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Gustav Freytag

Ein neuer Roman Gustav Freytag, Soll und Haben

Herr Gustav Freytag schmückt, wie er von einem vortrefflichen Fürsten mit Recht sagt, seinen Roman »Soll und Haben« (drei Bände, Leipzig, Hirzel, 1855) mit dem Namen des Herzogs von Koburg, der ihm einst »beim Füttern der Rehe« auf dem Kahlenberge Deutschlands Not und Entzweiung als Quelle des unkünstlerischen Schaffens bezeichnet hätte. Den dieser schönen Widmung folgenden gewaltigen Anlauf zu seinem Werke jedoch, als eines »wahren«, nicht »zufälligen Ereignissen entlehnten« Romans, nicht »unschöne Mischung von plumper Wirklichkeit und erzwungener Empfindung« bringenden, würde man als glücklichen Köhlerglauben an eigenes Vermögen nach jener Art hingehen lassen können, die in den vorzugsweise der ästhetischen Jagd gewidmeten Spalten des Leipziger Journals, an welchem bekanntlich nichts grün ist als sein Umschlag, seit Jahr und Tag ihr Wesen treibt. Allein zu herausfordernd treten die Verheißungen des Herrn Verfassers auf, zu herausfordernd ist die Stellung seines Buchs zu der ästhetisch-kritischen Tätigkeit jenes Journals, zu herausfordernd ist endlich das auf den Titel gesetzte Motto des Herrn Dr. Schmidt: »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit!« Unsere Leser, die wir mit kritischem Hader sonst verschonen, können verlangen, daß bei einer solchen Gelegenheit die Merkmale dessen, was sich so bewußt als das im Roman einzig ästhetisch Richtige angibt, genannt und geprüft werden, und das nicht etwa um unsert- oder um des Herrn Freytag willen, sondern um einer festzustellenden Wahrheit willen.

»Soll und Haben« will das deutsche Volk bei seiner »Arbeit« aufsuchen. Wir sehen uns um, was und woran in diesem Roman das deutsche Volk arbeitet. Wir finden ein Großgeschäft in Talg, Wolle, Zink, Rosinen, Mandeln, Kaffee u.s.w. Zwei Kommis auf dem Kontor des Herrn T. O. Schröter sind die Helden des Buchs; der eine eine schüchterne unbedeutende Persönlichkeit, namens Anton Wohlfart, der andere ein Volontär, Herr von Fink, ein unmittelbarer Ableger aus der Familie derer von »Saalfeld«, »Graf Waldemar«, »Konrad Bolz« und ähnlicher Gestalten der Muse des Herrn Freytag. Besagter Herr von Fink gibt Anton Wohlfart Schliff und Routine durch Tanzunterricht, Anleitung zum Punschmachen, Bekanntschaften mit Wettrennern und Wettrinkern, er führt in die Welt der Apfelschimmel, Pistolenhalfter, Doppelbüchsen, Stulpstiefel und Reitpeitschen ein, eine Welt, die bekanntlich in allen Arbeiten des Herrn Freytag vorzuherrschen pflegt. Jener wendet auch diese aristokratische Bildung dazu an, die Fässer mit Rosinen und Mandeln bald zu verlassen und eine heruntergekommene Adelsfamilie vor völligem Ruin ihrer Finanzen durch dilettantische Versuche in der Ökonomie und der Landesverteidigungskunst gegen die aufrührerischen Polen zu retten. Wir hören bei all dieser »Arbeit« allerdings fortwährend Fässer karren, wir sehen auch Warenballen mit dem Pinsel signieren, wir leben die mit sehr unerquicklicher Breite geschilderten philisterhaften Zustände einiger fünf bis sechs und sehr gleichgültigen und formlos durcheinanderschwimmenden Kontoristen mit; allein mit einer auf jeder Seite bestätigten Befugnis kann man dennoch fragen: Wo ist hier die Arbeit? Individuelle, der Poesie und nicht der Statistik angehörende Arbeit? Wo ist die Arbeit des Herrn von Fink? Wo ist die Arbeit, die solide, echte, deutsche Arbeit der weichlichen Folie jenes merveilleusen Brillantfeuerwerkers, seines Lehrers im Weltschliff? Wo ist die Arbeit des Herrn Freiherrn von Rothsattel, dessen Hypotheken- und Pfandbriefwucher den eigentlichen Hebel der Handlung des Romans vorstellt? Wo ist deutsche Arbeit anders vertreten als in voller charakteristischer Emsigkeit und produktiver Wertschaffung nur bei einigen Juden, fünf bis sechs Ablegern des aus den »Journalisten« her bekannten Für-Alles-Schreibers »Schmock«, die ihre Masematten mit einer Behaglichkeit vor uns durchführen, daß sie allerdings die Arbeit des deutschen Volks im Gaunern, Lungern und Betrügen auf das rührigste darstellen?

Suchen wir den Quellen des so auffallend niederschlagenden Eindrucks dieses Romans »Soll und Haben« näher zu kommen, fragen wir: Was läßt alle diese Menschen im ersten Bande so außerordentlich keck beginnen und im letzten so dürftig ausgehen? so muß man, ohne darum wie die »Grenzboten« persönlich werden zu wollen, diese Quelle im Autor selbst und sodann in seiner verkehrten Theorie finden.

