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Siebentes Kapitel.
Eisenerz

In diesem Alpendorf des südlichen Österreich liegt eine Bergmasse von einer Milliarde Tonnen vor uns, um die eines Tages in Europa der Krieg entbrennen kann. Strahlender Sonnenschein läßt die sechzig gewaltigen Stufen funkeln und gleißen, die in die Seiten des Erzberges gehauen sind, des einzigen wirklichen Berges aus Eisenerz, den es auf der Welt gibt.

Hier im Erzberg ruhen 300 000 000 Tonnen des Materials, aus dem Kanonen, Tanks, Flugzeugmotoren hergestellt werden und alles übrige Rüstzeug der Soldaten.

Italien, Frankreich und seine Alliierten wollen nicht, daß Deutschland Österreich in die Hände bekomme. Dieses kleine Land ist der Brennpunkt des erbittertsten Kampfes in Europa, und Österreich ist heute die einzige Stelle auf dem Kontinent, wo der Krieg seinen Ausgang nehmen könnte.

Für die Befürchtungen Italiens, Frankreichs und seiner Alliierten gibt es viele Gründe.

Erstens: Adolf Hitler wurde in Braunau am Inn geboren und wird nicht ruhen und rasten, ehe seine Heimat Österreich ein Teil seines Reiches, des Dritten Reiches, geworden ist.

Zweitens: es ist wahrscheinlich, daß die Mehrheit der Österreicher den Wunsch hat, dem Reich anzugehören, und diese Vereinigung würde augenblicklich die Anzahl der Einwohner Deutschlands von fünfundsechzig auf zweiundsiebzig Millionen erhöhen und das deutsche Heer um weitere zwölf Armeekorps vergrößern.

Drittens: sowie Deutschland einmal Österreich besitzt, wäre die Tschechoslowakei eingekreist. Deutschland stieße direkt an Italien und wäre nur 160 Kilometer von der Adria entfernt. Deutschland würde an Ungarn grenzen und damit die Möglichkeit haben, einen Druck auf Rumänien auszuüben, es bestände für das Dritte Reich die Aussicht auf einen Zugang zum Schwarzen Meer und damit zum ganzen Orient mit seinen weiten Gebieten, deren Ausdehnung auch der kühnsten imperialistischen Phantasie genüge tun würden.

Viertens: der Besitz Österreichs würde den Binnenmarkt der Deutschen vergrößern, einige wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen und die Aufmerksamkeit von dem notwendigerweise langsamen Fortschritt der wirtschaftlichen Erholung im Reich ablenken.

Fünftens: es wäre die erste territoriale Abänderung der Friedensverträge, es gäbe einen Präzedenzfall für weitere Änderungen, und die Tatsache an sich, daß dann ein Block von 72 000 000 nationalsozialistischen Deutschen existierte, würde eine stärkere Anziehungskraft auf die übrigen acht Millionen Deutschen in Europa außerhalb des Reichs ausüben. Der Traum von einem Alldeutschland wäre damit seiner Verwirklichung näher gebracht.

Und schließlich würde der Besitz Österreichs zur Folge haben, daß der Erzberg innerhalb der Grenzen Deutschlands läge.

Der Erzberg wird zuletzt genannt, aber er ist keineswegs der geringste in der Reihe der Gründe, weshalb Deutschland Österreich wohl haben möchte. Deutschland muß heute drei Viertel seines Bedarfs an Eisenerz importieren.

Der Versailler Vertrag brachte das Reich um drei Viertel seiner Erzvorräte. Als Deutschland die Eisengebiete Elsaß-Lothringens, Luxemburgs und, zumindest vorübergehend, des Saargebietes genommen wurden, erlitt es den schwersten Verlust in seiner Kriegskapazität.

