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3. Kapitel.
Die Rückkehr.

Wieder standen Juwel und ihr Großvater am Kai, wo die großen Schiffe, die sich ihren Weg durch die mächtige See bahnen, zum Schluß alle so zahm an ihren Platz zurückkommen, wie Pferde in den Stall.

Das letztemal, als Großvater und Enkelin hier standen, waren sie einander fremd und beobachteten die Abfahrt des Ehepaares, auf dessen Rückkunft sie nun Hand in Hand warteten.

»Juwel, du hast mich veranlaßt, zuviel zu essen,« bemerkte Herr Evringham. »Mir ist, als wäre mein Rock zu fest zugeknöpft. Heute morgen war ich bei meinem Schneider, und was meinst du, was er mir gesagt hat?«

»Was er gesagt hat? Daß du neues Zeug haben müßtest.«

»Ach, das sagt er immer. Er meinte, ich würde stark. Was meinst du dazu, kleines Fräulein?«

»Ich glaube, das wirst du auch, Großpapa,« erwiderte die Kleine, ihn kritisch betrachtend.

»Ja, dich läßt es kalt. Nimm' mal an, ich büßte meine Taille ein und alles durch deine Schuld!«

Juwel zog das Kinn zurück und lächelte.

»Denk' mal, wenn ich nur noch umherwatscheln könnte. Was dann?«

Sie lachte. »Aber wie könnte das meine Schuld sein?« fragte sie.

»Hast du nie sagen hören: wer lacht, wird fett? Wie oft hast du mich ins Lachen gebracht, seit wir vom Bureau fort sind!«

Juwel riß ihn an der Hand beim Hin- und Herhüpfen.

»Großpapa, glaubst du, daß unser Bild gut wird?«

»Deins ja, denke ich!«

»Deins nicht?« Sie hörte auf zu hüpfen.

»O ja, wahrscheinlich großartig. Ich habe so lange keins machen lassen, wie kann ich es dann noch wissen. Aber diesen Tag kann uns niemand nehmen, Juwel. Dieser 8. Juni war ein schöner Tag, nicht wahr? – und vergiß nicht, daß du nicht von den Bildern sprechen sollst, bis wir sehen, wie sie ausfallen.«

»Ja, haben wir uns nicht köstlich amüsiert? Das schöne Hotel und die Spazierfahrt im Park und dann die Fahrt im Boot und« –

»Da du gerade vom Boot sprichst, sieh' hin, da ist das Schiff! Sie kommen!« rief Herr Evringham.

»Wer?«

»Herr und Frau Harry Thayer Evringham,« sagte der Makler trocken. »Ruhig, Juwel, sei jetzt still. Es dauert noch eine ganze Weile, ehe du sie sehen wirst.«

Das letzte Zwielicht war erloschen. Die Juninacht sank herab. Der Kai, schwach beleuchtet, war wie gewöhnlich angefüllt mit Zollbeamten, Gepäckträgern und Leuten, die ihre Freunde begrüßen wollten. Alles wogte vor Juwels starrem Blicke hin und her wie Figuren in einem Kaleidoskop; die Minuten schienen sich endlos zu dehnen, bis schließlich zwischen den Passagieren, die in langer Reihe hintereinander die steile Planke vom Schiff herunterkamen, ihre Eltern auftauchten.

Herr Evringham trat einen Schritt zurück, als Vater, Mutter und Kind sich umarmten, küßten und mit leisen Ausrufen begrüßten. Harry machte sich zuerst frei und schüttelte seinem Vater die Hand.

»Riesig nett von dir, uns hier am Hafen zu begrüßen,« sagte er herzlich.

»O bitte,« sagte der Makler, und Julia ließ nun auch Juwel los und wandte Herrn Evringham ihr dankstrahlendes Gesicht zu.

»Und wieviel anderes ist noch gut von Ihnen,« sagte sie innig, als sie ihm ihre Hand hinhielt. »Wir werden noch lange nicht mit Danken fertig werden.«

»Gar keine Ursache, bitte sehr,« erwiderte der alte Herr frostig, trotzdem das Herz ihm in der Brust brannte. »Welche Anmaßung, mir zu danken, daß ich für Juwel gesorgt habe!« dachte er, als er die Hand seiner Schwiegertochter fallen ließ.

