George Kennan
Sibirien
George Kennan

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7. In den Silberbergwerken Ostsibiriens.

Wir waren, als wir vom Karagebiet nach Stretinsk kamen, so abgemattet, daß wir vor allem eine ausgiebige Rast halten mußten. Aufregungen und Entbehrungen aller Art hatten mich derart geschwächt, daß ich kaum zweihundert Schritte machen oder auch nur meinen Pelzrock anlegen konnte, ohne mich müde zu fühlen. In diesem Zustande wäre es zu gewagt gewesen, sofort in einem rüttelnden Telega die Fahrt nach den Bergwerken von Nertschinsk, durch eine öde, wilde Gegend, von schier tausend Kilometer Entfernung vorzunehmen. Wir rasteten daher bei dem jungen Bauern drei Tage, aßen so viel, als zu haben war, schliefen so lang es möglich war und kräftigten uns mit Chinin und Fleischextrakt.

Sonntags fühlte ich mich schon frischer. Ich ging über die Eisdecke des Flusses nach dem jenseits gelegenen Stretinsk, wo ich den Zasedatel, den Bezirksleiter der Polizei, aufsuchte, um für unsere Reise Pferde zu erlangen. Der Gouverneur hatte uns nämlich telegraphisch verständigt, daß wir beim Mieten der Pferde die Vermittlung der Polizei in Anspruch nehmen können, da im Bergwerkbezirk von Nertschinsk nur mangelhafte Postverbindungen vorhanden sind; und überdies gab uns auch Major Potuloff Empfehlungsbriefe mit an die meisten Polizeibeamten, die wir während unseres Weges treffen könnten. Der Zasedatel nahm mich freundlich auf und traf auch sofort die nötigen Vorkehrungen; dabei teilte er mir die unangenehme Nachricht mit, daß jetzt auf der Strecke zwischen Stretinsk und den Minen eine 136 Pockenepidemie herrsche, daß es daher nicht rätlich sei, in den Bauernhäusern zu übernachten, oder sie nur überhaupt zu betreten. Die Reise nach den Silberminen bot im besten Falle genug Mühseligkeiten und nun sollten wir gar weder Unterkunft noch Nahrung finden, ohne uns der Gefahr auszusetzen, von dieser gefährlichen Krankheit ergriffen zu werden. Anfangs war ich geneigt, nach Nertschinsk direkt zu fahren und die Bergwerke von dieser Seite her aufzusuchen, allein das hätte einen beträchtlichen Umweg gegeben und da überdies Frost erklärte, keine Furcht vor Ansteckung zu haben, blieben wir bei unserem ursprünglichen Plane. Am Nachmittag legten wir unser Gepäck auf einen kleinen Telega, banden einen Sack mit gefrorenem Brot, auf dem wir nicht sitzen konnten, hinten an und fuhren mit zwei Pferden und einem zerlumpten, furchtsamen Kutscher auf dem Wege nach Alexandrofski ZawodHochofen und dem Bergwerk von Algaschi.

Die Silberbergwerke von Nertschinsk liegen nicht in der Nähe dieser Stadt, sondern dehnen sich in einer weiten, wilden Gebirgsgegend aus, die den Bergwerkbezirk von Nertschinsk bildet. Es grenzt im Süden an die Mongolei und nimmt den größten Teil jenes Dreiecks ein, das von der Schilka und Argun vor ihrer Vereinigung mit dem Amur gebildet werden. Das Vorhandensein der Silber- und Bleierze mußte schon den Urbewohnern Sibiriens bekannt sein, denn die ersten russischen Forscher Sibiriens fanden in der Nähe des Argun Spuren eines primitiven Bergbaues. Im Jahre 1700 wurde von griechischen Bergmännern, die im russischen Dienste standen, die Nertschinskhütte errichtet, nahe der mongolischen Grenze, und ehe das Jahrhundert zu Ende kam, waren zwischen Schilka und Argun mehr als zwanzig Schachte eröffnet und acht Hochöfen in Thätigkeit gesetzt. In der ersten Zeit wurden die Bergwerke von Bauern bearbeitet, die von allen Teilen Sibiriens herbeigeschafft wurden, oft sogar zwangsweise genötigt, 137 sich dort niederzulassen; allein schon im Jahre 1722 verwendete man Sträflinge aus den Gefängnissen des europäischen Rußlands dazu. Seit dieser Zeit wurde der Bergbau teils von Bauern versehen, teils wieder von den zur Zwangsarbeit verurteilten Verbrechern. Von politischen Gefangenen kamen nur einige der »Dezembristen« und viele Polen hierher. Nach dem polnischen Aufstand vom Jahre 1863 wurden viele tausende der Insurgenten hierher verschickt, später jedoch wurden politische Gefangene gewöhnlich nur nach dem Karagebiet transportiertNach den Angaben des hier öfter schon erwähnten Werkes von Maximoff wurden in den Jahren 1863 bis 1868 18 623 Polen nach Sibirien verschickt, von diesen kamen 8199 nach Ostsibirien und 7109 wurden zur Zwangsarbeit verurteilt, zumeist in den Bergwerken von Nertschinsk..

Unser nächstes Ziel galt Alexandrofski-Zawod, das etwa 200 Kilometer von Stretinsk entfernt ist. Die Hochöfen, denen der Ort seinen Namen und seine Bedeutung verdankt, sind seit langem nicht mehr im Betrieb und ganz verfallen, aber das Dörfchen besteht noch weiter und hier befindet sich auch ein kleines Gefängnis, das wir besichtigen wollten. Überdies bot sich von hier aus auch die beste Gelegenheit, das früher berühmte, jetzt aber aufgegebene Bergwerk Akatui zu erreichen.

Bei unserer Abreise war es kalt, es wehte ein eisiger Nordostwind und der Himmel war bewölkt. Die Hügel rechts und links der Straße waren mit einer Schneeschicht bedeckt, aber die Straße selbst war trocken und wir wurden von dem aufwirbelnden Staub unserer Wagenräder bedeckt. Nachdem wir 30 Kilometer gefahren, empfanden wir Hunger und Kälte, allein das Dorf, in welchem der Pferdewechsel stattfand, war wie ausgestorben und so blieben wir denn in unserem Wagen. Der Kutscher meinte zwar, die Seuche sei nicht bösartig, was Frost zu der Bemerkung veranlaßte, damit mag es so bestellt sein, wie mit dem sibirischen Ungeziefer, das den Einwohnern auch recht harmlos scheine, den Fremden jedoch zu Tode 138 quäle. Beim Dorfe Kopun, wo der zweite Pferdewechsel stattfand, langten wir mit der Abenddämmerung an. Die Temperatur war auf 0 Grad Fahrenheit gesunken und ich fühlte mich so durchfroren, daß ich die Glieder nicht mehr rühren konnte.