In Friedenszeiten kann Deutschland, wie die Statistiken des Jahres 1925 zeigen, genug Eisenerz einführen, um den Kriegsbedarf von 1917 zu befriedigen. Es kann aus Schweden, Spanien und Algier so viel importieren, daß es sich nach Herzenslust auf alles vorbereiten kann. Es kann gewaltige Erzvorräte stapeln, was es auch jetzt mit Hilfe der langfristigen Verträge mit Schweden tut. Aber sobald es zum Krieg kommt, ist Deutschland, das nicht die Herrschaft über die Meere hat, auf die Erzvorräte innerhalb seiner Grenzen angewiesen.

Der Erzberg ist bereits Eigentum des Deutschen Stahlvereins.

Nicht viele Besucher Österreichs machen sich die Mühe, diesen geographischen Faktor der internationalen Politik zu besichtigen. Der Zug verläßt um zehn Uhr abends Wien und erreicht um zwei Uhr morgens Leoben. Bis Tagesanbruch schläft man in einem ausgezeichneten Hotel, das der mächtigen Alpinen Montan-Gesellschaft gehört, der gegenwärtigen Besitzerin des Erzberges. In aller Morgenfrühe fährt der gemischte Zug, der sechs Gebirgler als Passagiere mit sich führt, nach Erzberg ab und beginnt den Anstieg, der eine Höhendifferenz von neunhundert Metern zu überwinden hat.

Der Schaffner sagte, wir würden niemals ankommen; eine Lawine hätte die Strecke gesperrt. Pünktlich um neun Uhr dreißig fuhren wir jedoch allen Aussagen des Zugpersonals zum Trotz in den Erzberg ein. Gleich Gnomen tauchten wir in den Berg, durchfuhren einen Tunnel, der mitten durch ihn hindurchführt, und kamen an seiner gewaltigen Brust wieder heraus.

Da lag, über und unter uns, der Erzberg, eine gewaltige Treppe, über deren fünfzehn Meter hohe Stufen ein Riese vom Fuße bis zum Gipfel emporsteigen könnte. Aus der Spitze des Berges ließen sich hundert Cheopspyramiden bauen. Die Stufen waren teils grau, teils rot, teils gelb, ihre Oberflächen waren mit Rauhreif bedeckt. Hinter dem Berg funkelte der blaue Alpenhimmel im kalten Licht der Sonne. Jede Stufe hat ihren Namen. Da gibt es einen Adam, eine Eva, einen Judas, einen Paul, einen Joseph und eine Kunigunde. Jeder Häuer kennt die sechzig Stufen, wie andere Menschen Straßennamen kennen.

Die Römer waren die ersten, die dem Erzberg zu Leibe gingen. Sie arbeiteten ein Jahrhundert lang, um eine Tonne zu gewinnen. Heute fressen sich die Preßluftbohrer, wenn mit voller Kapazität gearbeitet wird, tief in jede einzelne Stufe ein. Das Leitungsnetz, mit dem der Berg überzogen ist, trägt den zündenden Funken gleichzeitig zu dreihundert Sprengstellen, und in einer gewaltigen Detonation reißt eine Tonne Dynamit dem Ungeheuer wieder eine Schicht seines Felles ab. Minutenlang brüllt das Echo talauf und talab.

»Das hört sich wunderbar an«, sagte unser Führer. »Manchmal haben wir Kriegsteilnehmer hier, und die sagen immer, es erinnert sie an die heftigsten Feuerüberfälle, die sie an der Front erlebt haben.«

Bei diesem Arbeitstempo ergeben die Sprengungen eines Tages 6000 oder noch mehr Tonnen Erz, aus denen mehr als fünfzig Prozent reines Eisen zu gewinnen sind. In seinem besten Jahr, 1916, lieferte der Erzberg 2 260 000 Tonnen. 1933 sank die Produktion auf 270 000 Tonnen herab. In diesem Jahr erwartet die Alpine Montan eine Leistung von 400 000 Tonnen, was etwa dem Abbau des Jahres 1931 entspräche.

