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15.
Fatal


Hans war kein besonders eifriger Jäger, nicht einmal ein sehr guter Schütze, denn er hatte zu wenig Uebung in der edlen Kunst gehabt, ja, es in Peru vollkommen aufgeben müssen, da es dort gar keine jagdbaren Thiere gab. Nichtsdestoweniger freute er sich auf den kleinen Ausflug, der ihn wieder einmal mitten hinein in einen ächten deutschen Wald führte, und außerdem war es ihm ja doch auch eine Erinnerung mit an die Jugendzeit, wo ihn sein Vater manchmal mit hinausnahm und er auf ihrem unfern von Rhodenburg liegenden sehr bedeutenden Gute auch in den Ferien eine Geißel der Hasen wurde.

Das alles gedachte er wieder mit dem heutigen Ausfluge in seinem Gedächtnisse aufzufrischen und hatte sich außerdem mit dem Essen so beeilt, daß er noch eine halbe Stunde vor der bestimmten Zeit bei Schallers eintraf und Herrn von Schaller nicht einmal zu Hause fand. Er hatte eben, wie Frau von Schaller sagte, einen unangenehmen Brief bekommen und nur versucht, das noch zu erledigen, müßte aber den Augenblick zurück sein; Herr von Solberg sollte freundlichst einen Moment bei ihr eintreten, ihr Mann würde seine Zeit schon sicher nicht versäumen.

Hans fand Kathinka in der Mutter Zimmer, aber sie schien erregt heute und zerstreut; sie war freundlich wie immer, aber ihr Blick flog oft unruhig nach der Thür, und nach wenigen Minuten schon kehrte auch Herr von Schaller, aber in nicht besonderer Laune, zurück.

»Ah, bester Solberg – pünktlich – das ist recht – aber eine verdammte Geschichte – ich weiß nicht, ob ich nicht die Jagdpartie auf einen andern Tag verschieben muß – bitte, kommen Sie mit hinüber in mein Zimmer, da können Sie sich auch gleich Ihr Gewehr ansehen.«

»Ist etwas vorgefallen?« fragte Hans.

»Vorgefallen? Daß ich nicht wüßte – doch, apropos, eben habe ich in der Stadt gehört, daß die alte Mäusebrod, die Schwester von unserem Oberstlieutenant nebenan, in dieser Nacht plötzlich gestorben ist.«

»Sollte man es denken!« rief Frau von Schaller, die Hände zusammenschlagend. »Nun, da können sich Klingenbruchs gratuliren; sie muß schmählich reich gewesen sein und hat ja für sich gar nichts gebraucht!«

»Desto mehr für die Missionen,« brummte Schaller – »aber was geht uns die alte Schachtel an! Bitte, kommen Sie, Solberg; wir müssen uns wenigstens, wenn es heute nicht geht, für einen andern Tag bestimmen.«

Damit schritt er ohne Weiteres voran, und Hans folgte ihm in sein kleines »Arbeitszimmer«, um dort erst einmal das Nähere zu hören.

»Aber was haben Sie nur?« sagte Hans, als Schaller hier mitten in der Stube stehen blieb und ihn gewissermaßen erwartete – »Geschäfte, die Sie abhalten?«

»Oh, eine ganz verfluchte Geschichte!« sagte von Schaller ärgerlich. »Denken Sie nur, vor einer Viertelstunde höchstens bekomme ich die Anzeige, daß ein Wechsel, den ich mit unterzeichnet habe, von dem eigentlichen Aussteller nicht bezahlt und heute fällig sei, und Sie können sich denken, wie fatal mir das sein muß. Die Summe ist allerdings nicht verloren, denn der Mann ist gut genug, aber jetzt soll ich hier auf der Stelle das Geld schaffen, und mein Banquier wohnt in Berlin …«

»Und weshalb telegraphiren Sie nicht?«

»Das ist in diesem Falle nicht gut ausführbar, da wir gerade in einer Auseinandersetzung begriffen sind; geschrieben habe ich natürlich den Augenblick, aber so rasch kommt das Geld doch nicht, und es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Summe hier heute in der Stadt aufzunehmen. Es kann mir ja doch wahrhaftig nicht gleichgültig sein, ob der Wechsel über Nacht unbezahlt bleibt oder nicht.«

»Wie hoch ist die Summe?«

»Tausend Thaler – es ist nicht viel, aber doch auch gerade genug, Einen in Verlegenheit zu bringen. Ich wollte Sie also bitten, lieber Solberg, daß wir unsere Jagd heute aufgeben, denn unter solchen Umständen sehen Sie wohl selber ein, daß ich hier bleiben muß, so fatal mir die Sache sein mag.«

»Dann handelt es sich also um weiter nichts, als daß Sie augenblicklich tausend Thaler beschaffen, wie? Sonst hindert Sie nichts, mitzugehen?«

»Nicht das Geringste – aber das geht eben nicht so schnell …«

»Vielleicht doch. Haben Sie Feder und Papier hier?«

»Was wollen Sie thun?«

»Ihnen eine Anweisung auf meinen Banquier geben, der hier in der Stadt wohnt. Schon die Anweisung zahlt den Wechsel, und die Sache ist erledigt.«

»Aber, bester Solberg,« rief von Schaller, »das kann ich gar nicht acceptiren! Unter Freunden soll man überhaupt nie Geldfragen behandeln! Das sind Geschäftssachen, die deshalb mit Geschäftsleuten abgemacht werden müssen!«

»Aber, bester Freund, der paar Thaler wegen wollen wir doch wahrhaftig nicht unsere Jagd versäumen! Kann ich das Papier hier nehmen?«

»Oh gewiß, jedes!« rief von Schaller. »Aber Sie verpflichten mich dadurch wirklich bärenmäßig, bester Solberg! Es kommt mir jetzt wie eine Unverschämtheit von meiner Seite vor, daß ich nur ein Wort davon erwähnt habe!«

»Unsinn,« sagte Hans, indem er die Anweisung schrieb – er hörte nicht, daß zu gleicher Zeit die Thür aufging und Kathinka auf der Schwelle stand – »so wird das Ganze doch am allereinfachsten erledigt; bedarf es einer besonderen Münzsorte?«

»Nein,« sagte Schaller, dem die Gegenwart Kathinka's nicht ganz angenehm zu sein schien, kurz, »gar nicht.«

»So,« rief Hans, von dem Stuhl wieder aufspringend, »das wäre … – Ah, mein gnädiges Fräulein!« brach er ab, als er Kathinka vor sich bemerkte, und erschrak dabei fast über ihr Aussehen, so blaß war sie in der kurzen Zeit geworden. Und mit was für einem sonderbar ernsten Blick sah sie den Vater an! Herr von Schaller bemerkte das aber wohl gar nicht, denn er beschäftigte sich gerade mit dem auf dem Tische für Hans ausgebreiteten Jagdzeug.