»Was für ein Eisberg!« dachte sie. »Wie hat Juwel das nur so fröhlich ertragen können? Ach, das gesegnete, liebevolle Herz eines Kindes!«

Währenddessen wandte sich Herr Evringham an seinen Sohn. »Hier am Hafen müssen wir uns ein wenig kurz fassen. Es wartet ein Zollbeamter auf uns.«

Harry folgte ihm, um nach dem Gepäck zu sehen, und Frau Evringham setzte sich mit Juwel auf einen der umherstehenden Koffer. Sie legte den Arm um die Kleine, und Juwel lehnte sich fest an die Mutter. »Ach,« rief sie plötzlich und sprang auf, »Frau Forbes meinte, ich täte besser, mein Matrosenkleid anzuziehen statt des seidenen, weil ich mich leicht auf etwas Schmutziges setzen könnte.« Vorsichtig schlug sie den Rock des Kleides hoch und setzte sich auf ihren sehr kurzen Unterrock.

Frau Evringham fragte lächelnd: »Frau Forbes gibt gut acht auf dich, wie?« Ihr Herz war stürmisch bewegt von dem Glück des Wiedersehens, und sie war gespannt auf die Erlebnisse ihres Kindes in den letzten zwei Monaten. Juwels Briefe hatten sie überzeugt, daß sie zufrieden sei, und die Freude über ihr Pony war deutlich darin zum Ausdruck gekommen. Das Bild, das sich die Mutter im Geiste von dem steifen, kalten Mann gemacht, dessen zweifelhafter Fürsorglichkeit sie ihr Kind so willig anvertraut hatte, war durch Juwels Schilderungen gemildert worden; es war daher eine erschreckende Enttäuschung für sie, sich von derselben unnachgiebigen Persönlichkeit abgestoßen zu fühlen, dieser mit peinlichster Sorgfalt gekleideten Gestalt mit dem starren Gesicht und den kalten Augen, die ihr so wohl im Gedächtnis geblieben waren. Viele dringende Fragen kamen ihr auf die Lippen, aber sie hielt sie zurück.

»Juwel muß einen Einblick in den wirklichen Menschen getan haben,« dachte sie, »ich darf ihre Wahrnehmung nicht verdunkeln.« Sie kam jedoch nicht auf die Vermutung, daß selbst jetzt das Kind etwas anderes als Scheu vor dem strengen Beschützer empfinden könne, wenn es ihr auch gelungen war, in Frieden mit ihm zu leben, und er ihr von Zeit zu Zeit Geschenke gemacht hatte. Auf eins derselben fiel eben Frau Evringhams Blick.

»Ach, da ist ja deine hübsche Uhr!«

»Ja,« entgegnete das Kind, »das ist der kleine Getreue. Reizend, nicht wahr?«

Die Mutter berührte lächelnd den kleinen Engelskopf.

»Hast du ihm den Namen gegeben? Aber wirklich, Juwel, er ist schön. Wie gut von Großvater.«

»Nicht wahr? Ich bekam ihn, damit ich mich mit Annabel nicht zu lange in der Schlucht aufhalten sollte.«

»Wie geht's Annabel?«

»Meine liebe Annabel!« rief die Kleine zärtlich. »Wie hätte sie sich amüsiert, wenn sie mitgedurft hätte! Aber siehst du, ich mußte beide Hände frei haben, um die Taschen tragen zu helfen. Das begriff sie und ließ euch grüßen. Sie wird noch auf sein und auf euch warten.«

Frau Evringham sah zu Harry und dessen Vater hinüber.

»Ich bin nicht sicher,« begann sie, »ich glaube kaum, daß wir heute abend mit nach Bel-Air gehen. Was meinst du, möchtest du wohl mit uns in der Stadt im Hotel bleiben, dann könnten wir morgen hinausfahren und deinen Koffer packen.«

Juwel schien wenig erbaut davon. »Aber, Mutter, wie schwer, solange zu warten,« entgegnete sie. »Hotels sind fein; Großpapa und ich haben heute in einem zu Mittag gegessen. Es heißt das Waldorf-Hotel, und drinnen ist ein Garten, gerade wie draußen; aber ich dachte, du hättest es eilig, Stern zu sehen, und die Schlucht der Glückseligkeit und Sek.«

»Gut, wir wollen es abwarten,« erwiderte Frau Evringham. Es schien ihr mehr als zweifelhaft, ob man sie einladen würde, nach Bel-Air-Park zu kommen, selbst für eine Nacht; aber das mußte Harry erledigen. »Wir wollen sehen, was Vater sagt,« fügte sie hinzu. »Was für ein reizendes Medaillon hast du denn da, mein Kleinchen!« damit griff sie nach einem goldenen Herzchen, das, an einer feinen Kette befestigt, Juwels Hals zierte.

