Annie Hruschka
Schüsse in der Nacht
Annie Hruschka

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XIX.

»Mein Gott – wie konnte ich nur darauf vergessen,« stammelte sie ratlos und verwirrt zu Yolanthe aufblickend, die neugierig näher getreten war. »Sephine gab sie mir, als wir nach Tisch hinüberkamen.«

»Bah, es wird nichts besonderes sein,« meinte Yolanthe, »von der Schneiderin wahrscheinlich. Sonst weiß ja niemand, daß wir hier sind.«

Frau Isabel reichte ihr das Telegramm.

»Bitte, mache du es auf. Ich habe immer Angst vor Depeschen . . .« sagte sie naiv.

Yolanthe riß das Telegramm auf und las halblaut: »Wünsche sofortige Heimkehr, die im eigenen Interesse dringend nötig ist. Erwarte Euch mit erstem möglichen Zug. Botstiber.«

»Woher weiß er denn, daß wir hier sind?«

Verwundert ließ Yolanthe das Papier sinken.

Frau Isabel zuckte ratlos die Achseln.

»Von mir nicht . . . ich begreife es nicht . . .« Dann setzte sie kläglich hinzu: »Wir werden wohl fahren müssen – was meinst du?«

Yolanthe warf ärgerlich den Kopf zurück.

»Warum denn? Etwa weil es Onkel Malchus beliebt, uns einfach wie entsprungene Verbrecher zurückzuzitieren? Ich muß gestehen, der gute Onkel Malchus nimmt sich ein bißchen viel heraus . . . fast als betrachte er sich nun als rechtmäßiges Familienoberhaupt. Aber das ist nur, weil du dich stets willenlos von ihm einschüchtern ließest, Mama! Nun glaubt er, wir müßten zeitlebens gehorsam nach seiner Pfeife tanzen!«

»Wir sind ihm viel Dank schuldig . . .«

»Bah – er uns auch,« gab Yolanthe trocken zurück, »schaltet und waltet er nicht wie der eigene Besitzer auf Kreuzstein? Mag er dort den Herrn spielen, ich habe nichts dagegen, aber uns soll er zufrieden lassen.«

»Du glaubst also, es ginge an, daß wir . . .«

»Hierbleiben! Selbstverständlich!«

Frau Isabel schwieg und atmete erleichtert auf. Yolanthes Auffassung von Malchus Botstibers Stellung in der Familie Rittler war ihr neu. Sie selbst hätte nicht gewagt, auf diesen Gedanken zu kommen, aber sie griff begierig darnach, denn er entlastete ihr Gewissen und gestattete ihr, hier zu bleiben, was sie, ohne es sich klar einzugestehen, im Augenblick brennend wünschte.

Conte Almassa sah Yolanthe verliebt an.

»Ich danke Ihnen . . .« flüsterte er, »ich wäre sehr unglücklich gewesen, wenn Sie sich zur Abreise entschlossen hätten. Ohne Sie würde Brioni allen Reiz verloren haben.«

Sie antwortete nur durch ein Lächeln.

»Es beginnt schon zu dämmern,« wandte sie sich an ihre Stiefmutter, »wollen wir heimkehren?«

»Ja gewiß – wenn du glaubst –«

Langsam schritten sie dem Hotel zu, dessen Bogenlampen eben aufflammten und einen weißen zitternden Schein weit hinaus auf die Wasserfläche warfen.

»Sind Sie müde? Wünschen Sie sich zurückzuziehen, gnädige Frau?« fragte Weltenberg.

Sie verneinte rasch.

»Es ist so schön und mild heraußen. Wir könnten wohl noch bis zum Abendessen ein wenig am Strande promenieren.«

Auch Yolanthe war dieser Ansicht und so wandelten sie am Hafendamm auf und ab.

Das Meer war ruhig, unzählige Sterne spiegelten sich auf seinen sanft schaukelnden Wogen, schweigend zogen Fischerbarken, deren bunt bemalte Segel aussahen wie die Fittiche märchenhafter Riesenvögel, durch die Flut.

Drüben an der Küste von Istrien schimmerten die Lichter Fasanas geheimnisvoll aus dem Dunkel.

Man sprach nur wenig und von ganz gleichgültigen Dingen. Aber Frau Isabel hatte die merkwürdige Empfindung, als erlebe sie etwas ganz Außerordentliches, Tiefes, Niedagewesenes. Irgend etwas, das sie froh und traurig zugleich machte. Es legte sich bang und beklommen um ihre Brust und raubte ihr fast den Atem.

»Ich fürchte, wir bekommen Scirocco,« murmelte sie, »fühlen Sie nicht – man kann kaum Atem holen?«

»Nein, die Luft ist kühl und klar,« antwortete Weltenberg ruhig, »es steht eher Bora zu erwarten. Die ist wild und rauh, aber das tut nichts – sie stählt die Nerven und härtet ab. Sie sind zu sehr an die Zimmerluft gewöhnt – ich möchte Sie einmal mit Gewalt hinaus in einen Borasturm führen und dann sich selbst überlassen. Und ich wette, Sie würden mit Erstaunen sehen, wie stark Sie sind!«

»Oh nein – ich bin nicht stark. Ich würde mir nie allein zu helfen wissen –«

»Das kommt Ihnen nur so vor. Junge Hunde wirft man ins Wasser und siehe – sie können auf einmal schwimmen!«

»Welch galanter Vergleich!«

Weltenberg blieb stehen und blickte seine Begleiterin ernst an.

