Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Durch den Birkenwald, wo die kleinen spitzen Wacholderbüsche so dicht wachsen, als hätte eine freundliche Riesenhand Tannenreis unter den lichten Kronen der schlanken Bäume gestreut, zieht die Landstraße hin. Der Schnee hat alles geglättet. In flachen Wehen liegt er auf der Straße, breitet sich, so weit das Auge blickt, unter den Birken aus, deckt mit seiner weißen Hülle das Grün der Wacholdersträucher und fegt durch die Luft gleich einer Wolke; alles hüllt er in seine Wirbel, die sich, je nachdem die Windstöße kommen oder gehen, lichten oder verdichten. Weit reicht das Auge nicht. Wenn der Wind einsetzt, sieht man kaum weiter als einen Steinwurf. Schweigt der Sturm einen Augenblick, so gleiten die Schneewirbel auseinander und gewähren dem Blick die Aussicht über verschneite Höfe, weiße Felder und in der Ferne treibende Schneewolken.

Auf der Landstraße fährt langsam ein einsamer Schlitten. Eine zusammengeduckte, überschneite Gestalt sitzt darin; hinter ihr wölbt sich ein Schneehügel, der, der Form nach zu urteilen, einen Koffer zu bergen scheint; neben dem Schlitten schreitet pustend ein hochgewachsener Mann in Rohrstiefeln, dickem Mantel mit aufgeschlagenem Kragen und tief ins Gesicht gezogener Mütze.

»Das Pferd schafft's nicht mehr bis zur nächsten Station,« sagt der Bauer.

Der Reisende macht eine Bewegung, wie um den Schnee abzuschütteln. Dabei kommt ein jugendliches Gesicht zum Vorschein: klare, lebhafte Augen unter schneeigen Brauen, ein blonder Schnurrbart, in dessen weichen Haaren der Reif sitzt. Er lächelt selber über sein Pech und antwortet: »Dann müssen wir eben ausspannen und im Wald übernachten.«

Der Fuhrbauer antwortet nicht. Er schüttelt sich bloß, daß ein Haufen Schnee niederfällt und schwer in das Weiß der Erde sinkt. Nach einer Weile sagt er: »Bei uns hier schneit es gewöhnlich nicht so. Droben soll es oft so sein, hab' ich mir sagen lassen.«

Mit »droben« meinte er das Schweden außerhalb von Skåne. Der Reisende versteht das auch und lächelt gutmütig. »Doch nicht ganz so oft, wie man vielleicht hier unten glaubt,« erwidert er.

Die Straße führte durch ein Dorf. Ganz überschneit lag es da, die kleinen Häuser alle geschlossen, die Fenster vereist, die Türen vom Schnee verrammelt. Nur der Rauch, der aus den Schornsteinen stieg, zeugte davon, daß hier Menschen lebten, und da und dort erschien auch hinter den Scheiben ein Gesicht, das der die tiefe Stille unterbrechende Schellenklang ans Fenster gelockt hatte. Der Kirchhof, auf dem keine Gräber mehr zu sehen sind, ist völlig zugeschneit; der viereckige Turm hebt sich in der Dämmerung gegen einen Hintergrund von wirbelndem Weiß. Durch stille, tiefe Buchenwälder geht die Fahrt. Da und dort schimmert es wie eine Lichtung, die anzudeuten scheint, daß dazwischen weite Äcker und Felder liegen. Dann geht es in die Talsenkung; jenseits erstreckt sich der Berggrat. Wie ein tiefer Schatten steht er hinter dem dichten Schneenebel. Zuletzt biegt der Weg in das Birkenwäldchen ein; die schwanken Kronen seufzen im Wind.

Da und dort standen Höfe zu beiden Seiten des Wegs, überall herrschte dasselbe tiefe Schweigen. Nicht einmal ein Hundebellen unterbrach die Stille. Nur aus einem Stall, an dem der Schlitten vorüberglitt, vernahm man das schwere Brüllen des Viehs, das ungeduldig war über die lang anhaltende Dunkelheit. Weiß, rein, einförmig lagen die kleinen Höfe; die Umrisse von Hecken und Bäumen zeichneten sich unter der dichten Schneemasse ab, und von den losen Ranken und Zweigen, die der Sturm schüttelte, fielen Haufen von Schnee in den tiefen, weichen Teppich hinab. Endlich kam der Schlitten auf einen freien Platz, der sich weiter und weiter zu öffnen schien. Aus den Fenstern eines niedern, langgestreckten Herrenhauses schimmerte Licht. Es sah stattlicher aus als alle, an denen sie bisher vorübergekommen waren, wie es da in die Schneemassen eingebettet lag; dahinter sah man die dunklen Umrisse des Bergrückens.

Der Lichtschein, der aus den Fenstern fiel, mußte für den Mann im Schlitten etwas Verlockendes haben; denn er richtete sich hastig aus seiner zusammengekauerten Stellung auf, so daß ein Schneehaufe, der sich auf seinem Rücken angesammelt hatte, auf den Koffer hinter ihm sank; und indem er lebhaft nach dem Hof hinüberdeutete, fragte er: »Wer wohnt da?«

»Der Patron Bruce auf Åkerup,« antwortete kurz der Fuhrbauer.

Die Antwort schien einen seltsamen Eindruck auf den Reisenden zu machen. Er verstummte ganz und gar; und obwohl der Fuhrbauer deutlich seinen Wunsch an den Tag legte, zwischen den hohen Granitpfeilern, an denen jetzt, zur Winterzeit, keine Lattentür hing, einzubiegen, erhielt er keine Antwort. Der Reisende war wieder auf seinem Platz zusammengesunken, und der Ausdruck seines jugendlichen Gesichts war abweisend und herb geworden. Der Bauer, den es nach Ofenwärme und Essen verlangte, schielte verstohlen zu ihm hinüber; aber der Respekt vor dem »Herrn«, der damals den Bauern noch tief eingewurzelt war, verhinderte ihn, etwas zu sagen. Schweigend ward die Fahrt fortgesetzt. Der Dampf, der von dem schweißtriefenden Rücken des Pferdes aufstieg, lag wie ein Nebel in der Luft.

Da richtete sich der Reisende plötzlich auf und sagte: »Kehr' um und fahre zu Bruces. Ich kenne sie.«

Der Bauer fuhr aus seiner gemächlichen Ruhe auf und hielt das Pferd an. Des Reisenden Stimme hatte hart und scharf geklungen, fast wie bei einem Zornesausbruch.

»Tu, was ich dir sage!« fuhr er gereizt fort.

Der Bauer sagte kein Wort; aber man sah es ihm, während er den Schlitten drehte, an, daß er sich sein Teil dachte.

Der Reisende hatte sich inzwischen aufgerichtet. Kerzengerade, mit gespannter Miene, saß er da; und als die Lichter vom Hof aufs neue durch das Schneetreiben zu glimmen begannen und huschende Schatten über den Hofraum mit seinen dunklen Umrissen von Hecken, Bäumen und Gruppen von Sträuchern warfen, wurde er ungeduldig und murmelte einmal ums andre: »Sind wir noch nicht bald da?«

Erst als er aus dem Schlitten gestiegen war und schon auf der Treppe stand und im Dunkel nach der Türklinke suchte, zögerte er noch einen Augenblick unentschlossen, als habe er plötzlich wieder Lust, umzukehren und den Hof hinter sich zu lassen. Schließlich aber nahm er sich zusammen und drückte kräftig die Klinke herunter. Dann verschwand seine Gestalt im Helldunkel des Vestibüls, dessen Deckenlampe einen Augenblick in das Zwielicht des Hofplatzes hinausschimmerte.

