Hermann Löns
Tiergeschichten
Hermann Löns

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Die Zeit der schweren Not

Der Wind pfiff halb von Nord, halb von Ost. Allem, was am Berge lebte, mißfiel er, alle, Maus und Eichhorn, Has' und Reh, Fuchs und Dachs, blies er in ihre Verstecke, und Bussard und Krähe, Meise und Häher pustete er über den Kamm des Berges an den Westhang. Es fror, daß es knackte. Die Weizensaat unter dem Walde winterte aus, die Rinde der Eiche sprang, still stand der Graben, und der Bach verschwand.

Sieben Tage schnob der bitterböse Wind im Lande umher, dann verlor er den Atem. Über den Berg stieg eine Wolkenwand, schwarzblau und schwer, schob sich über den hellen, hohen Himmel und legte sich tief auf das Land, bis sie sich an den scharfen Klippen des Berges den Bauch aufschlitzte. Da quoll es heraus, weiß und weich, einen Tag und eine Nacht, und noch einen Tag und noch eine Nacht, und so noch einmal, bis alles zugedeckt war im Lande und auf dem Berge und so sauber aussah und so reinlich, daß die Sonne vor Freuden lachte. Ihr Lachen brachte Leben an den Osthang des Berges. Mit einem Male waren die Rehe wieder da und die Hasen, Fuchs und Dachs fuhren aus ihren Gebäuden, das Eichhorn verließ den Kobel und die Maus das Loch, Bussard, Krähe und Häher tauchten auf, und überall wimmelte es von buntem, lustigem Kleinvogelvolke.

Das Lachen der Sonne war falscher Art, es kündete Blut und Tod. Der tauende Schnee ballte sich und brach Äste und Bäume, er knickte die Fichten und krümmte die Jungbuchen, und auf dem Boden überzog der Schnee sich mit einer Kruste, hart wie Eis und scharf wie Glas. Der Ostwind hatte ausgeschlafen und blies aufs neue gegen den Berg. Da kam die Zeit der schweren Not.

Die Maus hatte ihren Gang unter dem Schnee, das Eichhorn behalf sich mit Blattknospen und Rinden, der Hase rückte in die Kohlgärten, der Dachs verschlief die hungrigen Nächte, der Fuchs suchte die Dungstätten ab. Übel daran aber war das Reh. Die Saat war begraben in steinhartem Schnee. Die Obermast im Holze war verschwunden. Verschneit waren die Himbeeren, verweht die Brombeeren, unsichtbar die Heide. Buchenknospen und dürre Halme, trockene Blätter und harte Stengel, das war alles, was der Berg an Äsung bot.

Der Hunger ging durch den Wald. Wo seine Augen ein Reh trafen, da fiel es ab. Der Hals wurde lang, die Dünnungen tief, rauh die Decke und immer größer die Lichter.

Langsam und vorsichtig zogen die Rehe am Hange entlang, aber alle Behutsamkeit half ihnen nichts; eins nach dem anderen trat durch die Eiskruste des Schnees und zerschabte sich die Läufe. In jedem Wechsel zeichneten sich blaßrote Flecken ab.

Und wieder baute sich eine schwarzblaue Wand hinter dem Berge auf, schob sich über den hellen Himmel, legte sich über das Land, riß sich an den Klippen den Pansen auf und schüttete Schnee auf das Gefilde, einen ganzen Tag und eine volle Nacht.

Und wieder lächelte die Sonne ihr hinterlistiges Lächeln und machte Eis aus dem Schnee. Noch langsamer, noch vorsichtiger zogen die Rehe dahin, mit Hälsen, so dünn wie Heister, schwarze Löcher in den Dünnungen. Und wo sie zogen, da wurde der Schnee rot.

Der Tod ging durch den Wald. Da war kein Reh am ganzen Berge, das nicht an den Läufen klagte. Das eine blieb stehen, wo es stand, und zitterte, bis es fiel. Ein anderes tat sich nieder und stand nicht wieder auf. Ein drittes stürzte halb verdurstet in die Quellschlucht und erstarrte im eisigen Wasser.

Noch niemals ging es dem Fuchs so gut wie da. Sein Tisch war gedeckt, war reicher beschickt als zur Maienzeit, wenn alle Mäuse hecken und das Feld von Junghasen wimmelt. Auch der Marder konnte zufrieden sein und Bussard und Krähe nicht minder; sogar für die bunten Meisen blieb noch Fraß genug übrig, und die Waldmäuse nagten die letzten Sehnenfetzen von den Knochen.

Kein Ende der Not kam; jeden Tag ging der Tod seinen Belauf im Berge ab. Selbst die Hasen schonte er nicht; mancher von ihnen, der sich am gefrorenen Kohl verdarb, füllte den Pansen des Fuchses, der von Tag zu Tag mehr in die Breite ging.

Eines Morgens aber fuhr er mit ledigem Leibe zu Baue. Vor der Dickung lag ein gefallenes Reh, an dem er sich schon eine Nacht gütlich getan hatte. Doch als er die zweite Nacht heranschnürte, da schlug ihm eine seltsame Witterung entgegen, ein Geruch, den er nur einmal gewittert hatte. Rund um den Fleck, wo das gefallene Stück lag, schnürte er, und eine geschlagene Stunde dauerte es, ehe er sich ein Herz faßte und heranschlich. Und da stand er und windete und äugte lange Zeit, und schließlich schnürte er mit hängender Lunte und angelegten Gehören mißmutig ab, denn sein Reh war fort, war bis auf die Schalen und einige Deckfetzen verschwunden, und weiter war nichts da als die niederträchtige und dabei doch verlockende Witterung.

