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Dreiundvierzigstes Kapitel

»Major Langrishe und Frau bitten Herrn und Frau So und So ihnen die Ehre zu geben und am 20. dieses Monats, nachmittags zwei Uhr in der St. Johanniskirche der Trauung ihrer Nichte mit Sir Gloster Sandilands beizuwohnen.«

So lauteten die Einladungskarten, die man fast in jedem Hause von Shirani empfing. Das Brautkleid von der ersten Schneiderin in Kalkutta war schon unterwegs, den Hochzeitskuchen und den Champagner hatte man bereits im Hause. Brautjungfern gab es nicht, sondern nur blumenstreuende Kinder, die, wie die praktische Ida Langrishe berechnete, billiger waren; denn man brauchte ihnen weder Broschen oder Armbänder zu schenken, noch Bouquets zu liefern. Die kluge Frau wurde mit Glückwunschkarten und Telegrammen überhäuft und fühlte sich als glückliche Tante, denn sie hatte sich wieder einmal als die Vorsehung der Familie erwiesen: ja ihr Triumph war noch größer, als der Lallas. Am meisten wünschte sie sich in der Stille aber selbst Glück; denn sie zählte die Tage, bis der schreckliche kleine Kobold, den sie sich aufgehalst hatte, als Lady Sandilands ihrer Schwelle den Rücken kehren sollte, um fürs ganze Leben den Nacken eines andern zu belasten.

Lalla war ausschließlich mit Briefen, mit ihrer Aussteuer und andern Vorbereitungen beschäftigt. Ehe ihr die Rolle der Braut Sir Glosters zufiel, war ihr in einer Burleske, »Sindbad der Seefahrer,« die Toby Joy besonders für sie geschrieben hatte und mit der die Saison in Shirani einen glänzenden Abschluß finden sollte, die Hauptpartie zuerteilt gewesen, und sie hatte ihre Rolle, sowohl was Gesang als Tanz betraf, bereits fast fertig einstudiert, als Sir Gloster, der sie niemals in diesem, ihrem eigentlichen Element gesehen hatte, einen Strich durch die Rechnung machte.

Er fand, daß ein solches öffentliches Auftreten mit ihrer künftigen gesellschaftlichen Stellung ganz unvereinbar sei. Nein, nein; sie wußte ja, er war ein etwas altmodischer Mensch, und seine Mutter würde auch durchaus dagegen sein. Lalla mußte ihm versprechen, darauf zu verzichten und sich niemals wieder an einer solchen Aufführung zu beteiligen.

Aber Lalla war hartnäckig. Durch Toby Joy, wie durch die übrigen Mitspielenden, die ihren »Stern« nicht entbehren konnten, unterstützt, erreichte sie endlich mit Schmeichelworten, Liebkosungen, Thränen und Versprechungen wenigstens etwas. Ihr schwerfälliger Bräutigam erlaubte ihr, eine kleine Nebenrolle in dem Stücke zu übernehmen, so daß doch wenigstens ihr Name auf dem Zettel stand, aber er gab diese Erlaubnis nur unter der ausdrücklichen Bedingung, daß dies Auftreten bestimmt ihr letztes sei. Wollte man das auf dem Theaterzettel bemerken, so hatte er nichts dagegen. Er selbst mußte in notwendigen Geschäften nach Allahabad und würde, wie er fürchtete, bei der Aufführung nicht anwesend sein können, wollte aber sein Möglichstes thun, um Ende der Woche zurückzukehren.

Die für Lalla geschriebene Rolle der tanzenden, singenden Peri wurde einer andern jungen Dame übertragen, die Lalla nicht das Wasser reichte und durch ihr hölzernes Wesen den armen Toby Joy fast zur Verzweiflung brachte. Am Vorabend der Aufführung kam er vollständig gebrochen zu Lalla.

»Nun hat sie auch noch die Influenza bekommen, und alles ist aus!« rief er, sich mit beiden Händen nach dem Kopfe fahrend, als wolle er sich die Haare ausreißen. »Und das Haus war für zwei Abende ausverkauft. Wie soll ich nun die Unkosten decken?« jammerte er. »Was soll ich machen? Können Sie denn nicht einspringen? Sie haben die Rolle ja vollständig inne, und keine Künstlerin von Beruf könnte sie besser spielen. Thun Sie mir doch den einzigen Gefallen, Lalla!«

»Ich habe versprochen, nicht mehr zu tanzen.«

»Das Versprechen können Sie ja halten, wenn Sie verheiratet sind. Bedenken Sie, daß Sie nur noch zehn Tage vor sich haben, um Ihre Flügel zu gebrauchen. Dann ist Spiel und Tanz auf immer für Sie vorbei.«

»Auf immer!« seufzte sie.

