Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Capitel.

Auch in den Straßen, durch die Sybille schnell dahinschritt, ertönte Jammer und Wehklage. Sie verfolgte jetzt denselben Weg, den der Jüngling, dem ihre Augen vom Thorhäuschen nachsahen, Verderben um sich breitend am Abend zuvor gemacht. Eilende Weiber stürzten, nach Aerzten schreiend, aus den Häusern und kreischten auf den Gassen umher; das Mädchen ließ sich nicht von ihrer Redseligkeit halten, sie kannte die Richtung, der sie zustrebte und ging rasch weiter. Bald kam sie an den Brunnen, auf dessen Platte Hellem in der Nacht bewußtlos niedergestürzt. Es war eine Blutlache davor, und noch immer umstanden Leute mit erregten Gesichtern, furchtsam und neugierig zugleich, den Fleck, und tauschten flüsternd geheimnißvolle Muthmaßungen aus. Sie wendeten erwartungsvoll die Augen, als Sybille an ihnen vorüberschritt und in das geöffnete Ghettothor eintrat. Dann wisperten sie eifrig, mit den Fingern ihr nachdeutend weiter.

Drinnen in der Judengasse war es still wie im Grabe. Es war ein auffälliger Gegensatz zu dem von allen Enden wiederhallenden Getöse, das die Stadt erfüllte. Kein Schrei, kein Gelärm, kaum ein lauter Ton unterbrach den ruhigen Umlauf des Tages. Alles war wie sonst, die Thüren geöffnet, die Trödelwaaren vor ihnen feilgeboten, abgeputzt und von jedem Stäubchen gesäubert wie jederzeit. So eilig Sybille vorwärts zu kommen strebte, hielt sie doch inne und übersah mit verwundertem Blick die Sorglosigkeit, die sie hier umgab. Kein Mensch war auf den Treppen oder am Fenster zu sehn; es war als ob noch nie das Gelüst ein menschliches Wesen übermannt, sich unbewachte, fremde Habe anzueignen, und noch weniger als ob die Besitzer derselben von jäherer Todesgefahr, als mit der sie der Einsturz ihres Hauses treffen konnte, bedroht wären.

Sybille war, so weit ihre Erinnerung zurückreichte, nie im Ghetto gewesen. Der erste Eindruck überraschte sie, dann fiel ihr ein, daß sie das Haus nicht kannte, das sie aufzufinden bemüht war, und sie schaute nach einem lebenden Wesen, Erkundigung einzuholen, umher. Doch vergeblich. Die Judengasse schien ausgestorben, nur von fern kam ein wechselnd anschwellender und verhallender Klang herüber. Ein leichter Schauer überlief das muthige Mädchen. Sie hatte unterwegs über das plötzliche Ereigniß, das sie so wundersam von ihrem friedlichen Morgengange abgeleitet, nachgedacht. Von hier war die Pest ausgegangen oder mindestens lauerte sie toddrohend in diesen düsteren Winkeln, da sie den Jüngling, der wenig Stunden zuvor blühend und in Gesundheitsfülle hineingeschritten, gepackt und blutbedeckt und sterbend, wie sein Bild schrecklich vor ihr stand, hülflos zu Boden geworfen. Umsonst hatte sie über den unerklärlichen Vorgang nachgegrübelt, daß jener am Morgen, zu einer Stunde wo das Thor des Ghetto noch nicht geöffnet sein durfte, in der Christenstadt gefunden und ohne einen Begleiter seines Volks auf den Marktplatz geschleppt worden. Ihr kamen urplötzlich die alten Kindermärchen ins Gedächtniß, mit denen die Amme sie einst erschreckt. Von den blonden Christenkindern, welche schwarzlockige Judenmädchen mit vergoldeten Aepfeln und Nüssen in die Thür lockten. Freudig folgten die Kleinen, düstre Treppen hinan und immer ging die Verführerin, mit den goldenen Früchten winkend, vor ihnen, bis den Kindern in der fremden Umgebung der Muth entfiel und sie umkehren wollten – da packte die Judendirne sie mit weißen Armen und trug sie in ein großes Gemach mit einem schwarzen Tisch in der Mitte. Auf den legte sie die Zappelnden, die schrien und um Erbarmen flehten, und mit höhnischem Lachen holte sie ein goldenes Messer aus dem Busen und stieß es den Kindern ins Herz. Dann fing sie das Blut in einer Opferschale auf und trank es mit gierigen Zügen, um Zauberkraft zu erlangen und schöner zu werden als die Christenweiber – –

Es überlief Sybille, obwohl sie dazu lächelte. Durch ihr Gedächtniß summten wider ihren Willen die alten Ammenmärchen und riefen immer neue Bilder herauf.

»Sie soll schöner als alle Christinnen sein, die schöne Tharah,« murmelte sie unwillkürlich. Die hohen, regungslosen Gebäude standen so düster und schweigsam um sie her und nickten geheimnißvoll mit geschwärztem First herunter, aus denen kein Laut ertönte. Nur das ferne, feierlich-unheimliche Geräusch, das wie das Brausen des Rheines in Sommermondnacht herüberwogte, – sie dachte, wenn Arme aus der Thür hervorgriffen und sie hineinzögen, oder wenn die Pest es wäre und sie sänke hülflos zu Boden – ihr Vater harrte vergebens, Stunde um Stunde – und ihr lebendig-bewegungsloser Körper würde hinaufgetragen, in den Saal, auf den schwarzen Tisch, und die schöne Tharah griff in den weißen Busen und holte ein goldenes Messer, um den Gruß herauszuschneiden, den ihr Hellem zugesandt, der nicht ihr Bruder war – –