Aber der Tod ging immer noch durch den Wald, und er schlug Stück um Stück mit harter Hand. Der Fuchs verlor den Mut nicht. Behende trabte er von Wechsel zu Wechsel, bis er einen fand, in dem eine kranke Fährte stand, und der hing er nach. So ganz leicht war es nicht, sie zu halten. Es schneite und schneite, und der Wind pfiff böse; er schob den Schnee von den Blößen vor die Dickungen, fegte ihn hier zusammen, kehrte ihn dort fort, verdeckte auf weite Strecken die Rotfährte und vermischte sie endlich völlig. Das ganze helle Holz suchte der Fuchs ab; er nahm diese Fährte wieder auf, wo er sie zuerst gefunden hatte, und er hing ihr nach bis zu der Stelle, wo sie in der großen Schneewächte unterging. Da saß er eine ganze Weile auf den Keulen, und dann schnürte er weiter, hungrig, müde und verdrießlich. Er suchte alle Rehdickungen ab; sie waren leer. Er schlich durch den Stangenort; da war es tot. Er trabte den Bach entlang bis zum Vorholze; es war dort unten so wie oben.

Da schnürte er zu Felde, um an der Dieme auf Mäuse zu passen. Als er dort angelangt war, vergaß er alle Mäuse, denn er fand die kranke Fährte wieder. Eilig, aber behutsam, nahm er sie auf und hielt sie bis zu dem Fichtenmantel unter dem Altholze. Immer länger wurde er, denn immer wärmer wurde die Fährte, und schon war er in den Fichten, da fuhr er wie besessen heraus und stob in das Feld zurück. Denn in den Fichten war es nicht geheuer. Es hatte da gebrochen, so laut und so grob, als wenn ein Mensch da gegangen wäre, und es hatte dort geschnauft und geschnarcht, wie kein Tier des Waldes zu schnaufen und zu schnarchen vermag.

In guter Sicherheit stand der Fuchs im Schatten der krausen Feldeiche und überlegte. Dann holte er sich Wind. In weitem Bogen trabte er am Vorberge entlang, verschwand bei der Quellschlucht im Altholze, schnürte hoch über dem Fichtenmantel durch die Räumdungen und schlich vorsichtig näher. Gerade, als der Mond die Wolken fortschob, kam der Fuchs bei den Fichten an. Da war es still und einsam. Der Fuchs schlich näher, den vollen Wind nehmend, Rehwitterung zog ihm entgegen. Langsam schlich er näher, verhoffte, schlich wieder näher, der guten Witterung entgegen; da fuhr er zurück. Denn da war eine zweite Witterung, die fremde Witterung von vorhin, dieselbe, die er bei dem gefallenen Stücke wahrgenommen hatte, das ihm verlorengegangen war, eine unbekannte, verdächtige, absonderliche, geheimnisvolle, niederträchtige Witterung, zwar keine von Mensch oder Hund, aber immerhin nicht ungefährlich und auf keinen Fall vertrauenswert. Und jetzt der Ton! Ein Blasen, Schnaufen, Schnarchen, wie es nachts oft aus den Ställen bei den Gehöften kommt. Der Fuchs drehte um und stahl sich davon. Er traute dem Frieden nicht.

Eine gelbgesäumte Wolke brachte den Mond wieder zu Bett. Das Schneetreiben setzte abermals ein. Da blies es lauter in den Fichten, da krachte es im Schnee, brach es in dem Fallholz, und schwarz und grob schob es sich aus der Dickung, verhoffte, nahm laut schnaubend Wind, trat dichter an das gefallene Stück, daß der harte Schnee krachend zerbrach, prüfte noch einmal blasend den Wind und nahm dann den Fraß an.

Der Waldkauz, der allabendlich an dem Tannenmantel entlang strich, um eine Maus zu schlagen oder einen Vogel aus dem Verstecke zu klatschen, rüttelte einen Augenblick neugierig über der kleinen Lichtung, von der ein lautes, gieriges Schmatzen und Schlabbern erscholl, untermischt mit dem Knirschen der Schneekruste und dem Krachen von Knochen. Dann strich die Eule ab; wo es laut war, gab es für sie nichts zu fangen.

Als der Fuchs am Spätnachmittage des anderen Tages den Tannenmantel absuchte, fand er dort, wo das Schmalreh gelegen hatte, nur noch die Schalen, einige zertrümmerte Knochen und etliche Fetzen der Decke in dem zerwühlten, niedergetretenen, besudelten Schnee. Alles andere hatte der von weither zugewechselte, versprengte Schwarzkittel verschlungen.

Der Tod ging immer noch durch den Wald, aber dem Fuchs bescherte er nichts. Jedes Stück, das Hunger und Hartschnee umwarfen, verschwand im Gebräche der Sau, so daß auch Reinke empfand, daß sie gekommen war, die Zeit der schweren Not.


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