Es war dämmerig geworden, während Thora einsam vor dem Buchenholzfeuer im offenen Wohnzimmerkamin saß; und die Schlittenglocken, die sie gehört hatte, waren die des Fremden. Als sie, noch immer mit den neuen Gedanken kämpfend, die heute über sie hereingebrochen waren, ins Vorzimmer hinaustrat, stand dieser Fremde vor ihr. Sein Haar, sein Gesicht und seine Kleider waren voller Schnee. Sie hörte eine verlegene Stimme sagen: »Olthov! Konrad Olthov!«

Thora mußte sich Gewalt antun, daß nicht ein Aufschrei von ihren Lippen brach. Sie wagte gar nicht, zu zeigen, wie sehr sie sich freute, stand nur ganz still und betrachtete den jungen Mann, als sei er eine Erscheinung und nicht lebendige Wirklichkeit.

Konrad Olthov selbst war weniger aufgeregt als Thora. Die Erinnerungen, die in diesem Augenblick in ihm kämpften, waren ganz andrer Natur als ihre. Sie legten Beschlag auf alle seine Gedanken, erfüllten ihn so ganz und gar, daß alles andre dagegen klein ward und in den Schatten zurücktrat.

»Mein Mann ist fort,« sagte Thora. »Vor heut abend kommt er nicht zurück.«

Konrad antwortete nichts, sondern folgte ihr nur ins Zimmer und sah zu, wie sie Lampe und Lichter anzündete. Auch ihm kam das Ganze nach und nach vor wie ein Märchen oder ein Traum.

»Ist es nicht merkwürdig, daß ich hier bin?« sagte er.

»Ja!« erwiderte Thora.

Und plötzlich überwältigte sie der Gedanke, wie seltsam doch der Zufall spielte, daß er, der in der Gegend ein Fremder war, der keine Seele im ganzen Kirchspiel kannte, nach Åkerup kommen mußte, um sie da zu treffen. Es war ihr fast unmöglich, zu glauben, daß es wirklich nur ein Zufall sein sollte. »Wie kam es denn?« entschlüpfte es ihr unwillkürlich.

»Ich fragte den Fuhrbauern,« erwiderte Konrad. »Wer wohnt da? fragte ich. Da nannte er den Namen Bruce, und ich fuhr hierher. Eigentlich war ich schon vorbeigefahren, eh' ich mich entschloß,« fügte er lächelnd hinzu.

Thora konnte es noch immer nicht fassen, daß das Ganze wirklich nur ein Zufall war. Und während sie das voller Eifer aussprach, reichte sie Konrad beide Hände zum herzlichen Willkomm. Konrad wußte darauf nicht viel zu sagen. Er konnte Thoras Freude nicht teilen. Für sie war es, als sei die ganze Jugend zu ihr eingedrungen mit diesem jungen Mann, der ihr Freund gewesen, als sie noch Mädchen und alles so ganz anders war als jetzt. Konrad war bedrückt wie ein Mensch, den schwere Erinnerungen überwältigen und der einem unbekannten Ziel entgegengeht. Gerade jetzt, als er es am wenigsten erwartete, kam diese Frau in seinen Weg. Jetzt kam sie, jetzt, nachdem er aufgehört hatte, nach ihr zu verlangen, jetzt, da eine neue Sehnsucht seine Seele füllte. Thora war nicht mehr das junge Mädchen, das er dereinst geliebt hatte. Eine ganz andre war sie, und doch dieselbe. Unbefangen bewegte sie sich im Zimmer umher, mit freimütigem Lächeln sah sie ihm ins Gesicht. Konrad begriff jetzt zum erstenmal, daß Thora ihn nie geliebt hatte und ihm darum also auch nicht untreu gewesen war. Das stimmte ihn milder, er war gleichsam dankbar, daß ihm dies Häßliche, das ihn so lange gequält hatte, von der Seele genommen ward. Zugleich aber empfand er es auch als eine Demütigung, und er fühlte sich dadurch noch fremder in diesem Hause, noch mehr wie einer, der da nichts zu schaffen hat.

»Du bist ein ganzer Mann geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben,« sagte Thora zuletzt.

Konrad mußte lächeln, weil Thora ihn noch duzte, wie sie es als junges Mädchen getan hatte. Er fühlte, er hätte das nicht tun können. Er wußte auch, warum, und der Gedanke stimmte ihn aufs neue wehmütig.

»Ich bin auf dem Weg in den Krieg,« sagte er verlegen.

»Ja,« erwiderte Thora, »ich weiß.«

Jetzt war an Konrad die Reihe, sich zu verwundern. »Du weißt es?« rief er.

Thora erzählte ihm von dem Zusammentreffen ihres Mannes mit den Offizieren und was er dabei erfahren hatte. Dadurch kam die Rede auf den Krieg. Konrad hatte schon lange keine Zeitung mehr gelesen. Sogar, daß Dannevirke geräumt war, war ihm ganz neu. Thora unterbrach ihn. »Ich glaubte, gerade darum gehst du,« sagte sie. »Ich dachte, du wolltest gerade jetzt helfen, wo die Not am größten ist.« Das ganze romantische Gefühl für »den Bruder in Not«, dies Gefühl, das Märtyrer und Helden macht, klang aus ihrer Stimme, zitterte durch den Ton, mit dem sie die Worte aussprach, die an sich einfach und alltäglich genug klangen.

Konrad merkte das. Er wurde verlegen und wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte. So gleichsam sich als Helden aufzuspielen war ihm ein Greuel. Thoras Worte klangen ihm wie eine Forderung, die er nicht erfüllen konnte. » Das treibt mich nicht in den Krieg,« sagte er schließlich.

»Was denn?« Thoras Augen wurden ganz groß.

»Etwas andres,« fuhr der Jüngling fort. Seine Stimme klang heiser. Er fühlte zum erstenmal in seinem Leben in sich die Notwendigkeit, seine eignen Empfindungen zu erklären. Und das konnte er doch nicht, er konnte ja doch nicht alles sagen, am allerwenigsten ihr. Er fing an zu wünschen, er wäre weit fort oder hätte diesen Besuch überhaupt nicht unternommen. Da er jedoch fühlte, daß er nicht stumm bleiben konnte, versuchte er in seiner etwas unbeholfenen Art sich an der Frage vorbeizuschlängeln und sagte: »Du weißt ja, wie es bei mir daheim ist. Vater ist wie immer. Ich habe keinen Menschen, mit dem ich ein Wort sprechen könnte. Nie hab' ich eigentlich jemand gehabt, mit dem ich hätte reden können. Ein paar Kameraden einmal. Aber was will das heißen? Jetzt bin ich seit ein paar Jahren daheim. Und die Jahre sind lang. Da ist es mir schließlich zu schwer geworden. Eines schönen Tags bin ich zu Vater gegangen und hab' ihm gesagt, ich hielte es nicht mehr aus so. Vater war böse; ich sah wohl, daß er mich auf seine Art gern hat. Aber was nützt mir das? Vater hat nun einmal nicht den vollen Gebrauch seiner Sinne. Kannst du dir was Schlimmeres vorstellen?« Die letzten Worte waren voll von verbissenem Ingrimm, voll von Empörung gegen ein unerträgliches Geschick.

Konrad schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »Die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen, und doch brauchte ich Geld. Darum schützte ich eine Reise vor. Es hat schwergehalten, das darfst du mir glauben. Denn gerade das Geld, das ist ja doch der wunde Punkt bei ihm. Schließlich hab' ich meinen Willen durchgesetzt. Wenn ich erst bei der Armee bin, so schreib' ich Vater, wie es ist. Dann geht es leichter.«

Thora erwiderte hierauf nichts. Sie fand es unrecht von Konrad, daß er seinen Vater auf diese Weise hinterging; zugleich aber lag in seinem entschlossenen Handeln doch etwas, was ihr gefiel.