»Und er ist ja gar nicht da, kommt erst Sonnabend zurück und wird, wenn er von Ihrem Triumphe hört, stolz sein, wie ein Pfauhahn!« fuhr der Versucher fort. »Sie hatten das Kostüm und alles andre schon fertig, als er dazwischen fuhr und die ganze Pastete über den Haufen warf!«

Dabei sprang Toby Joy auf und lief im Zimmer umher wie ein Verzweifelter. Endlich wandte er sich wieder zu Lalla.

»Hat er denn mit Ihrer Tante über die Sache gesprochen?« fragte er.

»Nein, kein Wort. Sie glauben doch nicht, daß ich ihr erlaube, sich in meine Angelegenheiten zu mischen? Das Stück spielte nur zwischen ihm und mir.«

»Na, so werden Sie ihn ja um so leichter beruhigen. Uebernehmen Sie die Ihnen von vornherein bestimmte Rolle nicht, so muß ich heute nachmittag einen Boten herumschicken und ansagen lassen, daß die Aufführung wegen Unwohlseins, besser gesagt: wegen Unfähigkeit der Primadonna nicht stattfinden kann. Aber ich weiß, Sie sind nicht die Person, die uns in dieser abscheulichen Patsche sitzen läßt!«

Die erwachenden Sprühteufelchen in den Augen Lallas sagten ihm, daß er sich nicht verrechnet hatte. Eine halbe Stunde später benachrichtigte die junge Dame ihre Tante im unbefangensten Tone, daß, da Fräulein Lane krank geworden sei, sie sich, wohl oder übel, habe entschließen müssen, die Rolle der Peri zu übernehmen. Man konnte doch die Aufführung, die noch dazu wohlthätigen Zwecken dienen sollte, nicht aus egoistischen Rücksichten scheitern lassen! Frau Langrishe, in völliger Unwissenheit über das Versprechen der Nichte, gab wie gewöhnlich nach, unterstützte das Vorhaben sogar in liebenswürdigster Weise; denn sie sagte sich, daß die Stunde der Erlösung von diesem Mädchen, »wie es unter Tausenden kaum eine« gab, ja demnächst schlagen sollte.

»Sindbad der Seefahrer« war reizend in Scene gesetzt, wurde allerliebst gespielt und errang einen entschiedenen Erfolg. Man fand Lallas Gesang und Tanz einer Londoner Bühne würdig; alle Leute sprachen von ihr, und die Männer beeilten sich, wie auf Verabredung, Plätze für die zweite Aufführung zu nehmen, während die Damen sich weit weniger enthusiastisch zeigten. Man hörte sogar sagen, daß einige von ihnen sehr neugierig wären, wie Sir Gloster die Sache aufnehmen würde.

Sir Gloster hatte inzwischen auf den Flügeln der Liebe bereits die größere Hälfte des Heimweges zurückgelegt. Seine Geschäfte hatten sich ungewöhnlich schnell erledigen lassen, und umgeben von allerlei Kasten und Paketen saß er eben in seinem Posthause beim Frühstück, als zwei subalterne Civilbeamte eintrafen, die in entgegengesetzter Richtung, das heißt von Shirani zu Thal, reisten. Sie waren noch ganz voll von dem gestrigen Abende und sprachen von nichts als von der Aufführung des Sindbad.

»Vorzüglich, ganz vorzüglich!« versicherten sie Sir Gloster. »Kann in London nicht übertroffen werden. Fräulein Paske war bezaubernd.«

»Ja, ich weiß, sie spielt mit viel natürlicher Empfindung,« gab Sir Gloster zu, »aber sie hatte doch nur eine kleine Rolle.«

»Eine kleine Rolle?« rief der andre. »Sie spielte die Hauptrolle und trug das Stück ganz allein.«

»Wieso?« fragte der Baronet würdevoll.

»Sie gab, wie Sie ja wohl wissen, die Peri und tanzte und sang wie eine erste Künstlerin. Ist's nicht wahr, Capel?« fuhr der Sprecher, sich zu seinem Reisegefährten wendend, fort.

»Freilich!« bestätigte dieser. »Ich wäre auch sicherlich heute abend wieder hingegangen, wenn ich nicht hätte abreisen müssen. Sie sollten die heutige Vorstellung nicht versäumen, denn es ist die letzte, und wenn Sie sich beeilen, können Sie noch rechtzeitig eintreffen.«

Sir Gloster blieb stumm. War es möglich, daß seine kleine Lalla, die ihm so zärtliche Briefchen schrieb, das ihm gegebene Wort gebrochen und ihn hintergangen hatte?