»Lieber Vater!«

»Ja, mein Kind,« sagte von Schaller und drehte sich rasch nach ihr um.

»Wollen die Herren nicht vielleicht Kaffee trinken?«

»Oh gewiß, gewiß! Aber bring uns zwei Tassen herüber mein Engel, denn wir müssen hier eben unsere Sachen in Stand setzen, und dann schick' doch auch gleich das Mädchen nach einer Droschke, damit wir nachher die Zeit nicht versäumen. Wir haben noch ziemlich eine halbe Stunde.«

»Fährst Du auf die Jagd, Papa?« sagte Kathinka, und ihr Blick suchte dabei das Auge des Vaters; aber dieser hatte sich schon wieder abgewandt und sagte nur: »Ja, mein Herz – vergiß die Droschke nicht.«

Kathinka erwiderte kein Wort weiter, drehte sich ab und verließ das Zimmer, und von Schaller übergab jetzt Hans die schon zurechtgelegten Jagd-Utensilien. Der Kaffee wurde indessen gebracht und getrunken, und als das Mädchen gleich darauf die Droschke meldete, ging Schaller erst noch einmal mit der erhaltenen Anweisung hinüber in das Familienzimmer, und wenige Minuten später rasselte das Fuhrwerk mit den beiden Jägern dem Bahnhofsgebäude zu.


Bei Oberstlieutenant Klingenbruchs herrschte indessen eine ungemeine Thätigkeit, denn es verstand sich von selbst, daß die Familie nach dem Tode einer so nahen Anverwandten nur in Schwarz, also tiefster Trauer erscheinen konnte.

Die beiden jungen Damen waren denn auch schon am frühesten Morgen, wie sie nur wußten, daß die verschiedenen Läden geöffnet wurden, ausgegangen, um die allernothwendigsten und nicht zu vermeidenden Einkäufe zu besorgen. Die Mutter stellte ihnen freilich vor, daß es passend sein würde, der Tante noch einen letzten Besuch zu machen, um von ihr auf ihrem Sterbebette Abschied zu nehmen. Beide junge Damen erklärten aber einstimmig, daß sie das nicht vermöchten, sie könnten keine Leiche sehen, und der furchtbare Anblick würde ihnen nachher im Traume erscheinen und sie ängstigen; und da sich die Frau Oberstlieutenant selber nicht veranlaßt fühlte, ihre todte Schwägerin zu besuchen, so blieb es eben dabei.

Die jungen Damen verbrachten einen sehr angenehmen Vormittag. Sie durften allerdings nicht auf der Straße, wie sie das sonst gern thaten, mit einander kichern und lachen, denn das hätte sich, wie sie recht gut fühlten, bei einer solchen Gelegenheit nicht geschickt, aber sie konnten doch alle die verschiedenen Läden durchwandern, sich die hübschen Sachen ansehen und kaufen, wirklich kaufen, was ihnen am besten gefiel und passend schien, und so wohl war es ihnen lange nicht geworden. Der Tod der Tante war schon vergessen, wo es sich jetzt nur darum handelte, durch äußere schwarze Kleidung den tiefen Schmerz anzudeuten, den sie bei dem Verluste einer so nahen Verwandten empfinden mußten. Darin lag auch nichts Außergewöhnliches, denn wir können das Nämliche, wohin wir nur blicken, jeden Tag beobachten.

Der Sinn der Sitte, nach einem Todesfalle in der Familie schwarz gekleidet zu gehen, lag gerade darin, daß beabsichtigt wurde, die Leidtragenden von jedem auffallenden Putz und Schmuck fern zu halten, damit sie, in einfacher, anspruchsloser und düsterer Kleidung, ihre Gedanken nicht auf andere weltliche Dinge abschweifen ließen. Aber die Industrie bemächtigte sich der Sache, und es ist jetzt dahin gekommen, daß es manchen Damen sogar als äußerst willkommen erscheint, einmal auf kurze Zeit Trauer anzulegen und sich dadurch eine ganz neue, oft für ihren Teint außerordentlich vortheilhafte Toilette zu schaffen.

Wenn man eine solche Dame in Trauer sieht, so ist ihre Kleidung allerdings durchaus schwarz und läßt darin nichts zu wünschen übrig, aber betrachten wir sie näher, so finden wir ihre einfache Kleidung mit schwarzem Schmelz gestickt, Armbänder und Ohrringe von Steinkohlen-Imitation, dazu Broche, Uhrketten etc. und die Hüte mit wenn auch schwarzen, doch kostbaren Federn verziert, ja oft noch von schwarzen Perlen eingefaßt. Heißt das Trauer anlegen, sobald man sich eine Masse wenn auch schwarzen Firlefanz anhängt und sich nach besten Kräften nur in einer gegebenen Farbe herausputzt?

Die amerikanische und englische Sitte ist praktisch, daß in dem Hause wo ein Todesfall stattfand, ein schwarzer Flor an der Hausthürklinke den Eintretenden benachrichtigt, nicht mit lauter Fröhlichkeit zu nahen – schon seiner selbst wegen, wenn er vorher keine Ahnung hatte, was hier vorgefallen. Alles Andere ist Tand und wird nur zu oft, besonders von den Damen, ausgebeutet, um – nicht ihr Leid zu zeigen, sondern nur eine Variation in ihre Toilette zu bringen.

Die beiden gnädigen Fräulein von Klingenbruch betrieben denn auch heute das so traurige Geschäft des Leidtragens in wirklich musterhafter Fassung. Flora wurde allerdings bei der Auswahl der verschiedenen Artikel manchmal lebendiger, als es sich eigentlich mit dem Ernst der Situation vertrug, aber ein mahnender Blick der Schwester hemmte sie immer noch zur rechten Zeit und rief den Ernst auf ihre jugendlich lebendigen Züge zurück – die Tante war ja gestorben –, und mit einem Dienstmanne hinter sich, der die bis jetzt gekauften oder wenigstens zur Auswahl bestimmten Waaren trug, eilten sie nach Hause zurück. An dem einen Vormittag waren sie natürlich nicht fertig geworden.

Ihnen gegenüber im Café oder sogenannten »Eckfenster« saßen einige junge Officiere, rauchten ihre Cigarre, tranken ihren Kaffee und musterten die Vorübergehenden. Es waren Drahtgitter an dem Fenster angebracht, so daß man von innen alles deutlich sehen konnte, was außen vorging, aber von dort nicht bemerkt wurde.

