Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Frau Bornemann beruhigte sich in den nächsten Tagen allmählich, ihre Klagen wurden weniger heftig: Ach, das Kreuz, ach das Kreuz, das Gott mir auf meine alten Tage noch auferlegt hat! – Ihre größte Angst und Besorgnis war, es möchte jemand aus dem Haus, aus der Umgebung etwas von der Schande erfahren. Lotte durfte keinen Schritt aus dem Hause, ja selbst nicht aus dem Zimmer tun. Den beiden Mietern wurde unvermittelt gekündigt. Demütig bat Frau Bornemann, sie möchten Rücksicht auf sie arme Frau nehmen: Ihr Sohn in Amerika habe seinen Besuch plötzlich angesagt, es sei dies die letzte Freude ihres Lebens, obgleich er todkrank sei und sie ihn pflegen müsse, und wenn sie ihn nun nicht einmal bei sich aufnehmen könne, so wisse sie nicht, wie sie den Kummer und die Beschämung überleben solle! – Die beiden Herren waren gutmütig genug, Rücksicht zu nehmen und auszuziehen. – Ich wäre fast in den Boden gesunken vor Scham, als ich ihnen das vorlog! Ich ehrliche Greisin, daß mich meine eigene Enkelin noch auf meine alten Tage zwingt, Unwahrheiten zu sagen! – Lotte antwortete nichts, sie schwieg jetzt immer, wenn die Großmutter schalt; und Frau Bornemann schalt noch genug. Immer wieder fing sie von vorne an, jeden Tag, wenn auch ihre Ausdrücke allmählich mehr gleichsam hergesagt klangen. Nachdem sie von sich selbst nichts mehr zu sagen wußte, ging sie zu den Eltern über und sagte, die würden aus ihren Gräbern fluchen. Und dann fügte sie hinzu: Dein Vater allerdings täte besser, seinen Mund zu halten, von dem hast du's geerbt, dies saubere Wesen, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Ach Gott, daß ich auch dem damals meine Tochter geben mußte!

Lotte zog sich ganz in sich selbst zurück. Am schmerzlichsten war es ihr, daß ihr eigener Anblick der Großmutter so verabscheuungswürdig war, daß sie sie ohne ihren Willen, gegen ihren Willen immer wieder an das Unglück erinnern mußte. Und diese Erinnerungen wurden zu Mahnungen. Sie überwand sich, Frau Bornemann zu sagen, daß es nun an der Zeit sei, Schritte zu tun oder zu veranlassen. Einsilbig, blaß, vergrämt saß sie in ihrem Winkel, aus dem sie sich, wenn es dunkel war, erheben durfte, um, in einen weiten Mantel gehüllt, einen Schleier um den Hut gebunden, lautlos und langsam die Treppe hinabzusteigen und ein wenig an die Luft zu gehen. Sie schrieb an Fräulein Nippe, daß nun doch alles anders gekommen wäre, und daß ihre einzige Hoffnung sei, sie möchte bei der Geburt mit dem Kinde zugleich sterben, denn sie sähe weder für sich noch für das Kind irgendeine künftige Lebensfreude voraus. Daß Fox sie einmal heiraten werde, daran denke sie nicht mehr, könne es auch gar nicht wünschen, denn all ihre Liebe zu ihm sei erloschen, sie begreife nicht, daß sie ihn überhaupt je einmal geliebt habe. Was werden solle, wisse sie nicht, sie suche die bösen Gedanken zu verbannen, aber sie kämen immer wieder. Das Kind sei nun in den allernächsten Tagen zu erwarten. Und doch könne sie nicht anders als sich wieder zu freuen auf dies Kind, das ihr einziges und alles sei, was sie besitzen werde, auf das sie allein und niemand anders ein Recht habe, und das seine Mutter vielleicht doch einmal liebhaben werde, so daß sie nicht ganz allein und ausgestoßen auf der Welt sei.