»Ich halt' es nicht länger aus,« sprach ich zu Frost. »Wir haben wirklich eine ganz reizende Wahl: Die Pocken oder das Erfrieren. Ich werde jetzt an der nächsten Thüre anpochen und fragen, ob dort diese verdammte Krankheit herrscht; ist das nicht der Fall, so gehe ich hinein, um mich zu wärmen und etwas zu essen zu verlangen.«

Ich pochte an und eine hagere Frau öffnete die Thüre

»Ist jemand in Ihrem Hause an den Blattern erkrankt?« fragte ich.

»Jawohl!« antwortete sie.

Ich wartete die näheren Mitteilungen nicht ab, sondern eilte zu Frost und teilte ihm mit, daß wir uns richtig zwischen Scylla und Charybdis befänden und wir, was unseren Hunger betrifft, einzig nur auf unseren Brotsack angewiesen wären. Aber hier ergab sich wieder ein neues Übel. Das Brot war hartgefroren und überdies noch mit einer Staubkruste überzogen. Wir nahmen jeder ein Brötchen und zitternd vor Kälte saßen wir im Dämmerschein und knusperten an demselben und warteten dreiviertel Stunde auf andere Vorspannpferde. Endlich langten diese an und wir setzten unseren Weg fort. Nach langer, unangenehmer Fahrt gelangten wir, es mochte neun Uhr abends gewesen sein, nach Schelapugina, eine gemächliche Poststation zwischen Nertschinsk und Nertschinski-Zawod. Der Postmeister gab uns die Versicherung, daß dort noch keine Pockenerkrankung vorgekommen wäre. Wir begaben uns daher in die Stube, tranken Thee und hielten in gewohnter Weise auf der Erde unsere Nachtruhe. Von der Rast und einem guten Frühstück gekräftigt, setzten wir in den Morgenstunden unsere Reise fort.

Den ganzen Tag fuhren wir zwischen kahlen Hügeln. Die 139 Sonne schien hell, aber es war bitter kalt dabei, was wir umsomehr empfanden, als wir vom Wagengerüttel verhindert wurden uns fest in die Pelzröcke zu hüllen. Abends langten wir bei dem Dorfe Kawikutschigasamurskaja an, ein Ort, der nicht so viel Einwohner haben mochte, als Buchstaben in seinem Namen. Hier trafen wir einen jungen Techniker aus Petersburg, der nach den Bergwerken gesandt wurde, um die Sträflinge in dem Gebrauch des Dynamits zu unterweisen und der jetzt bereits auf dem Heimwege sich befand.

Seine Schilderungen der Zustände in den Bergwerken lauteten nicht sehr anmutig. Die Gefängnisse, meinte er, wären »die schlechtesten im ganzen Zarenreiche«, die Beamten wären »roh und unwissend« und die Sträflinge würden »schlecht behandelt, auch von jedermann grundlos geschlagen.« Auch während der Erkrankung seien sie zur Arbeit gezwungen gewesen und würden häufig durch Dynamit getötet, weil die Aufseher zu unwissend und zu leichtfertig wären, um hier mit nötiger Vorsicht zu handeln. Über die Behörden der Bergwerke äußerte er sich nicht ohne Schärfe, man merkte, daß sein Verkehr mit ihnen sehr unangenehm gewesen sein müsse.

In der folgenden Mitternacht gelangten wir nach Makarowa, einem Dorfe, etwa 180 Kilometer von Stretinsk entfernt. Wir übernachteten im »Zemski-Kwartir«, einem von einer Bauernfamilie bewohnten Holzhause, wo reisende Beamte Anspruch auf Wohnung und Verpflegung haben. Wir nahmen einen Thee ein und gingen dann schlafen, Frost auf der Erde, ich auf der Bank, die an dem Fenster stand. In der Stube war es recht heiß und sie war mit Harzgeruch erfüllt, der von den Fichtenbrettern ausströmte. Es war recht schwül und ich konnte lange Zeit nicht einschlafen. Als es mir aber endlich doch gelang, wurde ich bald durch ein lautes Krähen geweckt, das aus meiner nächsten Nachbarschaft erscholl. Ich suchte, wo das sein konnte und fand, daß unter meinem Lager eine Hühnersteige sich befand. Ein großer Hahn steckte zwischen den Latten seinen Kopf heraus – und 140 vielleicht vermutete er, es sei Morgen – krähte mir wörtlich genommen ins Ohr, was er später auch beharrlich fortsetzte, so daß ich keinen Schlaf finden konnte, obgleich ich mein Lager in die entgegengesetzte Stubenecke verlegt hatte. Ich habe in sibirischen Hütten mit Tieren aller Art übernachtet, aber eine Störung, wie dieser eine Hahn, konnten wohl alle Vierfüßler der Arche Noahs nicht hervorbringen.

Am Dienstag Vormittag langten wir in Alexandrofski-Zawod an, ein elendes Dörfchen mit zwei- bis dreihundert Einwohnern, mitten in der kahlen Steppe, eine verfallene Brücke im Vordergrund und schneebedeckte Hügel in der Ferne. Das Gefängnis wurde uns vom Direktor Fomin gezeigt. Es war eine Art Invalidenhaus, in dem alte, sieche Sträflinge aus dem ganzen Bergwerksgebiet von Nertschinsk aufgenommen wurden. Das Hauptgebäude war ein einstöckiger Holzbau und enthielt 137 Häftlinge; er war ein halbes Jahrhundert alt und ungesund, wie wir es anders auch nicht erwarteten. Die Fußböden waren schmutzig, die Luft verdorben, die Korridore mit dem Gestank der Unratkübel erfüllt. In zwei Zellen befanden sich unter den Gefangenen auch Wahnsinnige. Die Krankenabteilung war klein, aber doch nicht überfüllt und schien mir verhältnismäßig sauber gehalten zu sein. Das grobe Bettzeug war schmutzig und auf meine bezügliche Bemerkung antwortete der Krankenwärter, das sei nicht seine Schuld, man sei gar zu sparsam mit der Wäsche. Er schien erfreut zu sein, als ich ihm sagte, seine Krankenabteilung sei zwar klein, aber ich halte sie doch für die beste in ganz Transbaikalien.