Doch bei dem Namen stiegen wieder die bleichen entstellten Züge des Kranken vor ihr auf und ein anderes Gesicht mit großen, vernünftigen Kinderaugen und der ruhigen Kraft in der männlichen Gestalt darunter, tauchte neben ihnen empor, das sie zuversichtlich und freundlich ansah, als ob es sagte: »Ich wäre da, wenn Dir Gefahr drohte,« und das Mädchen lachte über seine eigene Angst, blickte sich besinnend umher und ging in der Richtung, aus welcher das Geräusch erklang, weiter. Dasselbe verstärkte sich und als sie näher kam, unterschied sie einen vielstimmigen Gesang, der zugleich mit rothen Lichtwellen aus den geöffneten Fenstern eines hohen, rundlichen Gebäudes hervorquoll. Sie verstand die Worte des Liedes, das gesungen wurde, nicht, aber die Weise war klagend und demüthig und dann wieder hoffnungsvoll anschwellend und aufjauchzend wie Lobgesang. Die Töne verstummten, als sie die weitgeöffnete Thür der Synagoge erreichte, und eine hohe Gestalt mit weißem, ehrwürdigem Bart, der auf den langen, schwarzen Talar niederfiel, begann in fremder Sprache zu reden, in der die Anwesenden von Zeit zu Zeit einstimmten. Der weite Raum war mit Kerzen erhellt; eine dichtgeschaarte Menge stand sittig und ehrbar darin, alle in festlichen Kleidern und achtsam die Winke des Vorbetenden befolgend.

Sybille blickte einen Moment staunend und neugierig hinein. Die Scham über die Furcht, welche die kindischen Erdichtungen böswilliger und abergläubischer Gemüther in ihr wach gerufen, stieg ihr zu Haupt; sie vermochte nicht dem Judenknaben, der als Hüter am Eingang des Bettempels saß, grade ins Gesicht zu blicken und fragte ihn mit abgewandtem Kopf nach der Wohnung des alten Caleb.

Der Knabe sprang auf und deutete mit der Hand auf das schräg gegenüber liegende Haus. Sybille dankte und ging, doch er lief ihr nach und hielt sie am Kleid zurück.

»Was willst Du dort? Geh' nicht hinein, Du bist nicht von uns; da ist die Pest,« sagte er freundlich.

Das Mädchen zuckte leise zusammen; »wer liegt an der Pest?« fragte sie hastig.

Der Knabe wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht, alle,« antwortete er, »Thubal ist dort seit Mitternacht.«

»Wer ist Thubal und weshalb darf ich nicht hinein, wenn er drinnen ist?« versetzte Sybille.

Er sah sie verwundert an. »Thubal hat es gesagt,« entgegnete er. Er stockte, dann fügte er ausdrucksvoll bei; »Und weil Du eine Christin bist.«

Das Wesen des Knaben befremdete sie. »Darf eine Christin denn nicht in Euer Haus?« fragte sie.

Die Lippen des Knaben zauderten. »Nein,« sagten sie nach einer Weile geheimnißvoll, »nicht wenn die Pest darin ist, denn wenn sie stirbt, sagen die Christen, daß wir sie getödtet, und verbrennen uns und nehmen uns unser Gold –«

Ein tiefer Ernst umzog das muntere, von so vielfachen Eindrücken des Morgens bewegte Antlitz des Mädchens. Sie fühlte, aus dem Kindermunde vor ihr kam die entsetzliche Wahrheit, zu deren frevelhafter Beschönigung jene Ammenmärchen ersonnen, die sie in ihrer Kindheit vernommen, die noch jetzt ihr Vater, die Nachbarn, alle Menschen fast, die sie kannte, in blindem Aberglauben und Fanatismus nachsprachen. Angstvoll stieg das Elend der Judengasse aus dem einfachen Wort des Knaben vor ihr auf, und ein namenloser bitterer Schmerz traf aus ihm in die junge Brust. Ihr war, als ob ihr ein Stachel in die Seele gedrungen, die Schuld der Väter durch Muth, durch erbarmendes Mitleid nach ihrer Kraft gutzumachen; als ob eine drückende Pflicht auf ihr laste, welche sie lange versäumt. Sie nickte dem Knaben bedeutungsvoll mit den Augen zu und sagte:

»Ihr seid gut, ich weiß, daß Keiner von Euch böse ist und mir schaden will. Ich gehe doch in das Haus des alten Caleb, denn ich muß hinein; sei stille und verrathe mich nicht.«

Damit verließ sie schnell den Knaben, der ihr, von ihrem freundlichen Gesicht unschlüssig gemacht, nachdenklich mit den Augen folgte, bis sie in der Thür des alten Caleb aus ihnen entschwand.

Sicheren Fußes stieg sie die Treppe hinan. Es empfing sie Niemand auf dem Flur, nur ein aromatischer, den Athem erquickender Duft wogte aus dem oberen Geschoß herab und erfüllte das Haus. Sybille ging weiter; ungesehen erreichte sie das erste Stockwerk; alle Thüren standen weit geöffnet und sie trat in das Gemach, das sich ihr zunächst darbot. In dem Kamin des großen, dunklen Zimmers loderte eine mächtige Flamme, von welcher der liebliche Wohlgeruch ausströmte; sie spielte über Tharahs Bild und ließ die Schönheit des Mädchens noch orientalisch-phantastischer hervortreten als im Tageslicht. Das Thorwärtertöchterlein blieb wie gebannt stehen und betrachtete die zauberisch-majestätische Gestalt. Aus dem anstoßenden Raum, der durch einen schweren Sammetvorhang abgeschieden war, kam ein Gemurmel, das ab und zu ein Aechzen unterbrach. Eine gedämpfte, sichere Stimme befahl und leichte, ruhige Fußtritte glitten über den Boden.

Doch Sybille war in Anschauung des Bildes verloren: sie hörte, was im Nebenzimmer gesprochen wurde, allein sie that keinen Schritt vorwärts. »Es muß die schöne Tharah sein,« murmelte sie vor sich hin, »und sie ist schöner, als alle Christinnen –«

»Wir wollen glühendes Gold auflegen,« sagte die feste Stimme hinter dem Vorhang; »es schmerzt; doch es heilt.«

»Weh über sie, mein Gold, sie verderben mein Gold,« unterbrach ein mattes Stöhnen die eingetretene Stille. »Kann es nicht sein Silber, weiser Thubal, laß es sein mit Silber.«

Ein schwefelicher Geruch drang durch den Sammet und es zischte und ein schluchzender Laut wie von Frauenlippen folgte. »Weiser Thubal, was sagt Deine Kunst von meinem Herrn?« fragte eine weibliche Stimme.