Der Autor selbst ist gewiß ein feiner Kopf. Er besitzt Weltschliff, Gewandtheit der Form, Beobachtungsgabe, ja sogar Gemüt genug, um vorkommenden Falls Tränen von Brillanten zu unterscheiden. Seine »Valentine« war eine Reproduktion der Gräfin Hahn-Hahn durch französischen Esprit und etwas Zusatz von Heinrich Heine; es duftete in ihr nach dem Patschuli eines Boudoirs, wo uns die großen Empfindungen gleichsam einer abgesetzten Maitresse mit nicht eben besonders wahrer Sehnsucht auf Lerchengesang und Veilchenduft gerichtet dargestellt wurden; indessen die hübsche Mischung von Esprit und Sentiment, verbunden noch mit einem Zusatz von politischem Freimut, tat damals außerordentlich wohl. »Graf Waldemar« kopierte leider nur die »Valentine« und geriet in französische Outriertheit; doch in den »Journalisten«; wieder einer dritten Auflage immer desselben sozialen Themas, hat das große Publikum sich an die gute Absicht gegen die Ultras mit Teilnahme gehalten, ohne zu untersuchen, ob der Dichter nur auf dem Standpunkte der Doktrinärs stand; es hat über Herrn Piepenbrink und den Juden Schmock gelacht, ohne zu untersuchen, ob der mit Wahrheit, Kunst, Freundschaft, Liebe und jedem Menschen wie mit Mäusen spielende Katzenhumor des übermütigen und süffisanten Dr. Bolz ebenso über die Spannungshöhe eines zarten Gemüts hinausging wie die Schöpfung des Fräuleins von Runeck, die einen auf solcher Kavalierperspektive stehenden bürgerlichen Redakteur einer Zeitung rein aufessen möchte vor Bewunderung, eine der nicht endenden Auflagen war jener Schmeicheleien, die Herr Freytag allzu sichtbar in seinen Produktionen Genien darbringt, die so ziemlich immer auf einen und denselben Modellmenschen hinauskommen.

In dem Herrn von Fink des Romans haben wir nun die pyramidalste Gipfelung dieses Modellmenschen erhalten. Auf dem Piedestal des Fürsten Pückler-Muskau, des Dr. Heinrich Laube und des Freiherrn Eugen von Vaerst, sonderbarerweise dreier Schlesier, erhebt durch den vierten Schlesier sich ein so kaleidoskopisches Humorgebaren und dabei eine solche Philosophie des Sports und der Reitpeitsche, daß man dieser merkwürdigen provinzialen Sphäre selbst angehören müßte, um ihre Selbstzufriedenheit erträglich zu finden. Es ist wahr, die deutsche Literatur mag zu lange von Kandidaten der Theologie geschrieben worden sein, die sich nicht nur in Schlesien, sondern überall in Deutschland an der Tafel eines Grafen, der ihnen die Ehre einer Einladung zukommen ließ, zu lächerliche Verstöße gegen den richtigen Gebrauch der Gabeln beim Austernessen und der Messer beim Pastetenzerschneiden erlaubten; es mag ein beachtenswerter Fortschritt sein, wenn die Literatur ein wenig mehr Zusammenhang mit der großen Welt und sogar mit den Manieren und Denkweisen der exklusiven Gesellschaft gewinnt; aber ein häßliches Extrem sind die kolossalen Tausendsappermenter und Petitmaîtres in der Art des Herrn von Fink. Es gibt gewiß Adlige nicht bloß in Schlesien, sondern aller Orten, die sich zum Dandyismus auch innerlich, d. h. zu einem gewissen Pelhamismus aufgeschwungen haben. Man kann sie ohne Zweifel nicht nur zu Breslau in der Goldenen Gans, sondern auch in Berlin, Hamburg und Baden-Baden beobachten. Wir glauben auch, daß sie nicht bloß den Rock am Knopfe treffen, wenn sie auf der Mensur stehen, wir glauben sogar, daß sie zuweilen Geist haben, Chopin spielen können und, wenn es gefordert würde, sogar besser dichten würden, als so gewöhnlich bei uns gedichtet wird. Warum soll es keine Pelhams, Trevelyans, Onägins geben? Aber Herr Freytag hat sich in diese slawisch-aristokratischen und doch innerlich mit ganz wunderbar latent germanischer Poesie ausgestattet sein sollenden Dandies so verloren, daß er sein ganzes Buch in Herrn Dr. Bolzens häßlichem Katzenhumor geschrieben hat. Herr von Fink ist bei ihm der Matador über alles; er ist zwar nur Kommis bei T. O. Schröter, nur Mitvertreter der »deutschen Arbeit«, aber er ironisiert und satirisiert die ganze Welt. Er ist der ewige Egmont, gegen den alles gewöhnliche deutsche Gemüt à la Brackenburg zum ewigen Seitwärtsstehen verurteilt ist. Die Sabine Schröter liebt ihn, die Theone liebt ihn, zuletzt muß ihn auch sogar Lenore, die Geliebte seines eigenen Freundes, lieben. Ihm muß alles zufallen, Poesie und Wahrheit, das Praktische und Idealische, und wenn er auch einmal einen Sperling mit der Reitpeitsche erschlägt, den andere eben liebevoll fütterten, die ihm eigene Auffassung dieses »Facts« bleibt doch die triumphierende; er hat ja nicht bloß Verstand, sondern auch, wenn auch nur kurz vor dem Fallen des Vorhangs, unendlich viel Gemüt. Er ist der ewig Liebenswürdige, der ewig Göttergleiche, selbst wenn seine Haare schon ein klein wenig Glatze blicken lassen; er hänselt und narrt die ganze Welt und doch vergöttert ihn dieselbe Welt. »Warum nicht, mein Hähnchen?« »Warum nicht, mein Junge?« »O du dummer Tony!« das sind seine stehenden Redensarten, die sonderbarerweise von ihm niemanden beleidigen. Die Zigarre ist für ihn erfunden, das Halten der Hände im Rockschlitz nicht minder. Er versteht sich nicht nur auf die beste Art Ananaspunsch zu machen, sondern ist auch der eigentlich »geistvollste« Geschäftsmann des Herrn Schröter, was nicht hindert, daß er Saadi und Firdusi kennt und Auskunft zu geben weiß über Weltgesetze und philosophische Probleme. Stehende Wendungen seiner Ausdrucksweise sind: »Wenn Itzig nicht ein Hausfreund des Gutsbesitzers war, so mußte er doch wenigstens ein vertrauter Freund seines Pferdejungen sein.« Oder: »Die Gefühle, die das Theater voraussetzt, entlehnt er sich von seinem Reitknecht.« Und in dieser Art – ad infinitum.