Bei dem bloßen Gedanken an ein solches Verbrechen legte sich sein fettes, weißes Gesicht in die strengsten Falten. Nur der eigene Augenschein konnte ihn überzeugen. Er konnte, wenn er den Rat des albernen jungen Menschen befolgte und sich beeilte, um acht Uhr in Shirani sein und hatte dann gerade noch Zeit, sich umzukleiden und sich nach dem Schauplatze der Aufführung zu begeben. Der Aerger kochte in ihm, und der Zorn einer ruhigen, phlegmatischen Natur ist, wenn einmal erregt, gefährlich.

Im Theater, das er noch rechtzeitig erreichte, bekam er zwar keinen Sitzplatz mehr, durfte aber, wenn er wollte, in der Eingangsthür stehen bleiben und sich an die Wand lehnen. Für diese Berechtigung zahlte er vier Rupien, betrachtete dies Geld späterhin aber stets als das bestangelegte, das er je im Leben verausgabt hatte. Gleich nach seinem Eintritt wurde der Vorhang aufgezogen, um eine feenhaft hübsche Landschaft zu enthüllen. Toby Joy erschien und sang einige einleitende Strophen. Als er zu Ende war, rollte man ein großes Ei auf die Bühne; die Schale öffnete sich, und heraus hüpfte ein reizendes Geschöpfchen, die Peri, die mit donnerndem Händeklatschen empfangen wurde. Ja, diese Peri war Lalla! Sie trug sehr kurze, dünne Röckchen und im Haar einen schimmernden Stern, den Sir Gloster mit besonderer Empörung als sein eigenes Geschenk erkannte.

Und nun fing sie an, zu tanzen! Ihre Füßchen berührten kaum den Boden, und jede ihrer graziösen Bewegungen rief in den Zuschauern die Empfindung hervor, als sei der Tanz der Ausdruck ihres eigentlichen Wesens und gehe aus reinster Freude und innerlicher Glückseligkeit hervor. Dabei hielt sie sich, wie man zugeben mußte, streng in den Grenzen des Anstandes. Toby Joy tanzte, als habe er den Teufel im Leibe, und so fesselten die beiden ihr Publikum zehn Minuten in angenehmster Weise.

Als Lalla nach einer Reihe neuer Variationen mit einer wirklich erstaunlichen Pirouette schloß, brach ein wahrer Sturm von Beifall los; nur Sir Gloster nahm daran keinen Anteil. Bleich und ernst stand er an seinem Platze. Die Scene hatte ihn, der – durch seine Mutter streng kirchlich erzogen – kein Theatergänger war, mit Abscheu erfüllt. Er mußte nur immer an die tanzende Herodias denken. Und wie konnte sich die künftige Lady Sandilands dem Publikum, das noch dazu teilweise aus Offizieren in voller Uniform bestand, so zeigen!

Er war vor Zorn außer sich und bahnte sich den Weg durch die Menge mit vorgestrecktem Kopfe wie ein wütendes Tier. Aber nur wenige bemerkten ihn und seinen eiligen Aufbruch. Man hatte eben nur Augen für Lalla, die von Toby Joy an die Rampe geführt, mit Blumen überschüttet wurde, während sie sich bescheiden lächelnd verneigte und dankend ihre Fingerspitzen küßte. Nach der Vorstellung blieb die junge Dame noch, unter dem Schutze ihrer Freundin Dashwood, bei der Gesellschaft, um an einem ausgesucht feinen Abendessen teilzunehmen, während Ida Langrishe, was nicht oft vorkam, allein nach Hause ging.

Zu ihrem großen Erstaunen fand sie hier Sir Gloster, der sie im Empfangszimmer erwartete und dessen aufgeregte Miene sie auf etwas Schreckliches vorbereitete.

»Ich wollte Ihnen eigentlich schreiben, Frau Langrishe, halte es aber schließlich doch für das Beste, gleich selbst zu kommen, um mit Ihnen zu reden,« begann er in eigentümlich fremdem Tone. »Ich muß Ihnen mitteilen, daß zwischen Ihrer Nichte und mir alles zu Ende ist.«

Frau Langrishe wurde kreidebleich und ließ sich in den nächsten Stuhl sinken.

»Bitte, erklären Sie mir das!« stammelte sie endlich.