»Ich sage, daß er ein Sohn ist vom alten Stamme Israel,« versetzte der Arzt, »der nicht zuckt bei dem Schmerz und geduldig aushält unter der Pein, mit der ihn der Herr schlägt. Und ich sage, daß er diese Krankheit wird überstehen und daß es gut ist, daß er sie so früh hat bekommen und daß Euer Sohn Hellem sie so früh hieher gebracht hat, eh' daß ihre Bösartigkeit zunimmt, wie sie es thun wird, wenn sie länger hat gedauert.«

Ein doppelter Dankesruf begleitete die Worte, den ein scharfer, zischender Laut, von brandigem Geruch gefolgt, auf den freudigen Lippen abschnitt.

»Mein Sohn Hellem,« jammerte der Kranke, »was sagtest Du von meinem Sohn Hellem? Wer kann mir sagen, was aus meinem Sohn Hellem geworden?«

Sybille fuhr bei dem Namen aus ihrem Staunen auf. Die Stimme des Arztes erwiederte unsicher, obwohl das Bestreben, ruhig zu erscheinen, aus ihr hervorklang:

»Wir werden bald Nachricht von ihm erhalten und es wird ihm wohlgehen. Wir werden Dir sagen, sobald wir von ihm gehört, und es wird Dich noch mehr heilen, als das Gold, wenn Du von ihm erfährst –«

Aber ein Schrei der Frauen unterbrach ihn. »Weh über uns, – Gott wird ihn zu sich nehmen, er wird sterben,« wimmerte Lea.

»Du wirst nicht durch Thorheit schänden das Andenken Samai's, Deines Vaters, der hochgeachtet war wegen seiner Weisheit in Israel,« versetzte Thubal ernst: »Du wirst Dich zurücklegen und mich thun lassen, was sein muß.«

Man vernahm ein Krachen der Bettfugen wie von ringenden Körpern, doch das Jammergeschrei des alten Caleb übertönte den Kampf:

»Ihr habt schon gehört von meinem Sohn Hellem, daß er todt ist, gestorben unter den Fremden, weil er uns nicht wollte verderben. Laßt mich fort – ich will suchen meinen Sohn Hellem, daß ich seinen Leichnam finde, um ihn zu begraben unter unserm Volk.«

Das Getöse im Nebengemach verstärkte sich, ein Tisch mit Gefäßen fiel dröhnend zu Boden, Frauengeschrei mischte sich in den Lärm des wilden Getümmels, dann krachten nackte Füße in schwankenden Sprüngen über den Estrich, eine hagere Hand riß gewaltsam den Sammetvorhang zur Seite und halbbekleidet, von Brandwunden entstellt, stürzte die lange Gestalt des Alten hervor. Seine Augen suchten irr umher, die geisterhaft abgemagerten Finger hatten den weißen, schöngeordneten Bart gefaßt und rauften zusammengekrallt das silberne Haar. Bewußtlose, von einem verzweifelten Gedanken erzeugte Raserei hatte die gemessene Würde seiner Züge verscheucht und zu wahnsinniger Angst verzerrt.

Sybille fühlte, daß es ihr kalt nach dem Herzen rann, aber zugleich fühlte sie sich muthig und ihrer Pflicht bewußt, wie nie, und vertrat ihm kühn den Weg nach der Außenthür. »Ich bringe Euch Nachricht von Eurem Sohn Hellem,« sagte sie.

Der Alte stutzte einen Moment und starrte sie mit rollenden Augen an. Dann sprang er auf sie zu und krallte seine Finger um ihren Hals.

»Bist Du mein Sohn Hellem?« keuchte er; »nein, Du bist eine Christin und hast ihn getödtet, weil er uns nicht tödten wollte; – aber ich räche ihn, ich räche Alle, die Ihr von uns gequält und zu Tode gemartert habt –«

Sybille wankte; die dürre Hand schnürte sich mit furchtbarer Kraft fester um ihren Hals und betäubte ihre Sinne, – auf der Thürschwelle erschien die schöne Tharah, wie sie im Bilde vor ihr gestanden, wie aus ihrer Kindheit die grausige Sage von den verführerischen Judenmädchen ihr heraufkam und ihr vorüberflog, und ihr war, als lächle sie teuflisch mit den todtbleichen Zügen, – da lösten sich die krampfhaften Finger des Greises von ihrem Nacken, eine starke Hand hatte ihn von hinten gefaßt und brach seine alten Glieder kraftvoll zu Boden, und die schöne Tharah flog zitternd auf sie zu und legte die Arme liebreich um ihre Brust und flüsterte:

»Du kommst von ihm, o sag', was weißt Du von meinem Bruder?«

Es dauerte einige Zeit, ehe Sybille zur Besinnung gelangte. Der plötzliche Angriff, das irrsinnige, entstellte Gesicht des Alten, der Schreck und die Betäubung der zusammengepreßten Kehle machten sie sprachlos. In ihr wogte es seltsam, ihr kam überwältigend der Gedanke, daß die Kraft ihres Beschützers aus der Frühe sie in diesem Augenblick nicht zu retten vermocht hätte, daß er es nie konnte, wenn sie nicht immer bei ihm und er immer bei ihr sei, – dann klangen wieder die süßen, schmeichelnden Worte der schönen Tharah ihr verbitternd ins Ohr, und sie fand es falsch und heimtückisch, daß jene Hellem ihren Bruder nannte, da sie nicht seine Schwester war, und sie stieß das Mädchen entrüstet von sich und sagte heftig mit aufwallendem Zorn:

»Ich weiß, daß ich ihn krank auf der Straße gefunden, wo Ihr ihn liegen ließt und Euch nicht darum bekümmertet, ob er lebe oder sterbe –«

Doch sie vermochte nicht auszureden vor dem Jubelschrei, der ihre Worte erstickte, und vor dem Strahl der Liebe, der in den dunklen Augen der schönen Tharah aufleuchtete.

