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Neunzehntes Kapitel

Der letzte Weg begann in Paris. Hier führte man die Graner Messe auf. Der Greis nahm im Hotel de Calais Wohnung. Frau Munkácsy besuchte ihn sofort und ließ ihm nicht eher Ruhe, als bis er versprochen hatte, zu ihnen zu ziehen, wenn er aus London zurückkäme. Der ungarische Maler bewohnte auf der Avenue de Villiers ein luxuriöses Palais. Dort malte er das Bild von Mozarts Tod, krank, mit beginnender Rückenmarksschwindsucht, erledigte er diese gehetzte Fronarbeit des Ruhmes neben seiner sklaventreiberischen, in der Jagd nach Geltung unersättlichen, geschickten Frau. Der Maler schuf auch sein Selbstporträt; das Bild war sehr gut gelungen, aber der geisteskranke Maler stotterte auch schon mit. Pinsel und Palette: er malte auf sein Bild die Aufschrift: »Für Liszt Fererenc.« Ein trauriges Haus war das, niederschmetternd und ergreifend tragisch. Er war nicht gerne hier, obwohl er Munkácsy, in dessen Tischlerlehrlings-Rauheit echt bäuerliche Vornehmheit und Größe lag, sehr gerne hatte und auch der Frau zugetan war, weil sie klug und trotz ihrer formlosen Korpulenz außerordentlich beweglich und humorvoll war.

Die Messe führte man auch diesmal in St. Eustache auf, wie vor zwanzig Jahren. Jetzt aber mit bedeutendem Erfolg. Im Konzertsaal Colonne trug man » Les Préludes« vor, die für Orchester umgearbeitete ungarische Rhapsodie und den »Orpheus«. Die Presse schlug schon einen ganz anderen Ton an, die neue Musik war in den zwanzig Jahren dem Konzertleben in Fleisch und Blut übergegangen. Den Greis feierte eine großartige Huldigung. Erard gab ihm zu Ehren ein Festbankett mit dreihundert Personen. Und hier setzte er sich ans Klavier. Der alte Klingsor, der ungarische Zauberer, riß Paris noch einmal zu sprachloser Verwunderung hin wie vor sechzig Jahren. Seit er hier zum letzten Male gespielt, hatte man niemanden so Klavier spielen gehört. Und er war schon alt, sehr alt. Als er sich ans Klavier setzte, mußte er sich vorsichtig festhalten und langsam, langsam sich niederlassen, weil er sein Gleichgewicht sehr leicht verlor.

Und er überquerte abermals den Kanal, um London zum letzten Male zu sehen, wo er seit der Zeit nicht mehr gewesen war, da Marie ihm nachgereist war und sie beide so qualvolle, skandalöse Zeiten durchgemacht hatten. Jetzt wurde ihm nur Sieg und Triumph zuteil. In St. James Hall führte man das Elisabeth-Oratorium auf. Es hatte einen Riesenerfolg, so daß man das ganze Konzert von Anfang bis Ende einige Tage später wiederholen mußte. Auch der Kronprinz Eduard war da mit seiner Frau, selbst schon ein alter Herr und trotz seines Bauches von blendender Eleganz. Am Tage darauf empfing ihn Victoria in Windsor. Jahrzehntelang hatten sie sich nicht gesehen. Die einst bildschöne Königin war ein unförmiges, kleines Mütterchen geworden, der einst so stattliche Löwe ein tapsender, gebrechlicher Domherr. Sie sahen sich beide ins Gesicht, und während sie gezwungene, höfische Sätze miteinander wechselten, dachten sie beide seufzend an ihre längst entschwundene Jugend.

Über den stürmischen Kanal kehrte er wieder nach Paris zurück. Jetzt wohnte er bei Munkácsys. Die Seereise hatte ihn recht mitgenommen, er mußte sich ins Bett legen. Er kränkelte in einem fremden Hause und genas nur mit Mühe und Not. Allabendlich kam Rubinstein, der sich auch in Paris aufhielt, zu Munkácsys. Sie spielten Whist zusammen und unterhielten sich. Er erholte sich aber nicht ganz wieder. Müde und kränklich schleppte er seinen Fuß nach, er hustete und hatte Fieberanfälle. Trotzdem mußte er Frau Munkácsy versprechen, sie im Sommer in ihrem Colpacher Schloß in Luxemburg zu besuchen.