Fräulein Nippe las diesen Brief tränenden Auges Herrn Könnecke vor, und Herr Könnecke sagte: Ach das arme Kind, wenn ich nur wüßte, wie man ihr dauernd helfen könnte! – Herr Könnecke wußte es allerdings ganz genau. Er hatte schon manchmal über diese Hilfe nachgedacht, die gar keine Hilfe war, auch gar keine «gute Tat», denn er erwies sich ja selbst etwas Gutes damit! Aber dem standen wieder Bedenken entgegen: Er wußte ja gar nicht, ob Lotte ihn wirklich nehmen würde, wenn er sie darum bat, und dann – seine Kusine! Es kam ihm so schlecht gehandelt vor, so beinah heimtückisch, wenn er nun Lotte heiraten und sie dann allein lassen würde. Er hätte nicht gewußt, wie er überhaupt nur den Mut haben sollte, ihr das zu sagen, denn sie war doch so gut, so engelsgut zu ihm! Sie hatte das Leben und seine Aufregungen und Plagen mit ihm geteilt. Sollte nun das der Dank sein, daß er sie verließ? – Aber Fräulein Nippe war seinen Gedanken schon seit langem auf der Spur. Und da er nicht redete, so redete sie. Er wurde dunkelrot bei ihren Worten. – Ich weiß ja, sagte sie mit leisem Zittern in der Stimme, ich weiß ja, daß ich dir nie mehr als eine Schwester sein kann, und was war der Wunsch meines Lebens? Mit diesen meinen Händen hätte ich die Backsteine zusammengetragen, um dir einen häuslichen Herd zu bauen, Zentnerlasten hätte ich für dich geschleppt, gearbeitet hätte ich für dich, bis ich vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre, mit erstarrten blauen Händen in der Winterskälte – es hat nicht sollen sein! Habe ich nun auf das Glück verzichtet, warum willst auch du auf das Glück verzichten? Liebster, wonnigster, einzigster Mann, greif zu! Das Glück liegt auf der Straße! Wahrhaftig, wirklich auf der Straße! Das arme Kind ist ja so gut wie auf die Straße gesetzt! Da sitzt sie nun auf einem Meilenstein und streckt suchend die Hände aus nach einer Stütze! Sei du ihr diese Stütze, sei du ihr der Eichbaum, an dem sie sich emporrankt! Sie nimmt dich, das ist ohne Frage! Man hat doch Dankbarkeit im Leibe! Ich sollte die Frau nicht kennen, wenn ich nicht wüßte: wenn eine von ihrem Schatz verlassen ist, noch dazu, wenn sie ein Kind erwartet, und es kommt ein andrer und steht ihr als wahrhafter und guter Freund bei, daß sie den dann nicht lieben sollte. Erst Dankbarkeit, dann Liebe, das kommt so sicher, wie auf den Blitz der Donner folgt. Laß du nur, so schloß sie, dem gewählten Bilde eine neue Deutung gebend, dies Donnerwetter erst einmal vorüber sein, das die schlummernde Frucht aus dem Mutterschoß der Erde an das Licht emporbringt, und dann spanne du den Regenbogen des Friedens zwischen ihr und ihrem Schicksal! Ich selbst aber lächle dann wunschlos auf euer Glück herab und füge eure Hände ineinander! – Sie schluchzte und barg die Stirn an Herrn Könneckes Schulter. – Nein, ich verlasse dich niemals! sagte er. – Aber möchtest du sie denn nicht heiraten? – Er überlegte, wie er ihr antworten sollte, ohne ihr weh zu tun, denn dazu genügte seinem Gefühl nach schon ein «Doch», das ihm auf der Zunge schwebte. – Diese Pause, sagte sie, ist ein ganzer Band, in dem ich die Geschichte deiner Seele lese, du bist mir wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem jede Seite rein und weiß ist. – Er weigerte sich nun aber doch, irgendeinen Schritt zu tun, denn diese Liebe und Güte rührte ihn zu sehr. Da aber sagte sie, es wäre ein Verbrechen, eine Unterlassungssünde, die er jetzt zu begehen im Begriff sei, ein Verbrechen wider das keimende Leben seiner Liebe, die er mit gefühlloser Hand zu erwürgen trachte. Wenn er keine Schritte tue, so tue sie sie ganz wahr und heilig. – Und du? fragte er. Wo willst du denn später hin? Es ist doch schrecklich für dich, wenn du dann allein bist! – Ich? ich wohne dann selbstverständlich nach wie vor bei dir! Ein bißchen Liebe wird wohl noch für mich abfallen, wenigstens so viel, als ich bisher genossen habe; ich habe mich doch wahrhaftig daran gewöhnt, mich zu bescheiden; ohne mit der Wimper zu zucken, kann ich zusehen, wie du deine Frau küßt! – Sie hatte sich aus seinem Arm gelöst und stand in einer heroischen Haltung da. Sie fühlte sich ganz als Trägerin einer großen, hehren Rolle; sie erschien sich wie ein Abgesandter Gottes, wie ein Engel, der das Glück bringt, ja mehr als das, denn ein Engel ist wunschlos und dem Erdenkummer fern. – Herrn Könnecke hatte es, ohne daß er es wollte, etwas unbehaglich durchfahren, als sie sagte: sie bleibe dann selbstverständlich bei ihm. Er verbannte dies Gefühl aber sogleich als schlecht und niedrig, er wußte nicht einmal, wie er zu ihm gekommen war, und nach einer Pause sagte er: ja, wenn du wirklich meinst?! – Und als Fräulein Nippe auf Lottes Brief eine Antwort schrieb, fügte er einige Worte bei, daß auch er in der Ferne viel an sie denke und teilnehme an ihrem Schicksal.