»Er lebt!« rief das Judenmädchen freudejauchzend »und Du hast ihn gerettet und rettest meinen Vater!«

Ihre weichen Arme schlossen sich mit heftiger Zärtlichkeit um den Nacken Sybillens, der noch von der tödtlichen Umarmung des Alten zitterte; sie küßte ungestüm ihren Mund und lachte auf und ihr Busen wallte und ihre schwarzen Locken mischten sich in wildem Sturm mit dem braunen Haar der Christin und überflutheten ihre Schultern.

Ein süßes, unbekanntes Gefühl durchwogte Sybillens Brust und schmolz allen Unmuth und alle Kraft in ihrem Innern. Das Herz der schönen Tharah pochte an ihrer Wange, sie fühlte seine hastigen Schläge, die in ihren Leib hinüber bebten und sie ängstlich und namenlos selig durchschauerten. Berauschende Gluth der Leidenschaft durchströmte sie zum ersten Mal und heftete sich jugendlich ungestüm auf das wundersame Mädchen, das sie in den Armen hielt, und sie fühlte plötzlich sich von fremdem Zauber umstrickt, und daß sie dem Tod trotzen würde um ein Lächeln von diesen Lippen.

Tharah ließ ihre Hand nicht frei, sondern zog sie eilig mit sich in das Nebengemach, wo Thubal, der den ohnmächtig niedergebrochenen Greis auf den Armen hinübergetragen hatte, unter Lea's Beihülfe bemüht war, denselben auf sein Lager zurückzubringen.

»Er lebt, – Hellem lebt, – dies freundliche Mädchen bringt uns Nachricht,« rief sie; doch der Arzt machte mit einer Bewegung auf die Lippen ihren Jubel verstummen.

»Still,« sagte er, sich über das Gesicht des Bewußtlosen niederbeugend, »die Freude könnte ihn tödten. Es ist nicht gut alles Gute zu jeder Zeit. Wir werden warten, bis er zu sich kommt und nach ihm fragt.«

Er benetzte Stirn und Schläfen des Kranken mit einer belebenden, wohlriechenden Flüssigkeit und fühlte mit befriedigtem Ausdruck seinen Puls.

»Ich habe gesagt, der Sohn Samai's würde leben,« sagte er, sich zu den Anderen umwendend, »und so weit die Kunst, die ich erlernt, kann vorwärts sehen, wird er nach dem Schlaf besser werden und leben, daß ich nicht länger darf bei ihm bleiben, wo die Pest ist unter unserm Volk.«

Er nahm seine Werkzeuge, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen, verschloß sie sorgfältig in eine Tasche und trat auf Sybille zu.

»Wo, sagt Ihr, habt Ihr lebend gesehen den Sohn Isaschar's, Jungfrau?« fragte er.

Der Mann, der auf das schüchtern zu ihm aufsehende Mädchen zukam, war von großer, imposanter Statur und auf den ersten Blick unverkennbar jüdischen Ursprungs. Er mochte erst in mittleren Jahren stehen, wie die gedrungene Fülle seiner Glieder verrieth; doch das Haar um die hohe, ernste Stirn war bereits ergraut und silberweiße Fäden zogen sich hie und da um das scharfgeschnittene Gesicht. Von edler Schönheit war es, hoheitsvoll, mit durchdringendem, ruhigem Blick, und doch sanft und zutrauenweckend in seiner Strenge, und ein freundlicher Zug theilnahmsvoller, menschlicher Milde umspielte den schön gebildeten Mund. Göttliche Gelassenheit lag in seinen Worten, in seiner Bewegung; die tiefen Augen blickten denkend voraus, sie hatten lange in das unstäte Schicksal der Menschen hineingeschaut und ihr Glanz sprach, es sei eitel, und seine Wahrheit sei das Erbarmen.

Wer es wußte, sah in den Augen vielleicht die bittere Angst und die Verzweiflung und die Herzensqual vergangener Tage, vielleicht sah er die Flammen in ihrem Hintergrunde aufleuchten, die das Liebste, was sie besessen, vor ihrem Blick verzehrt, daß es in Asche zusammenfiel, die über die einsamen Augen wehte und die sie mit den Thränen fortwischten von der Wimper, und stark und muthig und erbarmungsvoll blieben, wie zuvor.

Es war ein großer und gerechter und weiser Mann unter seinem Volk, Thubal ben Abia, und er trug die Kleidung der Kinder Israels, und befolgte die Vorschriften der Aeltesten in der Synagoge; und wenn er hinausging in die Christenstadt, legte er um seinen Arm den gelben Ring, das Knechtschaftszeichen seines Geschlechts, mit dem es, wie die Schelle des Aussätzigen, seit Jahrhunderten seine Nähe ankündigen mußte, die Nähe der schlimmeren, unheilbaren, großen Geisteskrankheit der Gesunden; – aber in seinem Herzen war Thubal ben Abia größer, denn darin trug er die Freiheit des Gedankens und die Fähigkeit, sich zu opfern für sein Volk und für die Welt, die es zurückstieß, wie einen Hund.

Er hörte ernst die Erzählung, welche Sybille im Beginn befangen hervorbrachte; bald indeß gaben seine schönen, prüfenden Augen ihr Muth, und sie berichtete Alles geordneter bis zu Ende.

Tharah hatte den Arm um ihren Nacken geschlungen und drückte sie liebevoll an sich bei der treuen Darstellung; die alte Lea schluchzte und lachte abwechselnd zu den eingeschalteten Fragen des Arztes, dessen Miene zufriedener wurde und mit freundlichem Wohlwollen auf dem muthigen Bürgerkinde ruhte, je weiter sie sprach. Er lächelte sogar, als sie von den beiden Aerzten erzählte, aus deren Händen der Tod den Jüngling befreit, als der Eine mörderisch die blutgierige Lancette über ihm schwang. Es war ein mitleidsvolles Lächeln, das der menschlichen Schwäche und Einsichtslosigkeit vergab, doch es trübte sich mehr und mehr unter einem Gedanken, der in ihm aufstieg und den edlen Ausdruck seines Gesichtes mit plötzlicher Bitterkeit übergoß, daß er die Worte, die jener ihm auf die Zunge gab, halblaut vor sich hinsprach.

