Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4.
Nachmittag eines Bicket

Gerade um diese Zeit trat Bicket wieder in sein Wohnzimmer ein und stellte seinen Kasten hin. Den ganzen Vormittag hatte er im Schatten der St. Paulskathedrale den Pfingstmontag wieder durchlebt. In den Füßen und Beinen fühlte er heute eine besondere Müdigkeit und auch seelisch war er irritiert. Er hatte sich vorgenommen, hie und da einen Blick zur Erholung auf das Bild zu werfen, das beinahe wie eine Photographie von Vic war. Und nun hatte er es verloren! Aber er hatte doch gar nichts aus seinen Taschen genommen und seinen Mantel nur aufgehängt. Hatte er es in dem Gedränge auf der Station aus der Tasche verloren, oder hatte er es im Wagen zu Boden fallen lassen, weil er beim Einstecken daneben gegriffen? Und er hatte sich doch auch das Original anschauen wollen. Er konnte sich noch erinnern, daß die Galerie mit einem ›D‹ begann, und zur Lunchzeit verschwendete er anderthalb Pence, um den Namen nachzuschlagen. Ausländisch, das stand fest, da das Bild nackt war. ›Dumetrius?‹ Aha!

Als er wieder auf seinem Posten stand, hatte er ein wenig Glück. Jener alte ›City-Magnat‹, den er nun monatelang nicht gesehen hatte, kam wieder vorüber. Instinktiv sagte Bicket sofort: »Hoffe Sie bei guter Gesundheit, Sir. Ich habe Ihre Güte nicht vergessen.«

Der ›Magnat‹, der emporgestarrt hatte, als sähe er eine Elster auf der Kuppel der Kathedrale sitzen, blieb mit einem Ruck stehen, als hätte ihn ein Krampf befallen.

»Güte?« sagte er. »Was für eine Güte? Ach, die Ballons! Mit denen hab ich nichts anfangen können.«

»Nein, Sir, gewiß nicht«, sagte Bicket bescheiden.

»Da, nehmen Sie das!« murmelte der ›Magnat‹, »aber rechnen Sie nicht mehr darauf.«

Ein Zweieinhalbshillingstück! Zweieinhalb Shilling! Bickets Blick verfolgte die davoneilende Gestalt »Das nenn ich Glück!« sagte er leise zu sich selbst und begann seinen Kasten abzuräumen. »Ich werd nach Hause fahren und meine Füße ausruhn und mit Vic zusammen das Bild anschaun gehn. Es wird komisch sein, zusammen davor zu stehn.«

Sie war jedoch nicht zu Hause. Er setzte sich nieder und rauchte seine billige Zigarette. Es ärgerte ihn, daß sie an diesem ersten freien Nachmittag, den er sich nahm, nicht zu Hause war. Aber natürlich konnte sie doch nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen. Dennoch – –! Er wartete zwanzig Minuten, dann zog er Michaels Anzug und Schuhe an.

›Ich werd es allein anschaun gehn‹, dachte er, ›da brauch ich nur die Hälfte zahlen. Wahrscheinlich wird es Sixpence kosten.‹

Man verlangte einen Shilling von ihm – einen ganzen Shilling! Ein Viertel seines täglichen Einkommens, um ein Bild anzuschauen! Schüchtern trat er ein. Da waren Damen, die nach Parfüm dufteten und affektiert langsam sprachen. Aber was Aussehen betraf – mit Vic gar nicht zu vergleichen! Hinter ihm sagte eine von ihnen:

»Sehen Sie, dort ist Aubrey Greene selbst. Und da hängt das Bild, von dem jeder spricht – ›Nachmittag einer Dryade‹.«

Sie gingen weiter und an ihm vorüber. Bicket folgte. Am Ende des Saales erhaschte er zwischen ihren Kleidern und Katalogen einen Blick auf das Bild. Leichter Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Fast in Lebensgröße lag da zwischen Blumen und stachligem Gras, das Gesicht lächelnd ihm zugewandt – genau das Ebenbild von Vic! Konnte irgend jemand in der Welt ihr denn so ähnlich sehen? Der Gedanke beleidigte ihn, so wie sich ein Sammler beleidigt fühlt, wenn er das Duplikat eines einzigartigen Besitzes findet.