Herr Freytag würde gewiß die vollkommenste Berechtigung haben, Charaktere auch dieser in der Tat mehr slawisch-russischen als germanischen Art aufzustellen, wenn er nur nicht verriete, daß sie zu ihm in der innigsten Wahlverwandtschaft stünden. Er schreibt, wie Herr von Fink spricht. Der Volontär in Jockeystiefeln ist seine ganze Sympathie. Und da muß es bedenklich werden, wenn ein solches undeutsches Matadorentum Theorien aufstellt und mustergültig seinwollende Romane schreibt, deren Art hintennach von der kritischen Schule verteidigt werden soll und als Maßstab fremder Beurteilung genommen wird. Erlaubt erscheine es daher, die Wirkungen des Dr. Bolz'schen und des Herrn von Fink'schen Humors an seinen Schöpfungen nachzuweisen. In der nächsten Nummer denken wir von »Soll und Haben« eine ausführlichere Kritik zu geben.

Wir räumen Herrn Dr. Schmidt und seinem produktiven Freunde, dem Verfasser von »Soll und Haben«, sehr gern ein daß das menschliche Herz ein gar trotziges und verzagtes Ding ist, dem man meist nur Torheiten vorzuwerfen hat. Es ist wahr, die deutsche Literatur ist ein Pandämonium solcher Torheit und der ihr entsprechenden Weltunkenntnis. Ein nur verstandesmäßig gebildeter, kalter, trockener und illusionsloser Kopf wird in dieser Literatur seine wahre Freude höchstens an Lessing und Goethe finden, obgleich auch Herr von Fink, der Heros von »Soll und Haben«, an der »alten Exzellenz von Weimar« mancherlei lächerlich zu finden exklusiv genug ist. Die traurigen Verwüstungen, die ein solcher an Advokaten aber schon nicht an Richtern schätzenswerter Sinn in unserer einmal eigengearteten Literaturgeschichte anrichten muß, die Inkonsequenzen und Geschmacksüberraschungen, die allein uns der ewig kluge Vernünftling auf diesem Gebiete zutage fördern kann, liegen in dem von der Furcht und der Apathie unsers Literatenwesens bisher noch so ziemlich ohne Antwort gebliebenen Wirken jener beiden Herren und ihres Anhangs offen zutage. Nachweisen aber kann man bei alledem die Unzulänglichkeit jenes erbitterten Kampfes gegen übliche deutsche Phantasie- und Herzenstorheit, wenn seine Teilhaber schöpferisch dafür selbst uns schadlos halten wollen. Nachweisen kann man, wozu die stolze Verständigkeit führt, wenn sie an die Stelle des Eingerissenen selbst bauen will. Die Probe läßt sich wenigstens an »Soll und Haben« machen.