»Keinem darf man zur Ader lassen, wenn man ihn nicht tödten will,« murmelte er, »nur den Priestern der Christen –«

Er brach, als ob er sich selbst einen Vorwurf mache, ab, wie sein gramverdüsterter Blick die unschuldigen Augen Sybillens traf. »Fahrt fort, Jungfrau,« sagte er noch freundlicher, als zuvor, und sie erzählte weiter. Doch nun unterbrach Lea sie wieder mit lautem Ruf:

»Der Segen des Herrn und mein Segen sei mit dem Fremden, der sich meines Kindes erbarmt,« rief sie, »wie er mit Dir sein möge, Christin, Dein Lebelang –«

Alle wandten plötzlich den Kopf; ein Geräusch ertönte hinter ihnen, und wie sie zurückblickten, sahen sie den alten Caleb, der sich in seinem Bette aufgerichtet und ausdrucksvoll die Augen auf sie heftete. Der Irrsinn war aus seinem Blick gewichen und ein schwärmerischer Frieden lag über seinem ruhigen Gesicht.

»Wer hat sich erbarmt über meinen Sohn Hellem?« fragte er mit klangreicher, feierlicher Stimme. »Er soll gesegnet sein mit seinen Kindern und mit seinem Hause, so lange sie leben auf der Erde, und mein Segen soll abwaschen jeden Fluch, der ihn trifft, und hätte er getödtet seinen Vater, oder seine Mutter, oder seinen Bruder, oder das Weib seines Bruders –«

Der Alte sank von der Anstrengung erschöpft, ohne die Formel zu vollenden, zurück; die Anderen traten auf Thubal's Wink leise hinzu und betrachteten ihn.

»Laßt ihn schlafen,« sagte der Arzt mit gedämpfter Stimme, »und wenn er aufwacht, wird er gesund werden, wenn Lea ihm sagt, daß sein Brudersohn Hellem außer Gefahr ist und bald zu ihm heimkommen wird. Denn auch er wird leben, wenn Alles sich so verhält, wie die Christenjungfrau berichtet. Wer jetzt noch den ersten Anfall der Pest überstanden, bevor ihre Wuth zum Ausbruch gekommen, über dem hält der allmächtige Gott die Hand, daß sein Gericht ihn verschont, und die Zukunft ist sein, denn die Krankheit wird ihn nicht wieder befallen, wenn sie ihn verlassen. Ich gehe jetzt zu dem Sohn Isaschar's und werde Sorge tragen für ihn. Trinkt nicht Wasser aus dem Brunnen in der Stadt, sondern laßt schöpfen Eure Krüge aus dem Rhein und laßt nicht das Feuer erlöschen im Hause und werft Chamomillen hinein, daß sie die Luft rein halten und –«

Seine Stirn verdüsterte sich plötzlich unter einem schattenhaft sein Gesicht überhastenden Gedanken, er wollte etwas hinzusetzen, aber drängte es mit einem deutenden Blick auf die Christin zurück. Dann nahmen seine Züge ihren gewöhnlichen Ausdruck wieder an und er fügte ernst bei:

»Und es wäre wohlgethan, wenn Ihr Euch rüstetet, daß Ihr eine Reise machen könntet, sobald die Kranken die Kraft besitzen, mit Euch zu gehen. Ich weiß Nicht, ob ich Euch in Kurzem werde wiedersehen, aber es wird sehr gut für Euch sein, wenn Ihr so schnell als möglich flieht vor der Luft in dieser Stadt. Sagt es von mir dem Sohn Samai's, wenn er aufwacht, und sagt ihm, Thubal hätte es gesprochen, der vor fünfundzwanzig Jahren allein gekommen aus Mainz, als die schwarzen Blattern waren droben am Rhein.«

Er ergriff seine pelzverbrämte Mütze und seinen Stab. »Ich gehe mit Euch ins Spital, Thubal, um nach meinem Bruder zu sehen,« sagte Tharah, seinen Arm fassend; »ich darf ihn nicht liegen lassen unter der Pflege von bezahlter Hand.«

Sie schickte sich an zu gehen, doch der Arzt hielt sie gebieterisch zurück.

»Du wirst bleiben in Deines Vaters Hause, Tochter Lea's,« sagte er entschlossen, »und ich werde Dir den Sohn Isaschar's schaffen hieher, sobald als es möglich sein wird. Aber Du wirst nicht gehen, ihn zu suchen, denn es kann in der Stadt eine Krankheit sein, schlimmer als die Pest, die Dich träfe; sondern Du wirst mit Deiner Mutter Lea gehen in das Nebenzimmer und die seidene Schnur fortziehen von dem Gemälde, das der Sohn Samai's Euch anzurühren verboten, aber ich heiße Euch, daß Eure Augen es ansehen sollen, weil es an der Zeit ist.«

Er nickte den zurückbleibenden Frauen bedeutungsvoll mit dem Kopf zu und ging.

Tharah suchte Sybille, die gleichfalls aufbrach, zu halten; die beiden Mädchen hatten abseits heimlich mit einander geflüstert, sich umarmt und zärtlich geküßt.

»Du bist müde, ruhe aus und erquicke Dich bei uns,« sagte Tharah, als jene Anstalt traf, den Arzt zu begleiten.

»Mein Vater wartet und ist in Sorge,« entgegnete Sybille. »Leb wohl, Tharah, meine schöne Schwester; lebt wohl, Mutter Lea.«

Sie reichte der Alten die Hand, die sich mit Thränen in den Augen niederbückte und Sybillens Finger an die Lippen preßte. »Leb wohl, Christin,« schluchzte sie, »es wird Dir gut ergehen, denn Dein Herz hat sich erbarmt über die Ausgestoßenen und ich habe Dich gesegnet Dein Lebelang.«

Verwirrt zog das Mädchen die thränenbenetzte Hand zurück, und Tharah fiel ihr um den Hals.