»Ja. Das hat mir Cousine Heloise geschenkt zum Abschied. Sie hat es bekommen, als sie so klein war, wie ich jetzt bin; sie sagte, ihr Herz bliebe bei mir zurück. Wie leid tut es mir, daß du Heloise nicht kennenlernst.«

»Wieso? Ist sie mit ihrer Mutter fortgegangen? Wurde es ihnen schwer? Dachte Frau Evringham vielleicht –« Die Sprecherin brach ab. Sie erinnerte sich an Juwels Brief über die Sachlage.

»Nein, es wurde ihnen nicht schwer. Sie sind an die See gegangen. Cousine Heloise und ich haben uns sehr lieb, und ihr Zimmer ist jetzt so leer, daß ich immer denken mußte: Mutter kommt, und alles ist gut. Ich glaube, Heloise ist das hübscheste junge Mädchen von der Welt, und seit sie aufgehört hat, traurig zu sein, haben wir soviel Scherz getrieben.«

»Ich hätte sie gern kennengelernt,« sagte Frau Evringham herzlich. Es verlangte sie, Heloise zu danken, daß sie ihrem Kinde den Sonnenschein der Liebe gespendet hatte, während der Großvater ihre materiellen Bedürfnisse befriedigte. Sie blickte auf Juwel, die wie ein Bild von Gesundheit und Zufriedenheit aussah. Die kleinen Schmucksachen legten Zeugnis ab von der Fürsorge und der Liebe, die ihr zuteil geworden.

»Die göttliche Liebe hat sich uns wieder klar bewiesen, Liebling,« sagte sie sanft und drückte ihr Kind fester an sich. »Sie hat Vater und Mutter über den Ozean zurückgeleitet und hat dir, während wir fort waren, so liebevolle Freunde beschert.«

Erst später sollte Frau Evringham etwas erfahren von den ersten Tagen dieser kleinen Pilgerin in Bel-Air; aber die Schatten waren aus Juwels Bewußtsein so gänzlich entschwunden, daß sie selbst nichts davon hätte berichten können – nicht einmal, soweit es ihr derzeit klar geworden war.

»Ja, Mutter, ich liebe Bel-Air und alle, die dahin gehören. Sogar Tante Magda küßte mich, als sie fortging und sagte: ›Adieu, du komisches kleines Ding du!‹«

»Was meinte sie damit?« fragte Frau Evringham.

»Ich weiß nicht. Ich habe es Großpapa nicht gesagt, weil ich dachte, es wäre ihm vielleicht nicht recht, daß man mich komisch nennt, aber Sek habe ich gefragt.«

»Das ist Herrn Evringhams Kutscher, nicht wahr?«

»Ja, und so ein netter Mensch; aber er sagte nur, bei Tante Magda seien Schrauben los. Ich fragte ihn, was für Schrauben, – da meinte er, sie müßten wohl von Blech sein, weil sie soviel Blech schwatzte, und los, weil jeder sich freute, sie los zu sein. Weißt du, Sek ist so ein Spaßvogel, – damit weiß ich nun aber noch nicht, was Tante Magda meinte, und es ist auch ganz einerlei, weil –« Juwel reckte sich hoch und umarmte ihre Mutter, »weil du wieder da bist.«

Die beiden Herren traten hinzu. »Jetzt ist keine Zeit mehr, zärtlich zu sein,« sagte Harry vergnügt. »Wir gehen jetzt, kommt, Kinder.«

Schließlich blieb für Juwel nichts zu tragen übrig. Ihr Vater und ihr Großvater nahmen die Taschen und das übrige Handgepäck. Herr Evringham führte sie zu einem bereitstehenden Wagen.

»Das ist der unsrige,« sagte er und öffnete die Tür.