»Fräulein Paske wird Ihnen ohne Zweifel zunächst die Erklärung geben können, daß sie mir versprochen hatte, nicht wieder öffentlich zu tanzen. Nur mit Widerstreben erlaubte ich ihr, noch ein letztes Mal, und zwar in einer kleinen Nebenrolle, als alte Amme, in der Komödie mitzuwirken, und finde sie jetzt bei meiner unerwarteten Rückkehr als Balletttänzerin auf der Bühne, wo sie sich vor ganz Shirani halbnackt zeigt. Eine solche Person kann ich nicht heiraten. Sie hat ihr Wort gebrochen und ist aller Scham und alles Schicklichkeitsgefühls bar.«

So etwas mußte Ida Langrishe über ein Glied ihrer Familie hören! Ihr Gesicht mit der Hand bedeckend, fing sie laut an zu schluchzen.

»O, Sir Gloster,« begann sie endlich mit von Thränen erstickter Stimme, »Lalla ist noch so jung« (die Nichte zählte sechsundzwanzig Jahre), »sie hat sich bereden lassen, man hat sie bestürmt; die Aufführung, die ja zu wohlthätigen Zwecken veranstaltet ist, hätte nicht stattfinden können, wenn sie nicht in der elften Stunde noch eingesprungen wäre.«

»Ich kann diese Entschuldigungsgründe nicht gelten lassen,« versetzte Sir Gloster mit einer abwehrenden Bewegung seiner beiden fetten Hände. »Ich würde Fräulein Paske nie wieder das geringste Vertrauen schenken können und verzichte ebenfalls in der elften Stunde darauf, sie zur Frau zu nehmen.«

»Und würden es auf einen Prozeß wegen gebrochenen Eheversprechens ankommen lassen?« fragte Frau Langrishe, in ihrer Verzweiflung den letzten Trumpf ausspielend.

»Ohne Zweifel,« lautete die stolze Antwort. »Man kann niemand zwingen, eine Amateurballetttänzerin zu heiraten, und ich bin nur froh, daß ich Fräulein Paske in dieser ihrer wahren Gestalt gesehen habe, ehe es zu spät war.«

»Die Einladungen sind seit mehreren Tagen verschickt, die Ausstattung ist fast ganz fertig, wir haben bereits eine Menge Hochzeitsgeschenke erhalten: was soll ich denn nun anfangen!« rief die unglückliche Frau.

»Ja, da kann ich Ihnen wirklich keinen Rat geben,« lautete die kühle Antwort. »Ich wasche meine Hände in Unschuld und verlasse morgen früh Shirani.«

»Schon morgen früh!« wiederholte Ida Langrishe, während ihr Sir Gloster eine stumme Abschiedsverbeugung machte.

Nachdem er gegangen war, saß sie noch lange mit aschenbleichen Wangen vor dem verglimmenden Kaminfeuer, und erst als es drei Uhr geschlagen hatte, und Lalla noch immer nicht zurück war, gab sie es auf, die Schuldige zu erwarten.

Die bevorstehende Aussprache schob sich um zwölf Stunden hinaus; denn es war um drei Uhr am folgenden Nachmittage, als Lalla endlich ins Zimmer der Tante trat, die mit heftigem Kopfweh auf ihrer Chaiselongue lag.

Lalla hörte den ersten Ausbruch des Zornes, mit dem die Tante sie empfing, halb ungläubig an. Sie hatte sich mit besonderer Sorgfalt gekleidet und sich vorgenommen, eine kleine Bußscene vor ihrem beschränkten, langweiligen aber ruhigen Bräutigam, den sie jeden Augenblick erwartete, aufzuführen, und was redete nun die Tante? Er sollte gekommen sein, sie gesehen und Shirani bereits verlassen haben? Das war ja ganz unmöglich! Aber wenn er wirklich dagewesen war! Zum erstenmal gelang es ihr nicht, die Tante durch Spott, Gelächter oder auf andre Weise zum Schweigen zu bringen. War sie denn toll gewesen, sich von Toby Joy überreden zu lassen? Er hatte dabei freilich nichts zu verlieren, während sie alles aufs Spiel setzte. Ihre Aussichten, ihr Titel, ihre Diamanten und Spitzen rollten in diesem Augenblicke bereits in der rumpeligen Postkutsche den Berg hinab.

Die ausgesandten Einladungen, das Hochzeitsfrühstück, die empfangenen Geschenke, was die Leute und besonders die Glieder ihrer eigenen Familie sagen würden, und welche willkommene Gelegenheit für Mutter Brande, die sie so rücksichtslos mit Füßen getreten hatte, sich zu freuen! Alles dies fuhr ihr mit Blitzesschnelle durch den Kopf.