»Sag' auch meinen Dank dem guten Waldhofer, wenn Du ihn wiedersiehst,« flüsterte sie, lächelnd Sybille anblickend. »Er hat wie ein Bruder gehandelt an meinem Bruder, – nicht wahr, Du zürnst nicht mehr, daß ich ihn so heiße?«

Sybille preßte die schöne Jüdin leidenschaftlich an sich. »Ich habe ihn lieb gehabt von Kindheit auf wie einen Bruder und nun wird er es, denn Du bist meine Schwester,« antwortete sie mit leisem Jubel.

Tharah lächelte bezaubernd. »Wann werde ich Dich wiedersehen, Schwester?« fragte sie; »es ist weit von der Judengasse bis zu Deines Vaters Wohnung.«

Ein ängstlicher Zug flog bei den letzten Worten über Sybillens Gesicht, den Tharah nicht bemerkte. Nur Thubal, der scheinbar achtlos neben den plaudernden Mädchen stand, sah ihn und horchte mit unbewegtem Gesicht aufmerksam auf die Antwort Sybillens.

»Nein, nein!« entgegnete das Mädchen hastig, »ich komme zu Dir, ich komme hieher. Es ist zu weit bis zu uns, und Du würdest bei uns das nicht finden, woran Du gewöhnt bist –«

Ein trübes Lächeln flog unwillkürlich über Thubal's ernste Züge.

»Ich meine, nicht den Reichthum und das Wohlleben Deines Vaters,« fügte sie unruhig ergänzend hinzu, »wir sind nicht reich, es ist einfach bei uns und ärmlich –«

»So komme zu mir und mache mich reich durch Deine Liebe, süße Christin,« unterbrach Tharah ihre Verlegenheit mit zauberischer Anmuth. Thubal machte eine ungeduldige Bewegung, fortzugehen; doch an seinem Zögern war zu merken, daß ihm daran gelegen schien, das Haus mit Sybille zu verlassen. Ein Blick seiner ernsten Augen traf Tharah, und sie legte den Arm um den Nacken des Thorwärtertöchterleins und schritt mit ihr die Treppe hinab, während Lea die Mägde herbeirief und nach der Vorschrift des Arztes ein gewaltiges Feuer aus Chamomillen im Kamin entzünden ließ. Drunten vor der Thür küßte Tharah die neue Freundin liebreich zum Abschied und blieb ihr nachsehend stehen, wie sie mit der hohen Gestalt Thubal's durch die Judengasse hinabschritt. Und wenn Sybille sich umwendete und zurückwinkte, war es ihr, als stände sie noch immer droben in dem ersten Gemach vor dem wunderbaren Bilde, aus dessen Rahmen die schöne Tharah, »schöner als alle Christenfrauen« liebreizend und majestätisch herabsah.

Doch die abergläubischen Gedanken, welche sie bei ihrem Kommen übermannt, waren verschwunden und eine glühende, mädchenhaft-ungestüme Neigung an ihre Stelle getreten, die sogar das freundliche Bild ihres Beschützers verblassend zurückgedrängt hatte, die gewaltsam in dem jungen, unberührten Herzen erwacht war und mit anmuthiger Erinnerung verschmolz. Heiße, leidenschaftliche Freundschaft, deren Muth der Verachtung trotzte, mit dem ihr Vater, mit dem die Welt, die sie bis jetzt umgeben, den Gegenstand derselben verfolgte; entschlossener als die schleichende, unheimliche Gefahr, der sie entgegengeschritten, und stärker als der Tod, der sie bedrohte.

Sie hatte im Anfang Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen; der Arzt ging nachdenklich und langsamer, als seine frühere drängende Eile erwarten ließ, neben ihr her. Er entblößte sein Haupt, als sie an der Synagoge vorüberkamen; unwillkürlich verbeugte auch Sybille sich vor dem Altar, den man durch die geöffnete Thür erblickte, und Beide wanderten stumm fort, bis der eintönige Gesang hinter ihnen zu verhallen begann. Thubal's Augen glitten forschend über das Gesicht des Mädchens, dann sagte er:

»Euer Vater ist Wächter am Frankfurter Thor, Jungfrau, und er haßt unser Volk?«

Sybille wich erröthend dem Blick des Arztes aus und nickte leise mit dem Kopf. »Woher wißt Ihr es?« versetzte sie zögernd.

»Weil Niemand uns liebt, als unsere Brüder,« erwiederte Thubal ruhig; »weil die Welt sagt, wir treiben Wucher und häufen das Gold der Armen, weil sie sagt, daß wir Christenkinder auf unsern Altären opfern, und wenn Krankheiten hereinbrechen, Gift in die Brunnen geworfen haben, um Euch zu verderben, und weil es Unglückliche giebt, die daran glauben.«

Das Mädchen senkte verstummend die Stirn, dann sah sie mit klaren Augen zu ihm auf. »Ich habe es nie geglaubt,« versetzte sie traurig, »denn ich weiß, Ihr betet zu demselben Gott, wie wir, – aber –«

»Aber –?« wiederholte er, da sie schwieg.

»Aber es giebt boshafte Menschen, Herr,« fuhr sie hastig fort, »hütet Euch vor ihnen. Ich wollte Euch warnen, doch ich hatte es vergessen über all dem, was dazwischen gekommen.«

Sie erzählte athemlos die Unterredung der Junker, die sie am Morgen vernommen. Das Gesicht Thubal's wurde immer düsterer, Gedanken jagten sich auf seiner Stirn. Endlich stockte sie, abgebrochen theilte sie die einzelnen Worte des leiser geführten Gesprächs mit, die sie nicht verstanden. Das Ghettothor lag vor ihnen und der Arzt stand still.