Harry reichte dem Kutscher das Gepäck hinauf, und seine Frau stieg ein, noch immer im Zweifel über ihren Bestimmungsort. Juwel sprang auf den Sitz neben ihr.

»Setz' dich lieber auf die andere Seite, hörst du, Kleinchen,« sagte ihre Mutter leise. »Überlasse Herrn Evringham den Vordersitz.«

Sie wunderte sich nicht darüber, daß Juwel nichts von der Etikette des Fahrens kannte. Ihre Verhältnisse hatten ihnen nicht erlaubt, öfter einen Wagen zu nehmen.

Der Makler hörte ihre Ermahnung. »Ehre den Damen,« sagte er kurz und drängte das Kind mit einer Hand auf seinen Sitz zurück. Dann stieg er ein; Harry setzte sich neben ihn, schlug die Tür zu, und fort fuhr der Wagen.

»Wenn wir Annabel hier hätten, wäre die ganze Familie versammelt,« sagte Juwel fröhlich. »Mir ist es ganz gleich, bei wem ich sitze. Ich habe alle lieb, die hier im Wagen sind.«

»So, ist das wahr, du Schlingel?« erwiderte ihr Vater, legte eine Hand auf den seidenen Schoß und schüttelte die Kleine behutsam. »Wo ist die große und gute Annabel?«

»Sie wartet auf uns. Denk' mal, die ganze Zeit! Großpapa, fahren wir mit dir nach Hause?«

»Was willst du damit sagen?« fragte der Makler.

Der Ton seiner schroffen Stimme drang seiner Schwiegertochter durch Mark und Bein. »Wolltest du vielleicht die ganze Nacht im Fährhaus zubringen?«

»Nein, aber Mutter meinte –«

Frau Evringham drückte des Kindes Arm. »Das hatte nichts zu bedeuten, Juwel; ich wußte einfach noch nicht, was geplant war,« warf sie hastig ein.

»Ach ja, natürlich,« fuhr die Kleine fort, »Mutter wußte nicht, daß Tante Magda und Heloise fort sind, deshalb glaubte sie, es wäre kein Platz da. Sie weiß nicht, wie groß das Haus ist, nicht wahr, Großpapa?« Ein ununterdrückbares Gähnen meldete sich, ihr Vater beugte sich nach vorn und schlug sie sachte unter das Kinn.

Die Kinnbacken klappten hörbar aufeinander. »Da, nun hast du mich gestört!« rief sie und warf sich lachend auf ihren großen Spielkameraden. In dem kurzen Handgemenge berührte der breite Hutrand scharf Herrn Evringhams Schulter und Hals. Frau Evringham dachte ängstlich: Wie konnte Harry so gedankenlos sein! Bei dem Schein einer Straßenlaterne sah sie die scharfen Linien in des Maklers hartem Gesicht, das er unentwegt der Straße zuwandte.

»Komm' hierher, Juwel, sitz' still,« sagte die Mutter und bemühte sich, die Kleine auf ihren Sitz zurückzuziehen.

Harry wehrte lachend seinen geschmeidigen Angreifer, so gut er konnte, von sich ab; bei den Worten seiner Frau unterstützte er ihre Bemühungen durch einen sanften Stoß. Juwel sank auf ihr Kissen zurück.

»Ach, wie lästig er uns wohl findet, wie lästig, –« dachte Julia; sie fing ihr Kind mit einem Arm ein und hielt es fest. Zu ihrer Überraschung, fast zu ihrem Schrecken, fragte Juwel fröhlich nach abermaligem Gähnen:

»Großpapa, wie weit ist es bis zur Fähre? Wie lange noch, meine ich?«

»Ungefähr eine Viertelstunde.«

»Gut, das ist noch eine ganze Weile. Wie mir die Augen schwer sind! Möchtest du nicht auch, wir könnten in einem Schwanenboot hinüberfahren, Großpapa?«

»Hm!« erwiderte er. Frau Evringham versuchte, das Kind durch einen leichten Druck zurückzuhalten. Juwel rutschte hin und her, um eine bequeme Lage zu finden.

»Erzähl' Vater und Mutter vom Zentralpark und von den Schwanenbooten, Großpapa!«

»Du kannst ihnen morgen davon erzählen, wenn du ausgeschlafen hast,« antwortete er.