Der Mangel an Vertiefung ist in diesem Roman so auffallend, wie er sich bei einem Verstande, der sich nicht auf sein Gemüt verläßt, von selbst versteht. Wie ein französischer Fechter hüpft der Verfasser im Kreise seiner Erfindung hin und her, ermüdet sich und den Leser durch ewiges Springen von einer Person zur andern und versinkt schon am Schluß des ersten Bandes in eine Erschöpfung, die sich nur hier und da durch eine der vielen eingestreuten (übrigens widerlichen) Judenjargonepisoden erholen kann. Das Interesse ist, wie billig nach der Natur des Matadors, nur auf die stachelnde und agacierende Partie verteilt – wir können nicht handelnde Partie sagen, da die Handlung des Romans nur die im engsten Sinne des Worts kaufmännische eines Handlungshauses und des betrügerischen Schachers der Juden ist –, während doch gerade das Interesse jedes poetischen Werks nur in den leidenden Personen liegt. Alles, was der Verfasser in den Vordergrund seiner Erzählung drängt, ist das, was die Faiseurs entweder tun oder räsonnieren; das eigentliche Interesse aber ist wie zwischen Tür und Angel geklemmt. Nicht eine einzige der aufgeführten Frauen wird entwickelt, in ihrer Seele aufgedeckt, in ihrem Herzen mit aufmerksamer Liebe belauscht. Sie kommen und gehen nur, um den Matadoren – Wohlfahrt lernt nämlich die Manieren Finks allmählich wie eigene in Szene setzen – gerade dann zu Paß zu sein, wenn sie sich genug entweder mit Redensarten ausgeteufelt oder mit langweiligen Unternehmungen ermüdet haben und plötzlich dann wieder bei den Frauen ankommen, deren innere Entwicklung der Verfasser dem Leser zur eigenen Ergänzung überläßt. Der sonst so strenge Kunstrichter würde die Ökonomie sicher umgekehrt haben, wenn ihn nicht sein Naturell immer zum Barocken triebe. Welcher Überfluß von Karikaturepisoden der langweiligsten Art! ... Wir wollen den Ballast der Langeweile aufzählen: Ein Verzeichnis von uns völlig gleichgültigen Kommis, nur um jeden zu einer Nippfigur des Spotts zu machen! Münchhauseniaden von Fink über amerikanische Fahrten zu Wasser und zu Lande, die nicht im mindesten unser Interesse berühren! Bis zum Grenzbotenbeliebten »Blödsinn« uninteressante Verhandlungen über die Frage: Ob Wohlfahrt nach zwei Jahren Kommis werden könne?!! Lange Erzählungen von allerlei episodischem Kommisjux, der überhaupt das Unwahre hat, daß er die Art der Studenten auf eine Sphäre überträgt, die einen ganz andern aparten Nonsens zu verarbeiten pflegt! Episoden von Bällen und Tanzstunden, die an kleinen Beobachtungen aus der Mütter- und »Backfisch«-Sphäre an sich nicht arm sind, nichts aber in die Handlung Eingreifendes damit vorbereiten oder durchführen helfen! Eine Reise nach Polen, um einige mit Materialwaren befrachtete Wägen einzuholen! Briefe aus Amerika über völlig in der Luft schwebende hinterwäldlerische Zustände! Eine »Kürbisepisode«: aus dem Leben jener uns durchaus wesenlosen Kommis! Die ödeste Revision des Gutes Rosmin in seinen Baulichkeiten und ökonomischen Beständen! Später eine wahre Lüneburger Heide der Interesselosigkeit, die Versuche, des Gutes Ertrag zu verbessern! Letztlich – die langen Raufereien mit aufständischen Polen, die in ganzer Breite mit einer Freude an jedem gefallenen Schuß, an jedem neuaufgesetzten Zündhütchen erzählt werden, daß man zuletzt Seite für Seite überschlägt und dem Autor, der bei den Rehen des Herzogs von Koburg so herausfordernd und agacierend begonnen hatte, auch in nichts mehr mit Teilnahme folgen kann.

Das schöpferische Unvermögen des Witzes ist uns lange nicht so auffallend entgegengetreten. Der Witz bricht ewig ab, er kann keine Situation erschöpfen. Was wird? Was kommt? fragt man ungeduldig über das ewige Hin- und Herspringen einer Koboldphantasie, die nur necken kann. Die Exposition ist endlos. Sie beginnt überall von vorn und bringt es nicht zu einer einzigen schwebenden Situation; denn Längen sind keine Situationen. In einem Roman von über tausend engen Druckseiten finden sich nicht vier oder fünf wirklich dramatische, d. h. aus innerer Notwendigkeit der Prämissen hervorgegangene Szenen.

Das realistische Prinzip der Herren Grenzboten ist bekannt. Fritz Fink in diesem Roman ist der eingefleischte Realismus. Er schlägt allem die Volte, was wie eine Schwärmerei aussieht. Er bekommt einen Korb von einem Mädchen, das er liebt, und statt seinem Freunde zu sagen: Ich bin unglücklich oder wenigstens nicht gut aufgelegt! sagt er: »Erst eine Zigarre!« Man lacht vielleicht über diese Selbstironie, man kann auch versichert sein, daß Jean Pauls Vult, der noch keine Zigarren rauchte, nach einem empfangenen Korbe etwas Ähnliches gesagt hat; aber diese Einfälle stehen nicht isoliert, sie sind die durchgehende Lebensauffassung des in seinem Geiste und Herzen schwer ermüdet scheinenden und sich deshalb ewig prickelnd aufstachelnden Verfassers. Wer in dieser Form des Humors sein Alles findet, kann vom Dichterhimmel nur Sternschnuppen fallen lassen, Sternschnuppen, die kommen und gehen. Es fehlt hier jede Kraft der Einwurzelung, der aufrichtigen Parteinahme, der hingebenden Leidenschaft. Wo sich einmal etwas wie eine Leidenschaft findet, hat sie sich im Gegenstande vergriffen. Wer kann sich für das erwärmen, was die Herren Wohlfahrt und Fink endlich in Atem bringt? Sie arbeiten sich ab in einer »realistischen« Tendenz; wir sehen nur zu und fühlen uns unberührt von ihrer Liebe und von ihrem Haß. Das Buch ist so realistisch, daß es sich zuletzt in eine reine Privatangelegenheit eines verschuldeten Gutsbesitzers auflöst.