Meistens Cavallerie-Officiere hatten sich heute hier zusammengefunden und den »Hauptplatz« auch gleich in Beschlag genommen, und es konnte in der That für einen Sitz in einem Kaffeehause keinen geschickteren Ort geben.

Das Haus lief hier, wie schon früher erwähnt, in eine abgestumpfte Spitze aus, die, unten von eisernen Säulen gestützt, gewissermaßen ein ausgebautes Fenster herstellte, das den Blick die Straße auf- und abwärts frei ließ. Bequeme kleine und weich gepolsterte Sitze waren dabei in der geschicktesten Weise angebracht, und es gab kein lauschigeres Plätzchen, besonders bei schlechtem Wetter, in der ganzen Stadt.

Die jungen Officiere hatten denn auch schon ihre Beobachtungen eine ganze Weile fortgesetzt, als Hauptmann Dürrbeck zu ihnen trat und kameradschaftlich gegrüßt wurde, wie man augenblicklich Platz für ihn machte.

»Was Neues, Dürrbeck?«

»Nichts, das ich wüßte, als daß die Bäume grün werden.«

»Alte Geschichte,« lachte ein Anderer; »nein, das Neueste passirt hier doch immer gerade in der Straße, und eine geschickter angelegte Ecke, als diese, giebt es nirgends.«

»Da drüben steht auch meineswegen der Hofapotheker Semmlein; sieh einmal, wie vergnügt er aussieht!« lachte einer der Officiere.

»Hat auch Ursache; der rasche Wechsel im Wetter scheint die halbe Stadt umgelegt zu haben, und sie laufen jetzt beinahe die Apotheken ein.«

»Ein komischer Kauz, der Semmlein,« sagte Dürrbeck, »aber ein seelensguter und sehr achtbarer Mann; er gehört mit zum Kern der hiesigen Bürgerschaft.«

»Mache ich ihm nicht streitig,« sagte ein Anderer – »aber, alle Wetter, wer sind die hübschen Mädchen, die da ankommen?«

»Das sind ja die Klingenbruchs,« sagte der eine Capitain; »sie haben eingekauft – ein Dienstmann schleppt Waaren hinter ihnen her.«

»Ach Gott, ja,« sagte Dürrbeck, »die werden ihre Trauersachen eingekauft haben.«

»Trauersachen – wozu? Wer ist gestorben?«

»Die alte Mäusebrod – in dieser Nacht, am Schlagflusse, glaub' ich; ich sprach vorhin den Doctor Potter. Das Gericht hat einen Curator für die Hinterlassenschaft ernannt und oben bei ihr alles versiegelt.«

»Die Mäusebrod ist todt? Na, dann gratulire ich unserem Oberstlieutenant und den jungen Damen. Es heißt ja, daß sie Universalerbinnen wären. Wöhfen thut da, glaub' ich, einen guten Zug oder angelt wenigstens. Er ist höllisch hinter ihnen her.«

Die beiden jungen Damen waren in das Haus eingetreten, und die beiden Herren sahen ihnen noch nach, als eine offene Droschke vor dem andern Eckhause vorfuhr und dort hielt. In demselben Augenblick traten auch von Schaller und Hans, zur Jagd gerüstet, aus dem Hause, stiegen ein und rasselten dann die Straße hinunter.

»War das nicht der junge Solberg, der erst kürzlich von Amerika herübergekommen ist?«

»Ja,« sagte Dürrbeck, »er ist jetzt oft bei Schallers.«

»Er soll heidenmäßig viel Geld von drüben mit herübergebracht haben; wäre jedenfalls eine gute Partie, denn der alte Solberg steckt selber im Gelde.«

»Das glaub' ich,« nickte ein Anderer. »Graf Rauten, der Bräutigam der einzigen Tochter, bekommt am Hochzeitstage fünfzigtausend Thaler baar ausbezahlt.«

»Den Teufel auch – das ist ja nicht möglich!«

»Ich weiß es sehr genau,« sagte der junge Husaren-Capitain, »denn der alte Solberg hat es vor nicht langer Zeit mir und mehreren Kameraden selber gesagt, und er würde das wahrhaftig nicht gethan haben, wenn es nicht wirklich so wäre.«

»Der kann sich gratuliren,« meinte ein Anderer – »und Rauten soll selber sehr reich sein.«

»Ist ein prächtiger Kerl,« nahm der Erste das Wort wieder, »und hat etwas verteufelt Cavaliermäßiges.«

»Und ein Bärenglück im Spiel! Wenn er Bank legt, ist man jedesmal verloren.«

»Er hat kaltes Blut und ist überhaupt nie aufgeregt oder selbst bewegt. Ich erinnere mich nicht, jemals gesehen zu haben, daß er laut oder herzlich gelacht hätte. Ich glaube, er hält das für unpassend.«

»Ja, darin gefällt er mir aber nicht. Wenn wir manchmal unsere Witze zusammen machen, sitzt er ganz still dabei, und seine großen, blauen Augen schweifen nur von Einem zum Andern. Uebrigens reitet er magnifique und ist der beste Pistolenschütze, den ich in meinem Leben gesehen habe.«

»Das macht eben seine Ruhe – aber, Kameraden, ich muß fort!«

»Ein Rendezvous?«

»Ja, aber mit meinem alten Onkel, dem ich versprochen habe, ihn noch in's Museum und nachher in's Theater zu führen – Prosit!«

»Prosit!« riefen ihm die Anderen zu. Die Meisten standen ebenfalls auf, denn die Stunde, die sie hier gewöhnlich zubrachten, war verflossen, und sie zerstreuten sich jetzt, um ihren Beschäftigungen oder Vergnügungen nachzugehen.

Nur Dürrbeck war noch zurückgeblieben; er hatte überhaupt an dem letzten Gespräch gar keinen Antheil genommen, sich wenigstens mit keinem Worte dabei betheiligt, sondern nur still vor sich niedergesehen und die verschiedenen Bemerkungen mit angehört. So saß er auch noch eine ganze Weile am Fenster und schaute auf die Straße hinaus. Jetzt stand er auf, schnallte seinen Säbelgurt etwas fester und verließ dann ebenfalls das Haus.