Juwel nahm ihren großen Hut ab, legte den Kopf an der Mutter Schulter und schob einen Arm unter den ihren. »Mutter, Mutter!« seufzte sie glücklich, »bist du wirklich da?«

»Wirklich, wirklich,« entgegnete Frau Evringham mit zärtlichem Druck. Herr Evringham saß schweigend da und blickte mit undurchdringlicher Miene zum Fenster hinaus.

Die Knöpfe an dem Kleide der Mutter drückten gegen Juwels Backe. Sie versuchte zunächst eine andere Lage, dann aber richtete sie sich auf. »Vater, willst du den Platz mit mir wechseln, ich möchte bei Großpapa sitzen?« fragte die Kleine schläfrig.

Frau Evringhams Augen öffneten sich weit. Trotz ihres ernsten »Aber Liebling!« vollzog sich der Umtausch, und Juwel kroch unter Herrn Evringhams Arm, der sich ganz natürlich über sie legte. So lehnte sie sich an ihn und schloß die Augen.

»Du darfst nicht einschlafen!« sagte er.

»Das werde ich doch wohl tun,« erwiderte die Kleine leise.

»Nein, nein, du darfst nicht. Denk' an die Lichter, wenn wir mit der Fähre hinüberfahren. Das entgeht dir alles, wenn du schläfst, und sie sind so hübsch. Wir können dich nicht auch noch tragen bei all dem Gepäck. Raff' dich auf – komm' komm'! Das sieht ja aus, als wärst du nicht älter als Annabel.«

Juwel lächelte schläfrig, und während der Makler sie aufrichtete, nahm er ihre Hand in die seine. Herr und Frau Evringham beobachteten sie, letztere höchst verwundert über des Kindes Nonchalance.

Zum erstenmale wurde der alte Herr gesprächig.

»Wieviel Tage kannst du uns schenken, Harry?« fragte er.

»Ein paar vielleicht,« erwiderte der junge Mann.

»Zwei Tage, Vater?« rief Juwel bestürzt, im Augenblick vollkommen wach.

»Das ist aber ein knapper Besuch,« ergänzte Herr Evringham.

»Nicht halb lang genug,« fuhr Juwel fort, »es gibt so viel für dich zu sehen!«

»Ach, in zwei Tagen kann man viel sehen,« sagte Harry. »Denk' doch an die kleinen Mädchen in Chicago, Juwel; die werden es mir nie verzeihen, wenn ich dich nicht bald zurückbringe.« Er beugte sich vor und erfaßte die freie Hand der Kleinen.

»Was denkst du wohl, wie Vater all diese Wochen ohne sein Töchterchen ausgekommen ist?«

»Es ist lange her, seitdem ihr fortgingt,« entgegnete sie, »aber ich schlief jede Nacht in deinem früheren Zimmer, und am Tage spielte ich in deiner Schlucht; Bel-Air-Park ist der allerschönste Platz in der ganzen Welt. Zwei Tage sind nicht genug dafür, Vater.«

»Hm; es freut mich, daß du dort so glücklich gewesen bist.«

Aufrichtiges Empfinden machte seine Stimme vibrieren.

»Wie können wir deinem Großvater dafür danken?«

Das Licht einer Laterne fiel auf Juwel, als sie lächelnd zu dem unbeweglichen Gesicht aufsah, das Herr Evringham ihr zuwandte.

»Das kannst du ruhig ihr selbst überlassen,« sagte der Makler kurz, aber sein Blick blieb auf dem Gesichte der Kleinen haften.

»Unbegreiflich,« dachte Frau Evringham, »aber Liebe wirkt Wunder.«

Die leuchtenden Lichter der Fähre verschwanden. Im Zuge schlief Juwel ein. Ihr Vater nahm sie in die Arme, ohne zu ahnen, daß er damit in die Rechte eines andern eingriff. Übermüde von den Erlebnissen des Tages und der späten Stunde fiel sie sofort in tiefen Schlaf; aber als sie in Bei-Air eintrafen, wurde sie durch das Hin und Her infolge der Ankunft und durch ihren Wunsch, den Eltern alles zu zeigen, munter. Frau Forbes stand zum Empfange der Gäste bereit. Zehn Jahre waren vergangen, seitdem Harry Evringham das Heim seiner Jugend zum letzten Male betreten hatte,, und es schien der Haushälterin, als bewege ihn ein reuevolles Gedenken, aber er sprach mit derber Herzlichkeit, als er ihr die Hand schüttelte. Frau Forbes sah mit Spannung in Frau Evringhams liebliches Gesicht, als letztere sie begrüßte und ein paar dankbare Worte an sie richtete für die Freundlichkeit, die sie Juwel erwiesen hatte.