»Niemand außer dir weiß darum,« schloß Konrad.

»Ich werde schon schweigen,« erwiderte sie.

Dann zeigte sie ihm ihr Heim. Sie gingen von einem Zimmer ins andre. Sie standen lange am Fenster und blickten in der Dämmerung über das Land. Thora erzählte und erklärte. Dort erstreckten sich die Felder und Wälder von Åkerup, drüben fing das Bereich des Pfarrhofes an, dort unten floß sommers frei und offen der Bach.

Darauf führte sie ihn ins Kinderzimmer. Hans war aufgewacht. Er lag in seinem Bettchen und lachte den Eintretenden entgegen. Die Mutter nahm ihn auf den Arm, und er streckte furchtlos seine kleinen dicken Fingerchen nach dem blonden Schnurrbart des Fremden aus.

Von da gingen sie wieder ins Wohnzimmer; beide fühlten, wie die gedrückte Stimmung, die bisher geherrscht hatte, immer mehr schwand. Wie zwei gute Freunde, die einander lange nicht gesehen haben, saßen sie beieinander und schwatzten. Das Mittagessen wurde aufgetragen, und nach Tisch gingen sie in Thoras Kabinett, wo im grünen Kachelofen das Nachmittagsfeuer flackerte.

Für Thora war es, als sei die Heimat ihr plötzlich ganz nahe gerückt. Etwas Schweres, Drückendes, das sie sonst nie verließ, verschwand leise. Den Krieg vergaß sie ganz und gar. Es war, als gäbe es überhaupt nichts Häßliches und Furchteinflößendes mehr, als sei Konrad bloß gekommen, damit sie eine Freude hätte. Sie fragte nach Vater und Mutter. Konrad war ja kürzlich dort gewesen. Sie berichtete vom Brief der Mutter und was über Konrad und des Hauptmanns Unterhaltung darin gestanden hatte. Konrad erzählte und erzählte und ward schließlich so warm, daß er, ohne es zu merken, rief: »Ich wollte von dir hören – darum bin ich hingegangen.«

»Wirklich?« erwiderte Thora unbefangen. »Dachtest du noch ein bißchen an mich?«

»Ja,« sagte Konrad mit schüchternem Lächeln. »Wir sind ja immer gut Freund gewesen.«

»Ja,« sagte Thora.

Eine Weile herrschte Schweigen. Jedes genoß ganz unbewußt die Nähe des andern, und beide empfanden das unbeschreibliche Glück der Jugend, das das Bewußtsein gegenseitigen Verstehens und gegenseitiger Sympathie verleihen, die Wohltat, sagen und tun zu dürfen, was ihnen gerade in den Sinn kam. Schließlich sagte Konrad: »Du bist noch ganz die Alte, Thora!«

Ein Schatten glitt über Thoras Gesicht. Ohne daß sie die Ursache hätte ergründen können, tat ihr irgend etwas ein bißchen weh. Aber sie vergaß es gleich wieder. In ihr war alles so neu, so ungewohnt, so heiter, bloß weil sie fühlte, sie durfte über alles sprechen, so wie sie wollte und konnte. Es war, als wäre sie lange eingesperrt gewesen und fühle sich plötzlich frei. Darum erwiderte sie auf Konrads Worte nichts, sondern strich nur das leichte, etwas wellige Haar zu beiden Seiten des Scheitels zurück, als freue sie sich, daß jemand ihrem Aussehen Beachtung schenkte, und sagte: »Und daheim ist alles wie früher? Es war gewiß schön im Sommer!«

»Ja,« erwiderte Konrad einsilbig. Von Naturschönheit reden – das war seine Sache nicht.

»Es ist auch schön hier,« fuhr Thora fort. »Nur daß ich es nicht sehe. Die Natur hier sagt mir nichts.«

Das verstand Konrad nicht. Er saß ganz still und sah Thora an und freute sich, wie schön sie war, wenn sie sprach.

»Verstehst du mich nicht?« fuhr sie fort. »Manchmal spricht die Natur zu mir, und manchmal sagt sie mir nichts. Und wenn sie nichts sagt, ist alles so schwer.«

Konrad schüttelte den Kopf. Thora wurde nur immer eifriger und fing an zu erzählen. Sie erzählte, wie es gewesen war, als sie nach Åkerup gekommen und am ersten Sonntag mit ihrem Mann spazieren gegangen war und nichts hatte so sehen können, wie er es wollte. Sie erzählte, wie sehr sie immer fürchtete, sie könne es ihm nicht recht machen, und wie ängstlich sie auch jetzt noch oft sei, wenn sie allein in den großen Zimmern sei. Wie sie die Türen doppelt und dreifach abschließe und jeden Abend in allen Garderoben und dunklen Winkeln nachsehe, ehe sie es wage, zu Bett zu gehen. Alles erzählte sie ihm. Und während sie sprach, wurde sie ganz heiter und lachte selber über ihre Angst, die sie nie recht los wurde. Sie zeigte Konrad die Ecken und Winkel in den Zimmern, vor denen sie sich am meisten fürchtete, wenn sie daran vorbei mußte. Mehr als einmal hatte sie wach gelegen und allerlei Geräusche gehört, Schritte auf dem Dachboden, Hände, die nach den Türschnallen faßten. Die Veranda ängstigte sie, weil man von da aus so leicht ins Zimmer gelangen konnte. Das Schloß an der Küchentür untersuchte sie auch immer selbst, weil es so alt war und auf eine ganz besondere Art zugemacht werden mußte, wenn es einschnappen sollte. »Aber das schlimmste ist,« schloß sie, »daß ich manchmal das Gefühl habe, als würde der dunkle Berg drüben zu einem dicken, undurchdringlichen Nebel, der sich über die Felder herwälzt und ins Zimmer dringt und sich dann auf mich legt und mich ersticken will.«

»Warum hast du nie mit deinem Mann darüber gesprochen?« fragte Konrad.

Thora schüttelte den Kopf. »Bruce hätte nicht die Geduld, mich anzuhören,« sagte sie. »Er will, daß mir alles hier gefallen soll, gerade so, wie es ihm gefällt; daß ich alles mit seinen Augen sehen soll.«

Zum erstenmal fiel es Thora auf, daß sie ihren Mann Bruce nannte und nicht Johan; und ein Gefühl von Unsicherheit überschlich sie.

Konrad wußte nicht recht, was er auf all das antworten sollte. Obgleich Thora sich darüber nicht ausgesprochen hatte, hatte er doch den Eindruck, als sei sie nicht glücklich. In einer Art tat ihm das fast ein bißchen wohl, wie wenn er sie dadurch weniger verloren hätte. Aber zugleich ergriff ihn vor dieser Unvollkommenheit des Lebens, die man eine disharmonische Ehe nennt, die ganze unbestimmte Wehmut der Jugend, die derartiges am liebsten nicht glauben möchte. Er wagte natürlich nichts zu sagen. Aber Thora war ihm nie so nahe gewesen wie in diesem Augenblick, und während er so neben ihr saß in dem kleinen Zimmer, das Lampe und Feuerschein warm und hell machten, gedachte er der Zeit, da es sein Traum gewesen war, dies weiche Geschöpf wegzuheben über alles, was schwer und trüb war, ihr das Leben zu einem zärtlichen Spiel zu gestalten, ihr all das Glück zu Füßen zu legen, das nur er allein ihr zu schenken vermochte. Er vergaß fast, daß sie das Weib eines andern war; und wenn er Thora, die mit ihrem warmen und ernsten Lächeln neben ihm saß, ansah, so schien es ihm, als habe auch sie es vergessen. Die Zeit hatte über diese beiden die Herrschaft verloren, hatte keine Gewalt mehr über sie – ein paar Stunden unausgesprochenen Glückes lang, die das Dazwischenliegende auslöschten und sie beide allein auf eine einsame glückliche Insel versetzten, wohin die Stimmen der Welt und der Menschen nicht drangen ...