Indessen waren die beiden jungen Damen, Henriette und Flora, in ihrer Etage angelangt und brannten darauf, ihre Herrlichkeiten auszukramen und mit den Eltern zu besprechen, fanden diese dazu aber nicht in der rechten Stimmung. Der Oberstlieutenant war nämlich ebenfalls kurz vorher nach Hause gekommen und hatte gemeldet, daß die Gerichte die Wohnung seiner verstorbenen Schwester in Besitz genommen. Es war ein Inventarium über die vorhandenen Gegenstände aufgestellt worden. Ebenso hatte man alles an Schränken und Commoden versiegelt und nur das eben Nothwendigste für die Leiche herausgenommen, und dann noch außerdem einen Beamten dort gelassen, der da gewissermaßen auf Posten stand, während er – der eigene Bruder der Verstorbenen – vollkommen bei Seite geschoben wurde.

Aber das alles stellte sich noch als Kleinigkeit gegen die Thatsachen heraus, auf wessen Veranlassung das geschehen sein sollte, und der Vater constatirte da, daß er natürlich augenblicklich bei Gericht nachgefragt und hier erfahren habe, daß er dieses rasche und, wie er meinte, rücksichtslose Eingreifen der Gerichte nur dem Missionsvereine verdanke, der schon früh am Morgen den Antrag gestellt haben mußte.

»Siehst Du,« rief seine Frau, als die beiden jungen Mädchen gerade in's Zimmer traten, »hab' ich es Dir nicht immer gesagt? Mich sollte es keinen Augenblick wundern, wenn sie diesen Vereinen ihr ganzes Hab und Gut vermacht hätte; was galt der Frau die Familie!«

»Aber, Veronica,« sagte der Oberstlieutenant, »sie ist noch nicht einmal unter der Erde, und Du urtheilst schon so lieblos über sie; wir haben dazu doch wahrlich keine Veranlassung!«

»Aber was ist nur vorgefallen, Mama?« rief Flora erschreckt, und selbst Henriette blickte ihre Eltern angstvoll au. »Ist das Testament eröffnet worden?«

»Nein, noch nicht,« sagte der Oberstlieutenant, mit dem Kopfe schüttelnd, »so rasch geht das nicht und würde sich auch nicht schicken, so lange sie noch nicht einmal beerdigt ist.«

»Aber was sonst?«

»Der Missionsverein hat Beschlag auf das Vermögen gelegt!« platzte die Mutter heraus.

»Wär's möglich!« riefen die beiden Mädchen zu gleicher Zeit.

»Unsinn!« brach aber der Vater dazwischen. »Mach' mir die Kinder nicht verrückt! Der Missionsverein hat in diesem Augenblicke so wenig Anrechte an das Vermögen, wie der Apotheker Semmlein unten im Hause. Er hat nur den Antrag gestellt, daß ein Curator für die Hinterlassenschaft angenommen wird, um zu verhüten, daß fremde Hände darüber kommen. Denselben Antrag hätte auch der Nachtwächter stellen können.«

»Aber dem Nachtwächter würde es nie einfallen,« warf seine Frau ein, noch lange nicht gewillt, sich für besiegt zu erklären, »weil er weiß, daß er gar nichts damit zu thun und noch weniger davon zu hoffen hat; jene Leute aber wissen, was sie thun, und wenn ihnen die Tante nicht bestimmte Zusicherungen gegeben hätte, würden sie sich wohl schwerlich darum bekümmert haben. Lehr' Du mich die Menschen kennen, und Deine Schwester – Gott habe sie selig – hatte ich gleich vom ersten Anfang an durchschaut!«

»Aber ihr oft Unrecht gethan, Veronica,« seufzte ihr Gatte, »und wirst es ihr noch in den nächsten Tagen an ihrem Grabe abbitten.«

»Und mit Vergnügen, wenn ich mich geirrt,« antwortete seine Gattin, gerade nicht in der Stimmung, ihre Worte auf die Wagschale zu legen.

»Also es ist noch nichts entschieden, Papa?« fragte auch Henriette.

»Nein, Kinder, nein; beruhigt Euch.«

»Und wann wird das Testament eröffnet?« fragte Flora.

»Kinder,« sagte der Oberstlieutenant mit einem recht wehen Zug in dem guten Gesicht, »das ist doch wohl kein passendes Gespräch für uns, wo Eure selige Tante noch kalt und starr auf ihrem Sterbebette liegt; Ihr seid auch nicht bei ihr gewesen, um sie noch einmal zu sehen!«

»Ach, Papa, wir fürchten uns so entsetzlich vor Leichen!«

»Ich will Euch wünschen, daß Ihr nie gezwungen werdet, ihnen nahe zu treten!« sagte der kleine Mann ernst, stand auf und ging in sein Zimmer hinüber, um dort eine Weile allein zu sein.

Ein paar Minuten, nachdem er das Zimmer verlassen, saßen die Töchter und selbst die Frau Oberstlieutenant noch ruhig und auch sogar etwas bestürzt über die mahnenden Worte des Vaters. Sie mochten doch in ihrem Herzen fühlen, daß er Recht habe: sie hätten etwas mehr Rücksicht zeigen sollen, schon seinethalben. Aber das dauerte trotzdem nicht lange, denn die Packete mit den Stoffen lagen neben ihnen auf dem Tische, und wirkliche Liebe zur Tante hatte ja doch keins von ihnen je gehabt – so brauchten sie sich denn auch untereinander nicht besonders zu geniren.

»Sieh 'mal, Mama,« brach Flora zuerst das Schweigen, indem sie zu den mitgebrachten Sachen trat und die Bänder daran löste; »glaubst Du, daß das jetzt so gut sein wird?«

»Der Stoff ist sehr hübsch,« sagte Henriette und hatte jetzt auch alles andere darüber vergessen. »Von den Ohrringen haben wir auch die größeren genommen, Mama; die anderen waren wohl recht hübsch, aber doch zu klein und stachen deshalb zu sehr gegen die Broche ab.«

»Die Broche,« rief Flora, »blitzt und funkelt wie Diamanten!«

»Habt Ihr Euch denn auch ein paar Spitzentücher mitgebracht?«

»Gewiß, Mama, wir haben gar nichts vergessen, müssen nur noch Einiges zurückschicken und können alles umtauschen.«

»Und was kostet das jetzt?«

»Sie mögen's aufschreiben,« bemerkte Flora etwas kurz abgebrochen, »das arrangiren wir dann alles später.«

Der Gegenstand war in der That zu unbedeutend, um sich länger damit zu beschäftigen, und die jetzt auf dem Tische ausgebreiteten Sachen nahmen ihre Aufmerksamkeit viel zu sehr in Anspruch. Mußten sie doch besprochen, anprobirt und verglichen werden, und Einiges wurde denn auch zum Umtausch zurückgelegt. Es ist überhaupt schwer, in Toilettesachen Damen vollkommen zu befriedigen. Nachher mußte noch das Capitel über die Näherinnen weitläufig und ausführlich erörtert werden. Die »Mamsell oben«, wie sich Flora äußerte, war zu vornehm, um in einer andern Familie zu nähen, und wenn sie selbst in dem nämlichen Hause wohnte. Das alberne Ding hatte das liebe Brod nicht, aber trotzdem die Nase immer in der Luft – aber man konnte sie eben nicht entbehren und mußte die Arbeit wenigstens von ihr zuschneiden lassen – ihre Kleider saßen zu gut.

