der Taverne seiner Mutter war Licht. Roseta hatte bereits die Holzläden aufgemacht und wartete, in einen Manton gehüllt, mit rotem Näschen auf die ersten Kunden.

Ohne zu wissen wie, stand Pascualo vor dem Schanktisch.

»Gib mir ein Glas Rum!«

Statt einzuschenken, musterte ihn seine Schwester mit forschendem Blick. Den Rektor überlief ein leichtes Zittern. Dieses junge Ding, wie sie alles erriet …

Um seine Verwirrung zu verbergen, wurde er grob.

»Zum Teufel, hast du mich nicht verstanden? Ich will ein Glas Rum!«

Er brauchte ihn wirklich, um die tödliche Kälte zu vertreiben, die bis in seine Eingeweide hineinkroch. Und mit dem ersten Schluck bekam er Lust, sich zu berauschen, im Alkohol sein ganzes Elend zu ertränken.

Das Glas war leer.

»Ein anderes! … Noch eins! … Noch eins!«

Und während er Glas für Glas in einem Zuge hinunterstürzte, schienen die klaren Augen Rosetas in seiner verstörten Miene zu lesen, was sich zugetragen hatte.

Pascualo fühlte sich wohler. Wie der Rum belebte! Die kalte Morgenluft schien wärmer zu werden, und unter der Haut spürte er ein angenehmes Kitzeln. Fast musste er jetzt über die wilde Verfolgung in den Strassen lachen.

Es drängte ihn, gut zu sein – alle Menschen zu lieben, angefangen bei seiner kleinen Schwester.

»Roseta, du bist der Stolz unserer Familie. Alle anderen sind nichts als Schweine, und ich in erster Linie. Und wie du die Menschen kennst! Es stimmt, was du sagst: entweder sind die Männer Lumpen oder Trottel. Verachte sie – aber heuchle niemals Liebe, um nachher zu betrügen.«

Von seinen eigenen Worten und dem Alkohol erregt, hatte er immer lauter gesprochen. Jetzt knackte in Siña Tonas Kabine eine Matratze, und durch den Vorhang fragte eine liebevolle Stimme:

»Bist du es, Pascualo?«

»Jawohl, Mutter,« antwortete der Rektor, »ich bin auf dem Wege nach meiner Bark. Bleib noch liegen, das Wetter ist schlecht.«

Der Morgen graute. Am Horizont erschien ein fahles, verschwommenes Licht, doch der Himmel blieb vollkommen bedeckt. Dichter Nebel hüllte alles ein.

Pascualo forderte noch ein Glas, das letzte. Bevor er ging, streichelte er mit seinen schwieligen Händen Rosetas frische, runde Wange.

»Adiós, Roseta! Du bist die einzige anständige Frau in Cabañal. Ich, dein Bruder, muss es wissen. Sei klug und heirate nie!«

Als der Rektor, gleichmütig ein Liedchen pfeifend, sich der Flor de Mayo näherte, würde jeder geglaubt haben, dass er sich in der besten Stimmung befände, wenn nicht der sonderbare Glanz seiner Augen gewesen wäre, die aus dem vom Alkohol geröteten Gesicht herauszuquellen schienen.

Auf dem Deck stand Tonet. Neben ihm lag sein Kleidersack – derselbe weisse Sack, der bei der Flucht durch die Strassen Cabañals auf seiner Schulter auf und nieder hüpfte.

»Bòn dia, Pascualo,« rief er seinem Bruder schon von weitem zu und winkte freundlich mit der Hand.

Ah, dieser Lump! … Und schamlos wie kein anderer! Doch ehe Pascualo, der wieder die tolle Erregung in sich aufsteigen fühlte, antworten konnte, sah er sich von verschiedenen Fischern umringt.

Die Eigentümer der Barken beratschlagten. In Gruppen zusammenstehend, beobachteten sie forschend den Horizont. Der Himmel sah nach Sturm aus. Schade! Der Fisch zeigte sich draussen so massenhaft, dass man ihn fast mit den Händen greifen konnte. Aber schliesslich – die eigene Haut war mehr wert als das beste Geschäft. So herrschte nur eine Meinung: man musste an Land bleiben.

Doch Pascualo protestierte heftig.

»An Land bleiben? … Das passt für andere. Ich fahre. Noch habe ich kein Wetter erlebt, das mir Furcht eingejagt hätte.«

Damit drehte er ihnen den Rücken, froh, von diesen Menschen fortzukommen, die seine Schande kannten.

»Segel hissen!« befahl er seinen Leuten kurz.

Die Mannschaft gehorchte; nur Batiste wagte, Einwendungen zu machen.

»Cristo, das ist ja Wahnsinn! Rektor, wo hast du deine Augen? Siehst du nicht die Sturmzeichen am Horizont?«

»Still, Alter! Das sind Regenwolken. Und auf eine Regenböe mehr oder weniger kommt es nicht an.«

Aber Batiste gab nicht nach.

»Sehr fraglich, ob es Regen- oder Windwolken sind. Und ist es Wind, dann können alle, die in diesen Sturm hineinkommen, das letzte Vaterunser beten!«

»Marsch, nach Hause, Batiste!« fuhr der Rektor, der den Alten sonst stets mit Achtung behandelte, ihn barsch an. »Du taugst wirklich nur noch zum Sakristan. Ich kann keine Feiglinge auf meiner Barke gebrauchen.«

»Hölle und Tod! … Ich ein Feigling?« entrüstete sich der Greis. »Verdammt! Möge der heilige Christus von Grao mir die Sünde verzeihen … aber wäre ich zwanzig Jahre jünger, so würde ich dir jetzt mein Messer in den Leib bohren. In See! … Und möge uns alle der Teufel holen!«

Tief empört half er beim Segelsetzen, und kurz darauf stiess die Flor de Mayo mit ihrer Partnerbark vom Strande ab.

Betreten schauten die anderen Patrone den beiden Booten nach.

»Der Rektor ist wohl übergeschnappt? … Aber vielleicht macht er gerade heute ein glänzendes Geschäft und wir stehen hier mit den Händen in den Hosentaschen!«

Diese Möglichkeit weckte ihren Neid – als ginge Pascualo darauf aus, die gesamten Fische im Meer zu erbeuten.

Schliesslich entschlossen sich die Verwegensten gleichfalls zu Fahrt.

»Klarmachen!«

Der Befehl wirkte ansteckend. Jetzt wollte keiner mehr bleiben.

Und während die Frauen kreischten und dem Rektor laute Verwünschungen nachsandten, stürzte Siña Tona im Unterrock herbei.

»Pascualo!« schrie die arme Frau durch ihre als Schalltrichter um den Mund gelegten Hände, »mein Sohn, dreh' um! … Dreh' um!«

Umsonst! Die Boote waren schon zu weit draussen, und ungehört verhallte ihr Ruf auf dem Wasser.

»Maria Santisima! Ich sehe sie nicht wieder!« klagte die Alte und brach in verzweifeltes Schluchzen aus.

Eine Viertelstunde später wurde der Nebel dieses sturmverkündenden Morgens durch ein Gewimmel weisser Flecke zerrissen, die in toller Fahrt seewärts eilten, wie angezogen von dem Verhängnis.


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