Als der Disponent Bruce nach Hause kam, trat Thora ihm strahlend vor Freude und Frische entgegen. Natürlich kam ihm sofort der Gedanke, daß er seine Frau lange nicht mehr so gesehen habe. Und die Miene, mit der er seinen Gast begrüßte, war ernsthafter, als ihm selbst lieb war. Einen Augenblick lang sah es aus, als wolle das Gespräch ins Stocken kommen. Konrad Olthov fühlte sich verlegen diesem fremden Mann gegenüber, der ihm, ohne es zu ahnen, Kummer bereitet hatte. Mit einer Art Neugier musterte er die kräftige und ein bißchen schwere Gestalt, die grobgeschnittenen, gutherzigen Züge, als wolle er ergründen, was denn dereinst Thoras Liebe gewonnen habe. Thora selbst ging zwischen den beiden ab und zu und machte sich allerhand zu schaffen. Jetzt war sie es, die die Rede auf den Krieg brachte.

Damit war die Unterhaltung wieder in vollem Gang, und wer die drei beobachtet hätte, hätte hinter ihnen nichts andres gesucht als drei Menschen, die gemütlich beieinander saßen und sich in dem einen großen Interesse, das damals das ganze Land erfüllte, zusammenfanden. Konrad erzählte von seiner Heimat und der Stimmung dort. Daß er in den Krieg wollte, machte ihn, obgleich er ein Fremdling in dem kleinen Kreise war, doch zum unbestrittenen Mittelpunkt. Die Stimmung in dem dämmerigen Raum, in dem das Feuer längst niedergebrannt und der nur noch von der Öllampe erleuchtet war, wurde ernster.

Bruce betrachtete sich den jungen Mann genau und fühlte sich, fast wider Willen, angezogen von dem offenen männlichen Gesicht und dem klaren Blick. »Sie haben also große Lust, einen Krieg mitzumachen?« fragte er lächelnd.

»Manchmal glaub' ich es,« antwortete Konrad verlegen.

Bruce sah ihn aufmerksam an. »Wie meinen Sie das?« fragte er.

Konrad fühlte, wie er errötete. »Ich meine,« sagte er hastig, »man kann auch in den Krieg ziehen, bloß weil man um jeden Preis von zu Haus fort möchte.«

Es lag in diesen Worten mehr ungeschminkte Wahrheit als in allem, was Konrad vorher, solange er und Thora allein waren, ausgesprochen hatte. Eine Ahnung stieg in Thora auf – die sichere, weibliche Ahnung, die nicht leicht täuscht. Sie wurde verwirrt, wie wenn sie und ihr Gast unerlaubte Heimlichkeiten miteinander hätten, und um ihre Verwirrung zu verbergen, rief sie: »Aber denk, wenn sie dich nun erschießen!«

Bruce hatte noch nicht gehört, daß seine Frau den Fremden duzte. Er fühlte sich unangenehm berührt, schämte sich aber gleich darauf seiner Schwäche.

Konrad blickte auf; seine Stimme klang ein bißchen unsicher, als er antwortete: »Warum sollten sie gerade mich erschießen?«

»Ach,« erwiderte Thora, »ich dachte nur ...«

Keins von beiden wagte das andre anzusehen. Wie ein Geständnis gegenseitiger Unruhe umeinander, eine Art offener Erklärung, daß keins das andre missen mochte, waren diese Worte zwischen ihnen gefallen und hatten in ihnen Wurzel geschlagen, stärker als alles, was in der Einsamkeit zwischen ihnen gesprochen worden war. Bruce, so schien es, merkte davon nichts. Er fuhr fort, vom Krieg und seinen Aussichten und Möglichkeiten zu reden. Währenddem verließ Thora das Zimmer und kam erst wieder zurück, um die Herren zum Abendessen zu bitten, was beide mit einem Gefühl der Erleichterung begrüßten.

 

In der Nacht legte sich der Sturm, die Wolken zerstreuten sich, und als der Morgen kam, strahlte die Februarsonne hell auf ein weißes Meer voll kleiner und großer erstarrter Wellen. Die Sonnenstrahlen glitzerten über dem Buchenwald und umfunkelten den Berggrat mit seltsamem Licht. Es sah aus, als sei er in glimmernde Watte gewickelt. Blau stiegen die Rauchsäulen aus den Schornsteinen zum klaren Himmel auf, und im Zimmer zitterten Sonnenflecken von den Prismen des alten Kristallkronleuchters.

Schon beim Frühstück äußerte Bruce in dem gutmütigen Befehlshaberton, der ihm zur zweiten Natur geworden war, der Gast müsse noch einen Tag bleiben. »Der Schnee liegt tief,« sagte er, »und es hat keinen Sinn, die Pferde unnütz anzustrengen. Unsre skånischen Pferde sind sowieso nicht daran gewöhnt, Schlitten durch Schneehaufen zu ziehen. Morgen fährt dich Ola zur nächsten Station.« Bruce hatte am Abend vorher, ehe sie auseinandergingen, mit dem Kindheitsfreund seiner Frau Duzbrüderschaft getrunken. Seine ganze Art dem Gast gegenüber war dabei voll wohlwollender Freundlichkeit gewesen. Konrad war trotzdem wenig zufrieden, daß er bleiben mußte. Er fühlte, dieser Besuch hatte ihm mehr gegeben, als er eigentlich erwartet hatte. Und eben deshalb sollte es jetzt auch zu Ende sein. Mit der Erinnerung an seinen und Thoras einsamen Nachmittag wollte er weiterziehen, dem Unbekannten entgegen. Er dachte sich dabei weiter nichts, er hatte nur den Wunsch, sobald als möglich fortzukommen, um allein zu sein mit all den neuen Eindrücken, die ein paar Stunden lang seine Seele überflutet hatten. Daß er sich trotzdem entschloß, zu bleiben, geschah nicht um der Pferde willen, sondern weil er gesehen hatte, wie Thoras Gesicht bei dem Vorschlag ihres Mannes aufleuchtete. Ihr Blick zwang Konrad wider seinen eignen Willen.

Der Tag verging unter kleinen Spaziergängen und Gesprächen, Mahlzeiten und einem langen Nachmittag hinter geschlossenen Läden, brennenden Lampen und dampfenden Pfeifen. Die Stimmung war abwechslungsweise heiter und dann wieder gedrückt, wie stets bei Menschen, die der Zufall zusammengeführt hat, und die wissen, daß sie binnen kurzem fürs ganze Leben auseinandergehen. Keins von den dreien fand sich mehr so zurecht wie am ersten Abend. Konrad wurde die Zeit lang, sogar Thora war ihm gewissermaßen eine Fremde geworden. Er verstand nicht, wie sie ihrem Mann gegenüber so demütig sein konnte, und daß sie ständig entweder vom Kind oder von Küchengeschäften in Anspruch genommen schien. Kein einziges Mal war er allein mit ihr, und wenn er in der Unterhaltung versuchte, sich an sie zu wenden, so vermied sie meist, direkt zu antworten, und wandte sich an Bruce, als fühle sie sich in ihrem eignen Haus unsicher. Es war eine ganz neue Thora, die Konrad im Verlauf des Tages kennen lernte. Thora, so wie die Ehe sie gemacht hatte, eine unruhige, demütige, unsichere, gleichsam heimatlose Thora, die vor ihrem Mann verstummte und nicht einmal dem Gast gegenüber so frei und heiter sein konnte wie gestern – mit einem Wort: Thora Bruce.