Indessen war es vollständig dunkel und schon lange Licht angezündet worden, und Henriette zeigte eine ganz eigene Unruhe. Als das Mädchen gerade in's Zimmer kam, um den Tisch zu decken, sagte sie:

»Ich möchte doch einmal zu der Näherin hinaufgehen, Mama, und noch Einiges mit ihr besprechen.«

»Thu das, mein Kind,« sagte die Mutter, »denn es wäre mir sehr lieb, wenn Ihr mit Euren Anzügen bald in Ordnung kämt.«

Henriette war auch schon im Begriff, hinaus zu huschen, als die Hanna sagte:

»Die is nich zu Hause, gnä' Fräule, sie ging eben fort, wie ich Wasser holte; sie trägt immer Abends ihre Arbeit aus.«

»Schicklicher wäre es, das am Tage zu thun,« bemerkte die Mutter, und Henriette nahm ihre kleine Unterlippe zwischen die Zähne – es schien ihr so unangenehm. Sie sann und sann.

»Ach, Mama,« sagte sie plötzlich, »ich glaube doch, daß wir die kleinen Ohrringe hätten nehmen sollen – ich möchte sie Dir wenigstens einmal zeigen, damit Du beide mit einander vergleichen kannst.«

»Nun gut, Hetty, dann bringe sie morgen noch einmal mit – das Umtauschen müssen sich die Leute gefallen lassen.«

»Ach, ich springe gleich hinüber,« sagte Henriette – »es ist ja das zweite Haus von hier, fast neben uns an …«

»Aber, Kind, das hat ja Zeit!«

»Ja, es waren nur noch die drei Paar da, und wenn er indessen eins davon verkaufte …«

»Aber, Hetty,« sagte Flora, »einen ganzen Kasten voll hatte er noch außer denen – weißt Du denn nicht, es war ja immer ein halbes Dutzend auf einer Karte!«

»Ach, die mein' ich ja gar nicht!« warf Henriette ärgerlich ein. »Du sollst einmal sehen, Mama, wie hübsch sie sind – ich bin gleich wieder da.«

»Aber, Kind, bei Nacht und Nebel kannst Du doch nicht allein über die Straße gehen, da nimm wenigstens die Hanna mit – begleite Sie einmal meine Tochter hinüber zum Kaufmann, Hanna!«

»Aber, beste Mama,« rief Henriette, der jetzt das Weinen näher war als das Lachen, »ich bin ja doch kein kleines Kind, daß ich für zwanzig Schritte einen Schutz haben müßte! Ehe die Hanna nur die Treppe hinunterkommt, bin ich drüben« – und rasch ihren Hut aufsetzend, wollte sie eben zur Thür hinaus, als es draußen klingelte.

»Seh Sie 'mal, wer da ist, Hanna!«

Die junge Dame mochte jetzt ebenfalls nicht hinaus, wo vielleicht ein Fremder an der Thür stand. Das Mädchen ging denn auch hinaus, und die Thür blieb indessen halb offen, damit sie hören konnten, wer so spät noch kam. Da vernahmen sie draußen eine bekannte Stimme, die fragte:

»Gnädige Frau und Herr Oberstlieutenant zu Hause?«

»Ja, zu Hause sind sie,« erwiderte die Hanna; »ich will's gleich drinne sagen – wen hab' ich die Ehre?« (Die Formel war ihr oft genug einstudirt worden.)

»Graf Rauten …«

»Oh Du mein Himmel,« rief Flora, die an der Thür gehorcht hatte, indem sie zurücksprang – »und wie sieht es hier aus!«

»Führe den Herrn Grafen nur hinüber.«

»Aber da ist ja alles stockfinster, Mama …«

Es entwickelte sich jetzt eine jener Familienscenen, wie wir sie häufig bei unerwarteten Besuchen in Häusern erleben können, wo sich ein nur zu dem Zweck bestimmtes Empfangszimmer befindet, das dann auch natürlich nie in Ordnung ist, wenn es einmal plötzlich gebraucht werden soll. Die verschiedensten Vorschläge wurden gemacht: die Lichter anzünden – aber das nahm zu viel Zeit weg; und hier herein – das ging nicht; oder zum Vater hinüber – aber wo war nur der Vater, und weshalb kam er nicht? – und indessen. stand Graf Rauten mit der liebenswürdigsten Geduld draußen auf dem von einer düstern Lampe erleuchteten Vorsaal und lächelte nur leise vor sich hin, denn es konnte ihm gar nicht entgehen, welche Verwirrung er angerichtet hatte. Er wäre auch wohl am liebsten wieder fortgegangen, denn er fühlte, daß er in diesem Augenblicke nicht gelegen kam – das ging aber doch auch nicht; erstlich schickte es sich nicht, und dann hätte es die Familie nur noch mehr in Verlegenheit gebracht. Die Zeit, die man ihn da draußen stehen ließ, dauerte aber wirklich ein wenig lange, und der Oberstlieutenant indessen, mit keiner Ahnung, wer da sei und seine Gegenwart verlange, saß in seiner Stube, in seinem Lehnstuhl ausgestreckt, rauchte seine Pfeife und las das officielle Blatt, das Rhodenburger Journal.

Wer sich aber, als Gegensatz zu diesem Bilde der vollständigen Ruhe und Behaglichkeit, in einer wahrhaft verzweifelten Stimmung befand, war seine Tochter Henriette. Sie hatte, gleich wie der Graf gemeldet wurde, ihren Hut abgerissen und würde ihn in der Hand zerknittert haben, wenn es nicht der »neue« gewesen wäre. Die kleinen weißen Zähne biß sie dabei fest zusammen, die Lippen preßten sich mit Gewalt übereinander, und sie hätte in dem Augenblick wirklich Jemanden kratzen können, wenn sie nur gleich gewußt hätte wen – vielleicht den Grafen Rauten selber.

Die Situation wuchs ihnen allen aber über den Kopf; es blieb nichts mehr übrig, als einen entscheidenden Schritt zu thun, und während die Frau Oberstlieutenant Flora zuflüsterte:

»Schaff' den Kram weg! – brach sie jetzt selber aus der Thür hinaus, um den Besuch zu empfangen.