Nach der Besichtigung des Gefängnisses kehrten wir im Hause des Direktors ein, wo wir den Isprawnik antrafen, einen schlanken, etwa vierzigjährigen Mann, der just eine Inspektionsreise in seinem Bezirke vornahm. Er war recht gesprächig und äußerte ganz offen seine Meinung über die Bergwerke von Nertschinsk. Er hielt die Betriebsleitung für »schwerfällig, fehlerhaft und kostspielig«; er meinte, es wäre weit besser, 141 den Betrieb in die Hände von Privatunternehmern zu legen. Manche der staatlichen Bergingenieure wären zu unwissend oder zu bestechlich, als daß die Bergwerke einen genügenden Ertrag liefern sollten. Er erzählte mir als Beispiel, daß zwei Goldminen seines Bezirkes von Ingenieuren des ZarenFast alle Bergwerke in diesem Teile Transbaikaliens sind – wie jene von Kara – Privateigentum des Zaren und als »Kabinettminen« bekannt. Wie der Zar sie erworben hat, weiß ich nicht. Ein Russe meiner Bekanntschaft wollte im Auslande ein Werk veröffentlichen: »Der Ursprung des Reichtums der Romanoffs« betitelt. Er kam nicht dazu, denn er wurde nach Sibirien verschickt. untersucht wurden, die sie für wertlos erklärten. Sie wurden billig an Privatpersonen verkauft, denen sie 600 Pud reines Gold lieferten. Der Isprawnik sagte es nicht gerade heraus, aber man konnte seinen Worten entnehmen, er glaube, die Ingenieure und die Käufer der Goldgruben hätten da im Einverständnis miteinander gehandelt und den Gewinn geteilt. Ich zweifle nicht im geringsten daran. Der Zar wird ja von sibirischen Beamten fast überall bestohlen.

Nach einem trefflichen Mittagessen fuhren wir in Begleitung des Isprawniks und des Direktors nach dem etwa 18 Kilometer entfernten Bergwerk Akutin. Dieses war zwar, wie ich schon bemerkt habe, längst aufgelassen worden und es hatte sich auch mit Wasser gefüllt, aber ich war dennoch neugierig es kennen zu lernen, weil es früher als der gefürchtetste Strafort Sibiriens galt und nun die Regierung wieder Vorkehrungen traf, die politischen Sträflinge aus dem Karagebiet dahin zu schicken.

Zehn bis zwölf Kilometer lang ging die Straße über eine einförmige Steppe und dann durch ein flaches Thal, das von kahlen, beschneiten Hügeln umgeben war, die jede Fernsicht benahmen. Das Thal verengte sich immer mehr, um etwa drei Kilometer nach dem Dörfchen Akatui zu, in einer düsteren Schlucht zu endigen, wo als einzige Vegetation einige verkrüppelte, blätterlose Sträuche sich zeigten. Einen düsteren und 142 öderen Erdwinkel hab' ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Man hätte wähnen können, die Eisgefilde Grönlands vor sich zu haben.

»Hier ist das alte Gefängnis,« sprach der Isprawnik, auf einen halbverfallenen Holzbau weisend, der nun vor uns lag. Seitwärts befanden sich zwei Backsteinbauten, beide ganz im Verfall, von einem fehlte sogar das Dach. Wahrscheinlich waren diese Bauten früher von einem Pfahlzaun umgeben und das Holzhaus mochte der Wachmannschaft als Kaserne gedient haben. Jetzt war von der Umzäunung keine Spur mehr vorhanden, auch die Fenstergitter fehlten und es wäre nicht leicht gewesen, aus den vorhandenen Resten die ursprüngliche Bestimmung zu erraten. Ich trat in das Gefängnis ein, hoffend, irgend eine Schrift auf der Mauer zu entdecken, oder einen jener eisernen Ringe zu sehen, an welche renitente Sträflinge gefesselt wurden. Aber nichts von alledem! Was da als Eisen zu verwenden war, wurde entfernt, die Fußböden waren vermodert, der Mauerbewurf abgefallen, nichts war vorhanden, was die traurige Geschichte dieses Gefängnisses illustriert hätte, Zeugen jener Grausamkeiten, die das Gefängnis von Akatui so berüchtigt gemacht haben. Das andere Gefängnisgebäude war in besserem Zustande und die Besichtigung hätte wahrscheinlich manches Interessante ergeben, allein Fenster und Thüren waren fest verschlossen und der Direktor gab an, er wisse nicht, wo sich die Schlüssel befinden und in welcher Weise wir überhaupt hier Einlaß finden könnten.

Der Eingang in das Bergwerk von Akatui befand sich auf einem Hügel, etwa 200 Meter über der Thalsohle. Die Abenddämmerung war bereits angebrochen, ich bemerkte jedoch noch eine kleine Holzbude neben der Schachtöffnung. Wäre es nicht zu spät gewesen, so hätte ich beantragt auch den Schacht zu besichtigen, allein es dunkelte und war kalt, überdies wollte der Isprawnik und der Direktor nach Zawod zurückkehren. Ich begnügte mich daher mit dem, was ich zu sehen bekam.

143 Lunin, einer der Dezembristen vom Jahre 1825 mußte hier Zwangsarbeit verrichten und starb auch da; und viele polnische Patrioten, die nach dem Aufstand vom Jahre 1863 nach Akatui verschickt wurden, fanden in dieser Gegend die letzte Ruhestätte. Ich konnte nichts davon bemerken. Über den zu Staub verfallenen Gebeinen wölbt sich kein Grabeshügel, denn die russische Regierung hat keine Lust, die Erinnerung derer, die sie in den Gefängnissen Sibiriens zu Tode gemartert hat, lebendig zu halten.

Seit meiner Zurückkunft aus Sibirien, wurde in jener traurigen Schlucht ein neues Gefängnis erbaut, das für die politischen Gefangenen im Karagebiet bestimmt. Die Regierung will die unter Wasser gesetzten Schächte auspumpen und die Häftlinge in den feuchten Gängen arbeiten lassen. Damit kann ihre Lage nur verschlimmert werden. Denn wenn es in Sibirien einen öderen, traurigeren und weltentlegeneren Winkel als Kara giebt, so kann nur die beschneite Schlucht von Akatui dafür gelten.

Am Dienstag Abend kehrten wir nach Alexandrofski-Zawod zurück und am folgenden Tage fuhren wir nach dem ungefähr 35 Kilometer entfernten Bergwerk Algaschi. Auch dieser Weg zeigte sich sehr unfreundlich: eine Kette kahler, niedriger Hügel, ohne Spur von Leben und Gedeihen. Nur an manchen Stellen waren zahlreiche Heuschober zu sehen.