Deutschland braucht natürlich mehr Erz, als die Alpine Montan produziert hat und produziert. Zur Zeit sind die Verkäufe nach Deutschland durch die Frachten zum Ruhrgebiet überaus erschwert. Aber die Alpine Montan braucht deutschen Koks, und die Waggons, die den Koks zum Erzberg bringen, können auf dem Rückweg das Eisenerz an die Ruhr transportieren. Das ist eine Möglichkeit für den Handel zwischen Deutschland und Österreich in Friedenszeiten und bietet ein Beispiel dafür, welcher Art die wirtschaftlichen Vorteile wären, die sich für die beiden Länder aus einer politischen Vereinigung ergeben könnten.

Noch größer aber ist das Interesse Deutschlands an der Kapazität des Erzberges. Er könnte zwar nicht den ganzen Kriegsbedarf des Reiches decken, aber doch einen sehr wesentlichen Teil davon. Die 300 000 000 Tonnen Erz im Erzberg kommen ungefähr einem Viertel der gesamten Erzvorräte gleich, die Deutschland nach dem Verlust der französischen Gebiete geblieben sind. Und die Vorteile der Erzvorräte des Erzberges, die an der Oberfläche liegen, wo Platz für zehntausend Mann ist, die sie einfach wegschaufeln können, haben in Europa nicht ihresgleichen. Es erscheint durchaus möglich, daß die bisherige maximale Jahresproduktion von 2 260 000 Tonnen im Bedarfsfall verdreifacht bis vervierfacht werden könnte, und das würde bedeuten, daß der Erzberg Deutschland in Kriegszeiten vierzig bis fünfzig Prozent seines Erzbedarfs liefern könnte.

Selbst zu der Zeit, da Deutschland die Eisengebiete besaß, die jetzt Frankreich gehören, wußte es die Wichtigkeit des Erzberges zu schätzen. Das geht aus dem Gästebuch hervor. Das Gästebuch eines Eisenbergwerkes birgt auf seinen vergilbten Blättern sowohl Geschichte wie Romantik. Der Name, der vor vierzig Jahren als erster eingeschrieben wurde, ist der des Erzherzogs Franz Ferdinand, des österreichisch-ungarischen Thronerben, dessen Ermordung, zwanzig Jahre nachdem er den Erzberg besichtigt hatte, das Signal zum Ausbruch des Weltkrieges gab.

Im Jahre 1916 tauchen die Namen deutscher Offiziere auf, die nach Eisenerz kamen, um für die Lieferung von Erz für kriegshungrige Hochöfen zu sorgen. Immer wieder zeigen sich die Namen hoher Beamter des Berliner Kriegsministeriums.

Nach dem Krieg kommt Castillo Castiglioni, der große italienische Inflationsgewinnler, der am Zusammenbruch der Währungen ein gewaltiges Vermögen machte und wieder verlor. Eine Zeitlang war der Erzberg in Castiglionis Händen. Dann erscheint der Name von Hugo Stinnes, für den der Erzberg ein Posten mehr in seinem fantastischen Inventar war. Dann Zimmermann, der Völkerbundskommissar für Österreich. Schließlich Vögler, der deutsche Eisengewaltige, dessen Stahlverein jetzt dadurch, daß er die Alpine Montan kontrolliert, Besitzer des Erzberges ist.

Eine große und unheilverkündende Lücke im Gästebuch nach Kriegsausbruch spricht von der Erschütterung, die ganz Europa lähmte. Ein volles Jahr nach dem August 1914 zeichneten sich wieder die ersten Gäste ein, fünf kleine Erzherzoginnen mit ihrer Mama. Auf das Kriegsende folgte abermals eine große Lücke. Die ersten Gäste, die sich dann einzeichneten, waren die drei kleinen Kinder Skodas, des Munitionsgewaltigen.

Munitionsfamilien können sich noch immer einen Ausflug zum Erzberg leisten.


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