Er athmete heftig. »Sprecht zu Niemandem, was Ihr zu mir gesprochen, Jungfrau,« sagte er mit gedämpftem Ton, »und nicht zu Eurem Vater, daß Ihr in der Judengasse gewesen, wo Ihr die schöne Tharah Eure Schwester genannt habt.«

Das Letzte war fast wie fragend gesprochen, in einer Art, die Sybille nicht begriff. Sie erwiederte: »Ja!« und setzte, da er noch immer innehielt, hinzu, »ich gehe weiter mit Euch, Herr,« doch sie stockte vor dem feierlichen Ausdruck, mit dem seine Augen sich in die ihren hefteten, daß sie dieselben in ihre Seele hinabdringen fühlte.

»Ich gehe jetzt, um zu sehen, ob es in meine Hand ist gegeben, meinen Mitmenschen zu helfen,« unterbrach er sie mit tiefem Ernst. »Ihr habt heut Morgen erfahren, Jungfrau, daß es schön ist, einem Menschen das Leben zu erhalten. Aber schöner ist es, wenn man kann Viele retten vor'm Verderben; denkt an mich, Jungfrau, wenn ich nicht mehr da sein könnte, um es Euch zu sagen, und der Herr es in Eure Hand geben sollte, daß Ihr könntet Viele retten, weil Ihr Muth habt und Erbarmen.«

Er reichte dem verstummenden Mädchen die Hand und zog einen Ring aus gelber Seide hervor, den er am Oberarm befestigte. »Es ist nicht gut für Euch, daß Ihr weiter mit mir geht, mit dem Merkmal Jungfrau,« fuhr er ruhig fort; »lebt wohl, und wenn Ihr zur Nacht in Eurer Schlafkammer liegt, denkt an die schöne Tharah, die Ihr Eure Schwester genannt, und wenn Einer in der Dunkelheit pochen sollte an Euer Fenster und sagt ›Thubal!‹, da thut ihm auf um der schönen Tharah willen, Eurer Schwester.«

Sybille nickte mit dem Kopf. Sie wußte nicht, weshalb, aber die Thränen traten ihr in die Augen, an denen so viel Seltsames und Erschreckendes, ohne sie feucht zu machen, vorübergezogen. Es lag etwas so sonderbar Bewegtes in dem Ton des besonnenen Mannes, der zu ihr sprach; den sie kaum gesehen und zu dem sie sich doch eben so magisch hingezogen fühlte, wie zu den Andern, daß sie hätte vor ihm niederfallen und ihr Gesicht an seine Knie schmiegen mögen, – es klang so feierlich ergreifend wie Abschied, wie Vermächtniß eines Sterbenden, daß sie laut aufschluchzen mußte und die Hände über die Stirn legte und weinte. Doch sie fühlte, daß er auf eine Beantwortung seiner wunderlichen Frage harrte, und hob wieder den Kopf und versetzte leise:

»Mein Fenster ist dem Thor zunächst und Rosen und Myrten stehen davor –« Das Schluchzen unterbrach sie.

»Es ist gut, Jungfrau; Deine Myrte soll blühen und Deine Rose duften. Gott segne Dich,« erwiederte Thubal liebevoll.

Sie fühlte, daß er seine Hand auf ihr Haar legte, daß eine Thräne auf ihre Stirn herabfiel, – als sie aufblickte, stand sie allein in der einsamen Judengasse und die hohe Gestalt Thubal's ben Abia war durch das Ghettothor verschwunden.

Hastig lief sie auf das Thor zu, ihr war, als hätte sie ihn noch um etwas zu fragen, ihm eine Zusicherung zu geben, aber sie erblickte ihn nur noch wie er bereits eilenden Fußes die Gasse entlang schritt und vermochte ihn nicht mehr zu erreichen. Dann stieg ein Nebel zwischen ihm und ihr empor, es war eine dichte Rauchwolke, die von einem in der Straße angezündeten Feuer aufwallte und seine Figur, wie in einen grauen Sterbeschleier gehüllt, ihren Augen entriß.

Tiefsinnig, von schwermüthigen Gedanken umdrängt, schlug sie den Weg zum Hause ihres Vaters ein.

»Es ist gut,« sagte sie, die letzten Worte Thubal's leise vor sich hinsprechend. Was hatte er gemeint, was war gut? Falsch und tückisch war die Welt umher und die Mittagssonne brach durch trüben Dunstschleier mit unheimlichem Licht auf die öden Straßen herab. Sie fühlte einen leisen Schmerz in der Schläfe, von dem es wie mit körperlichem Druck dumpflastend über ihren Kopf ausstrahlte. Aber es stieg keine Regung der Furcht in ihr auf. Eine Aufgabe stand vor ihr, die sie nicht kannte, nicht klar gewahrte, auf die sie warten mußte, bis sie zu ihr kam. Und dann »war es gut,« und die Rosen und Myrten waren gesegnet und konnten gedeihen. – –

Schnell ging Thubal ben Abia seinem Ziele entgegen. Oft ward er durch Geschrei und Gedränge, das einen auf der Gasse zusammengestürzten Pestkranken umgab, angehalten, und leistete Hülfe, wo sie mangelte. Widerwillig gehorchten die Leute seinen Anordnungen, die Furcht überwog, aber Mißtrauen und Haß funkelten in jedem Blick, der sich auf die gelbe Binde und auf das orientalisch ausgeprägte Gesicht des Arztes richtete. Thubal schien nicht darauf zu achten, doch jeder Ausdruck, jeder leise Ruf des Ingrimms erreichte sein Ohr. Manchmal folgte ein Fluch dem Segen, den seine Hand bewirkt, und ein bitterer Glanz überschlich sein Auge im Weitergehen; doch der Erfolg schreckte ihn nicht ab, er gab Rathschläge, wo noch zu rathen war, und horchte gespannt auf jede Verwünschung und Anschuldigung wider die Juden, die in dem Gemurmel der sinnlos aufgeregten Menge umlief.