Auf Konrad wirkte diese neue Thora niederdrückend und beklemmend. Ihm war, als schleppten die Stunden sich endlos hin. In einem Zustand steigender Erregung saß er in seinem Sessel neben dem offenen Feuer und horchte auf das einförmige Ticken der Wanduhr. Es kam ihm vor, als wolle der Zeiger, der über die Perlmuttereinlage des Zifferblattes hinschlich, überhaupt nicht mehr die Kreisläufe vollenden, die ihn noch von der Stunde trennten, in der es Zeit war, zu Bett zu gehen, in der Konrad sich endlich zurückziehen durfte.

Schließlich schlug die ersehnte Stunde aber doch, und Konrad stieg hinauf in das kleine Giebelzimmer mit seiner Aussicht auf die Linden im Garten, die kahl und dunkel unter dem sternbesäten Nachthimmel standen. Aber er fand keine Ruhe. Der Gedanke an Thora hielt ihn wach. Was für einen Eindruck hatte er eigentlich von ihrem Leben und ihrem Mann? Und was ging ihn das alles an? Weshalb war er überhaupt gekommen? Und weshalb saß er nun da und beschäftigte sich mit dem Schicksal zweier Menschen, von denen der eine ihm immer fremd gewesen und der andre es fast für ihn geworden war?

Solche und ähnliche Gedanken flogen ihm durch den Kopf. Dann dachte er an den Krieg. Noch nie hatte die Wirklichkeit des Krieges ihm so lebendig vor Augen gestanden wie jetzt. Noch nie war er sich so klar bewußt gewesen, daß das, worauf er jetzt zuschritt, ein großer Ernst war. Was wußte er denn eigentlich vom Krieg? Etwas von Kämpfen Mann gegen Mann, von Überfällen und Verteidigung, von gegenseitigem Schießen und der Möglichkeit, von einer Kugel getroffen zu werden oder einen Säbelhieb über den Kopf zu erhalten, vielleicht fürs Leben ein Krüppel zu werden, der mit dem Arm in der Schlinge oder einem Stelzfuß herumlief. Dinge, von denen er gehört oder gelesen hatte, von denen er aber ganz und gar nicht wußte, was sie eigentlich waren. Wie in einem Nebel sah Konrad das, unklar und unwirklich, wie alles, was wir uns aus Büchern angelesen haben. Und doch fühlte er: es war eine Wirklichkeit, die ihm immer näher rückte, eine neue, schreckensvolle Wirklichkeit, der er nicht entgehen konnte.

Weshalb hab' ich denn überhaupt etwas derartiges gemacht? dachte er zum erstenmal. Es gab ihm einen Stich durch die Brust, und er wandte sich hastig um, als fürchte er, er sei nicht allein. Die Kerze flackerte auf bei der heftigen Bewegung und warf huschende Schatten durchs Zimmer. Er sah die Heimat, das Bild des Vaters, das karge Elternhaus, in dem sein Leben so unaussprechlich leer war. Und doch wußte er, nicht diese Leere war es, vor der er floh. Es war die Leere, die Thora zurückgelassen hatte – die war's, die hatte ihn fortgetrieben. Lange Jahre hatte sie an ihm genagt. Aber er war jung und stark, und die Wunde war verwachsen. Sie schmerzte nicht mehr. Längst hatte er geglaubt, sie sei geheilt. Und trotz allem war sie jetzt wieder offen. Daß er das Gegenteil geglaubt hatte, war nichts als Selbstbetrug gewesen. Jetzt wußte er es. Denn jetzt brach die Wunde aufs neue auf und schmerzte heißer als je. Er sah Thora vor sich, verändert, ergebungsvoll, scheu und still, sie, die dazu geschaffen war, im Sonnenschein zu leben, frei zu sein wie ein Vogel. Leise, auf nackten Füßen, ging Konrad im Zimmer auf und ab, immer voll Angst, man könnte ihn unten hören, auf jedes Geräusch horchend, als fürchte er, noch irgend etwas Neues zu vernehmen, das seine Unruhe noch steigern mußte. Als er sich endlich müde, erregt zu Bett legte und das Licht löschte, war er nahe daran, vor Leid und Harm und dem hilflosen Bewußtsein, gar nichts tun zu können, in Tränen auszubrechen. Thora gehörte ihm, ihm und keinem andern. Ihr Bild saß tief in seinem Herzen; niemand konnte es ihm entreißen. Und während die Winternacht vor den kleinen Fensterscheiben dunkler und dunkler ward, lag Konrad wach und dachte daran, wie zart und fein und einsam Thora war, wie er sie am liebsten hätte forttragen, sie vor allem, was schwer und traurig war schützen, sie vor der Welt verstecken mögen, in der ja doch keiner sie so kannte und liebte wie er.

Er wußte ja, daß alles ein Traum war, und er verwechselte seinen Traum auch nicht mit Hoffnung und Wirklichkeit. Aber eben deshalb litt er um so heftiger und intensiver. Schließlich verlangten Jugend und Natur gebieterisch ihr Recht, und er sank in einen tiefen, schweren Schlaf. Da träumte er, er liege verwundet irgendwo in einem großen weißen Zimmer mit vielen leeren Betten. Er hatte sich im Dunkel auf eine Anzahl Feinde gestürzt, die er aber gar nicht sah. Man trug ihn fort; und während er nun einsam zwischen all den leeren weißen Betten lag, sah er jemand auf sich zukommen. Es war eine Frau, deren Gesicht er nicht sehen konnte. In ihm brannte und schmerzte es. Es muß schlimm stehen, dachte er im Traum. Im selben Augenblick sah die Frau auf; aber es war nicht Thora. Es war das Gesicht eines jungen blonden Weibes. Sie betrachtete ihn mit sonderbaren Augen. Und Konrad wußte auf einmal, daß es gar nicht die Wunde war, die ihm weh tat, sondern etwas andres, viel Schlimmeres, etwas, was überhaupt nicht wieder gut werden konnte, so glaubte er. Er hob den Arm gegen die Unbekannte, um sie zu vertreiben, und schlug blind um sich.

Im selben Augenblick saß er aufrecht in seinem Bett. Hatte es geklopft? Es war noch Dämmerung. Der erste Tagesschein kroch grau und kalt durch die Scheiben. Schlaftrunken rief er: »Herein!«

Gleich darauf erschien Bruce unter der Tür. Er war in Pelz und wollener Mütze, die Unterlippe unter dem Schnurrbart vorgeschoben, die Brauen gerunzelt. »Bei einem der Kätner ist etwas vorgefallen,« sagte er eilig. »Ich muß sofort hin. Du sagst es dann, wenn du reisen willst. Thora weiß Bescheid.« Damit trat er auf das Bett zu, drückte dem Gast die Hand, wünschte ihm alles Gute und verschwand wieder durch die Tür.

Das Ganze war so rasch gegangen, daß Konrad kaum zum Bewußtsein gekommen war. Sein erstes Gefühl war Scham. Der Traum lag noch wie ein Nebel über seinen Gedanken, und es war ihm, als müsse Bruce ihm in die tiefste Seele geschaut haben. Aber plötzlich schoß ein Freudenstrahl in ihm auf. Thora und er würden einander noch einmal allein sehen. Noch einmal würde er sie sehen dürfen, wie sie wirklich war, wie er sie kannte, wie er ihr Bild immer in sich tragen würde. Langsam, als müsse er das Glück, das ihn erwartete, möglichst sparsam genießen, kleidete er sich an. Als er fertig war, schimmerte der Schnee des Berges im Glanz des Morgenlichts.