»Es ist ein herrliches Bild, Mr. Greene! Was für ein außergewöhnlicher Typus!«

Ein junger Mann ohne Hut, dessen blondes Haar glatt zurückgestrichen war, erwiderte: »Ein wahrer Fund, nicht?«

»Oh, sie ist vollkommen! – wie eine richtige Waldnymphe, so geheimnisvoll!«

Das war das Wort, das zu Vic paßte! Es war barbarisch! Wie sie so dalag, daß alle sie anschauen konnten, nur weil irgend ein abscheuliches Frauenzimmer ihr körperlich so ähnlich sah! Eine Wut stieg in Bickets Kehle empor und seine Wangen wurden brennend rot; eine merkwürdige physische Eifersucht packte ihn. Dieser Maler! Wie durfte er sich unterstehen, eine Frau genau so wie Vic zu malen, eine Frau, der es nichts ausmachte, so dazuliegen! Die mit ihrem Geschwätz über ›lichte Schattenwirkung‹ und Heidentum und einen Kerl namens Leneardo! Der Teufel hole ihre affektierte Sprache und ihre Tricks! Er wollte weggehen und konnte nicht, fasziniert von der Gestalt, die derjenigen so unheimlich ähnlich sah, von der er geglaubt hatte, sie gehöre nur ihm. Es war blöd, sich wegen eines Zufalls so elend zu fühlen, aber er hätte am liebsten das Glas zerschlagen und den Körper in kleine Stücke zerschnitten. Die Damen und der Maler gingen weiter und ließen ihn allein vor dem Bild. Sobald er allein war, kam es ihm nicht mehr so arg vor. Das Gesicht war traurig, einsam und – und quälend mit seinem Lächeln. Es verfolgte einen – wahrhaftig! ›Nun‹, dachte Bicket ›ich werd nach Hause zu Vic gehn. Es ist schließlich noch gut, daß ich sie nicht hergebracht hab, damit sie sich so sieht. Wenn ich so ein Cityherr wär, würd ich das verflixte Ding da kaufen und es verbrennen.‹

Und dort in der Eingangshalle, im Gespräch mit einem ›Orientalen‹, stand ja sein eigener ›Magnat‹! Bicket blieb vor Erstaunen stehen.

»Es ist ein aufsteigender Name, Mr. Forsyte«, hörte er den ›Orientalen‹ sagen. »Er steigt im Preis.«

»Alles recht schön und gut, Dumetrius, aber heutzutage ist das doch nicht jedermanns Geschmack, zu fein ausgeführt – überhaupt –«

»Nun, Mr. Forsyte, Ihnen rechne ich zehn Prozent weniger.«

»Ziehn Sie zwanzig ab, und ich kaufe es.«

Der ›Orientale‹ zog seine Schultern bis über die behaarten Ohren hoch – wahrhaftig; und wie er lächelte!

»Mr. Forsyte! Fünfzehn, Sir!«

»Na, ich weiß, Sie haun mich übers Ohr! Aber schicken Sie's zu meiner Tochter, South Square – Sie kennen ja die Nummer. Wann schließen Sie?«

»Übermorgen, Sir.«

So! Das Abbild Vics kam also zu dem ›City-Magnaten‹, aha! Bicket stieß einen leisen, wütenden Laut aus und schlich davon.

Mit sonderbaren Gefühlen ging er heim. Hatte er sich unnötig Sorgen gemacht? Schließlich war es doch nicht sie. Aber zu wissen, daß eine andere Frau so lächeln konnte, solch kurzes schwarzes Haar mit krausen Enden hatte und genau dieselben Formen! Und jeder vorübergehenden Frau schaute er ins Gesicht – alle waren verschieden, so ganz anders als Vic!

Als er nach Hause kam, stand sie mitten im Zimmer, die Lippen an einem Ballon. Und rund um sie her, auf dem Boden, auf Stühlen, Tisch und Kamin lagen die aufgeblasenen bunten Kugeln; eine nach der andern war von ihren Lippen aufgeflogen und hatte ihren Ruheplatz gesucht; pflaumenfarben, grün, orange, purpurn, blau, und alle belebten mit ihrer Farbe den düstern, kleinen Raum. Alle Ballons waren aufgeblasen. Und dort stand sie in ihren besten Kleidern, lächelnd, seltsam, erregt.

»Zum Teufel, was soll das!« rief Bicket

Sie hob ihr Kleid hoch, nahm einige raschelnde Banknoten oben aus ihrem Strumpf und hielt sie ihm hin.

»Schau, Tony, vierundsechzig Pfund! Ich hab alles beisammen. Wir können fortgehn.«

»Was?!«

»Ich hatte plötzlich eine Idee, ging zu diesem Mr. Mont, der uns die Kleider geschickt hat, und er hat es mir vorgeschossen. Wir können es später einmal zurückzahlen. Ist das nicht wie ein Wunder?«

Bickets Augen, erschreckt wie die eines Kaninchens, nahmen ihr Lächeln wahr, ihre aufgeregte Röte, und ein seltsames Gefühl durchfuhr seinen Körper, als hielten auch seine Augen ihn zum besten! Die war ja auch nicht wie Vic! Nein! Plötzlich fühlte er ihre Arme um seinen Hals und ihre feuchten Lippen auf den seinen. So fest umschlang sie ihn, daß er sich nicht rühren konnte. Der Kopf wirbelte ihm.