Vom Gipfel der letzten Anhöhe vor Algaschi, hatten wir einen Ausblick der fast 50 Kilometer weit reichte. Das beschneite Hügelland sah aus wie eine weite Meeresfläche, dessen vom Sturm emporgetriebene Wellen plötzlich zu Eis erstarrt wären. In der Ferne, zwischen zwei dieser Erhebungen, bemerkten wir eine Gruppe Blockhäuser; unser Kutscher erklärte uns, das wäre Algaschi. So weit der Blick nur reichte, kein Baum, kein dunkler Gegenstand, der das gespensterische Weiß des weiten Eisgefildes unterbrochen hätte! Das Dörfchen selbst sah aus wie ein Haufen Treibholz, das in diesem Eismeere festgehalten wurde.

144 Wir fuhren auf der serpentinenartigen, steinigen Straße einen steilen Abhang hinunter und gelangten in eine lange, schmutzige Dorfstraße, deren Holzhäuser mit Stroh gedeckt waren; wir begegneten einigen Viehherden, die von der Weide heimgetrieben wurden und hielten schließlich, umgeben von einer Menge Neugieriger, vor dem »Zemski-Kwartir«,Amtswohnung, s. S. 139. wo wir übernachten wollten. Zur Besichtigung des Gefängnisses oder des Bergwerkes war es schon zu spät, wir schafften daher unser Gepäck in das Haus, gaben den Bewohnern Aufklärung über unsere Berechtigung, das Amtsquartier in Anspruch zu nehmen und trafen dann Vorbereitungen zum Abendessen. Unsere eigenen Vorräte waren gering, allein die Hauswirtin brachte einen dampfenden Samowar herbei, Milch und Butter; Frost holte eine Büchse eingemachte Pfirsiche hervor, die er in Stretinsk gekauft und an dem lodernden, offenen Feuer frischten wir unser hartgefrorenes, sandumkrustetes Brot auf. Das Abendessen schmeckte uns recht gut und gegen 9 Uhr legten wir uns behaglich schlafen. Am nächsten Morgen besuchten wir Herrn Nesteroff und Oberstlieutenant Saltstein, den Direktor des Gefängnisses. Ersterer empfing uns mit echt russischer Gastfreundschaft; wir mußten bei ihm noch einmal frühstücken und er füllte dabei die Gläser immer wieder mit Wodka oder Krimwein. Saltstein bewohnte ein großes, hübsches Haus voll Oleander und Blumen. Auch er nötigte uns eine Flasche Wein mit ihm zu leeren, und es wurde Nachmittag bis wir uns nach dem Gefängnis und dem Bergwerk begaben. Saltstein, ein Balte, sprach das Russische mit einem deutschen Accent; er machte auf mich den Eindruck eines rechtschaffenen Menschen und er äußerte sich über alles ziemlich offenherzig und nicht ohne Humor.

»Ich fürchte,« meinte er, als wir durch die Dorfstraße fuhren, »unser Gefängnis wird Ihnen als das ärgste scheinen, das Sie zu sehen bekamen. Es ist alt und in sehr schlechtem 145 Zustand, allein ich kann zur Verbesserung nichts thun. Wir sind zu weit entfernt von Petersburg.«

Ich antwortete, daß es kaum ärger sein könne, als jenes von Ustj-Kara und daß ich genug erfahren habe, um die Schwierigkeiten zu erkennen, die sich bei der Gefängnisverwaltung ergeben. Er gab keine Antwort, aber er schüttelte zweifelnd sein Haupt, als ob er dächte der Besuch des Gefängnisses von Algaschi sollte meine Erfahrungen noch vermehren.

Wir machten vor einem hohen Pfahlwerk Halt, die Schildwache präsentierte, der dienstführende Offizier empfing uns und führte uns in einen umfangreichen Hof, in dessen Mitte das Gefängnis stand. Es war ein langer, niedriger Holzbau mit Bretterdach, einem kleinen Vorbau und einer Reihe stark vergitterter Fenster. Das Ganze sah aus, als ob es jeden Augenblick zusammenstürzen wollte. Die eine Längenseite war so tief eingesunken, daß sie um mehr als einen halben Meter abwich, sie wäre wahrscheinlich schon längst eingestürzt, wenn sie nicht mit starken Balken gestützt worden wäre. Die Tünche und der Mörtelbewurf waren an den meisten Stellen abgefallen, was das hinfällige Aussehen des Baues noch vermehrte. Wann dieser Bau aufgeführt wurde, das konnte der Direktor mir nicht sagen, er vermutete aber, daß er im Jahre 1817, zur Zeit, als das Bergwerk in Betrieb gesetzt wurde, errichtet ward. Wir betraten einen finstern, dumpfigen Korridor, der das Gebäude der Länge nach teilte. Rechts befand sich die Apotheke und in der benachbarten großen Zelle die Krankenabteilung. Hier standen ungefähr zehn niedrige Betten mit schmutziger, teilweise auch blutiger Wäsche und darauf lagen ebensoviel kranke Gefangene, bleich, abgezehrt, wie solche mir noch nie zu Gesicht gekommen sind. Der Wärter erklärte mir, einige von ihnen wären bei einer Dynamitexplosion, die in den Minen stattfand, verstümmelt worden. Die Luft war hier so entsetzlich, daß ich mich nach einem flüchtigen Überblick beeilte, wieder den Korridor zu erreichen. Wir besichtigten dann die Zellen der Gefangenen. Die erste mochte 146 7 Quadratmeter umfassen und eine Höhe von 3½ Meter haben; es waren zwei Fenster vorhanden, ein großer gemauerter Ofen und Pritschen an drei Wänden. Die Atmosphäre glich jener der schlechtesten Zellen von Ustj-Kara; soviel ich konnte, hielt ich den Atem zurück. Immer wieder betrachtete ich einen roten Streifen, der sich oberhalb der Pritschen friesartig hinzog und der mir gleich bei meinem Eintritte aufgefallen war. Der Oberstlieutenant, der diese Aufmerksamkeit bemerkte, meinte mit einem cynischen Humor, die Gefangenen hätten versucht die Wände rot zu bemalen. Als ich diesen roten Streifen genauer betrachtete, sah ich, daß er aus roten Punkten bestand und die Wanzen, die an manchen Stellen noch klebten, belehrten mich, daß es von den Gefangenen herrühre, die nachts das peinigende Ungeziefer an der Wand zerquetschten. Wer weiß wie lange es brauchte und wieviel tausende Sträflinge an dem Versuch beteiligt waren, die Wände »rot zu bemalen!« Ich, der in Sibirien genug vom Ungeziefer gemartert wurde, konnte die Bedeutung dieses roten Streifens vollends schätzen.

