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Zehntes Kapitel

Der Mensch denkt, Gott lenkt. Als Kitty am Freitag mittag nach Hause kam, war ihr erstes, Ida nach dem Befinden der Frau Direktor zu fragen. Diese lag schon mehrere Tage und fühlte sich gar nicht wohl.

Es kam Kitty beinahe herzlos vor, daß sie ihrem Vergnügen nachgehn sollte, während die gütige Pflegemutter krank lag.

»Frau Direktor geht es besser, aber Fräulein Sophiechen ist krank!«

Erschrocken legte Kitty ihre Büchermappe auf den Glasschrank und ging beklommenen Herzens leise in Sophies Zimmer.

Die Vorhänge waren herabgelassen; es roch nach Arznei.

»Sophiechen!« sagte Kitty leise und trat an das Bett ihrer Freundin.

Vor wenigen Stunden erst hatte sie Sophie gesund verlassen, und jetzt lag diese still und blaß in den Kissen.

»Wie ist denn das so schnell gekommen?« fragte Kitty angsterfüllt.

Leise kam die Antwort: »Ich fühlte mich schon tagelang nicht recht wohl, wollte aber den furchtbaren Halsschmerzen nicht nachgeben, und gurgelte heimlich. Aber nun ging's nicht mehr, ich bekam Schüttelfrost. Die arme Mama, die selbst krank ist, ließ den Arzt holen. Erst in vier bis fünf Tagen darf ich aufstehn, muß pinseln lassen, was Ida lernen muß, Umschläge machen u. s. w. – Was wird Papa sagen? Und mein armes Kittchen reist bangen Herzens aus diesem Lazarett fort!«

Kitty antwortete nicht.

»Armes Herzel!« sagte sie dann leise, küßte Sophies fleißige Händchen und legte ihr Jackett und Hut ab.

Ida hatte bloß für zwei gedeckt. Die beiden Kranken tranken nur Eiswasser.

Kitty legte mit sanfter Hand einen Umschlag um Sophies Hals.

»Sei nicht ängstlich, der Arzt versicherte mir, es sei nicht ansteckend, Kittchen! Oh, wie gut du bist! Wie schön du das machst! Ida ist lange nicht so geschickt! Das kann man auch nicht verlangen! – Besuche auch Mama mal! Hast Nachmittags frei? Das ist schön, da genießen wir uns noch!«

»Du sollst nicht viel sprechen, Sophie,« sagte Kitty, »da lese ich dir etwas vor!«

»Ach ja!«

Sophie drückte Kittys Hand. Dann stand das junge Mädchen am Bett der Pflegemutter. Wie dankbar war diese, daß Kitty sich der zwei Leidenden so liebevoll annahm! –

Ganz allein saßen der Herr des Hauses und seine Pflegetochter bei Tisch. –

Eine Stunde später rückte Kitty, die Mama versorgt hatte und deren sanften Schlaf meldete, an Sophies Bett einen Stuhl und nahm ein Buch zur Hand.

Leise und sanft klang die Stimme. Sophie lag mit dankbar gefalteten Händen und lauschte. Nächst Vater und Mutter hatte sie noch niemand so innig lieb gehabt wie Kitty. –

Sonnabend war es. Im alten Schlosse herrschte reges, freudiges Leben. Strahlende Augen, erwartungsvolle Freude überall. Minna machte alles verkehrt, Edith hatte rote Wangen, im Wohnzimmer war bereits eine festliche Tafel gedeckt.

Da schellte es. Der Justizrat kam gerade vom Amt und nahm dem Briefboten einen Brief, an ihn adressiert, ab.

»Edith!« rief er. Die Gerufene kam. Minna horchte auch.

Im Vorsaal öffnete der Justizrat den Brief, welcher die Handschrift seines Freundes, Kittys Pflegevaters, trug. Hastig las er.

»Sie kommt nicht!« rief er. Minna schoß herbei. Edith blickte erschrocken.