Lotte war dankbar, unsäglich dankbar, namentlich für seine Worte, da sie so einfach und natürlich waren, während Fräulein Nippes Sätze einen so getragenen Stil der Empfindung zeigten. Um so dankbarer war sie, als sie als einzig Wohltuendes in ihre öde Einsamkeit gelangten. – Frau Bornemann hatte allerdings ihre bösen Reden aufgegeben, da sie sah, welch schlimme Wirkung sie auf Lotte taten, aber sie sprach nun so gut wie gar nicht mehr zu ihr, erledigte alles, was sie für ihre Pflicht hielt, und glaubte damit den Anforderungen zu genügen, die man an sie stellen konnte. Mit der größten Geheimhaltung waren alle Vorkehrungen getroffen, Ehrenwörter auf Verschwiegenheit abgenommen, alles Notwendige war in entfernten Stadtteilen eingekauft, und endlich trat das Ereignis wirklich ein.

Lotte überstand es gut und glücklich. Es war ein Knabe, dem sie das Leben gab. Mit stillem Glück betrachtete sie das kleine Wesen, um das sie soviel tödliche Angst, soviel Sorge, Kummer, Erniedrigung und jetzt auch noch die heftigsten körperlichen Schmerzen erduldet hatte. Ganz klein und still lag es da, mit geschlossenen Augen und geschlossenen Fäustchen. Frau Bornemann sah halb mit Ekel, halb mit Mitleid auf das arme kleine Ding, die Frucht der Sünde. Anfangs wollte sie überhaupt nichts mit ihm zu tun haben, und erst als die wartende Frau erklärte, ein solch steinhartes Herz sei ihr noch nicht vorgekommen, ging sie ein klein wenig in sich und nahm sich vor, zu zeigen, daß ihr Herz nicht steinhart sei. Dieser Ausdruck hatte sie im Innersten getroffen und tief gekränkt. Erinnerungen an frühere Geburten in ihrer eigenen Familie, aus den verschiedenen Generationen, wurden in ihr wach; ohne es recht zu wollen, begann sie sich für das Kind zu interessieren, und als sie es einmal auf die Arme nahm und Lotte sich so glücklich darüber zeigte, sagte sie: Ach Gott, was könnte man froh sein, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre!

Sowie sie imstande war zu schreiben, teilte Lotte das Ereignis Fräulein Nippe und Herrn Könnecke mit. Beide schrieben sogleich zurück, und Fräulein Nippe sprach am Schluß dunkel von einer Wiedergeburt im Geiste, was Lotte nicht verstand.

Lotte lebte nur ihrem Kinde; als es das erste Lächeln zeigte, strömte eine ganze Flut von Glück und Wonne über sie, alles Böse, alles Entsetzliche war ausgetilgt, dies Lächeln war der Gruß aus einem neuen Leben.