Ich unterlasse es, auch die anderen Zellen zu schildern. Sie waren von der erwähnten höchstens nur durch den Umfang unterschieden. Überall dieselbe Überfüllung, die gleiche Menge Ungeziefer und der nämliche Gestank. In den Zellen waren 169 Sträflinge untergebracht, ungefähr die doppelte Zahl, für die Raum vorhanden war.

Bei der erstbesten Gelegenheit bemerkte ich zu Saltstein: »Es ist mir unbegreiflich, daß Sie diesen Zustand dulden. Sie haben hier 169 Gefangene, wovon höchstens 50 im Bergwerk beschäftigt werden und die anderen lungern müßig in den verpesteten Zellen herum. Warum lassen Sie die Gefangenen nicht in dem benachbarten Wald Holz schlagen und das Holz herbringen, um damit ein neues Blockhaus aufzuführen? Jene würden es wahrscheinlich sehr gerne thun, und mit geringen Kosten hätten Sie hier ein neues Gefängnis stehen, das wenigstens halbwegs für menschliche Geschöpfe geeignet wäre.«

147 »Verehrtester«, antwortete er – ich wiederhole hier, wenn auch nicht den genauen Wortlaut seiner Rede, so doch den getreuen Sinn – »ich darf nicht ohne Befehl die Gefangenen in den Wald schicken. Wenn einige flüchten würden, was sehr wahrscheinlich ist, so würde ich dafür zur Verantwortung gezogen werden und wenigstens mein Amt verlieren. Ohne Befehl der Gefängnisverwaltung darf ich überhaupt nichts thun. Die Behörden in Petersburg kennen diese Zustände sehr genau, denn ich habe jährlich darüber berichtet. Als ich vor fünf Jahren auf das Eindringlichste um die Erledigung meiner Vorschläge bat, erhielt ich die Weisung, mich mit den Bezirksbaumeister zu beraten und dann einen Plan und Kostenvorschlag für den Neubau einzureichen. Es geschah, aber Sie wissen wohl, wie es mit dergleichen Dingen geht. Ein Brief von hier nach Petersburg braucht zwei bis drei Monate, um seinen Bestimmungsort zu erreichen. Sind Plan und Kostenberechnung endlich dort angelangt, so werden sie der Abteilung für Gefängniswesen übergeben, wo sie zu vielen hunderten derartigen Schriftstücken gelegt werden, um besten Falls erst nach Monaten gelesen und geprüft zu werden. Dann wird die Entscheidung getroffen. Fällt diese zustimmend aus und ist dazu ein größerer Betrag von nöten, so muß erst die Zustimmung des Ministers des Innern und jenes der Finanzen eingeholt werden, oder gar bis zur Feststellung des nächsten Budgets gewartet werden. Immerhin vergeht wenigstens ein Jahr bis irgend eine Entscheidung getroffen wird. In den meisten Fällen wird aber von irgend einem die Vorlage bemängelt, sei es bezüglich des Planes oder der Kosten, die Schriften werden zurückgesandt, damit sie nach den Angaben eines Beamten, der von den Verhältnissen keinen Begriff hat, abgeändert werden. Wir versuchen diesen Weisungen Genüge zu leisten und schicken die abgeänderten Pläne wieder nach Petersburg. Hier hat indessen eine Beamtenverschiebung stattgefunden, die Schriften kommen in andere Hände und andere Wünsche und Meinungen machen sich geltend. 148 Was früher zwei Jahre für gut galt, ist nun fehlerhaft geworden. Und nach anderthalb Jahren erhalten wir wieder das Eingereichte mit neuen Weisungen zurück. Und so geht es fort! Seit dem Jahre 1880 wandern die Vorschläge für den Neubau eines Gefängnisses von Algaschi nach Petersburg und wieder zurück. Jetzt sind sie zum drittenmale in Petersburg. Aber selbst, wenn schon all diese Hindernisse überwunden sind, geht es nur langsam vom Fleck. Zehn Jahre sind es her, daß der Neubau eines Gefängnisses bei dem Bergwerk Gorni-Zerentui begonnen wurde und heute ist noch nicht einmal das Dach aufgesetzt, von der inneren Einrichtung ganz abgesehen.«

»Das ist doch eine Verkehrtheit, ein Unsinn!« rief ich aus. »Wozu Jahre lang mit Petersburger Beamten in einer Sache verkehren, die der Gouverneur, ja selbst der Isprawnik in einem Tag erledigen könnte. In ganz Ostsibirien fand ich verfallene Gefängnisse und darin Leute, denen jede Beschäftigung fehlt. Holz giebt es hier genug, die Arbeit kostet nichts, jeder russische Bauer ist imstande ein Holzhaus zu errichten, warum verwenden Sie nicht die unbeschäftigten Gefangenen dazu?«

»Wir haben nicht genug Soldaten zur Bewachung; die Sträflinge würden flüchten,« antwortete er.

»Das scheint mir kein ausreichender Grund zu sein. Die Mannschaft könnte für die Dauer dieser Zeit verstärkt werden,« bemerkte ich. »Aber selbst, wenn schon ein Teil flüchten würde, das wäre noch immer besser, als wenn alle in einem derartigen Gefängnis müßig verweilen müssen.«

Er zuckte in der charakteristischen Weise russischer Beamter mit den Schultern und ließ den Gegenstand des Gespräches fallen.

Nachdem wir uns von ihm verabschiedeten, fuhren wir in Begleitung Nesteroffs nach dem Bergwerk, das etwa 1½ Kilometer in nördlicher Richtung vom Dorfe entfernt ist. Das Wetter war klar aber kalt, der Boden überall mit Schnee bedeckt. Außerhalb des Dorfes erblickten wir am Fuße eines Hügels einige dunkle Punkte.

149 »Wahrhaftig, das sind Kameele!« rief Frost aus.

»Kameele?« erwiderte ich zweifelnd. »Kameele im Bezirk von Nertschinsk? Wie sollten die da fortkommen?«

Wir kamen näher und sahen, daß es wirklich Kameele waren. Ein wunderlicher Anblick, diese großen baktrischen Kameele, wie sie in einem öden, eisigen Gefilde die Grashalme benagen, die aus der Schneedecke hervorlugen.

Wir wären nicht wenig enttäuscht gewesen, hätten wir gedacht in dem Bergwerke von Algaschi all die Baulichkeiten und Maschinen zu finden, die in amerikanischen Bergwerken vorhanden sind. Ein Pulvermagazin, ein Keller zur Aufbewahrung des Dynamits, ein oder zwei Schuppen, ein kleines Holzhaus, das als Werkzeugkammer, Schmiede und zum Pochen und Sondern des Erzes diente, ein Wachthaus – das war alles, was vorhanden war. Wir fanden ein halbes Dutzend Männer und zwei oder drei Frauen mit dem Pochen und Sortieren beschäftigt, ein Aufseher schärfte einen Bohrer auf einem alten, abgenutzten Schleifstein, einige Soldaten saßen auf einer niedrigen Bank, über der ihre Waffen hingen. Das alles war sicherlich die geringste Entwickelung bergmännischer Arbeit, die ich jemals gesehen habe.