»Ich will nicht galant sein – Ihnen gegenüber! Aber ich möchte Sie vieles lehren – vor allem: feststehen im Leben, auf eigenen Füßen, wie jeder rechte Mensch es soll. Man hat es Ihnen bisher viel zu bequem gemacht – meinen Sie nicht auch?«

Frau Isabel sah unsicher in das ernste Männerantlitz, das nicht so geistreich war wie viele andere, die sie im Lauf ihres Lebens erblickt hatte, aber dafür voll Kraft und männlicher Entschlossenheit.

Sie atmete tief auf.

»Vielleicht . . .« murmelte sie befangen. Zugleich tauchte ein stilles feines Gelehrtengesicht vor ihr auf. Das Antlitz ihres toten Gatten.

Er hatte nie so zu ihr gesprochen . . . so streng, fast kalt. Er hatte sie immer angebetet. Was würde er sagen, wüßte er . . .

Schaudernd hüllte sie sich in ihren leichten Mantel. Und plötzlich überkam sie das Gefühl eines begangenen Unrechtes an dem armen Toten.

»Ich bin herzlos, ich bin schlecht, leichtsinnig, gedankenlos . . .« dachte sie, »Achim war so gut! Ihm verdanke ich alles, was ich habe, und doch schmerzt mich sein Verlust nur wie der eines teuren Bruders . . . oh warum trauere ich nicht um ihn, wie die Frau um den Mann trauern soll, der ihr alles war?«

Tränen traten in ihre Augen.

Sie gab sich keine Rechenschaft darüber, woher ihr gerade jetzt Gedanken kamen, die ihr bisher ferngelegen. Warum sie plötzlich wußte, welche Gefühle sie natürlicherweise allein beherrschen sollten in dieser ersten Zeit ihrer Witwenschaft . . .

Aber sie begriff dunkel, daß Yolanthes Reden von dem »stets heilig bleibenden Andenken« des Toten nichts weiter waren als Ausreden eines kühl und lieblos fühlenden Herzens.

»Ich will nicht kühl und lieblos sein wie Yolanthe,« dachte sie aufgeregt, »ich bin es nicht . . .«

Rasch, mit gesenktem Kopf schritt sie vorwärts. Sie wagte nicht mehr, Weltenberg auch nur mit dem kleinsten Blick zu streifen.

Ihr war auf einmal, als graute ihr vor ihm. Als müsse ihr grauen. Als müsse sie ihn fliehen, wie die Sünde . . .

Sie näherten sich dem Hotel. Niemand von den vier Personen hatte bemerkt, daß ihnen schon geraume Zeit ein Herr in vorsichtiger Entfernung folgte. Als sie nun in den Lichtkreis der elektrischen Bogenlampen traten, wechselte er ein Zeichen mit zwei andern Herren, die wartend vor dem Hoteleingang auf und ab gingen.

Sie traten auf das erste Paar – Frau Isabel und Weltenberg zu.

»Baron Weltenberg?« fragte einer der Herren höflich.

»Ja. Sie wünschen?«

»Zuerst, daß Sie sich von der Dame hier verabschieden. Herr Kommissär Walter, Sie sind wohl so freundlich, die beiden Damen nach ihren Zimmern zu begleiten und ihnen dort das Nötige mitzuteilen.«

Dies wurde höflich, aber sehr bestimmt gesprochen. So bestimmt, daß niemand darüber im Zweifel sein konnte, die Aufforderung käme einem Befehl gleich.

Weltenberg wurde aschfahl.

»Was soll . . . dies . . . heißen . . .?« stammelte er,

»Ich bitte kein Aufsehen – schon im Interesse der Damen,« sagte der fremde Herr kalt, »wir wünschen doch gewiß alle nicht, daß die Hotelgäste drinnen alarmiert werden.«

Weltenberg verbeugte sich stumm vor Frau von Rittler, die sich leichenblaß und zitternd auf Yolanthes Arm stützte. Einen Augenblick lang ruhten seine dunklen Augen fest, wie beschwörend, in den ihren, die groß, verstört, wie erloschen zu ihm aufstarrten. Dann wandte er sich rasch ab.

Yolanthe, deren schönes bleiches Gesicht einen hochmütigen Ausdruck angenommen hatte, führte ihre Stiefmutter, die sich willenlos fortziehen ließ, nach der Dependance.

In Frau Isabels Zimmer stand Sephine, blaß und verstört. Die Laden waren aufgezogen, die Schränke geöffnet.