Realistisch soll Euch gegen andere so gestrenge Herren doch wohl heißen: Ohne Tendenz? Hier heißt es aber noch mehr: Ohne Idee. Was ist denn die Idee dieses Romans? Daß ein Rittergutsbesitzer keine Runkelrübenfabriken anlegen soll? Diese Lehre mag sehr praktisch sein; es mag auch lehrreich sein, daß ein Kapitalist sich in acht nehmen möge vor Juden und Judengenossen – der Judenhaß des Verfassers, genährt durch das Lachen, das dem »Literaten« Schmock in den »Journalisten« zuteil wurde, wird durch die höchst unwahre und durch und durch unmögliche Gestalt eines Bernhard Ehrenthal nicht gutgemacht –; ist eine solche Idee poetisch? Oder soll die Poesie dieses Romans darin bestehen: Ehrlich währt am längsten? Ich forsche nach allen Seiten, welches die Idee sein könnte, die die Schnurrpfeifereien Finks und Itzigs und die Gelehrigkeit Wohlfahrts umrahmen? Es ist wirklich keine andere da, als daß ein Gutsbesitzer nicht Runkelrüben, sondern Roggen und Weizen bauen soll.

Der blasierte aristokratische Sinn des Verfassers hat sich eingebildet, man könnte diesen landwirtschaftlich gewiß beachtenswerten Gegenstand poetisch auch mit feudaler Romantik umkleiden. Er stellt die sonderbare psychologische Zumutung, daß er uns einen durch Judeneinfluß zum Selbstmörder und Schurken herabsinkenden Adeligen in stufenweiser Entwicklung vom Gemeinsten zum Edelsten zurückkonstruiert – als wenn nicht Rothsattel alle die Keime seiner spätem Schlechtigkeiten schon primitiv in der ersten Anlage haben und der Dichter gleich von vornherein über ihm schweben müßte –; er macht in der Tat die gewiß heilige Erdscholle in dem Sinne zum Helden seines Buchs, daß wir die Schauer der erschreckenden und unglücklichen Natur mitempfinden sollen, wenn unter Roggen und Weizen künftig auch Runkelrüben stehen werden! Wolken ziehen sich zusammen, Donner rollen; die Oreaden, Najaden und Dryaden klagen, wenn Herr von Rothsattel Pfandbriefe und Hypotheken nimmt! Lieber Himmel, diese Romantik der Zeiten Arnims und Brentanos ist – vergl. Julian Schmidt – gewiß sehr veraltet; wir haben in Deutschland eine vortreffliche Rübenproduktion, die uns in diesem Zweige von England und den Kolonien frei gemacht hat. Was soll eine dreibändige – und also doch romantische! – Philippika gegen die Verbesserung der Landwirtschaft! Der höchste Adel Schlesiens hat sich an der blühenden Industrie der Provinz beteiligt. Warum läßt sich Freiherr von Rothsattel mit Schurken ein, die doch nicht etwa normal sein sollen für sämtliche Israeliten, Makler und Güterhändler Breslaus?

Im Grunde denkt der Verfasser jetzt vielleicht ebenso über seine Verirrung zu einem alten romantischen Zopf zurück wie wir. Aber zu der Poesie der weinenden Ahnfrauen kommt man eben, wenn man im Interesse seines horriblen Verstandes, seiner nüchternen realistischen Doktrin und seiner admirablen Illusionslosigkeit à tout prix einen Roman ohne idealen Hintergrund schreiben zu können glaubt. Diese von Herrn Freytag erfundenen »modernen« Menschen sollen alle nur real sein, d. h. das, was sie sind. Sie sollen nicht etwa Extra-Glaubensbekenntnisse haben, sie sollen nur im Handel und Wandel, im Fässerkarren, Schachern, Wettrennen und Pistolenschießen leben. Die Folge dieser glänzenden Vernünftigkeit und Tendenzlosigkeit ist die unendliche Nüchternheit, die alle diese Erfindungen durchzieht, die trostloseste Leere des Gemüts, die dürftigste Befruchtung des Herzens, die dürftigste Befruchtung der Phantasie. Kein Roman kann fesseln ohne einen bedeutenden Hintergrund. Dieser fehlt in dem Grade, daß man nur ein ganz blasierter Verächter der Zeit sein kann, um ihn nicht schmerzlichst zu vermissen; und vielleicht würde selbst ein Aristokrat nicht abgeneigt sein, von »Soll und Haben« das zu verlangen, was man am Landschaftsgemälde die Stimmung nennt. Wie kahl und kümmerlich stehen die Hälmchen dieser »realen« Erfindung im Winde und frösteln! Wie irrt das Herz des Lesers durch diese Szenen und sehnt sich nach einem starken Wollen und hochherzigen Denken des Verfassers! Wie grausam sind die Wunden, die der Witz schlägt, und wie ungeheilt bleiben sie! Man denke sich z. B. folgende echte Grenzboten-Herzlosigkeit –