Nesteroff mochte keine Lust verspüren uns in die Minen zu begleiten. Er vertraute uns der Führung eines Sträflings an und gab diesem die Weisung, uns alles Sehenswerte zu zeigen, er müsse indes einiges Amtliche verrichten und werde dann auf unsere Zurückkunft warten.

Der Führer gab jedem von uns eine Talgkerze, nahm selbst auch eine und nachdem er einige Dynamitpatronen nachlässig in die Brusttasche seines Pelzrockes gesteckt, daß die Zündschnuren heraushingen, bemerkte er, er sei bereit. Wir folgten ihm, den Berg etwa 100 Meter hoch besteigend, dann gelangten wir durch eine schmale Thüre in eine niedrige Galerie, deren Wände geputzt waren; auf dem abschüssigen Boden lag ein plumpes Bahngeleise. Die Lichter wurden angezündet und wir schritten gebückt und tastend weiter. Zuweilen stolperte 150 unser Führer über die lockeren Pfosten und ich fürchtete, er würde fallen und dabei mit seiner Kerze die Zündschnure anzünden und uns alle in die Luft sprengen.

In der Nähe des Eingangs befand sich die finstere, unbedeckte Öffnung des Hauptschachtes, aus dem das Ende einer Leiter herausragte. Behende kletterte unser Führer hinunter, uns warnend, vorsichtig nachzufolgen, weil einige der Leitersprossen fehlten. Auch wären die Leitern nicht aneinander, sondern nebeneinander fortgesetzt, man müsse daher, wenn man die letzte Sprosse der einen erreicht habe, den Fuß nach seitwärts setzen, um die andere zu erlangen. Einen Fehltritt zu machen wurde übrigens von uns weniger befürchtet, als eine Dynamitexplosion. Unwillkürlich kamen mir die bleichen Gestalten der Krankenabteilung mit ihrer blutigen Bettwäsche in Erinnerung und so oft ich abwärts schaute und sah, wie unser Führer mit seiner brennenden Kerze dicht an den Zündschnuren hantierte, kam mir der Gedanke, wie ich aussehen würde, auf diesen schmutzigen Spitalsbetten liegend.

Wir stiegen abwärts auf Leitern und dann wieder auf schlüpfrigen, holperigen Bohlen; ein eigentümlicher Geruch, der sich bald fühlen ließ, mochte wahrscheinlich von einer jüngst stattgefundenen Dynamitexplosion herrühren. Die Flammen unserer Kerzen wurden nun bläulich und später verlöschten sie gänzlich. Die Streichhölzer wollten nicht fangen. Im dichtem Dunkel, fest an die Leiter geklammert, standen wir über der dunklen Tiefe, erwartend, wie lange uns das Atmen noch möglich wäre, in einer Luft, in der selbst die Kerzen nicht mehr brennen wollten. Aber Atemnot machte sich nicht fühlbar, die Gefahr zu ersticken konnte also nicht groß sein, obgleich nur wenig Ozon vorhanden war. Etwas erleichtert fühlten wir uns, als endlich einige Streichhölzchen doch fangen mochten, bei deren Schein wir noch einige Leitern tiefer steigen konnten, um dann in einen Gang zu kommen, wo die Kerzen wieder brennen wollten. Wir schritten gegen 100 Meter vorwärts, zuweilen über einen Haufen Erz kletternd, das die Gefangenen 151 in Trögen zum Förderschacht schleppten. Die Temperatur war überall unter dem Gefrierpunkt; an Decke und Wänden glitzerten und schimmerten die Eiskrystalle wie funkelnde Edelsteine.

Durch ein Labyrinth von Gängen, eng und niedrig, kamen wir in einen anderen Schacht und kletterten hier auf einer Menge schadhafter und mit Eis bedeckter Leitern in den tiefsten Teil des Bergwerks hinab. Hier arbeiteten einige Männer mit Werkzeug und Gerät von so primitiver Art, daß sie einem regelrechten Bergmann sicherlich nur ein mitleidiges Lächeln abgerungen hätten. Die Atmosphäre war schon ursprünglich schlecht und sie wurde noch durch die Sprengungsgase viel ärger gemacht, unsere Kerzen erloschen hier auch wiederholt. Für den Luftwechsel war nur die geringste Vorkehrung getroffen: eine eiserne Windtrommel, die von einem der Gefangenen gedreht wurde. Das machte wohl großen Lärm, war aber ganz zwecklos, indem kein Luftschacht vorhanden war, wo die schlechte Luft abgeleitet und die frische Luft hätte zugeführt werden können. Damit wurde nur die unreine Luft der Umgebung in Bewegung gesetzt und damit natürlich so wenig erreicht, als wenn zu diesem Zwecke ein Schleifstein gedreht worden wäre. Wir betrachteten an verschiedenen Stellen die Silberadern, sammelten verschiedene Erzstücke, sahen den in Schafpelzen gehüllten Arbeitern ein Weilchen bei ihrer Thätigkeit zu und kletterten dann endlich wieder ans Tageslicht empor.

Ein scharfer, kalter Wind blies über die kahlen Hügel. Neben der Werkstätte standen einige vor Kälte zitternde Sträflinge und baten Nesteroff, er möge ihnen gestatten in das Gefängnis zurückzukehren. Barsch antwortete er ihnen, die Fördermenge wäre noch nicht ganz gesondert, sie müßten daher warten. Und die armen Gefangenen, die seit frühen Morgen nichts gegessen hatten, standen nun anderthalb Stunden in der Kälte, wartend, bis die Sortierer ihre Arbeit vollendet hatten. Dieser Vorgang bestätigte mir die unfreundlichen 152 Äußerungen des jungen Ingenieurs aus Petersburg über die Verwaltung; ich hielt sie ursprünglich für den Ausfluß persönlicher Verstimmung. Es war merkwürdig, wie ärgerlich Nesteroff die im Grunde genommene bescheidene Bitte der Gefangenen aufnahm; es schien mir, als wenn er darin eine ungebührliche Dreistheit erkennen wollte.

Wir betrachteten noch eine Weile das Pochen und Sondern der Erze, dann fuhren wir nach dem etwa 6 Kilometer entfernten Bergwerk Pokrofski, das in nordwestlicher Richtung lag, am Fuße eines kahlen Berges.