»Wollen Sie mir sagen, was dies alles heißen soll?« wandte sich Yolanthe empört an den ihr stumm folgenden Kommissär Walter.

»Gewiß. Es ist meine Pflicht. Man hat soeben Baron Weltenberg als den mutmaßlichen Mörder Ihres Vaters verhaftet. Und da Ihre Stiefmutter aller Wahrscheinlichkeit nach Beziehungen zu dem Schuldigen besitzt, war man gezwungen, Einsicht in ihre Effekten zu nehmen.«

Frau Isabel stieß keinen Schrei aus. Starr wie eine Bildsäule stand sie mit verzerrten Zügen da und blickte stier vor sich hin.

Einen Augenblick blieb es totenstill im Zimmer. Dann sagte Yolanthe, den Kopf hochmütig zurückwerfend: »Und wir? Sind wir etwa nun auch verhaftet?«

»Nein, mein Fräulein. Dazu bedürfte es der Beweise . . . ich meine in bezug auf Ihre Stiefmutter, denn Ihre Person bleibt selbstverständlich außer Frage. Aber Frau von Rittler ist gezwungen, sich sofort nach Wien zurückzubegeben, da man ihrer Zeugenaussage bedarf. Hier ist die betreffende Vollmacht. Ich werde mir die Ehre geben, die Damen morgen früh vor Abgang der Jacht am Hafen zu erwarten.«

Yolanthe bebte vor Zorn und Scham. Sie dachte gar nicht daran, ihre Stiefmutter, die wie leblos dasaß, zu trösten. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Wie würde Conte Almassa sich nun verhalten? Was würde er von ihnen denken?

»Packen Sie sofort, Sephine,« herrschte sie die Zofe an, »wir reisen morgen früh nach Kreuzstein zurück!«

Dann ging sie in ihr Zimmer und schloß sich ein.

Es war ein Spießrutenlaufen am nächsten Morgen, der kurze Weg zum Hafen. Trotz aller Vorsicht war etwas von den Ereignissen des vergangenen Abends den übrigen Gästen bekannt geworden. Man hatte erfahren, daß Baron Weltenberg die Insel auf einem Militärtender verlassen, daß die beiden schönen Damen sich entschlossen hatten, Knall und Fall ohne Abschied abzureisen.

Man war zu taktvoll, sich geradezu aufzustellen, um Zeuge dieser Abreise zu sein, aber Yolanthe bemerkte doch nur zu gut, daß trotz der frühen Stunde heute bereits alles am Strand promenierte und verstohlen nach ihnen blickte.

Das Schlimmste war: die Herrschaften vergaßen zu grüßen und blickten stets rasch weg, wenn ein Blick aus Yolanthes dunklen Augen sie streifte.

Blaß, zähneknirschend, aber hoch aufgerichtet, schritt Yolanthe vorwärts, ohne sich um die arme Frau Isabel zu kümmern, die ihr kaum folgen konnte.

Egoistisch wie immer, machte sie in Gedanken nun die Stiefmutter für den Eklat verantwortlich, unter dem ihr Stolz so bitter litt. Warum hatte sie Weltenberg neben sich geduldet? Warum ihn nicht wenigstens gestern abend entschieden verleugnet? Sie hätte ja ganz gut sagen können: »Der Mensch geht uns gar nichts an. Er hat sich an uns herangedrängt . . .«

Aber sie hatte nichts Besseres zu tun gewußt als zu schweigen . . . Welche Schwäche, welche ungeschickte Schwäche!

Heimlich spähte sie unter den Kurgästen nach Almassa aus. Er war nicht darunter. Natürlich – er ließ sie fallen, er schämte sich für sie – vielleicht war er schon in aller Frühe mit einem Boot nach Fasana hinübergefahren.

Aber nein! Draußen am Molo, hart an der Schiffsbrücke stand er, und seine schwarzen Augen grüßten Yolanthe nun von weitem ernst, heiß und in unveränderter Ergebenheit.

Sie atmete tief auf. Zum erstenmal im Leben wallte auch in ihr eine warme, wirklich dankbare Regung auf.

Er grüßte stumm. Aber als sie im Begriff stand, die Schiffsbrücke zu betreten, drückte er plötzlich ihre Hand und flüsterte leidenschaftlich: »Ich weiß alles. Und ich gehe nur darum nicht mit Ihnen, weil ich fürchte, meine Begleitung könnte im Augenblick kompromittierend aufgefaßt werden. Aber später, wenn Sie nicht mehr in so tiefer Trauer sind, darf ich dann nach Kreuzstein kommen?«

Yolanthe erwiderte den Druck seiner Hand.

»Ja,« antwortete sie mehr mit den Augen als mit den Lippen.

»Und – darf ich Ihnen inzwischen schreiben?«

Wieder senkten sich die langen, dunklen, schleierartigen Wimpern.

»Addio, stella dell mio cuore . . .« murmelt er heiß. Dann wurde das Glockenzeichen gegeben, strudelnd brachen sich die Wellen am Bugspriet und stolz glitt die weiße Jacht hinaus in die tiefblaue Flut.


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