»Um Gottes willen, doch nichts passiert?« rief sie, da sie einen Glanz in den Augen ihres Vaters sah.

Laut las Edith:

»Lieber Freund!

Mein Haus hat sich in ein Lazarett verwandelt! Doch erschrick nicht. Wer als freundlicher, hilfsbereiter Engel von Bett zu Bett wandert, ist unsre Kitty!

Und nun Hut ab vor diesem tapfern Mädel! Hat sich auf die Heimat gefreut wie ein Kind auf Weihnachten! Das Köfferchen war seit acht Tagen gepackt, morgen sollte es fortgehn! Da tritt sie heute an die Krankenbetten, und ein Entschluß reift in ihr, der dem in sehnsüchtiger Liebe nach daheim verlangenden Herzen nicht leicht geworden sein mag!

Als wir vorhin bei Tisch saßen, sagte sie: ›Herr Direktor! Ich reise nicht! Ich bleibe bei Tante und Sophiechen! Aber, bitte, schreiben Sie es Papa!‹

Ich drang wiederholt in sie, ich wollte das Opfer durchaus nicht annehmen! Da sagte sie:

›Daheim sind sie gottlob gesund! Hier bin ich nötig!‹

Sie blieb fest und standhaft, die kleine tapfere Kitty! Es war ein Sieg über sich selbst! –

Als ich es den Meinen meldete, weinten sie vor Rührung.

Jetzt sitzt Kitty an Sophies Bett und liest ihr vor. Sie schickt Dir und Fräulein Edith tausend Grüße, und Ihr sollt nicht böse sein!

Ein liebes, tapferes Mädchen, Eure, – unsre Kitty!«

Noch ein paar Schlußworte.

Minna ging, den Schürzenzipfel an den Augen, in ihre Küche.

Edith und ihr Vater fielen sich in die Arme.

»Gelt, unser Putt!« sagte der Justizrat stolz, »jetzt ist das Kind, wie es sein soll! Hat Eigenliebe verlernt, stellt fremde Wünsche über die eignen! Unser braves Puttchen! Wie mich das freut! Der liebe, tapfre Kerl! Erscheint mir wie eine kleine Heilige! Wahrlich, das macht die Sehnsucht doppelt groß nach ihr! – Nun, weine nicht, Edith! Haben wir nicht die größte Ursache, auch ohne Kittys Dabeisein morgen ein überglückliches Pfingstfest zu feiern?«

Edith trocknete die Tränen, ein sonniges Glück leuchtete plötzlich über ihr schönes Gesicht.

»Gerade Kittys wegen hatte ich mich doppelt auf morgen gefreut!« sagte sie.

Aber selbst diese Enttäuschung vermochte keinen Schatten auf das Glück zu werfen, das wie Sonnenglanz über dem jungen Mädchen lag.

Ein paar Stunden später ging eine Pfingstkiste an Kitty ab. Mit rotgeweinten Augen trug Minna diese zur Post, unterwegs überlegend, daß es doch gar kein bißchen Freude mehr gäbe und daß die Kitty ein richtiger Engel geworden sei! –

Im Hause des Direktors ging in dieser Nacht von Zeit zu Zeit ein barmherziges Schwesterchen von Bett zu Bett, legte kalte Kompressen auf fieberheiße Stirnen, flößte Eislimonade über brennende Lippen.

Nicht eine Minute lang hatte Kitty ihren Entschluß bereut. Im Gegenteil, eine zum ersten Male im Leben gefühlte Befriedigung erfüllte ihr junges Herz, das in der Fremde gelernt hatte, edel und gut zu sein, nicht hoch von sich, nicht immer zuerst an sich zu denken!