Im Wohnzimmer mußte Konrad lange warten. Thora erschien nicht. Malin, die hereinkam und nach den brennenden Holzscheiten im Kamin sah, nach ihr zu fragen, wagte er nicht. Sein Mut sank, während er wartete. Er fühlte nur noch die Wehmut des Abschieds und die Ungewißheit der Zukunft, der er entgegenfuhr.

Thora überraschte ihn, während er noch in stummem Warten, mit gesenktem Kopf und seinem gewöhnlichen herben und unzugänglichen Gesichtsausdruck dasaß. Sie setzten sich an den Frühstückstisch, ohne daß Konrad ein Wort über die Lippen gebracht hätte. Thora war wieder, was sie ihm einst gewesen: die unerreichbar Ersehnte, das Glück, das er nie greifen würde.

Über Thoras ganzem Wesen lag an diesem Morgen etwas Neues, das er noch nie an ihr beobachtet hatte, und das ihn mit einem unnennbaren Gefühl erfüllte, weil er es nicht zu ergründen und sich klarzumachen vermochte. Erst als er schon im Vorzimmer stand, fragte er: »Was ist? Du bist so anders als sonst.«

»Anders?« fragte sie zurück.

Konrad wagte nichts weiter zu sagen. Statt dessen erklärte Thora: »Ich begleite dich ein Stückchen.«

Sie ließ seinen Pelz in den Schlitten legen und gab dem Kutscher ein Zeichen, vorauszufahren. Stumm folgten sie beide.

Die Sonne war aufgegangen, über dem Schnee, der schon zu schmelzen begann, glitzerte es vor Licht. Wie eine dunkle, funkelnde Wand stand der Berg hinter dem hellen Feld. Der Weg war gebahnt, aufgepflügt, die Schneewehen standen zu beiden Seiten wie Wälle, zwischen denen sie dahinschritten, während die Schlittenglocken schon in der Ferne, am Anfang des schwarzen, niedrigen Waldes klingelten. Der Schneepflug hatte am Tag zuvor seine Arbeit gründlich besorgt.

Noch war es ein gutes Stück Wegs. Noch brauchten sie nicht Abschied zu nehmen. Konrad schritt stumm dahin. Alle seine Träume waren fort. Wieder empfand er das unbeschreibliche Ruhegefühl, das Thoras Nähe ihm immer gab. Es senkte sich mit seiner sanften Stille über ihn, obgleich er wußte, daß nur noch wenige Minuten waren, bis die Verzauberung weichen und er wieder einsam sein würde. Auch Thora war stumm; und während Konrad über das, was er sagen wollte, nachgrübelte, nahm sie seinen Arm. Er fuhr zusammen. Zögernd legte er seine Hand über die ihre und glaubte zu sehen, wie ein fast leidvolles Lächeln über ihre Züge flog.

Sie waren jetzt mitten im Wald, dem schwarzen, dichten Tannenwald, in den die Sonnenstrahlen nur mühsam drangen. Schneeflocken lösten sich sacht von den Zweigen und sanken in das tiefe Dunkel. Die beiden wanderten weiter, als wollten sie immer so weiterwandern; um sie war Dämmerung, als wäre der Abend nah.

Vor dem Wald im Sonnenschein hielt der Schlitten. Thora zog ihren Arm aus dem Konrads, und indem sie einen Blick zurückwarf, sagte sie: »Hier hab' ich mich immer am meisten gefürchtet, wenn ich allein war.«

Ohne ein Wort zu erwidern, zwang er sie, umzuwenden. Und ohne einander zu berühren, schritten sie aufs neue Seite an Seite die kurze Strecke zurück, bis sich wieder die Ebene im Sonnenschein vor ihnen dehnte und der Wald zu Ende war.

Da blieben sie stehen, und Konrad streckte die Hand aus. »Leb' wohl, Thora,« sagte er. »Denk manchmal an mich.« Er versuchte zu lächeln, während er das sagte. Aber da sah er, wie Tränen über Thoras Wangen rollten. »Was ist?« rief er erschrocken.

Aber Thora riß sich los. »Geh jetzt!« sagte sie. »Und komm wieder, wenn du am Leben bleibst!«

Damit wandte sie sich ab und ging mit hastigen Schritten nach dem Hof zurück. Einsam ging Konrad zum zweitenmal den Weg durch den dunklen Wald zum Schlitten, der draußen wartete.

 

Thora war froh, daß Bruce noch nicht zu Hause war, als sie von ihrer Wanderung zurückkehrte. Es war ihr zumute, als hätte sie eine gewagte Handlung begangen, deren Folgen sie noch nicht berechnen konnte; und sie ging unruhig in den Zimmern umher, ganz erfüllt von dem Gedanken, was Bruce wohl sagen würde, wenn er wüßte, daß sie den Gast begleitet hatte. Konrads Abschiedsworte klangen ihr noch in den Ohren. Ihr war, als sei er ihr nah, als sei etwas von ihm in den leeren Zimmern zurückgeblieben. Sie fühlte wieder die ruhige Sicherheit, die über sie gekommen war, als er vorhin noch einmal umgekehrt war, um sie durch den Wald zurückzubegleiten; und dann überfiel sie bei dieser Erinnerung eine Unruhe, als müsse ihr irgend etwas Schlimmes geschehen. Sie dachte an ihre eignen Abschiedsworte, und bei dieser Erinnerung schoß ihr das Blut in die Wangen und klopfte ihr das Herz. Was hatte sie eigentlich damit sagen wollen: »Komm wieder, wenn du am Leben bleibst!«? Warum hatte sie Konrad gebeten, wiederzukommen? Was war es ihr, ob er am Leben blieb oder starb? Immer mit diesen Gedanken beschäftigt, ging sie schließlich an ihre Arbeit; sie fürchtete sich, den Blicken andrer zu begegnen, als müßten diese ihr das Geheimnis vom Gesicht ablesen, das ihr doch selber verborgen war.

Es war noch früh am Morgen. Thora saß im Kinderzimmer auf einem Schemel vor dem Feuer, wusch den Kleinen und zog ihn an. Er war schlechter Laune aufgewacht heute. Er weinte, und Thora hatte alle Hände voll zu tun, ihn zu trösten. Aber immerwährend verfolgten sie die Gedanken. Sie fürchtete jetzt nicht nur, es könnte irgend etwas geschehen, sondern es kam ihr auf einmal so vor, als sei schon etwas geschehen, etwas, was für sie das ganze Dasein veränderte. Was es war, das verstand sie nicht. Sie wurde ungeduldig, weil der Kleine gar nicht mit Weinen aufhören wollte; sie sehnte sich danach, ihn lachen zu hören, sein strahlendes Gesichtchen zu sehen. Ihr war, als ob nichts mehr sei, wie es vor kurzem noch gewesen.

Vom Kinderzimmer aus konnte Thora den Hof überblicken. Die Sonne funkelte auf dem Schnee, fern hinter der Straße glänzte das klare lichte Weiß, überdeckt mit einem Schimmer von Blau, der sich unter den Bäumen verdichtete. Da hörte sie plötzlich Schlittenglocken, die sich näherten. Thora blickte auf. Es war Bruce, der zurückkehrte. Kerzengerade saß er im Schlitten; und obgleich er schon so nah am Hause war, gebrauchte er doch noch die Peitsche. In rasender Fahrt fuhr er an der Treppe vor; das Pferd war naß vor Schweiß, der weiße Schaum hing ihm ums Gebiß. Bruce schleuderte dem Kutscher, der hintenauf saß, die Zügel zu, sprang mit einem Satz die Treppe hinauf und verschwand im Vestibül.