Natürlich wurde sie nun sofort nach Hause geschickt, und was blühte ihr da?

Bis an ihr Lebensende in dem schäbigen Landhause ihres Vaters, in einer dunkeln Ecke zu stehen, als warnendes Exempel zu dienen und jüngeren Töchtern als eine alte Jungfer gezeigt zu werden, der auch einmal das Glück gelächelt, die es aber leichtsinnig verspielt hatte!

Währenddem sprach Frau Langrishe zornig und ohne Aufhören, predigte aber tauben Ohren; denn Lalla war nur mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und die Stimme in ihrem Innern sprach zu laut, als daß sie daneben etwas andres hätte vernehmen können.

Endlich schlug ein Wort an ihr Ohr, das sie aufmerksam machte.

»Du bist das leichtsinnigste, undankbarste Geschöpf auf der Welt!« rief die erboste Tante.

»O bitte, vergiß dich nicht!« versetzte Lalla und verließ das Zimmer, dessen Thür sie knallend hinter sich zuschlug.

In ihrem eigenen Gemache angekommen, drehte Fräulein Paske den Schlüssel um und warf sich in einen Armstuhl. Dabei stieß sie ein Päckchen von dem nahestehenden Tische, und mechanisch hob sie es auf. Es war ein Geburtstagsbuch, eines der zahlreichen Hochzeitsgeschenke, das man erst diesen Vormittag gebracht hatte. Sie öffnete es, um den Gedenkspruch des heutigen Tages zu suchen. Vielleicht fand sie da einen Anhalt für ihre Zukunftspläne, denn sie glaubte, was bei leichtsinnigen Menschen ziemlich häufig vorkommt, fest an Zeichen und Vorbedeutungen. Während sie die Blätter des Buches umschlug, sagte sie zu sich selbst: »Der Spruch, den ich finde, soll mir als Orakel gelten, und ich werde ihm folgen, sei's zum Guten, sei's zum Bösen!«

Da war der elfte September, und das Motto lautete:

»Nach verlorenen Dingen
Soll man zu sehr nicht ringen!«

»Nun will ich noch nach dem zwanzigsten, dem Tage sehen, an dem meine Trauung stattfinden sollte,« sagte sie, schlug die Blätter um und las:

»Ich hab' meine Sach' auf nichts gestellt,
Drum ist's so wohl mir in der Welt!«.

»Das gibt den Ausschlag!« rief Lalla, schlug das Buch zu und setzte sich an ihren Schreibtisch.

*

Wenige Stunden später war die Kunde von der aufgelösten Verlobung in ganz Shirani verbreitet, und daneben lief noch eine zweite Neuigkeit her, an die noch niemand recht glauben wollte; denn es war zu viel auf einmal, und mehr als der stärkste Magen verdauen konnte. Diese Neuigkeit lautete: Lalla Paske und Toby Joy seien ebenfalls, und zwar mit Extrapost abgereist. Sie sei vor den Vorwürfen ihrer Tante geflohen, er sei fahnenflüchtig geworden. Beide wären ohne Urlaub und Abschied davongegangen.

Und diese Nachricht bestätigte sich in vollem Umfange; das Paar hatte sich in der ersten Kirche, die es erreichte, trauen lassen und sich dann einer englischen Theatertruppe angeschlossen, die sich auf einer Kunstreise durch Indien befand und deren nächstes Ziel China und Japan war. Bei dieser Truppe traten Toby und Lalla zur unaussprechlichen Entrüstung der rechtmäßigen Träger des Namens unter dem Pseudonym: Herr und Frau Langrishe auf. Lalla hatte ihrer Tante diese Thatsache in einem teuflisch boshaften Briefe mit dem Hinzufügen angezeigt, daß ihr Name nun endlich zum erstenmal von Ruhm umstrahlt genannt werden würde.

Monate vergingen, ehe Ida Langrishe diesen Schlag überwand und sich geistig und körperlich davon erholte. Ihre Erfahrung mit dem Mädchen, wie es »unter Tausenden kaum eins« gab, hatte manches Fältchen in ihre glatte elfenbeinfarbige Haut eingegraben, und in ihrem braunen, stets geschmackvoll geordneten Haar begannen sich einzelne Silberfädchen zu zeigen.

Jedermann vermied es, in ihrer Gegenwart von zurückgegangenen Verlobungen, Theaterangelegenheiten und dergleichen zu sprechen, und es hätte schon eine mutige Frau – Mama Brande war keine solche – dazu gehört, um sie zu fragen, wie sich ihre reizende Nichte, »die, welche beinahe den Baronet geheiratet hätte«, befinde.


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