Wie Himmelsglanz legte es sich in stiller, einsamer Nacht in Kittys Seele. Sie kniete weinend nieder und dankte Gott, daß er sie gelehrt hatte, eine andre zu werden. Immer besser wollte sie werden, aufgehn in Liebe und Sorge für die, die Gott ihr gegeben hatte! Ach, wie schön ruhte es sich in majestätisch stiller Nacht in dem tiefen Sessel, der an Sophies Bett stand; das Herz so ruhig, das Gewissen erfüllt von dem süßen Bewußtsein: Du tust das Richtige, du machst deine Umgebung glücklich! –

Sophiechen machte Pläne für den Sommer, bis Kitty ihr sanft die kühle Hand auf den Mund legte und sagte: »Jetzt ganz still sein, mein Herzel!« –

Die Sonne schien golden in die Krankenzimmer herein, es war Pfingsten! Sophie hatte von Ida Maien besorgen lassen, so standen überall die großen, zartgrünen Sträuße und dufteten nach Frühling.

Kitty brachte die Kiste, mit der Edith sie überrascht hatte und öffnete sie auf Sophies Wunsch an deren Bett. Da kamen ein prächtiger Kuchen zum Vorschein und Blumen und Konfekt! Und Briefe! Aber da lag etwas, das Kitty mit Befremden in die Hand nahm. Ein großes, weißes Couvert.

Sie zog das Doppelblatt heraus und las. Dann schrie sie jubelnd:

»Edith verlobt! Edith ist Braut! Ach, Sophie, da lies! Schnell! Schnell! Dann zeige ich's der Mama!«

Sie konnte es nicht fassen, ihre junge Edith, kaum achtzehn Jahre alt, schon Braut!

»Ach, weißt du, wer dieser Herr Landrat ist, Sophie? Der Sohn von dem alten Geheimrat, der uns mal besuchte! Oh, wie ist das nur gekommen? – Meine Edith!«

Sie lachte und weinte in einem Atem, lief zu Mama und Papa Rothe, zu Ida. Dann las sie die Briefe. Heute feierten sie Verlobung! Sie vermißten ihre Kitty wohl, aber trotzdem sind sie stolz und bis zu Tränen gerührt über Kittys freiwilligen Verzicht. Edith beschrieb ihr Glück, schilderte ihren Bräutigam, der ebenfalls seiner kleinen Schwägerin ein paar Zeilen schrieb. Vor einem Jahre war die Hochzeit nicht; der Bräutigam blieb nur wenige Tage da. Auch der Geheimrat schrieb, er sei der Glücklichste im ganzen Hause! Denn dem Papa Justizrat würde ein Kind genommen, er aber gewönne eins, und was für eins! Das sei für ihn das verkörperte Ideal edelster Weiblichkeit, es gäbe nur eine solche Edith! –

Tante Melitta nahm an der Feier teil. Auch sie hatte schnell an Kitty ein Briefchen geschrieben. Das junge Mädchen las es mit Rührung: »Sieh, mein Kind, so gefällst Du mir! So bist Du die echte Tochter Deiner Mutter! Du herzige Kitty! Unsre Editha ist eine rührend schöne Braut. Das große Glück hat sie nicht übermütig, sondern womöglich noch bescheidener gemacht.

Und denke Dir, meine Kitty, mir alten Tante Melitta ist es mit Gottes Hilfe vergönnt, der dritten Braut den Myrtenkranz in das goldene Haar zu legen! Vor langer Zeit dem Großmütterlein, dann der Mutter, jetzt der Tochter!

Daß für mich alte Einsame die Sonne untergeht, wenn Editha mich verläßt, weiß ich wohl! Aber dann scheint mir vielleicht bald die ewige Gnadensonne in einer bessern Heimat!

Gott schütze Dich!

Deine Tante
Melitta von Dehring.

»Ach, du liebes Tantchen!« sagte Kitty mit nassen Augen, »du mußt noch lange leben!« –

Kitty schrieb sogleich nach Hause und malte die Zeit aus, wo sie mit Sophie käme! Und ihrer Edith lag sie im Geist am Hals und küßte sie stürmisch! Viel schrieb sie; Liebe, Verständnis strömten ihre Zeilen aus.