Das Terrain der Handlung zweigt nach dem preußischen Polen ab. Dort brechen Unruhen aus, die Deutschen müssen sich ihrer Haut wehren und die handelnden Personen kommen ins Gedränge der Truppen und der Aufständischen. Sie schnallen sich selbst den Säbel um, verbarrikadieren sich und beginnen Privatfeldzüge, die der Verfasser mit einer Umständlichkeit schildert, als handelte es sich um die Kämpfe Homers. Welche Zeit kann hier gemeint sein? Ohne Zweifel keine andere als die von 1848. Wir sind nun an sich keineswegs abgeneigt, eine Berechtigung des germanischen Blutes gegen das slawische anzuerkennen und fühlen vollkommen den Bewohnern von Posen und Oberschlesien nach, daß ihnen Kociuszko und die weißrote Kokarde dummes Zeug ist. Was jedoch die von Herrn Freytag, trotzdem, daß er selbst so durch und durch polnisch verbildet ist, angenommene allgemeine Canaillerie der Polen von oben bis unten so verletzend macht, ist nicht etwa die Abwesenheit jedes patriotischen Gedankens bei denen, die er mit Recht als Feinde Deutschlands schildert, sondern die Abwesenheit jedes ideellen Bezugs der Deutschen selbst, die er ihnen gegenüberstellt! Es ist das Jahr 1848, und dieser Fink, dieser Schröter, dieser Wohlfahrt, dieser Karl Sturm und wie die edeln realistischen Naturen heißen mögen, kämpfen nur – für ihre Wolle, ihren Talg, ihre Rosinen, ihre Mandeln, höchstens für ihre alten Säbel und Herrn von Finks Doppelpistolen und Doppelflinten! Nicht eine dieser Personen ist tingiert von der Zeit wie sie war; nicht eine fühlt der Geschichte der Polen gegenüber das, was in jenen Tagen die Geschichte der Deutschen war vom Fürsten bis hinunter zum Bauer und Arbeiter. Herr von Fink und sein um ihn gruppierter Kreis von Bewunderern schießt geradezu unter diese Polen wie ein Weinbauer auf einen Haufen Spatzen. Wahrlich, bis zu diesem Realismus erhob sich 1848 nicht ein einziger Landwehrleutnant, der gegen Mieroslawski kommandiert wurde. Jeder Referendar, der eintreten mußte, war von seiner Zeit idealisch gehoben und verteidigte gegen den Slawismus mehr als nur Wolle und Talg. Imponieren soll uns diese sichere und nüchterne loyale Haltung der deutschen »Arbeitsmenschen«? Zur Ehre der Deutschen können wir versichern, daß diese Poesie der besonnenen Nüchternheit auf unwahren Voraussetzungen beruht und daß solche 1848 mit derselben Kälte des praktischen Egoismus den Polen gegenübergestandene Deutsche, wie etwa ein Förster im Wald sich zufälliges Diebsgesindel vom Leibe hält, nur Hirngespinste aus dem Büro der »Grenzboten« sind. Gab es Menschen, die 1848 nur allein an Wolle und Talg dachten, so sollte sich ein Dichter schämen, sie als verehrungswürdig hinzustellen.

Wir sagten vorhin: »Einen Haufen Spatzen.« Wir haben uns damit einen recht kandidatenhaften Fehler zuschulden kommen lassen aus dem Bereiche jener unweltmännischen Literatur, der wir anzugehören leider auch das Unglück haben. Wir mußten wohl, nach Analogie des Rebhühnerkollektivs, sagen: »Ein Volk Spatzen.« Kommt bei Herrn Freytag auch ein halb Dutzend mal vor und ebenso: »Ein Volk Schwäne.« Man würde bei diesem Übergang Veranlassung haben, von den stilistischen Vorzügen und der Darstellungsweise des Buchs zu sprechen. Hier fehlt allerdings nichts, was unserer oft so wunderlich blöden Literatur, der alles Wesen in Schnurrock und Sporenstiefeln so außerordentlich zu imponieren pflegt, ungemein gefallen muß. Sie hat hier immer einen ganzen Mann, der jeden Besuch sogleich mit Darreichung einer Zigarre empfängt, einen Gentleman, der das Gefühl einer gewissen Sicherheit verbreitet, eines Gefühls, das unsern vulgären Lyrikern, Dramatikern, Feuilletonisten und was so in Deutschland die Feder führt, mehr oder weniger abgeht – Frankreich, England, Spanien, Italien haben keinen Begriff von einer solchen patenten Schriftstellerart, wo das Korps sich geschmeichelt fühlt durch den Effekt eines stattlichen Haupthahns. Kurz, das patente Gebaren des Stils, der Anschauungen, der kleinen Charakteristiken wird mehr als einen von unsern Herren Kollegen blenden, und wir sind auch weit entfernt, einzelne hübsche Schilderungen, z. B. Bd. I, S. 232, die Apotheose des Cotillon in ihrem Werte zu verkennen. Sonst ist der Stil des in einem angreifenden Dreiachteltakt geschriebenen Buchs – eine kurzatmige Hast, die dem Leser auf die Länge wahrhaft Brustschmerzen verursachen muß – zweckmäßig kurz, immer treffend und bündig. Es kommen wohl Bilder vor, wie: »Theone verwandelte ihre Locken durch Ströme von Tränen in träufelnden Bindfaden (I, 256), allein die Zahl solcher ernst gemeinten Absurditäten ist nicht eben groß. Reichere Sammlung könnte man von den vielen sogenannten »schlechten Witzen« machen, von denen es nach dem Schema: »Nicht schön, aber dumm!« bis zum Unglaublichen wimmelt. Wendungen wie z. B. (I, 104): »Er stand unter persönlicher Abhängigkeit vom Kümmel«, sind eigentlich die durchgehende Sprechweise des ganzen Buchs.