»Sie sind mir nur zu geringem Dank verpflichtet, gnädige Frau,« erwiderte Frau Forbes, gleich bezwungen von dem sanften Blick der dunklen Augen.

Die kleine Gesellschaft begab sich nach oben in die hübschen, erst vor kurzem leer gewordenen Zimmer, die hellerleuchtet und von Rosenduft erfüllt waren.

»Wie schön!« rief Frau Evringham, während Juwel, die wieder vollständig wach geworden war, hin- und herhüpfte, entzückt von den festlich geschmückten Räumen.

Herr Evringham sah seine Schwiegertochter prüfend an. Das war also die Frau, der er Juwel verdankte, – alles, was sie ihm war – und was sie ihn gelehrt hatte. Ihr Gesicht entsprach seinen Erwartungen; es lag ein liebreizender Ausdruck darauf, als ihre schönen Augen jetzt den seinen begegneten. Gut angezogen war sie auch, das gefiel Herrn Evringham.

»Ich hoffe, Sie werden sich hier ganz wie zu Hause fühlen, Julia,« sagte er, und wenngleich er nicht lächelte, so stand doch fest, daß er sich bemüht hatte, ihren Eintritt angenehm zu gestalten, wenn auch vielleicht nur aus Pflichtgefühl.

Juwel hatte augenscheinlich nicht die leiseste Furcht vor seiner kühlen Zurückhaltung. Mit der Hand ihres Kindes in der ihren, hatte Julia den Mut, warmen Tons zu erwidern: »Ich danke Ihnen, Vater, es ist mir eine Freude, hier zu sein.«

Sie hatte ihn »Vater« genannt, diesen eleganten Fremden; ihr Herz schlug schneller, aber schon fühlte sie ihres Mannes Arm um sich. »Amerika ist doch das Wahre, was, Julia?«

»Komm' in Cousine Heloises Zimmer«, rief Juwel. »Das ist auch ganz erleuchtet. Sollen sie sie beide haben, Großpapa?«

Sie hüpfte ihnen durch ein geräumiges, mit weißen Kacheln ausgelegtes Badezimmer voraus in das anstoßende Gemach. Dort bot sich ihren Augen ein unerwarteter Anblick. Tief in einem großen Korbstuhl saß Annabel, getreulich, trotz der späten Stunde mit offenen Augen. Juwel stürzte auf sie zu. Auch in diesem Zimmer standen überall Blumen; und plötzlich erblickte das Kind seine eigenen Sachen auf der Toilette.

»Meine Sachen sind hier unten in Heloises Zimmer, Großpapa!« rief sie so erstaunt, daß sie zögerte, die Puppe aufzunehmen.

»Sieh' mal, sieh' mal!« sagte Herr Evringham und öffnete die Tür des großen Schranks und dann eine Kommodenschieblade. In beiden Behältern waren Juwels Habseligkeiten untergebracht.

»Das ist aber seltsam!« fügte er hinzu.

»Großpapa, Großpapa!« jauchzte das Kind, lief auf ihn zu und schlang die Arme um seine Hüften. »Du läßt mich hier unten bei Vater und Mutter schlafen!«

Herr Evringham sah sie an, ohne eine Miene zu verziehen. Juwels Eltern erwarteten beide, daß sie sich durch diesen heftigen Ansturm einen Verweis zuziehen würde, aber er fragte nur: »Du hast doch nichts dagegen?« Juwel zog ihn zu sich herab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die neugierigen Zuschauer sahen ein Lächeln auf seinen Zügen, als er sich wieder aufrichtete. Sie waren beide ungemein gespannt, was sie ihm wohl zugeflüstert haben mochte.

»Du sprichst leise im Beisein anderer, Juwel,« bemerkte ihr Vater.

»Ach, entschuldiget bitte!« sagte das Kind, »daran habe ich nicht gedacht. Hier ist Annabel, Vater!«

»Aber nein, aber nein,« rief Harry Evringham, »wie groß ist das Kind geworden!«


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