Am vierten Tage ward es mit Sophie besser, sie stand auf und konnte ihre Mama besuchen.

Kitty saß dabei.

Da sagte Mama plötzlich:

»Kittchen, ich hab' eine Idee! Mit Sophiechen geht es schnell vorwärts, ich sehe es! Und du armes, treues Kind bist um so viele Freuden gekommen unsertwegen! Da dachte ich, du fährst am Freitag nachmittag noch nach Hause, bleibst bis Sonntag. Es sind nicht viel Tage, aber du warst doch daheim, du kannst Edith persönlich gratulieren! Liebling, tu es! Unser Kind ist bald wieder frisch und gesund!«

Ein rosiger Schein färbte blitzschnell das blasse, schmale Gesicht Kittys. Sie verschlang die Hände. Daheim sein! Nur ein paar Tage! Wieder unter dem väterlichen Dach schlafen! Wieder die Glocken der Heimat hören! Großer Gott!

Bei diesem Traum von Glück stürzten dem Kind die hellen Tränen aus den Augen.

Kitty sprang auf, warf sich an die Brust ihrer Pflegemutter und rief: »Ach ja, ich tue es! Sophiechen, kannst du mich entbehren?«

»Morgen um zwei Uhr sitzt du in der Bahn! Diese Nacht schläfst du dich noch einmal gründlich aus! Und schreibst kein Wort nach Hause! Überraschst alle!« rief Sophie.

Kitty tanzte im Zimmer herum, sie war außer sich vor Seligkeit! Morgen um diese Zeit war sie zu Hause! Ach, gibt's wohl ein himmlischeres Glück als das, wenn ein Kind die Heimat wiedersieht? –

Nun holte Kitty wiederum die Reisetasche, diesmal mit ganz andern Gefühlen. Sie zählte die Stunden, sie malte sich alles aus, eine unendliche Seligkeit füllte ihr Herz.

Oh, ich dumme, kleine Kitty, dachte sie, wie hab' ich gejubelt, fortzukommen von daheim, und wie glücklich bin ich jetzt, wenn ich Heimatluft atmen kann! Ach, wenn ich doch niemals wieder fort brauchte, immer zu Hause bleiben, alle Gelehrsamkeit an den Nagel hängen könnte, für die geliebten Meinen sorgen dürfte! Doch das ist nur ein schöner Traum! Papa glaubt an mein Können, meinen Eifer, er will, daß seine Jüngste ihm Ehre macht! –

Oh, wie hatte diese Jüngste ihre große Schwester unterschätzt, sie für so wenig lieb und anziehend gehalten. Und jetzt mußte sie erfahren, daß Edith talentvoll war und daß sie, so jung noch, schon von einem hochstehenden Manne als sein trautes Weib begehrt worden war! Und welch hohes Lob stellte ihr der alte, liebe Geheimrat aus! Edith könnte stolz werden! Aber das wird sie niemals! Sie gehörte zu den seltenen, vornehmen Naturen, welche das Glück bescheiden macht, die es hinnehmen als ein unverdientes Gnadengeschenk Gottes. –

Am Abend saß Kitty noch an Sophies Bett. So lieb hatten die beiden Freundinnen einander gewonnen, daß es ihnen schwer ward, sich für einige Tage zu trennen.

»Wenn du wiederkommst, bin ich, so Gott will, ganz gesund!« sagte Sophie. –

Kitty schlief wenig, aber als Sophie ihr am Morgen zurief, lag die treue Pflegerin doch in tiefem Schlaf.

Als Kitty erwachte, stand Sophie an ihrem Bett, den dampfenden Kaffee auf einem Brettchen, und sagte: »Nun aber schnell, mein Kittchen, in zwei Stunden geht dein Zug!«

Alle halfen Kitty, die sich eine große Liebe erobert hatte.