»Ach, mein lieber Herr Graf – wie freundlich von Ihnen …«

»Gnädige Frau,« sagte der Graf, der jetzt wirklich die Thürklinke schon wieder in der Hand hatte, »ich würde unendlich bedauern, Ihnen zu unpassender Zeit zu kommen; wenn ich nur eine Ahnung hätte, daß …«

»Aber ich bitte Sie, wie können Sie so etwas denken – oh, wollen Sie denn nicht näher treten?« (Der Graf stand hier in den letzten zehn Minuten in der alleinigen Absicht.) »Hanna, rufe Sie doch meinen Mann! – Wir sind ganz unter uns, Herr Graf; Sie finden uns freilich ein wenig derangirt …«

»Aber ich hoffe doch nicht meinetwegen?«

»Oh, gewiß nicht,« rief die Frau Oberstlieutenant, die in dem Augenblicke ganz den eigentlichen Trauerfall vergaß, an den sie überhaupt nur wenig dachte – »die Kinder waren gerade dabei, einige Toilettegegenstände auszusuchen; aber wollen Sie nicht näher treten? …«

Aus seiner Stube heraus kam der Oberstlieutenant geschossen:

»Ach, mein lieber Graf, was machen Sie – bitte, kommen Sie mit herein! Wie geht's immer?«

»Mein lieber Herr Oberstlieutenant,« sagte Graf Rauten, der jetzt natürlich in die Stube trat, wo Henriette und Flora wenigstens nothdürftig den Tisch abgeräumt hatten, »ich habe mit Bedauern gehört, daß Sie in voriger Nacht ein so herber Verlust betroffen hat, und wollte nicht versäumen, Ihnen mein inniges Beileid darüber auszusprechen.« Er nahm dabei des kleinen Mannes Hand, und drückte sie herzlich, während Klingenbruch, den Druck erwidernd, sagte:

»Ja, Herr Graf, es war hart – und meine Schwester noch so rüstig und lebensfrisch, daß ich keine Ahnung hatte, sie könne uns so rasch entrissen werden.«

»Ach ja, Herr Graf,« sagte jetzt die gnädige Frau mit leiser, wie schmerzgepreßter Stimme, »es war recht hart und kam uns so überraschend – mitten in der Nacht eigentlich – wir glaubten, es wäre eine telegraphische Depesche.«

»Sie hat aber jedenfalls einen sanften Tod gehabt?« sagte Graf Rauten.

»Der Schlag hat sie gerührt,« erwiderte die gnädige Frau; »die Kinder waren außer sich darüber.«

»Das läßt sich denken; ein Schmerz, der uns so rasch überkommt, ist um so peinlicher – ah, da sind ja die jungen Damen! Meine Gnädigen, ich habe die Ehre Sie zu begrüßen! Wir sprachen gerade über das große Leid, von dem Ihre Familie heimgesucht wurde …«

»Ach ja, Herr Graf,« sagte Flora, »es hat uns so ergriffen …«

»Sie dürfen aber Ihren trüben Gedanken nicht so sehr nachhängen,« fuhr der Graf fort, »und die Zeit lindert ja auch jeden Schmerz.«

Henriette und Flora wußten eigentlich nicht recht, was sie für ein Gesicht zu der Anrede machen sollten; aber die Gesellschaft gießt uns ja die Form für jede Situation im Leben, und da der Graf viel zu viel Tact besaß, um länger als nötig bei dem für alle peinlichen Thema zu verweilen, so wandte sich das Gespräch bald einer andern Richtung zu.


Während nun Graf Rauten seine Condolenz-Visite machte, spielte sich unten, parterre, eine andere Scene ab.

Apotheker Semmlein saß gerade in seinem Comptoir und revidirte seine Bücher, als der jüngste Lehrling, ein pausbäckiger Junge mit stets kurz abgeschnittenen und struppigen Haaren, den Kopf in die Thür steckte und leise flüsterte:

»Herr Hofapotheker, es hat sich Jemand hinten bei uns in den Hof geschlichen!«

»Was hat sich?« sagte Herr Semmlein, der so in seine Berechnungen vertieft war, daß er die Hälfte der Anrede überhörte.

»Jemand hat sich in den Hof geschlichen,« wiederholte aber der Junge seine Meldung, »und der will wahrscheinlich wieder Süßholz stehlen!« (Es hatte nämlich in der vorigen Woche eine ganze Quantität von diesem dort aufgeschichteten Holze gefehlt, ohne daß man wußte, auf wen sich der Verdacht lenken solle.)

»So?« sagte jetzt Herr Semmlein, aufmerksam werdend, indem er sich emporrichtete, die Feder fort legte und die Brille abnahm. »Das wäre ja recht hübsch, und da wird er sich meinswegen wieder einen Arm voll holen wollen!«

»Ja,« sagte der Junge verdutzt, »ich glaubte, Sie wollten es nicht leiden …«

»Nein, Caspar,« erwiderte Herr Semmlein, indem er rasch seinen Schlafrock aus- und seinen Rock anzog, »das wollen wir auch nicht, aber zusehen, ob wir den Patron erwischen können. Wo hast Du ihn geseh'n?«

»Ich stand am Brunnen,« sagte der Junge, »hatte aber noch nicht gepumpt …«

»Wie gewöhnlich – Du träumst immer …«

»Und da fuhr auf einmal die dunkle Gestalt an mir vorüber und den Gang hinunter, wo hinter dem Schuppen das Süßholz liegt.«

»Zwischen den Gärten und dem Hause durch, wie?«

»Ja, gewiß, das hab ich deutlich gesehen.«

»Und wo glaubst Du denn, daß er meinswegen hingeschlichen ist?«

»Ja, das weiß ich nicht, Herr Hofapotheker,« sagte der Lehrling; »ich drückte mich nur gleich wieder in's Haus zurück, um es Ihnen zu sagen.«

»Bravo,« nickte Herr Semmlein, »dann haben wir ihn auch – wo ist der Hausknecht?«

»Er streicht Pflaster in der Apotheke.«

»Er soll gleich das Hausthor zuschließen, und die Hofthür wird auch von innen verriegelt; der erste Provisor soll einmal zu mir herüberkommen. Du bleibst in der Apotheke, wenn etwas gebraucht werden sollte.«

Die Anordnungen waren bald getroffen, denn Semmlein betrieb die Sache außerordentlich praktisch. Befand sich wirklich ein Dieb im Hofraum, so war er jetzt gründlich abgesperrt und mußte sich auf Gnade oder Ungnade ergeben. Dann ging es an die unmittelbare Untersuchung, und die unternahm Herr Semmlein selber, und zwar mit dem großen stählernen Pflasterstreicher in der Hand, der allerdings keine Spitze hatte, aber doch wie ein großes Dolchmesser aussah und Effect machen konnte. Mit sich nahm er den ersten Provisor, einen noch jungen kräftigen und sehr gewandten Mann, der, mit einer ziemlich wuchtigen Mörserkeule in der Hand, allerdings ein gefährlicher Gegner schien.