»Endlich! Endlich! Ist es nicht großartig? Gib mir einen Kuß, Tony!«

Bicket küßte sie; ein Schwindel packte ihn – und für einen Augenblick hatte er das Gefühl, daß da irgendwas nicht in Ordnung sei! …

War es noch vor der Nacht oder bereits in der Nacht, als zum ersten Mal der Zweifel kam – geisterhaft, pochend, unbestimmt, ihn heimsuchend, und dann, im Morgengrauen, seine Seele durchbohrend, so daß es ihn erstarren ließ. Das Geld – das Bild – die verlorene Zeitung – dieses Gefühl, daß irgendwas nicht in Ordnung war. Diese Geschichte, die sie ihm da erzählt hatte! Waren denn solche Dinge möglich? Warum sollte Mr. Mont das Geld vorgeschossen haben? Sie war dort gewesen, das war gewiß. Sie beschrieb das Zimmer und die Sekretärin zu genau, es war ganz unverkennbar jene Miss Perren. Warum also diese durchbohrenden Zweifel? Das Geld, und noch dazu so viel Geld! Nicht mit Mr. Mont – niemals – der war ein Kavalier! Oh, was für ein Schwein er war, so etwas von Vic zu denken! Er drehte ihr den Rücken zu und versuchte zu schlafen. Aber wenn einen einmal solch ein Zweifel gepackt hatte – schlafen? Nein! Ihr Gesicht zwischen den Ballons, wie sie seine Augen bedeckt hatte und ihm den Kopf schwindlig gemacht, so daß er nicht mehr denken konnte und nicht nachforschen und sie fragen! Bicket erhob sich verstört, eine Beute seiner düstern Zweifel, seiner Schmerzen, Ungewißheit, plötzlichen Hoffnung und Visionen von Australien.

»Hör mal«, sagte er, während sie ihren Kakao mit Margarinebrot nahm, »ich muß Mr. Mont sprechen, das ist sicher.« Und plötzlich fügte er hinzu: »Vic?« und blickte ihr gerade ins Gesicht.

Sie hielt seinem Blick stand – offen, ganz offen. Oh, er war wirklich ein Schwein! …

Als er fort war, stand Victorine ganz still und preßte die Hände an die Brust. Sie hatte noch weniger geschlafen als er. Still wie eine Maus hatte sie nur immer wieder denselben Gedanken im Kopf gewälzt: ›Hat er mir geglaubt? Wirklich?‹ Und wenn nicht – was dann? Sie nahm die Banknoten heraus, die beider Glück erkauft – oder verraten hatten, und zählte sie noch einmal. Und ein Gefühl von widerfahrener Unbill brannte in ihr. Hatte sie denn das gewollt, so vor Männern zu stehen? Hatte ihr das nicht genug zu schaffen gemacht? Die sechzig Pfund hätte sie ja schon vor drei Monaten von jenem Bildhauer haben können, der so rasend nach ihr verlangte, so sagte er wenigstens! Aber sie war fest geblieben, jawohl, ganz fest. Tony konnte ihr nichts nachsagen – selbst wenn er alles wüßte. Sie hatte es für ihn getan – na ja, in der Hauptsache für ihn, wo er doch Tag für Tag bei jedem Wetter Ballons verkaufen mußte. Wenn sie nicht gewesen wäre, würden sie noch immer hier festsitzen und einen neuen Winter durchmachen müssen, und die Arbeitslosigkeit, so schrieben die Zeitungen, wurde schlimmer und schlimmer. Noch einen Winter in dem Nebel und der Kälte! Uff! Sie hatte noch immer so ein sonderbares Gefühl in der Brust, und er war immer heiser. Und dieses dürftige kleine Zimmer, und das Bett war so klein, daß sie sich nicht rühren konnte, ohne ihn aufzuwecken. Warum sollte Tony ihr mißtrauen? Jawohl, das tat er – sie hatte es gefühlt, es an dem Ton gehört, mit dem er ›Vic‹ gesagt hatte. Würde Mr. Mont ihn überzeugen können? Tony war nicht dumm! Sie ließ den Kopf hängen. Es war alles so ungerecht! Einige besaßen alles, wie die hübsche Frau des Mr. Mont! Und wenn man einen Weg finden wollte und sich herausarbeiten, um eine neue Chance zu haben – dann – dann – ging es einem so! Sie warf ihr Haar zurück. Tony sollte ihr glauben – er mußte! Er sollte sich hüten, ihr noch weiter zu mißtrauen. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich zu schämen hätte! Nein, wahrhaftig nicht! Und mit der Sehnsucht, mutig vorwärts zu gehen, dem Glück entgegen, holte sie ihren alten Blechkoffer heraus und fing an, nach einem sorgfältigen Plan zu packen.


 << zurück weiter >>