Und als die Maiensonne am goldensten schien, da fuhr der Zug aus der düstern Bahnhofshalle hinaus in die blühende Gotteswelt.

Kitty saß allein, sie saß wie im Traum.

Stunde um Stunde verging, schon sah sie Berge, hörte den heimatlichen Dialekt. Die Sonne sandte schräge Strahlen. Auf den dunklen Tannenwäldern lag es wie ein rötlicher Schimmer.

Kitty saß am offenen Fenster und atmete tief die reine, kräftige Waldluft ein. Ach, tat das wohl! Ihre Augen wurden feucht.

Immer näher kam sie dem Städtchen. War es denn nur möglich, daß sie in einer halben Stunde daheim saß bei Papa und Edith?

Jetzt sah sie die lange Pappelallee, die ersten Teiche, die hohen Bäume des Friedhofs.

»Mama!« sagte sie ganz leise.

Immer langsamer fuhr der Zug. Und nun kam der Bahnhof.

Kitty war daheim.

Zitternd vor Glück stieg sie aus, nahm ihre Handtasche und wanderte in die Straßen hinein. Sie sah alles wieder, aber wie im Traum. Es war zu überwältigend.

Als sie gegangen war, da hatte sich das Laub gefärbt, da waren kalte Herbstwinde über die Berge gegangen. Jetzt lachte der Frühling herab.

In den Gärten arbeiteten die Leute.

Kitty nickte jedem zu, eilte aber schnell weiter.

Durch ein Gäßchen, das abseits lag, ging sie; es führte gerade an das Schloß.

Hier begegnete ihr niemand, nur ein paar Blondköpfe spielten Kreisel. Kitty kannte sie, es waren die Kinder des Bäckers, bei dem sie oft etwas geholt hatte.

Auch an Änne und Friedel dachte sie, an Tante Melitta. Alle mußten besucht werden! –

Da hob die Rathausuhr an zu schlagen, sieben.

Jetzt setzen sie sich zu Tisch! dachte Kitty.

Und nun lag es vor ihr, das alte, graue Schloß!

Leise, blaß vor Erregung, schritt Kitty die schmale Treppe hinauf, die in den Garten führte. Sie überflog ihn, dann sah sie hinauf an die Fenster. Ach Gott, wie lieb umfing sie die Heimat!

Leise schritt sie ins Haus. Das kühle, vornehme Treppenhaus! Nun ein paar Stufen hinauf. Die Türe stand offen. Alles still. Minna mußte fort sein. Aber aus dem Wohnzimmer kamen Stimmen.

Kitty legte Schirm und Reisetasche hin, schlich sich mit zitternden Knien an die Türe, hinter der sie Papa sprechen hörte, und öffnete sie.

Da stand sie auf der Schwelle. Wie im Nebel sah sie zwei Gestalten am Tisch sitzen, Papa und Edith.

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille. Dann ein Schrei:

»Papa! Edith!« und

»Unser Kittchen!«

»Mein Putt!«

Und das blasse Geschöpfchen, das heimgeflogen war mit seinem Herzen voll Sehnsucht und Liebe, ruhte am Herzen des Vaters und an der Brust der Schwester.

Edith und Kitty ließen sich gar nicht los; Papa, der seine gewaltige Bewegung nicht zeigen wollte, rief endlich: »Edith, nun laß aber Kitty endlich Hut und Jackett ablegen! Und gib ihr was zu essen!«

Da lachten die beiden Mädchen unter Tränen.

»Ist's denn wirklich wahr?« fragte Edith immer wieder, und Kitty konnte sich nicht satt sehen an dem schönen Gesicht ihrer bräutlichen Schwester.

Draußen wurden Schritte laut.

»Geh,« sagte Edith, »sag Minna guten Tag!«

Kitty, deren dicke Flechten um den Kopf geschlungen waren, seit sie Gymnasiastin war, trat in die Küchentüre.