Der Hofraum selber war nur schmal, da der Garten den größten Teil des freien Raumes einnahm. Rechts an dem Garten hin aber führte der schmale Weg, von dem der Lehrling vorher gesprochen, zu den jetzt freilich nicht benutzten Ställen und einigen Kellern, in welchen Herr Semmlein allerhand Chemikalien und sonstige Waarenvorräte liegen hatte. Von dort heraus war ihm nun allerdings, und zwar zu verschiedenen Zeiten, einiges gestohlen worden, und man hatte schon gefürchtet, daß es ein Hausdieb sei, gegen den man sich natürlich nur so viel schwerer schützen kann. Jetzt schien sich aber doch das Gegentheil heraus zu stellen, und mit verschlossenem Hofthor, an dem der Hausknecht stand, war an ein Entrinnen des Diebes nicht zu denken.

In dem schmalen Hofgange zeigte sich übrigens nichts Lebendes, und es befand sich auch kein Platz dort, an dem sich ein Mensch hätte verstecken können. Ebenso fanden sich auch die Thüren noch alle fest verschlossen, selbst die Vorhängeschlösser davor; also war noch nicht einmal ein Versuch gemacht worden, dort einzudringen, und im Innern konnte sich eben so wenig Jemand befinden. Es blieb deshalb keine andere Möglichkeit, als daß sich der Eingeschlichene, als er vielleicht das Geräusch gehört, in den Garten geflüchtet und dort Schutz gesucht habe – in dieser Jahreszeit aber immer noch ein schwieriges Stück Arbeit. Nur in einer der Lauben konnte er stecken, und Herr Semmlein begann auch ohne Weiteres die Visitation, die nicht lange ohne Erfolg bleiben sollte.

Schon in der zweiten Laube – die erste gehörte zu Herrn Semmlein's Garten – bewegte sich eine Gestalt.

»Halt, oder ich schieße!« rief der Hofapotheker und streckte seinen Pflasterstreicher vor.

»Herr Semmlein,« sagte aber als Antwort eine halb unterdrückte Stimme, ohne deshalb besondere Furcht zu verrathen – »auf ein Wort!«

»Auf ein Wort?« rief der Hausbesitzer mißtrauisch. »Wer sind Sie und was machen Sie hier?«

»Bitte, kommen Sie 'mal herein!«

»Daß ich meinswegen ein Esel wäre!« sagte Herr Semmlein. »Für wie dumm halten Sie mich eigentlich? Kommen Sie heraus, oder ich rufe die Polizei!«

»Thun Sie mir den einzigen Gefallen und machen Sie keinen Skandal,« sagte der Ertappte wieder, der sich aber noch immer im Schatten hielt – »ich bin ein Bekannter von Ihnen und kein Dieb – ich will Ihnen alles erklären; hören Sie mich nur ruhig an und schicken Sie die Leute fort.«

»Das wollen wir denn doch vor der Hand bleiben lassen,« sagte der Apotheker, welcher der Sache noch immer nicht recht traute, aber auch keine besondere Furcht mehr verspürte. Es schien nur ein einzelner Mensch, und fort hätte er doch nicht gekonnt, wenn er ihn selber auch über den Haufen rannte. »Und kein Dieb,« sagte der Erwischte – also vielleicht eine Liebesintrigue? Nun, das wollte er bald herausbekommen und jedenfalls klar in der Sache sehen. Er mußte wissen, was in seinem eigenen Hause vorging, und solche »Huschemuscheleien«, wie er es nannte, paßten ihm überhaupt nicht. Herr Semmlein hielt den Pflasterstreicher, den er mitgenommen, noch immer fest in der Hand und überlegte sich rasch, wie er hier am besten handeln könne. Eine Liebesintrigue war möglich, er hatte eine Anzahl junger Damen im Hause – aber die gnädigen Fräuleins von Klingenbruch – das war nicht denkbar. Also vielleicht – hm – mit irgend welchem Dienstboten; jedenfalls schien ihm die Sache ganz ungefährlich. Er winkte aber doch seinen Oberprovisor heran, um etwas dicht bei der Hand zu bleiben, und dann, den Pflasterstreicher etwas vorgehalten, trat er in das Dunkel der Laube hinein.

»Und wen haben wir hier?« sagte er, als er sich unmittelbar vor der dunkeln Gestalt sah, »wenn ich bitten darf.«

»Mein lieber Herr Hofapotheker,« flüsterte die Stimme, »ich bitte Sie recht freundlich, Ihre Leute fortzuschicken. Seien Sie versichert, daß Ihr Eigenthum in keiner Gefahr ist, ich habe nicht die geringsten Absichten darauf.«

»Schön,« sagte Herr Semmlein, »aber dann muß ich doch meinswegen erst wissen, mit wem ich es hier zu thun habe, denn in der Stockdunkelheit kann man kein Gesicht erkennen.«

»Ich bin Officier …«

»Kann sein, aber auch nicht; wenn ich nicht den Namen höre und die Stimme erkenne, mach' ich, hol' mich der Deubel! meinswegen Skandal, und dann wollen wir schon seh'n, wer da drinnen steckt – Officier kann jeder im Dunkeln sein!«

»Aber, bester Herr Hofapotheker …«

»Na, wenn Sie nicht wollen – Herr Müller, bitte, kommen Sie einmal …«

»Lassen Sie – Sie kennen mich ja – ich heiße von Wöhfen – Lieutenant von Wöhfen.«

»Ih, seh'n Sie 'mal an,« sagte Herr Semmlein – »ist mir ja recht angenehm, den Herrn Lieutenant …«

»Bitte, schicken Sie die Leute fort.«

»Na, Herr Müller, es ist alles in Ordnung, Sie können wieder hineingehen – und behalten Sie den Jungen drinne, nehmen Sie Behrens gleich mit, und der Johann soll die Hofthür wieder aufschließen und gleich wieder an seine Arbeit gehen – das Pflaster wird so schon ganz kalt geworden sein. So, Herr Lieutenant,« setzte er dann, aber noch immer mit unterdrückter Stimme hinzu, »die Luft ist wieder rein; wenn Sie mich aber los werden wollen, so müssen Sie mir meinswegen sagen, auf wen Sie hier gepaßt haben, denn dies hier ist mein Haus – ich bin meinswegen nur ein einfacher, schlichter Bürger, aber ich dulde doch solche Geschichten nich und muß wenigstens wissen, wie ich hier stehe.«