Wochen vergingen, aber eines Tages läutete es draußen und als Frau Bornemann öffnete, stand da ein Herr von mittleren Jahren, der etwas verlegen seinen Hut drehte und sie in einer ernsten Angelegenheit zu sprechen wünschte. Sie führte ihn in ihr Zimmer, er setzte sich ihr gegenüber, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Frau Bornemann betrachtete ihn mit wachsender Unruhe. Kam da wieder ein neues Unglück? Aber der Herr sah vertrauenerweckend aus, und eher so, als wolle er ihre Hilfe. Richtig, da sagte er es schon: Ich möchte Sie um etwas bitten! Er hustete, um die Pause auszufüllen, die dann folgte, und deren Ende er selber noch nicht absah. Frau Bornemann kam plötzlich der Gedanke, sie solle für irgendeinen wohltätigen Zweck Geld hergeben, und gerade wollte sie sagen, daß sie das nicht könne, als Herr Könnecke plötzlich einen Anlauf nahm: Ich höre, sagte er, hier hat eine Geburt stattgefunden! Und seine Augen blickten ausruhend der Richtung nach, die seine Worte genommen hatten, gerade auf Frau Bornemann hin. – Ach Gott, sind die Gerichte gründlich! klagte sie. Was wollen sie denn nun immer noch wissen? – Herr Könnecke machte erst ein nicht verstehendes Gesicht, dann sagte er: Ich komme doch nicht vom Gericht. Damit habe ich nicht das geringste zu tun. Ich bin gekommen, um zu fragen, ob Lotte wohl – ob Lotte wohl –: also ich möchte sie gern heiraten! – Aber wer sind Sie denn? fragte Frau Bornemann, äußerst überrascht. – Ach so, das habe ich vergessen! Er fuhr in seine Rocktasche, überreichte ihr seine Visitenkarte und sagte gleichzeitig: Könnecke ist mein Name, Wilhelm Könnecke. Ihre Enkelin hat lange bei uns gelebt, und ich habe sie lieb gewonnen – Frau Bornemann wurde immer verwirrter: Also sind Sie der Vater von dem – von dem Kinde? Lotte sagte mir doch – Ich? och nein! Ich bin nicht der Vater, sagte Herr Könnecke mit aufrichtiger Stimme. – Ja – aber – Frau Bornemann merkte erst ganz allmählich, daß Herr Könnecke Lotte wirklich nur um ihrer selbst willen heiraten wolle, und: – allerdings auch mit darum, wie Herr Könnecke jetzt mit gründlichem Ton versicherte, daß das Kind einen legitimen Namen erhält! – Mit dem Makel? Mit dem Makel?! – Frau Bornemann geriet beinah in eine Ekstase der Dankbarkeit. Herr Könnecke aber verbat sich jeden Dank: Er habe zu danken, wenn Lotte ihn wirklich nähme. – Da ist ja gar kein Zweifel über! rief sie, das Kind wird ja weinen vor Freude. – Sie wollte ihn sofort zu Lotte bringen, aber er sagte, er wolle erst am Nachmittag wiederkommen, Lotte müsse sich die Sache gründlich überlegen. – Ach die Ehre! ach die Ehre! rief Frau Bornemann ein übers andere Mal, ihn zur Tür begleitend. – Lottchen, Lottchen, liebes Lottchen! denk' dir, du wirst wieder ehrlich! Sie erzählte mit einem Schwall von Worten das Vorgefallene. Lotte hörte unbeweglich zu, mit großen Augen. – Nun? du redest nichts? du sagst nichts? du willst ihn wohl am Ende gar nicht? Wie? Lotte, jetzt schwöre ich dir eines: Ich sage dir, Gott selbst hat dir diesen Mann gesandt! Er hat Mitleid mit einer armen Frau gehabt! Er hat mein Gebet erhört! Und nun – Frau Bornemanns dünne Stimme wurde immer gedehnter und langgezogener: Wenn du jetzt dem gnadenvollen Fingerzeige Gottes nicht gehorchst, so verfluche ich dich bis in die unterste Hölle, da wird sein Heulen und Zähneklappen! – Lotte war immer noch unfähig zu sprechen: Herr Könnecke wollte sie heiraten?! Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dieses große, unverdiente Glück! – Endlich vermochte sie etwas zu sagen. Und die Großmutter weinte und sagte, sie habe es ja immer gewußt, daß Lotte im Grunde gut sei.

Herr Könnecke konnte kaum etwas zu Mittag essen. Verlegen stand er dann vor Lotte, sie streckte ihm die Hand entgegen, und er konnte nur sagen: Also wirklich? also wirklich? Und als sie sich dankbar an ihn lehnte, zog er aus seiner Westentasche einen Verlobungsring – Fräulein Nippe hatte ihn bereits besorgt – und steckte ihn an ihren Finger. Frau Bornemann weinte wieder, brachte das Kindchen und sagte: Und das wird nun auf Ihren Vornamen getauft, nicht wahr? Herr Könnecke schluckte vor Zufriedenheit und Glück, nickte heftig und sagte: Natürlich, selbstverständlich, aber tun Sie es nur schnell wieder in den Wagen, sonst erkältet es sich!


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