Der Weg dahin war öde und unfreundlich; nirgends ein Baum oder Strauch zu sehen. Bei dem Eingang zum Bergwerk stand ein Werkzeugmagazin, ähnlich dem von Algaschi, ferner befand sich noch ein Magazin dort, einige Hütten, wo die im »freien Kommando« lebenden Sträflinge wohnten und zwei kleine Gefängnisse, wovon eines ersichtlicher Weise erst in letzterer Zeit errichtet wurde. Auf dem Gipfel des felsigen Berges, just über den Bauten, befanden sich zwei Schilderhäuschen, in welchen je ein Soldat als Wache stand. Frost war zu ermüdet, um noch länger in den Minen herumzuklettern, er setzte sich auf einen Schneehaufen und versuchte zu skizzieren, soweit dies seinen starren, in dicken Handschuhen steckenden Fingern möglich war. Nesteroff und ich stiegen, von einem Sträfling geführt, in den Schacht hinab.

Das Bergwerk Pokrofski war nicht so umfangreich und auch nicht so tief wie jenes von Algaschi. Die Luft war wärmer, aber auch feucht. Von der Decke tropfte das Wasser herab und bildete kleine Pfützen. Die Leitern im Hauptschachte waren glitschig von Schmutz. Warum es hier wärmer war, als in dem nur in geringer Entfernung sich befindlichen Bergwerk von Algaschi war mir unbegreiflich und auch Nesteroff konnte darüber keine Auskunft geben. Immerhin war die Luft hier viel reiner und auch die Kerzen brannten ungehindert. Einige Männer waren damit beschäftigt, das Erz in kleinen Kübeln mittelst eines Seiles und einer einfachen Winde hinauf zu fördern.

153 Ich kletterte auf den schmutzigen Leitern hinunter und hinauf, bis ich ganz mit Schmutz bedeckt war, kroch durch die niedrigen Gänge bis mir der Rücken schmerzte, und kehrte dann wieder schwitzend und ermüdet in die Werkstätte zurück. Unser Führer blies seine Talgkerze aus und legte sie mit noch glimmendem Dochte auf eine kleine Kiste, die unter anderen Dingen auch Dynamitpatronen enthielt. Ohne just von Natur aus furchtsam zu sein, schien es mir jetzt doch rätlich, so rasch wie möglich ins Freie zu gelangen. Als der Docht erloschen sein mochte, ohne daß eine Explosion stattfand, kehrte ich zurück, wusch die schmutzigen Hände im Trog des Schleifsteins, besichtigte die Skizzen, die Frost indessen aufgenommen hatte und dann richtete ich an Nesteroff eine Menge auf das Bergwerk sich beziehende Fragen.

In den Bergwerken von Algaschi und Pokrofski kommen Silberadern in einer Dicke von zwanzig bis hundert Centimeter vor. Das Erz ist eine Mischung von Silber und Blei, im Verhältnisse von 1:100; überdies enthält es noch bald mehr, bald weniger »Zinkowi obmanka«, Zinkbetrug, wie es die Bergleute dort nennen (vielleicht Nickel?) Dieses ist viel schwerer schmelzbar als Blei, was im Schmelzofen sehr hinderlich ist. Das Erz wird daher in Stückchen zerklopft, um den Zinkgehalt abzusondern. Doch Pochen und Sondern ist die Arbeit der Frauen und schwächlichen Gefangenen und es gilt als die mildeste Art der Zwangsarbeit. Es gleicht ungefähr dem Steinklopfen auf der Chaussee. Die beiden Bergwerke sind die reichhaltigsten des Bezirkes und ergeben jährlich gegen 400 Tonnen Erz, die geschmolzen 1440 Pfund Silber und 144 000 Pfund Blei liefern. Der hohen Transportkosten wegen kann das Blei gar nicht verwertet werden. Zur Zeit unserer Anwesenheit bei den Hochöfen von Kutomarski, wo das aus diesen Bergwerken gewonnene Erz geschmolzen wird, lag dort nicht weniger als 2000 Tonnen Blei.

In beiden Bergwerken werden durchschnittlich 220 Sträflinge als Arbeiter verwendet und die Erzförderung 154 beträgt jährlich 3600 Pfund, was ungefähr 10 Pfund täglich ergiebt, eine Zahl, die zur Genüge beweist, wie unpraktisch und unfachmännisch der ganze Betrieb ist. Bis zum Jahre 1885 mußten die Sträflinge täglich zur Arbeit, nur die hohen Festtage ausgenommen; jetzt werden ihnen auch zwei Rasttage im Monate bewilligt: am ersten und am fünfzehnten. Ihre Verpflegung und Kleidung erfolgt in einer Weise, wie im Karagebiet.

Als Strafanstalt dünkten mich die Bergwerke von Nertschinsk doch nicht so schrecklich, wie sie gewöhnlich geschildert werden. Angenehm ist es freilich nicht, acht bis zehn Stunden tief in der Erde, in feuchten oder eisigen Gängen zu arbeiten. Ich meine jedoch, das sei noch immer gesünder und besser als der beständige Aufenthalt in den überfüllten, schmutzigen und stinkenden Gefängniszellen. Die Atmosphäre in den Bergwerken ist zwar auch nicht die beste, besonders durch die von Sprengmitteln entwickelten Gase, aber gefährliche Ausdünstungen, wie jene vom Quecksilber zum Beispiel, giebt es hier nicht. Die Sterblichkeitsziffer der in den Bergwerken arbeitenden Gefangenen ist, wie beobachtet wurde, nicht größer als die jener, welche den ganzen Tag müßig in ihren Zellen sitzen und deren verdorbene Luft einatmen. Müßte ich mich entscheiden zwischen einer unthätig zu verbringenden Zeit in einem Gefängnis, gleich jenem von Algaschi oder Ustj-Kara und der Zwangsarbeit in diesen Bergwerken, ich würde ohne Bedenken das letztere wählen. Ich habe die Gefangenen ausgeforscht und erfahren, daß sie niemals gezwungen wurden Tag und Nacht in den Mienen zu arbeiten, ich glaube daher, daß jene Erzählungen, die darüber im Schwang sind, eitel Fabeln sind. Es mag vorkommen, daß die Gefangenen in Partieen geteilt, abwechselnd Tag und Nacht arbeiten, aber niemals wurde von jemandem gefordert, daß er es ununterbrochen vierundzwanzig Stunden thue. Damals wurde keine Nachtarbeit ausgeführt, die Sträflinge kehrten bei anbrechender Dunkelheit, oder doch bald darnach, in ihre Zellen zurück.