»Aber, bester Herr Hofapotheker,« sagte Lieutenant von Wöhfen, »Sie können doch nicht von mir verlangen, daß ich indiscret genug wäre …«

»Mein lieber Herr Lieutenant,« sagte der Apotheker, »daß hilft mir alles nichts und Ihnen auch nicht. Ich muß wissen, auf wen in meinem Hause Sie hier gewartet haben. Schockschwernoth, ich habe meinswegen auch eine Tochter, und das wäre mir ein verfluchter Spaß!«

»Beruhigen Sie sich darüber, Herr Semmlein, ich habe gar nicht die Ehre, Ihr Fräulein Tochter zu kennen.«

»Ist mir sehr angenehm,« sagte Herr Semmlein; »also wen sonst?«

»Ich darf Niemand compromittiren …«

»Das sollen Sie auch nicht. Ich gebe Ihnen mein Bürgerwort, daß kein Mensch von mir eine Silbe erfährt. Ich aber muß es wissen.«

»Sie versprechen mir das?«

»Ich habe Ihnen mein Wort gegeben.«

»Gut denn, ich will Ihnen glauben – die hübsche Näherin, die bei Ihnen im Hause wohnt.«

»So – ih, seh'n Sie 'mal an,« sagte Herr Semmlein – »na, meinswegen muß mir die Person morgen aus dem Hause.«

»Aber, bester Herr Hofapotheker, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich das junge Mädchen in allen Ehren kenne – sie ist brav und unbescholten …«

»Danke Ihnen,« sagte Herr Semmlein – »meinen Sie, wenn sie zu einem Officier hinunter in den Garten läuft!«

»Es soll nie wieder geschehen – aber bitte, kündigen Sie dem armen Mädchen nicht …«

»Nun, wissen Sie, Herr Lieutenant,« sagte der Hofapotheker, »das ist meinswegen mein eigenes Geschäft, und ich muß da selber wissen, was ich zu thun oder zu lassen habe. Aber ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten, die Luft ist jetzt rein, wünsche Ihnen einen recht guten Abend.«

»Guten Abend, Herr Hofapotheker,« sagte Lieutenant von Wöhfen in einer Stimmung, daß er den kleinen Mann hätte erwürgen können, zog sich seinen Mantel bis an die Ohren hinauf und verließ mit raschen und hastigen Schritten den Hofraum.

»Also die Nähmamsell,« sagte Herr Semmlein, als ihn der Officier verlassen hatte, indem er nachdenkend mitten im Dunkeln stehen blieb und seinen Gedanken Audienz gab. »Wer hätte das der kleinen scheinheiligen Person zugetraut! Auf die hätte ich geschworen, aber man darf meinswegen keinem einzigen Menschen mehr trauen auf der ganzen Welt; nichts als Lumperei – nichts als Lumperei! Hm, und 's scheint mir doch undenkbar, denn wenn das kein braves Mädchen ist … – Höre einmal, Semmlern, der Sache mußt du auf die Spur kommen; der Abend ist warm, und wenn du dich meinswegen dort in die Ecke auf eine von den Bänken setzt, die morgen in den Garten kommen sollten, so kann dir das nicht so viel schaden.«

Daß von seinen Leuten jetzt Keiner wieder herauskam, wußte er recht gut, und dem Entschlusse die That folgen lassend, drückte er sich in die Ecke auf eine der Gartenbänke und blieb dort eine Weile regungslos sitzen. Er mochte aber kaum eine halbe Stunde seinen Platz behauptet haben, vielleicht nicht so lange – aber die Minuten schleichen, wenn man auf etwas wartet –, als er plötzlich die Thüre gehen hörte und eine dunkle Gestalt heraushuschen sah.

»Na ja, mein Schatz,« dachte Herr Semmlein – »also doch – aber dann mußt Du mir auch morgen aus dem Quartier.«

Die Gestalt blieb einen Moment am Brunnen stehen. Horchte sie, ob alles ruhig sei? Der Hofapotheker rührte sich nicht, er saß, als ob er in dem Augenblick photographirt werden sollte. Jetzt glitt der Schatten über den Hof hinüber und der Gartenpforte zu – er befand sich dort kaum fünf Schritt von der Stelle, wo Semmlein saß. Dieser hustete leise; die Gestalt blieb wie in den Boden gewurzelt stehen. Jetzt erhob sich auch der Hofapotheker und schritt auf sie zu, und – Henriette konnte kaum einen Aufschrei unterdrücken.

»Ach, Herr Hofapotheker, wie Sie mich erschreckt haben!«

»Ih, seh'n Sie 'mal an, mein gnädiges Fräulein! Ich wußte gar nicht, wer hier noch so spät eine Promenade machte …«

»Oh, das Wetter ist heute so wundervoll!«

»Ja, deshalb habe ich mich auch dort ein bischen auf die Bank gesetzt. Es wird jetzt in den Stuben so schwül …«

»Ganz entsetzlich – ich hielt es auch oben nicht aus und wollte mir nur am Brunnen ein Glas recht frisches Wasser holen.«

»Ih, seh'n Sie 'mal – und das thun Sie meinswegen selber?«

»Nur um einmal für ein paar Minuten die frische Luft zu athmen. Aber ich muß wieder hinauf – Gute Nacht, Herr Hofapotheker!«

»Wünsche Ihnen eine recht angenehme Ruh', mein gnädiges Fräulein!«

Henriette glitt von ihm fort zum Brunnen, füllte sich dort das Glas, welches sie mit heruntergebracht hatte, und eilte dann so rasch sie konnte die Treppe wieder hinauf.

Unten aber stand Hofapotheker Semmlein, beide Hände in den Hosentaschen, und pfiff leise zwischen den Zähnen durch. Erst als er oben die Glocke bei Klingenbruchs wieder gehen hörte, brummte er halblaut vor sich hin: »'s ist doch die Möglichkeit, meinswegen die hellblaue, plümerantene Möglichkeit, – was man nicht alles erlebt, wenn man alt wird! Ne, ne, ne, ne – ih du mein liebes Herrgottchen, also das war die Nähmamsell von oben, drei Treppen hoch! O du ganz miserabler Lump, du!« – und ohne weiter ein Wort zu sagen, stieg er wieder in seine Apotheke zurück.



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