Thora hatte gesehen, daß sein Gesicht düster und drohend aussah. Die Augen unter den zusammengezogenen Brauen waren fast unsichtbar, die Pupillen leuchteten wie blanke Stacheln. Noch nie hatte Thora ihren Mann in solcher Erregung gesehen. Und unwillkürlich brachte sie das Gesehene in Zusammenhang mit sich selbst. Sie rief das Kindermädchen herein, übergab ihr den Kleinen und ging, immer unter dem Eindruck dieses Schreckens, ins Speisezimmer, wo sie ihren Mann am Frühstückstisch zu finden glaubte.

Es sah düster aus in ihrem Innern. Wie eine Schlafwandlerin sah sie zu, wie Malin stumm und eilig den Tisch deckte. Auch in der Küche hatte man den Schlitten gesehen, und der Zorn des Hausherrn, dessen Ursache keiner kannte, lag schwer über dem ganzen Hause. Thora mußte lange warten.

Als Bruce endlich kam, war seine Erregung vorüber. Sein Gesicht sah aus wie eine Maske, die alles, was dahinter arbeitete, verdeckte. Nach einem kurzen Gruß setzte er sich schweigend an den Tisch. »Ißt du nicht mit?« fragte er nach einer Weile.

»Ich habe schon gegessen«, antwortete Thora. Sie wagte nicht zu sagen »mit Konrad«, wie es ihr auf der Zunge lag. Sie hatte das dunkle Empfinden, daß der Zorn ihres Mannes ihm galt, und sie wunderte sich über sich selbst, daß sie sich überhaupt hereingetraut hatte, dem Sturm zu trotzen.

Bruce erwiderte jedoch mit vollkommener Gemütsruhe: »Es ist ja wahr, du hast Konrad Gesellschaft geleistet. Na, ist er glücklich fortgekommen?«

Thora nickte. Sie konnte nicht antworten.

Jetzt erst bemerkte Bruce ihr verstörtes Aussehen. »Was ist?« sagte er fragend.

Der Ton war nicht der, den Thora erwartet hatte. Das ermutigte sie; und das Haar, das ihr über die Schläfen gefallen war, zurückstreichend, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Ich bin so erschrocken, wie du kamst«, sagte sie.

Ihr war, als höre sie ihre eigne Stimme wie aus weiter Ferne. Bruce vernahm wohl die Worte und verstand sie auch, wie er glaubte. Aber die Stimme erkannte er nicht wieder. Das war nicht Thoras Stimme! Er fühlte, wie das Mißtrauen in ihm erwachte, das alte Mißtrauen, das nie ganz gestorben war. Die Tage, in denen der Gast bei ihnen verweilt hatte, waren ihm lang geworden. Es hatte ihn gedemütigt, zu sehen, wie Thora in der Anwesenheit dieses Fremden geradezu auflebte, wie sie fröhlich und jung ward, wie ihr Schritt leichter, ihr Lächeln heiterer wurde. Er hatte versucht, es nicht weiter zu beachten, aber es war ihm nicht gelungen. Seine Frau verdächtigen, sie könne einen Augenblick lang die Grenze, die ihre Pflicht ihr vorschrieb, auch nur streifen, das konnte Bruce nicht. Dazu hielt er sich selbst und seine Frau viel zu hoch. Aber in ihm stieg wieder die Frage auf, warum gerade er bei seiner Frau nicht das hervorlocken konnte, was er doch am meisten an ihr liebte.

Das war es, was ihn demütigte. Und als er jetzt sah, wie Thora ganz erschrocken und fragend vor ihm stand, wurde er zornig über diese weichliche Furcht, die er nicht verstand, und rief gereizt: »Warum hast du denn immer Angst vor mir?«

Thora hielt sich noch immer tapfer. »Du sahst so böse aus«, sagte sie.

Bruce versuchte zu lächeln. »Hast du geglaubt, ich sei böse auf dich?« fragte er.

»Ja«, erwiderte sie hastig und leise.

Jetzt lachte Bruce nicht mehr. Kurz und scharf antwortete er: »Ich dachte gar nicht an dich, als ich kam. Ich dachte an das, was ich heut' morgen erlebt habe. Sie haben mich zu einem Kätner gerufen, weil etwas vorgefallen war. Weißt du, was vorgefallen war? Vor ein paar Jahren hat sich einer der Kätner verheiratet. Die Frau war alt und häßlich. Kein Mensch begriff, warum er sie nahm. Er war arm, und sie war arm. Ich habe damals selber versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, als ich von der geplanten Heirat hörte. Und kannst du dir denken, warum er sie geheiratet hat? Weil sie eine Forderung von zweihundert Reichstalern hatte, einen Schuldschein, den er einzutreiben hoffte. Vor einem Jahr ist der Schuldner gestorben. Es war ein andrer Kätner, der seinerzeit der Alten das Geld abgeschwatzt hatte. Als er tot war stellte sich heraus, daß er überhaupt nichts hatte. Seither war der Ehemann krank, wie es hieß. Aus Kummer über das Geld krank geworden. Und dabei hat er die ganze Zeit über nur nachgegrübelt, wie er sich rächen könnte. Er wollte seine Frau umbringen. Als ich heut' hinkam, hatten die Nachbarn ihn binden müssen, sonst hätte er es auch getan.«

Bruce schwieg, und Thora stand ganz stumm. Ihr Schreck war nicht vergangen. Er hatte durch die Worte des Mannes nur neue, unerwartete Nahrung erhalten. »Und die Frau?« fragte sie hastig. »Wie geht es ihr?«

»Die!« sagte Bruce kurz. »Oh, die bleibt auf der Kate. Den Mann hat der Schultheiß in Gewahrsam genommen. Er erhält seine Strafe wegen Mordversuchs.«

»Arme Menschen!« sagte Thora.

»Das weiß ich doch nicht«, entgegnete Bruce scharf. »Sag' lieber: Arme wir, die wir sie in unsrer Nähe haben müssen! Es empört mich, daß das gerade in unsrer Gegend geschehen mußte, und noch dazu bei mir!«

Bruces Stimme erbebte unter dem alten, phantastischen Empfinden für seine Heimat; er biß heftig die Lippen zusammen. Dann stieß er den Stuhl vom Tisch zurück und ging rasch ins Wohnzimmer. Thora folgte ihm. Sie wunderte sich längst nicht mehr über dies starke Heimatsgefühl, das sie einst durch die Gewaltsamkeit der Forderungen, die es an sie selbst stellte, zurückgestoßen hatte. Sie war daran gewöhnt, und während Bruce sprach, legte sich ihre eigne Aufregung. Der Schreck, der sie vorhin gepackt hatte, glitt ins Unwirkliche zurück, und ihre Furcht und ihre Ahnungen zerflossen wie Gespenster ihrer eignen Einbildung.

Vom Wohnzimmer ging Bruce in seine Stube. Dort stellte er sich ans Fenster und blickte auf den Hof hinaus, wo die Sperlinge durcheinanderhüpften und in einem Bündel Stroh, das die Schlitten beim Ein- und Ausfahren über den Boden verstreut hatten, nach Körnern suchten. Er war noch nachdenklicher als sonst. Es reute ihn, daß er seine Frau nicht gefragt hatte, was sie eigentlich meinte, als sie ihm auf seine Frage erwidert hatte, sein Zorn gelte ihr. Weshalb hatte sie so geantwortet? Was konnte sie damit gemeint haben?