In Weimar erwartete ihn schon Frau von Meyendorff, die doch wieder aus Rom zurückgekommen war. Nun war es auch mit dem fröhlichen und ausgelassenen Treiben des Weimarer Schülerlebens aus. Die alternde Baronin wurde ungestüm tyrannisch und sarkastisch. Man konnte sich aber vor ihr auch nicht retten. Wenn der Abend hereinbrach, konnte er nirgendwohin flüchten, mußte sich seinem Schicksal ergeben und zu ihr hinübertrotten. Sie aßen zusammen zu Abend, ab und zu war auch ein anderer Gast anwesend, und die durch ihr Alter launisch gewordene Frau verspottete den tatenlosen Alten mit bösen Scherzen und zog ihn mit Lina und anderen begeisterten Schülern auf.

Eines Tages erhielt er von Cosima ein Telegramm, daß sie käme. Dieses Telegramm brachte den Greis vollständig aus der Fassung. Aufgeregt trug er es zur Baronin.

»Sehen Sie, Cosima braucht mich doch. Sie ist doch dahintergekommen, daß sie sich nach mir sehnt. Sie ist doch meine Tochter, ich grolle ihr umsonst.«

»Aber seien Sie doch nicht so kindisch. In Bayreuth ist dieses Jahr der Vorverkauf schlecht, man hat Sie als Ausstellungsobjekt nötig, als Attraktion. Cosima weiß sehr gut, was sie macht. Sie kommt hierher, sagt Ihnen ein paar gute Worte, und Sie werden nach Bayreuth rennen, wie ein kleiner Pudel, dem man gepfiffen hat.«

»Ich? Eher ließe ich mir den Kopf abhacken, als daß ich hinginge.«

»Reden Sie nur nicht so große Töne. Sie werden hingehen.«

»Sie werden schon sehen, daß ich nicht hingehe.«

»Sie werden schon sehen, daß Sie doch hingehen.«

Er beschloß heldenmütig, daß er es Cosima jetzt beweisen würde. Er wollte sie empfindlich strafen: dieses Jahr ging er nicht nach Bayreuth. Erst im nächsten Jahr.

Als Cosima aus dem Zuge stieg, stand auf dem Bahnsteig ein gebrechlicher, gebeugter alter Mann. Mit aufrechter Haltung und energischen Schritten kam Cosima auf ihn zu. Er fiel seiner Tochter um den Hals und begann bitterlich zu schluchzen. Seine Brust keuchte, er hustete und weinte, nach Atem ringend.

»Machen wir kein Aufsehen, Papa. Kommen Sie.«

Sie faßte ihn unter dem Arm und führte ihn heraus. Aber der Vater konnte nicht mehr so eilen. Langsam, Schritt für Schritt, gelangten sie zu dem Wagen. Als sie Platz nahmen, begann der Alte abermals zu weinen. Seit Wagners Tod sah er seine Tochter jetzt zum ersten Male wieder.

»Papa«, sagte Cosima, als sie in der Gärtnerei nebeneinandersaßen und er weinend die Hand der Tochter in der seinen hielt, »Sie sind sicherlich der Meinung, mir mit Recht zürnen zu können. Vom Gegenteil kann ich Sie sowieso nicht überzeugen. Ich muß Ihren Groll ertragen. Aber auf Daniela dürfen Sie nicht böse sein. Ich bin in ihrem Namen gekommen, um Sie zu ihrer Hochzeit einzuladen. Daniela heiratet Anfang Juli einen ausgezeichneten jungen Mann.«

»Wen?«

»Es ist der Kunsthistoriker Henry Thode. Aber das sagt Ihnen wenig, Sie kennen ihn ja nicht. Wenn Sie bei dieser Hochzeit nicht anwesend wären, würde Daniela untröstlich sein, und wer weiß, was die Eltern Thodes sich denken würden. Kurz und gut, Daniela läßt Sie durch mich bitten, zu ihrer Hochzeit nach Bayreuth zu kommen.«

»Und du bittest mich nicht?«

»Ich kann Sie doch nicht bitten, weil Sie mir böse sind.«

»Vergessen wir das Ganze, Cosette, willst du? Und sei wieder meine liebe, gute Tochter. Küsse mich.«

Cosima küßte ihn auf beide Wangen. Der alte Mann strahlte vor Glückseligkeit.