155 Freilich, angenehm ist das Leben eines Sträflings in den Bergwerken von Nertschinsk nicht. Ich kann mir kaum eine freude- und hoffnungslosere Existenz denken, als die eines Menschen, der den ganzen Tag in den feuchten Gängen des Bergwerks von Prokofski arbeitet um dann nachts in einer schmutzigen Zelle voll Ungeziefer, gleich jenen von Algaschi, auszuruhen. Ein solches Dasein ist noch ärger als das Leben eines verjagten Hundes, aber es ist doch nicht so schrecklich wie da zuweilen erzählt wird, so z. B. das Märchen von dem Sträfling, der Tag und Nacht in den Minen bleiben mußte, von grausamen Wächtern gepeitscht und von Quecksilberdämpfen langsam vergiftet wurde. Dergleichen Erzählungen mögen in einem Schauerroman am rechten Orte sein, allein sie entsprechen nicht der Wahrheit. – Die Zwangsarbeit in den Bergwerken ist lange nicht das Ärgste, was den Sträflingen in Sibirien zukommt, weit ärger ist der Aufenthalt in den Gefängnissen.

Es dunkelte bereits als wir nach Algaschi zurückkamen. Die Mädchen des Dorfes tränkten die Kühe und füllten ihre beeisten Wassereimer an der eingefaßten Quelle, die in der Nähe des »Zemski-Kwartirs« floß. Wir fuhren zu Nesteroff, bei dem wir speisten und nachdem wir eine gute Weile noch geplaudert hatten, gingen wir heim und verbrachten die übrigen Abendstunden mit dem Niederschreiben unserer Reisebemerkungen.

Freitag am 20. November nahmen wir Abschied von Nesteroff und Saltstein und fuhren nach dem von Algaschi fast 150 Kilometer entfernten Dorf und Bergwerk Kadaja. Es war noch immer recht kalt und der Weg zeigte auch hier dieselbe langweilige schneebedeckte Hügelkette. Nachts gelangten wir nach dem Dorfe Dono, den folgenden Nachmittag zu den bereits erwähnten Hochöfen von Kutomarski, wo wir einige Stunden verblieben, um das Werk zu besichtigen. Endlich, durchfroren und hungrig, kamen wir Sonntag morgens in dem erbärmlichen Dörfchen Kadaja an, wo wir im »Zemski-Kwartir« abstiegen. Nach eingenommenem Thee gingen wir schlafen: Frost auf der Ofenbank, ich auf dem Fußboden.

156 Sonntag morgens standen wir ausgeruht und neugekräftet auf, und nach einem eilig eingenommenen kargen Frühstück durchschritten wir die breite, schneebedeckte Dorfstraße, Frost in der Absicht einige Skizzen zu zeichnen, ich, um den Aufseher des Bergwerks aufzusuchen.

Das Silberbergwerk von Kadajnski ist eines der größten und auch ältesten des Bezirks von Nertschinsk. Es liegt an einem steilen Berg, etwa 300 Meter vom Dorf entfernt, in einer Höhe von ungefähr 100 Meter. Länger als ein Jahrhundert ist es schon im Betrieb, es war früher recht ergiebig, ist jedoch heute schon ziemlich erschöpft und wird von den Bergwerken von Algaschi und Pokrofski übertroffen.

Ich fand den Aufseher in einem Blockhaus, das sich nächst dem Bergwerk befand und er war just bei der Arbeit. Dem Ansehen nach schien er mir ein intelligenter sibirischer Bauer zu sein. Er empfing mich höflich, allerdings etwas erstaunt, las meine Empfehlungsbriefe und erklärte mir sodann, er wäre bereit mir alles zu zeigen was ich wünsche. Wir gingen nach dem Bergwerk. In der Werkstätte, die sich über dem Eingang zum Hauptschacht befand, zog ich den Rock eines der Sträflinge an, der, wie ich bald verspüren mußte, voll Ungeziefer war. Auch der Aufseher legte einen langen schmutzigen Kittel an, eine alte Uniformmütze und dicke lederne Fausthandschuhe. Dann versahen wir uns mit Talgkerzen und stiegen in den Schacht hinab. In einer Tiefe von etwa 40 Meter gelangten wir in einen ziemlich großen Raum, von dem drei Gänge ausliefen, höher und breiter als jene, die wir in Algaschi und Prokofski sahen. Der Boden war einige Zoll tief mit Wasser bedeckt und von Decke und Wänden troff es nieder. Ungefähr noch 30 Meter tiefer war wieder ein ähnlicher Raum und von hier aus traten wir in einen breiten hohen Gang der zu des Berges Mitte führte. Hier wurde just eine Sprengung vorgenommen und der Raum war mit Pulverdampf derart erfüllt, daß ich im Dahinschreiten nichts sehen konnte als den schwachen Schimmer der Kerze des 157 führenden Aufsehers. Dem folgte ich, zuweilen auf dem holprigen Boden stolpernd, oder in eine Pfütze geratend. Mehr als einmal glaubte ich auch in einen alten, aufgegebenen Schacht abgeirrt zu sein. Wir kamen an einer großen Öffnung vorüber, woraus im vorigen Jahrhundert – wie mir der Aufseher erzählte – eine große Menge Erz gewonnen wurde. Die Balken der noch vorhandenen Pölzung waren ganz geschwärzt und so morsch, daß man sie mit den Fingern zerreiben konnte. Der Aufseher meinte, dieser Teil des Bergwerkes sei nicht ohne Gefahr zu betreten und riet zur Umkehr, was auch geschah. Ich konnte jedoch viele ganz unregelmäßig gegrabene Öffnungen erblicken, wahrscheinlich hatte man dort das Erz auf die bequemste Art herausgeschafft, ohne jedoch durch Pölzungen für die Sicherheit der Personen zu sorgen.

Von diesen aus der Zeit der zweiten Katharina stammenden Höhlen, stiegen wir in den tiefsten Teil des Bergwerks hinab, der in einem Winkel von ungefähr 45 Grad in den Felsen gehauen war. Hier gab es keine Leitern. Wir faßten eine schwere Eisenkette und schritten behutsam hinab, bis an die Knöchel im Wasser, das zwischen unseren Füßen hinunterfloß, Unten fanden wir Sträflinge, die mit Dynamit einen neuen Gang sprengten.

In einem andern Schacht kletterten wir wieder auf senkrechten, schlüpfrigen Leitern empor und als ich durchnäßt, beschmutzt und keuchend den Fuß von der letzten Sprosse hob, war ich so erschöpft, daß ich mich kaum mehr auf den Füßen halten konnte.

 


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