Wie Gift bohrte sich dieser Gedanke in seine Seele, und sein altes Mißtrauen erwachte aufs neue. Wie fremd Thora und er einander waren, das sah er in diesem Augenblick kalt und klar vor sich. Es würde auch nie anders werden. Bin ich romantisch? fragte er sich. Träume ich etwa von einer Verwandtschaft der Seelen? Bruce erinnerte sich, daß er einmal in seiner Jugend ein Buch gelesen hatte, das von etwas Derartigem handelte. Von wem es war, wußte er nicht mehr. Es stand irgendwo in einem Fach des alten Bücherschranks, den er von seinem Vater geerbt hatte, und der seit langem geschlossen war. Bruce entsann sich, daß er damals, als er das Buch las, gedacht hatte, diese Menschen jagten einem unmöglichen Traum nach und seien einfach lächerlich. Er hatte über sie gelacht und sie Narren genannt. Jetzt stand er selbst mitten in dem Kampf, von dem er dereinst in einem gleichgültigen Buch, dessen Titel er nicht mehr wußte, gelesen hatte. Jetzt war für ihn das alles plötzlich zu blutiger, lebendiger Wirklichkeit geworden! Was war denn eine Frau für ihren Mann und er für sie, wenn ihre Herzen sich nichts zu sagen hatten?

Bruce scheuchte die Gedanken von sich und machte sich an seine tägliche Arbeit. Zu den Mahlzeiten erschien er im Eßzimmer. Zu bestimmten Stunden saß er bei seiner Frau, zu bestimmten Stunden spielte er mit seinem Kind. Er versuchte, sich an alles zu gewöhnen, alles zu nehmen, wie es nun einmal war. Es hatte sich ja nichts geändert, es war nichts geschehen, was sein Heim und sein Dasein anders machte, als es vorher gewesen war. Er hatte dem Fremdling, der da gekommen und wieder gegangen war, nichts vorzuwerfen.

Aber nie wieder sah er Thora so, wie sie jenen kurzen Abend und Tag lang gewesen war, die Bruce nicht mehr vergessen konnte. Die Ehe war es nicht, was sie verändert hatte. Wenn jemand kam, der die Thora von früher, so wie er sie dereinst gesehen hatte, hervorzulocken verstand, so war sie noch immer da. Da strahlte sie auf wie der Schmetterling aus der Puppe im warmen Sonnenschein. Nur er konnte nichts dazu tun; und aus dieser Gewißheit schöpfte Bruces Gram immer neue Nahrung.

Eines Abends, als die beiden Gatten allein im kleinen Kabinett saßen, er mit seiner Zeitung, sie mit ihrer Arbeit, ließ Bruce die Zeitung sinken. Ohne daß sie es merkte, betrachtete er lange seine Frau. Sie saß über ihre Näharbeit gebeugt, und Bruce konnte ungehindert in ihren Zügen forschen. Die Wangen waren magerer geworden, die Augen lagen tiefer, die Schatten darunter waren dunkler als früher. Das ganze Gesicht trug das Gepräge des Alterns.

Noch vor ganz kurzer Zeit sah sie jung aus! dachte Bruce. Nur einen Tag lang!

Während er so dasaß, überwältigten ihn seine Gedanken, und ehe er es hindern konnte, verriet er sich. »Sag' mir, Thora,« sagte er plötzlich, »was meintest du damals, als ich heimkam und du so erregt warst? Ich fragte dich im Scherz, ob du glaubtest, ich sei böse auf dich. Und du antwortetest ja! Sag', was meintest du damit?«

Thora fuhr erschrocken auf. Zuerst wußte sie gar nicht, was ihr Mann eigentlich wollte. Aber gleich darauf fiel es ihr wieder ein, und sie begriff. Sie beugte sich tief über ihre Arbeit, damit er nicht sehen sollte, wie ihr Gesicht glühte, und erwiderte: »Das hab' ich vergessen.«

Bruce sah, daß sie ihm die Wahrheit verheimlichen wollte. Und diese Entdeckung bestätigte, wie er meinte, seine schlimmsten Ahnungen. »Soll ich deinem Gedächtnis nachhelfen?« fragte er hart. »Es war am Morgen, an dem der junge Olthov abreiste. Vielleicht entsinnst du dich jetzt.«

Thora blickte auf. Ihre Augen leuchteten, ihre Lippen preßten sich zusammen. Zum erstenmal hörte Bruce in ihrer Stimme einen Klang von Zorn. »Warum ziehst du ihn da mit herein?« erwiderte sie. »Mißgönnst du's mir, daß ich einmal jemand aus meiner Heimat getroffen habe?«

Bruce fühlte, daß er zu weit gegangen war, und schwieg. Aber von diesem Tag an war das Verhältnis zwischen den beiden Ehegatten vollständig tot. Bruce hatte die Hoffnung aufgegeben, daß noch eine Zeit kommen würde, in der alles zwischen ihm und seiner Frau gut werden könnte und sie sich gegenseitig glücklich machen würden. Und von nun an fing er an, sie nicht nur als etwas Gleichgültiges, sondern geradezu als ein Hindernis auf seinem Wege zu betrachten. Er verwünschte die Stunde, in der sie einander begegnet waren. Er bereute es bitter, daß er sich seine Frau aus der Fremde geholt, daß er eine Fremde als Herrin in sein Haus geführt hatte. Und er sehnte die Zeit zurück, als er noch allein war und sich das Glück nur erträumt hatte.

Thora sah wohl, daß ihr Mann sich veränderte; aber sie verstand nicht, warum. Sie sah, daß sein Herz sich gegen sie verhärtete, und hörte, daß seine Worte kalt klangen. Aber sie verstand den Grund nicht und wagte nicht, danach zu fragen, konnte gar nicht danach fragen. Unter den Rinden der Bäume stiegen die Frühlingssäfte, sie schwollen in Gras und Blumen, sie füllten die Erde mit Grün, und der Himmel blaute darüber. Vom Berg her strömte in braunen Wogen der Frühlingsbach, und im Sumpf rasteten auf ihrem Zuge nach Norden die Wildgänse. Nur Thora welkte dahin. Nach Hause zu schreiben wagte sie nicht mehr, nach der Antwort, die sie damals von der Mutter bekommen hatte. Froh war sie überhaupt nie mehr; nur an den Tagen, an denen Bruce fort war, fühlte sie eine kleine Erleichterung. Zum Glück verreiste er jetzt auch oft und war meist tagelang fort. Wohin er fuhr, wußte Thora nicht. Sie schloß sich ganz ab, denn sie sollte bald wieder Mutter werden, und sie wunderte sich manchmal darüber, daß ihr Mann gar nichts merkte.

Als die Frühlingswärme kam, saß sie viel allein auf der Veranda vor dem Wohnzimmer. Um sie spielte der Wind im wilden Wein, der zu knospen begann; und manchmal konnte sie denken, ob nicht Konrad Olthov bald wieder an ihrem Haus vorüberkommen würde. Düppel war längst erstürmt, die Insel Alsen war genommen; der Krieg war zu Ende, und der Sommer stand vor der Tür.

An Thora war das alles vorübergegangen, als wäre es überhaupt nicht gewesen. Bruce setzte sich nie mehr zu ihr, um von den Ereignissen des Krieges zu reden. Die Zeitungen lagen auf dem Tisch in seinem Zimmer, das Thora nie betrat. Sie hatte keinen Menschen, mit dem sie hätte über diese Dinge sprechen können; auch wenn die Nachbarn auf Besuch kamen, saß sie als Fremde in ihrem Kreis, wie jeder, der sich unter andern nicht heimisch fühlt.

Sie hatte auch keine Sehnsucht nach Konrad. Sie wünschte nur, er möchte vorüberkommen und eine Stunde lang bei ihnen sein, damit sie ihm Grüße für daheim mitgeben könnte.

Es war nicht mehr viel übrig von der Thora von einst.


 << zurück weiter >>