Wir hätten noch mannigfachen Reiz, auf eine große Anzahl von Einzelzügen in »Soll und Haben« aus der Sphäre der Lebensbeobachtung selbst einzugehen, und zwar deshalb, weil der Verfasser eben so großen Wert auf seine Weltkenntnis legt. Wir möchten ihn z. B. fragen, ob anzunehmen ist, daß ein reicher jüdischer Handelsherr mit der Flasche in der Hand über die Straße gehen wird, um seiner Familie zum Tee Rum zu holen! Wir möchten fragen, ob in irgendeinem Kochbuche der Welt die Rede sein kann von »Schinken mit Burgundersauce«? Doch brechen wir bis auf weiteres die Kritik des Details ab. Die allgemeine Absicht, die wir hatten, war nur die, zu zeigen, daß erstens der Realismus nicht glauben darf, er könne uns uninteressante Alltäglichkeiten, Menschen, wie aus dem ersten besten Wohnungsanzeiger genommen, als Gegenstände der Poesie aufdrängen; zweitens, daß Witz und Humor in den höchsten Tasten eines Klavier vergebens Capriccios über Capriccios zusammentollen, wenn nicht unten im Baß der Grundton einer edeln Absicht und eines begeisterten schönen Wollens, gemeiniglich als Tendenz von Euch Herren in Leipzig verspottet, dazu den harmonischen Wohllaut gibt; und daß drittens die Überlegenheit, welche die kalte Malice immer hat, nach wie vor zwar fortfahren kann, ein fremdes Schaffen und Wirken mit allen möglichen Kunstgriffen, die dem ewig Angreifenden zugebote stehen, zu verkleinern, ohne daß darum schon gesagt ist, die Malice könnte nun auch ihrerseits irgend etwas selbst hervorbringen, was, abgesehen von einer gewissen äußern, allenfalls zur Theaterwirkung ausreichenden Routine in seinem innern Kern über eine Mittelmäßigkeit hinausgeht, die originell scheint, weil sie sich mit dem von uns, wie wir hoffen, hinlänglich geschilderten Air zu spreizen versteht.

Der Roman und die Arbeit

Es ist Pflicht, gleich im Beginn ihrer Verbreitung falschen Begriffen entgegenzutreten; denn nur zu bald stehen sie fest und richten Verwirrungen an.

Ein solcher falscher Begriff ist die neuerdings so ausdrücklich hervorgehobene Verweisung des Romans auf die Arbeit. Nur da sollte der Roman verweilen, wo das Volk arbeite! Läßt man diese Lehre aufkommen, so würde sie uns die Romanliteratur zum unerquicklichsten Genusse verwandeln.

Gewiß ist es wahr, daß der alte deutsche Roman und die beiden von Goethe gegebenen klassischen Muster den Roman von der Arbeit zu sehr entfernt hatten. Man schilderte nur zu oft Menschen, die, ihren Träumen und Hirngespinsten nachgehend, ihren Gelüsten und Empfindungen lebend, kaum der wirklichen Welt angehörten. Die erste Bedingung dieser Welt ist der Kampf des einzelnen mit dem Allgemeinen, die Stellung des Geistes zur Materie. Jene Goethe'schen Gestalten aber und die meisten von Jacobi, Jean Paul und andern, die bis auf den heutigen Tag die von jenen aufgestellten Persönlichkeiten variierten, scheinen allerdings nur von der Luft zu leben. Sie sind nichts; tun nichts, sie reflektieren nur und folgen den Eingebungen, die ihnen der Dichter gibt, um irgendeine seiner allgemeinen Wahrheiten zu beweisen. Man hat schon oft gesagt und konnte es bis auf die neueste Zeit, z. B. bei den Romanen der Hahn-Hahn, wiederholen, hätten alle die von diesen Autoren aufgestellten Persönlichkeiten, so wie wir, ihre uralt hergebrachte Lebenssorge gehabt, sie würden nicht den Wirrwarr erlebt haben, in welchen sie als verwickelt dargestellt werden.

Von diesen idealen Flaneurs zur Anempfehlung der Arbeit als ausschließlichen Hebels der Romanenwelt ist aber ein gewaltiger Sprung.

Der Roman soll uns Menschen schildern, die dem Leben angehören, und da das Leben zum überwiegenden Teile nicht ohne Arbeit besteht, so soll man auch den Menschen des Romans ansehen, daß sie den allgemeinen Gesetzen unserer Lebensordnung nicht entrückt sind. Sie müssen in den Bedingungen unserer bürgerlichen Ordnung wurzeln; und haben sie nicht nötig, sonst noch etwas anderes zu tun, als wozu sie der Dichter im Interesse seines Themas verbraucht, so muß von ihnen diese Berechtigung bewiesen werden. Ungesagt aber darum bleibt, daß ihr Erwerb selbst der Gegenstand des Romans zu sein braucht; ungesagt, daß der Roman nur noch Berechtigung haben dürfe bei den Werkstätten des Schaffens, der Mühe und der Sorge.

Den Roman an die Welt der Arbeit verweisen heißt ihn in seiner ganzen Natur aufheben; denn es ist gerade das Wesen des Romans, die Wochentagexistenz des Menschen gleichsam beiseite liegen zu lassen und seinen Sonntag zu erörtern. Wir verstehen unter Sonntag die Offenbarung seiner poetischen Natur, sei es nun im Leiden oder im Handeln. Der ewige Sonntag jedes Menschen ist sein Lieben, sein Gefühl für Freundschaft, seine Religion, sein Geschick. Es kann ihm dieser Sonntag, und wär' es ein ihn nur verklärender Kummer oder die Märtyrerschaft der Not manchmal aus und mit der Arbeit entstehen, aber die Arbeit kann ebenso auch nur ganz äußerlich neben seinem Empfinden, Wünschen und Hoffen herlaufen. Der Sonntag des Menschen, der dem Romandichter gehört, ist ein drittes, das über dem allgemeinen Leben und der besondern Existenz schwebt; der Sonntag sind die Bezüge des Lebens. Schon daß das so wenig an der Arbeit unmittelbar beteiligte Weib die das Romangetriebe in Bewegung setzende Unruhe ist, beweist, daß der Romandichter vom praktischen Menschen nur ein Stück in Anspruch zu nehmen braucht.