»Ich komme, selbstverständlich komme ich. Ich will auch zu den Festspielen kommen. Ich werde unbedingt kommen.«

»Auch damit haben wir gerechnet. Die Villa Wahnfried wäre zu unbequem für Sie. Zu dieser Gelegenheit ist dort stets ein sehr großer Betrieb, aber bei Frau Fröhlich bekommen Sie wieder Ihre gute, kleine Wohnung. Dort stört Sie niemand.«

»Mir soll's überall gut sein; die Hauptsache ist, daß ich bei euch sein kann.«

Er konnte sich nicht genug an seiner Tochter erfreuen. Dauernd hielt er ihre Hand und streichelte sie. Er fragte sie über die Kinder aus. Wie geht es dem Urenkel Gravina? Was machen die beiden Kleinen? Will Fidi immer noch Baumeister werden? Wer tritt alles im Sommer in Bayreuth auf? Und noch hundert andere Fragen. Wenn Cosima eine Woche lang geblieben wäre, hätte er immer noch Fragen vorrätig gehabt.

Cosima blieb aber nicht eine Woche lang. Nachdem sie ihrer Sendung genügt hatte, fuhr sie auch sogleich zurück. Den Greis hatte die Freude so erschüttert, daß er krank wurde. Er konnte sich kaum noch vorwärts schleppen mit seinen geschwollenen, schweren Füßen. Frau von Meyendorff, die den Alten nun tagelang damit quälte, wie schwach und leicht zu beeinflussen er sei, machte ihn nur noch kränker, und eines Tages schaffte sie ihn mit Gewalt nach Halle, in die Stadt der Ärzte, um über ihn ein Concilium abhalten zu lassen. Die Ärzte untersuchten den alten Herrn ganz eingehend.

»Was ist das in meinem Fuß?« erkundigte er sich.

»Wasser«, antwortete nüchtern der eine Arzt.

»Dann ist es gut. Denn glauben Sie nur nicht, daß ich nicht weiß, was Wasser bedeutet. Soviel verstehe auch ich noch von Ihrer Wissenschaft. Wie lange kann ich noch leben?«

»Das kann niemand sagen. Wenn Sie auf sich achten, Meister, können Sie noch eine ganze Zeit leben.«

»Das brauche ich nicht mehr. Ich will nur noch bis August aushalten, weil ich im Juli nach Bayreuth fahren muß. Den ›Tristan‹ und den ›Parsifal‹ muß ich sehen. Kann ich bis dahin noch leben, wie?«

»Aber natürlich. Sie müssen sich nur sehr schonen.«

Sie fuhren zurück nach Weimar. Er arbeitete dort noch ein wenig. Er hatte von sechs großen Ungarn ein musikalisches Porträt zusammengestellt, das berichtigte er noch an einzelnen Stellen. Széchenyi, Deák, Eötvös, Ladislaus Teleki, Vörösmarty, Petöfi waren die sechs großen Ungarn. Er wollte noch ein letztes Bekenntnis zum Ungartum ablegen. Aber die Arbeit ging nur sehr schwer voran. Er war fast schon blind geworden, so hatten sich seine Augen verschlechtert. Briefe konnte er nur noch lesen, wenn sie mit roter Tinte und mit sehr großen Buchstaben geschrieben waren. Sein Schüler Göllerich las ihm alles vor.

Als die Hochzeit herankam, fuhr er nach Bayreuth. Dort verlebte er Stunden des reinsten Glücks, jedermann war liebenswürdig und liebevoll zu ihm, sogar Cosima war auffallend freundlich und fürsorglich zu ihm vor der Hochzeitsgesellschaft. Mit lachendem Herzen fuhr er wieder ab und konnte kaum erwarten, zurückzukehren, wenn das Theater eröffnet wurde. Murmelnd flehte er ab und zu: »Nur so lange laß mich noch leben, mein lieber, guter Gott, nur so lange laß mich noch leben.«

Bei Munkácsy in Colpach fühlte er sich diesmal sehr wohl, auch Haynald war da. In dem schönen Park verbrachten sie geruhsame Stunden miteinander, sprachen über die Verteilung der Stipendien, musizierten und waren guter Dinge. Der Greis ging sogar noch nach Luxemburg, um noch einmal für einen wohltätigen Zweck öffentlich Klavier zu spielen. Am letzten Tage, als er schon vor Aufregung zitterte und die Stunde der Abreise ungeduldig herbeisehnte, ging er noch zur Frühmesse. Der Morgen war kühl, regnerisch und ungemütlich. Ein kalter Schauer überlief ihn, als er aus der Kirche heraustrat. Er wußte sofort, daß er sich erkältet hatte.