Minna starrte, als sähe sie einen Geist. Dann kannte ihre Freude keine Grenzen. –

Nun saß Kitty daheim, bei den geliebten Ihrigen. Sie konnte nur wenig von den guten Dingen essen, die Edith ihr vorsetzte. Sie ward satt von der Freude des Wiedersehens.

Ein Butterbrot in der Hand, stand sie auf und bat: »Seid nicht böse, ich muß erst alles betrachten!«

Sie sah sich die Bilder an der Wand an, ihrer Mama lebensgroßes Bild, um welches eine halbverwelkte Girlande von weißen Rosen lag, das Kinderbild: sie und Edith.

Und da stand ja auf einem Seitentischchen ein neues Bild, es stellte einen jungen Mann dar.

»Dein Schwager!« sagte Edith lächelnd, die längst bei Kitty stand, einen Arm um deren Schulter legend.

In alle Zimmer gingen sie, Papa in der Mitte. Und dabei mußte Kitty erzählen. Und der Papa Justizrat sah, daß sein Kind etwas Müdes hatte, daß es gar nicht so toll schien mit dem Lernen. Das machte ihm Sorge. Ein wenig ernst, schmal hatten das Stadtleben und das viele Studieren seinen lustigen Vogel gemacht!

Und wie fügsam, wie rührend lieb und rücksichtsvoll war sein Putt geworden! Ja, die Fremde hatte sicher ihr Gutes gewirkt, hatte die Fehler in Kittys Wesen beseitigt.

Kitty hatte im innersten Herzen immer nur den einen Wunsch: Ach, könnte ich hier bleiben! Brauchte ich nie mehr fortzugehn! Was wollte ich alles leisten, wollte Edith eine folgsame Schülerin sein. –

Als Papa seine Kitty lobte ihrer Aufopferung für Sophie wegen, wehrte sie verlegen ab. –

Droben in ihrem Stübchen stand sie, alles war unverändert.

Immer hätte Kitty schluchzend rufen mögen: laßt mich doch hier! –

Noch lange saßen die drei beisammen; der Schwiegervater Ediths war bei einer befreundeten Familie, er wohnte im Hause, und Edith freute sich schon auf die Überraschung morgen.

Unendlich schwer lag Vater und Edith der Gedanke auf dem Herzen, daß man Kitty in wenigen Tagen wieder hergeben mußte. Wie ein Vögelchen, das mit gebrochenen Flügeln ins Nest heimflattert, kam sie ihnen vor.

Und doch – wußte man denn, ob sie nicht mit ganzer Seele auf ihr hohes Ziel lossteuerte? Sie hatte ja noch nie geklagt! –

Am Abend saß Edith an Kittys Bett. Wie zärtlich war Kitty zu ihr! Wie blickte sie voll Liebe in das schöne Gesicht der Schwester!

Und Minna kam und sagte ihrem Kittchen gute Nacht.

»Wie lieb seid ihr alle zu mir!« sagte Kitty und ließ die Hand Ediths nicht los.

Von ihrem Verlobten mußte Edith erzählen, von Änne, von Tante Melitta.

Dann sah Edith, daß die langen, seidenen Wimpern gesenkt waren, daß Kitty, ihre kleine, müde Kitty, eingeschlafen war. –

In der Nacht erwachte Kitty. Ein silberner Schein erfüllte das Stübchen. Sie mußte sich erst besinnen, wo sie war.

Dann stand sie auf und stellte sich an ihr Fenster. Ach, wie friedlich sah es in der schmalen Straße aus! Drüben sah Kitty ein Stück vom altertümlichen Rathaus, vom Markt.

Der Mondschein lag auf allem, und in die feierliche Stille hinein schlug es eins vom Kirchturm.

»Ich sterbe, wenn ich wieder fort muß!« seufzte Kitty, »lieber Gott, laß mich hier!« –


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