Leichenträger mit Bahren begannen jetzt die Straßen zu durchkreuzen, auf denen überall luftreinigende Feuer emporloderten. Thubal sprach zwei der Träger an und fragte, wohin die leblosen Körper gebracht würden? Sie erwiederten mürrisch, daß der Rath ein Pesthaus vor dem Thor errichtet habe, und maßen ihn mit giftigen Blicken, und er verdoppelte seine Schritte und eilte, ohne weiter anzuhalten, fort, bis er das Spital erreichte. Hier strömte es von allen Seiten zu und es ward ihm schwer, Erkundigungen einzuziehen, in welches Zimmer Hellem gelegt worden. Er begegnete mißtrauischen und gehässigen Augen, wohin er sah; endlich traf er auf einen Wärter, der ihm den Weg deutete und ihn boshaft mit den häßlichen Blicken anblinzelnd fragte, ob Einer aus ihrer eigenen Mitte der Heimtücke der Juden zum Opfer gefallen?

Der Arzt gab dem ihm lauernd Nachblickenden, demselben, der am Morgen den Jüngling mit seiner Begleitung in Empfang genommen, keine Antwort und betrat schnell das düstere Zimmer, in welchem Hellem lag.

Der alte Geißeler saß noch immer an dem plumpen Bettgestell des Jünglings. Die Luft des engen Gemachs war dumpf und drückend und er hatte die Capuze etwas von seiner schweißbedeckten Stirn gelichtet; wie die Thür sich regte, fuhr er aus seinem Brüten empor und zog hastig die Kutte wieder zusammen. Er vermummte sich noch dichter als zuvor, wie er den Eintretenden gewahrte, der schnell durch das Zimmer schritt und das geschlossene Fenster aufstieß. Seine Augen sahen kaum mehr aus der gefalteten Hülle hervor; stumm zog er sich in den dunkelsten Winkel zurück, nur ein Zittern, das sich seiner Kleidung mittheilte, durchlief seinen Körper, als der Arzt an das Bett des Kranken trat und aufmerksam Leib und Gesicht desselben untersuchte. Er machte eine fragende Bewegung und ein angstvoller Laut erstickte ihm in der Gurgel, doch er schwieg und kauerte sich regungslos auf seinen Sitz im Hintergrunde zusammen.

Thubal bekümmerte sich nicht um ihn und setzte seine Nachforschung fort. Endlich sah er auf. »Ist der junge Mann zur Besinnung gekommen, seitdem er hier ist?« fragte er.

Man sah, daß der Kopf des Angeredeten unter der Capuze zuckte, aber es kam keine Antwort und der Arzt wiederholte die Frage.

»Ich muß es wissen, weil es wichtig ist für die Beurtheilung der Krankheit,« fügte er bei.

»Wenn es das ist, will ich es Euch sagen,« antwortete der Alte; »er hat mich angesehen und hat verlangt nach Wasser, das ich ihm gegeben, um zu löschen seinen brennenden Durst. Und dann – und dann hat er zurückgelegt den Kopf und hat geschlafen.«

Die gedämpfte Stimme kam fremdartig verändert unter der Hülle hervor, daß man sie kaum wiedererkannte. Dennoch lag etwas in ihr, das Thubals Aufmerksamkeit erregen mußte, denn bei den ersten Worten richtete er den Blick scharf in das Dunkel hinüber und maß die Größe der hohen zusammengehockten Gestalt mit den Augen. Er bewegte leise die Stirn vorwärts, wie der Alte am Beginn des letzten Satzes innehielt und zögernd fortfuhr, und nahm denselben, als jener ausgesprochen, fragend auf.

»Und dann?« wiederholte er bestimmt; »Ihr habt mir etwas verschwiegen, das ich wissen muß, was der Kranke gethan.«

»Und dann,« fuhr der Greis, der Aufforderung gehorchend, mit zitternder Stimme fort, »hat er gefragt nach seinem Vater, den er Caleb geheißen –«

Er schluchzte und stockte, doch Thubal schien nichts von seiner Aufregung zu bemerken. Seine Stirn glättete sich und ein freudiger, festlicher Ernst überzog sein Gesicht.

»Es ist gut, daß Ihr mir dies gesagt,« erwiederte er freundlich; »denn ich kann Euch darauf sagen, daß der junge Mann, für den Ihr Mitleid gehabt, daß Ihr Euch über ihn erbarmt auf der Straße, leben wird. Die Jungfrau, die bei Euch war, hat mir erzählt von Euch bei den Eltern dieses Jünglings, in deren Haus wir ihn morgen bringen werden, sobald er die Kraft hat –«

Doch ein stöhnender Laut, der sich der Brust des Büßers entrang, unterbrach ihn.

»Ihr wollt ihn bringen in das Haus seiner Eltern, daß ich nicht kann bei ihm sein und wachen über ihm,« wimmerte es unter der Capuze hervor.

»Warum solltet Ihr nicht mit ihm gehen und wachen über ihm,« fuhr der Arzt mit glänzenden Augen, an deren Wimper eine Freudenthräne bebte, fort, »da Ihr Euch habt erbarmt in Elend und Gefahr über den Sohn vom Hause –«

»Ich kann nicht gehen in das Haus des alten Caleb,« jammerte der Greis –

»Da seine Mutter hat gesegnet mit dem Segen Jehova's den, der ihren Sohn gerettet,« ergänzte Thubal mit gehobenem, von zurückgehaltener Empfindung bebendem Ton, »und da der Vater hat von ihm genommen jeden Fluch, der auf ihm haftet, von ihm und von seinen Kindern und seinen Kindeskindern –«

Die verhüllte Gestalt sprang empor, ihre Knie schwankten, – »weiser Thubal, sag' mir bei der Rache Jehova's,« keuchten ihre Lippen, »was hat gethan der Sohn Samai's?«

»Er hat genommen den Fluch von dem Haupt Isaschar's, des Sohnes Samai's, ohne daß er es wußte,« antwortete der Arzt feierlich, »und Jehova hat es gehört, und es ist ausgelöscht der Fluch um Lea, die Tochter Hagar's, im Himmel und auf der Erde.«

Der Greis wollte antworten, aber er fiel an dem Bette seines Sohnes zusammen, über dessen Leib er die gefalteten Hände legte und schluchzte.

 

*

 


 << zurück weiter >>