Am 21. Juli kam er in Bayreuth an. Dort traf er sich mit Lina, nach der er telegraphiert hatte. Abends fühlte er, daß er fieberte. Anderntags um sechs Uhr kam Cosima herüber zu ihm. Sie frühstückten gemeinsam, dann ging Cosima für den ganzen Tag ins Theater. Er begann stark zu husten, seine Brust schmerzte sehr. Am liebsten hätte er sich zu Bett gelegt, aber das ging nicht. Er hatte Cosima versprochen, das Mittagessen bei der Gräfin Hatzfeld einzunehmen. Nachmittags versuchte er Karten zu spielen, aber seine Hand zitterte so heftig, daß er die Karten nicht mehr halten konnte. Trotzdem legte er sich noch nicht zu Bett, weil er Cosima versprochen hatte, zu einer Abendgesellschaft nach Wahnfried zu kommen, wo mehrere Menschen ihn kennenlernen wollten. Er ging auch hinüber, die Welt drehte sich ein wenig mit ihm, und er hustete stark.

»Das ist schon ein Kreuz«, sagte er zu einem fremden Herrn, »die Zigarre schmeckt mir auch nicht mehr.«

Als er in seine Wohnung zurückkehrte, war das Fieber sehr hoch gestiegen. Am anderen Tage stand er trotzdem wieder auf, weil er einige Besuche empfangen mußte, Ausländer, die ihn als Berühmtheit betrachten wollten. Und nachmittags um vier Uhr begann ja schon der Parsifal. Er saß in der Familienloge an eine Säule gelehnt, erschöpft, fiebrig, das Taschentuch vor den Mund haltend, um mit seinem andauernden Husten die Vorstellung nicht zu stören.

»Übermorgen wird ›Tristan‹ aufgeführt, Papa«, sagte Cosima nach der Vorstellung. Sie kommen doch hoffentlich? Es ist sehr wichtig, daß Sie kommen.«

Er nickte bloß mit dem Kopf, denn er hustete bereits so stark, daß er nicht antworten konnte. Er ging nach Hause. Am anderen Tage behelligten ihn wiederum Fremde, die als Empfehlung Visitenkarten von Cosima vorzeigten. Mit geduldiger Nachsicht antwortete er auf ihre neugierigen Fragen; nur eine zudringliche Amerikanerin, die sogleich etwas vorgespielt haben wollte, fertigte er etwas schroff ab. Das war am Freitag. Am Sonnabend war »Tristan« an der Reihe.

»Ich bitte Sie um Himmels willen«, flehte ihn Lina an, »gehen Sie nicht hin.«

»Ich muß. Cosima möchte es, und ich habe es ihr auch versprochen.«

Lina klagte und jammerte. Aber er ging hin. Bis zum Beginn der Vorstellung hielt er sich mit großer Anstrengung an der Logenbrüstung. Sobald es aber dunkel wurde, zog er sich zurück und überließ sich dem einschläfernden, halbdämmernden Rausch des Fiebers. Sobald aber die Pause kam, war er wieder an der Brüstung und applaudierte mit seinen zittrigen und fieberheißen Händen, damit es jeder sehen sollte.

Endlich gab er am Sonntag Linas Flehen nach, einen Arzt zu rufen. Landgraf, der Bayreuther Arzt, kam zu ihm. Als erstes untersagte er dem Kranken strengstens jeglichen Alkohol. Die Speisen schickte man ihm aus Wahnfried herüber. Die konnte er aber mit seinem zahnlosen Munde nicht essen, da er seit langer Zeit nur noch gekochte Muscheln, geriebene Kartoffeln und Ei mit Kalbshirn zu sich nahm; aus Wahnfried hatte man ihm jedoch Fleisch geschickt. Lina ging hinüber nach Wahnfried, um Bescheid zu sagen, aber man ließ sie gar nicht ein. Cosima ließ ihr lediglich ausrichten, daß es ratsamer wäre, den Kranken in Ruhe zu lassen, den sie ja sowieso zugrunde gerichtet habe. Der Kranke nahm den ganzen Tag nichts anderes zu sich als Mineralwasser. Er hätte viel für einen einzigen Kognak gegeben. Lina saß weinend am Rande seines Bettes, wagte aber nicht, ihm einen Kognak zu bringen. So verging auch der Montag. Lina hatte man von drüben energisch mitgeteilt, daß ihre Anwesenheit bei dem Kranken nicht mehr erwünscht sei.

»Ich gehe jetzt fort«, flüsterte sie ihm zu, »in der Nacht komme ich zurück. Ich werde schon einen Ausweg finden.«

Um Mitternacht tastete sie sich im Dunkeln zum Bett. Der Kranke schlief nicht. Sie setzte sich auf den Bettrand.