Daß man in neuerer Zeit bei arbeitenden Menschen viel Poesie gefunden hat, kann nicht die Lehre aufstellen lassen, der Roman hätte nicht mehr den Menschen in seiner träumenden und idealen Neigung zu schildern. Wir würden das Feld der Poesie auf unverantwortliche Art begrenzen, wenn wir jeden Roman, der sich noch mit Glaube, Liebe, Hoffnung, mit dem Herzen und der Phantasie beschäftigt, jeden Roman, der die ideale Natur des Menschen vorzugsweise erörtert, diskreditieren wollten mit dem Motto: »Der neue Roman soll den Menschen bei der Arbeit aufsuchen.« Im Gegenteil, er soll zwar immer den arbeitenden Menschen im allgemeinen schildern, d. h. den an die Bedingungen äußerer Existenz gebundenen, aber er soll an ihm das hervorheben und zur Sprache bringen, was mit der Arbeit nichts oder nur sehr wenig zu tun hat.

Man ist auf diese Empfehlung der Arbeit nicht bloß durch die Unwahrheit der idealen Wilhelm-Meister-Sphäre gekommen, sondern auch wahrscheinlich durch das, was in neuerer Zeit vorzugsweise die »Dorfgeschichten« für eine tiefere Anlage der Charakterzeichnung getan haben. Aber gerade die »Dorfgeschichten« beweisen die Gefahr des neuen Satzes. Solange sie genrebildliche Züge aus dem Leben der Bauern hervorhoben, solange sie den ewigen Sonntag aller Menschen, ob nun des Menschen im besternten Hofkleide oder im Bauernkittel, zum Gegenstande des Romans wählten, konnten sie fesseln, nicht aber, als sie den Roman der wirklichen Bauernarbeit anbahnen wollten. Solange die Dorfgeschichte eine allgemeinmenschliche Wahrheit ausdrückte, war ihr der Genius der Poesie nahe. Die Poesie aber würde verschwinden, wenn wir die höchstens episodisch zu verbrauchenden Zustände des Bauernlebens mit Selbstzweck geschildert sehen sollten z. B. da, wo es sich um Erbschaftsteilungen bei Bauerngütern, um Brandversicherungen, um ihre Folgen und Ähnliches ganz und gar dem Bauernhofe und der Wirtshauschronik Zugehöriges handelte.

Nehmen wir den Kaufmannsstand. Auch er hat seine Poesie. Er hat eine negative Seite des Träumens, die Freiligrath einst unter Kolonialwaren zum Sänger von Länder- und Völkerkunde machte; er hat eine positive Seite des Ringens und des Erwerbs. Aber dies Gebiet ist für die Poesie sehr eng. Will man es erschöpfen, so wird man bald monoton werden. Glaubt man gar die Poesie des Kaufmannsstandes im großen Stile fassen zu können, so wird man in die Nähe Ifflands kommen. Die Poesie des Handwerkers ist weiter; eine Spitzenklöpplerin, ein Steinschneider, eine Näherin, ein Meister und Gesell in jedem Gewerbe bieten, da sie in freier Arbeit Werte schaffen, mannigfache Abwechslung; ein Kaufmann aber, dessen Wirken Spekulation ist, wird uns wohl Mitleid abgewinnen können, wenn sich die ihm notwendigen 20 Prozent nicht ergeben wollen, aber dies Mitleid kann nie ein erhebendes werden. Der Kaufmann beutet die Verlegenheiten des Bedarfs aus und es liegt auch eine ganz hergebrachte Ehrlichkeit in seinem Gewerbe; man kann aber nicht ergriffen sein von seiner Rührigkeit, noch weniger, wenn ihm etwas mißlingt, mehr empfinden als ein allgemeines Bedauern.

Die Arbeit in Ehren, aber zur Poesie dränge sie sich nicht ungestüm! Sie stoße nicht, Lastträgern des Packhofs gleich, den sinnenden Träumer an den Kopf. Der deutsche Roman vollends hat die erwiesenste Berechtigung, noch immer in seiner alten Sphäre der Idealität zu bleiben. Unser Volk wird sich seinen innersten Trieb zu einem höhern Kulturleben nicht nehmen lassen, und mag auch die Materie sich mit Dampf, Elektrizität und Börsenschwindel noch so geltend machen, Romane, die sich mit Gegenständen des Glaubens, der Liebe, des Hoffens beschäftigen, werden uns und allen Nationen immer berechtigt bleiben, vorausgesetzt, daß sich in ihnen die Schicksale solcher Menschen kreuzen, die wenn auch keineswegs ganz real sind, doch die Elemente der Realität in sich tragen. Denn auch diese Freiheit bleibe dem Dichter unbenommen, sich wie Prometheus Menschen zu schaffen nach seinem Bilde; d. h. Menschen, die nur aus den allgemeinen Grundstoffen der ewigen Menschennatur gewoben und keineswegs Daguerreotypen einer alltäglichen Wirklichkeit sind.


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