»Wie geht es Ihnen, mein Liebling?«

»Schlecht. Ich habe zu diesem Arzt kein Vertrauen. Er sagt immer nur, daß es mir besser geht, und ich fühle mich immer nur noch schlechter. Hast du mir keinen Kognak gebracht?«

»Nein. Ich habe mich nicht getraut. Vielleicht hat der Arzt doch recht.«

Eine Weile lang quälte er sich mit der brennenden Sehnsucht nach Alkohol, dann schlief er ein. Lina kletterte wieder aus dem Fenster. Am anderen Tage kam sie schon frühzeitig in dem Glauben, daß man sie um diese Zeit nicht sehen würde.

»Wie geht es Ihnen heute?« erkundigte sie sich besorgt.

»Es geht mir leider nicht besser. Ich bin gleich wieder aufgewacht und habe bis jetzt noch kein Auge geschlossen.«

Da trat Cosima ein. Sie sah Lina.

»Entfernen Sie sich bitte sofort. Ich werde Frau Fröhlich dafür verantwortlich machen, daß hier niemand, aber auch niemand seinen Fuß hereinsetzt. Ich lasse den Kranken nicht aufregen und zugrunde richten. Gehen Sie, Fräulein! Wie geht es Ihnen, Papa?«

»Schlecht.«

»Ich habe wegen eines anderen Arztes nach Erlangen telegraphiert. Er wird morgen da sein und Ordnung schaffen. Dieser Landgraf kann nichts. Haben Sie nur noch bis dahin Geduld. Diese Krankheit wird schon nicht so ernst sein.«

Damit ging sie wieder. Lina war schon zuvor gegangen. Der Kranke blieb allein. Niemand war bei ihm. Sein Schüler Göllerich lag mit derselben Erkältung und ebenfalls von Fieber geplagt darnieder. In qualvoller Einsamkeit verrannen die Stunden. Er sehnte sich gierig nach Alkohol, aber er bekam keinen. Den ganzen Tag war er allein. Abends fand drüben eine Gesellschaft statt. Durch das offene Fenster klang die Musik zu ihm herüber. Und man spielte nur Wagner, ausschließlich Wagner. Nach einem Liszt-Stück schmachtete er ebensosehr, wie nach einem Glas Kognak.

Am anderen Tage kam Fleischer, der Arzt aus Erlangen. Er stellte sofort eine beiderseitige Lungenentzündung fest. Cosima war bei der Konsultation anwesend und erschrak sichtlich. Sie erbot sich, hier im Vorzimmer zu schlafen und auch tagsüber öfter herüberzukommen. Lina aber dürfe nicht hereingelassen, sie solle wieder fortgeschickt werden, befahl sie dem Diener.

Wie durch einen Nebelschleier sah er, daß sich seine Tochter noch einige Male über ihn neigte. Dann begann er über Carolyne nachzudenken. Es fiel ihm ein, daß mit Carolyne etwas ganz Fürchterliches geschehen war, irgendeine ihr ganzes Leben vernichtende Strafe … Was war das denn nur? Er konnte seine Gedanken nicht sammeln … wie war das denn nur …? Eine Strafe für ihr ganzes Leben … ach ja, der Papst hatte Carolynes zweiundzwanzigbändiges Werk auf den Index gesetzt …

Dann schwebte mit einem Male Carolyne neben ihm, jung, im Brautkleid, und faßte ihn bei der Hand. Aber er riß seine Hand zurück, weil er Liline erblickte. Liline kam auf ihn zu, lächelnd, errötend. Und er umarmte Liline, drückte sie heftig an sich und suchte mit seinem Mund ihren Mund. Da küßte er sie zum ersten Male. Dazu erklang eine feenhafte Musik.

Plötzlich zerfloß die Vision und auch die Musik schwieg. Aus der Ferne kam ein dumpfes Dröhnen, und er fühlte sich mit einem Male sehr, sehr leicht. Er wuchs, wuchs, wurde noch größer, stieg empor, beschattete die ganze Welt. Mit einem gewaltigen Schwung flog er der Unendlichkeit zu und wußte, daß jetzt die Sekunde da war, in der er restlos eins mit dem Allmächtigen wurde.

Da fand er zum ersten Male jene vollkommene Hingabe, die er in seinem ganzen Leben umsonst und so sehnsüchtig gesucht hatte. Und nicht mehr mit seinem Verstand, sondern mit seinem ganzen seelischen Bewußtsein begriff er jetzt, daß er immer nur das gesucht hatte.

*


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