Jean-Baptiste Louvet de Couvray
Leben und Abenteuer des Chevalier Faublas – Erster Band
Jean-Baptiste Louvet de Couvray

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V. Kapitel

Hier wurde Herr Duportail durch den Marquis von B... unterbrochen, der, als er im Vorzimmer keinen Bedienten traf, unangemeldet eintrat. Er gieng einige Schritte zurück, als er mich sah.

»Ah! ah!« sagte er, Herrn Duportail grüßend. »Sie haben auch einen Sohn?« Dann sich zu mir wendend:

»Der Herr ist offenbar der Bruder?«

»Von meiner Schwester, ja, mein Herr.«

»Sie haben eine sehr liebenswürdige, eine bezaubernde Schwester!«

»Sie sind eben so gütig als nachsichtig,« fiel Herr Duportail ein.

»Nachsichtig! oh, das bin ich nicht; zum Beispiel, ich bin hierher gekommen, um ihnen Vorwürfe zu machen, mein Herr.«

»Mir! sollte ich das Unglück gehabt haben – ?«

»Ja, mein Herr, Sie haben uns vorgestern sehr beleidigt.«

»Wie, Herr Marquis?«

»Sie haben den jungen Rosambert beauftragt, uns Ihr Fräulein Tochter zu entreißen; die Marquise zählte darauf, Ihre liebe Tochter werde die Nacht bei ihr zubringen.«

»Ich fürchtete, meine Tochter möchte Sie genieren.«

»Nicht im mindesten, mein Herr! Fräulein Duportail ist bezaubernd und meine Frau ist in sie vernarrt, wie ich Ihnen schon einmal gesagt habe.«

»Wahrhaftig,« sagte er lächelnd hinzu, »ich glaube, die Marquise liebt das Kind mehr als mich selbst. Und ich bin doch ihr Gemahl! »Wenn Sie nur selbst gekommen wären, um sie abzuholen!«

»Verzeihen Sie, mein Herr, ich war unwohl, ich bin es auch noch jetzt, ich weiß, dass ich Madame von B... Dank schuldig bin.«

»Nicht deswegen!«

(Der Marquis betrachtete mich mit einer Aufmerksamkeit, die mich unruhig machte.)

»Wissen Sie auch,« sagte er endlich zu mir, »dass Sie sehr große Ähnlichkeit mit Ihrer Fräulein Schwester haben?«

»Mein Herr, Sie schmeicheln mir.«

»Ja, es ist auffallend. Gehen Sie, gehen Sie, ich verstehe mich gut darauf; alle meine Freunde sagen, dass ich ein Physiognom bin. Ich frage Sie selbst: ich hatte Sie nie gesehen, und habe Sie sogleich erkannt.«

Herr Duportail konnte nicht umhin, mit mir über die Aufrichtigkeit des Marquis zu lachen.

»Mein Herr,« sagte er zu ihm, »das kommt davon her, dass, wie Sie sehr richtig bemerkt haben, mein Sohn und meine Tochter einander ähnlich sind; man muss gestehen, dass es ein Familiengesicht gibt.«

»Ja,« antwortete der Marquis, mich fortwährend anblickend, »dieser junge Mensch ist hübsch; aber seine Schwester ist hübscher. (Er faßte mich beim Arm.) Sie ist etwas größer; sie sieht gesetzter aus, obschon sie auch ein wenig schelmisch ist; es ist ganz ihr Gesicht; aber Sie haben in Ihren Zügen etwas Kühneres, Sie haben weniger Anmuth in der Haltung, und in der ganzen Bildung etwas ... Nervigeres, Rauheres. Oh! ja, doch; nehmen Sie es nicht übel; ein Jüngling darf nicht so gebaut sein wie ein Mädchen. (Herr Duportail's Phlegma konnte sich gegen die letzten Worte nicht halten; der Marquis sah uns lachen, und lachte aus vollem Halse mit.) Oh! fuhr er fort, ich habe Ihnen schon gesagt, ich bin ein großer Physiognom; aber werde ich das Glück nicht haben, die liebe Schwester zu sehen?«

Herr Duportail antwortete schnell:

»Nein, mein Herr, sie ist ausgegangen und macht ihre Abschiedsbesuche.«

»Ihre Abschiedsbesuche?«

»Ja, mein Herr, sie geht morgen früh wieder in ihr Kloster.«

»In ihr Kloster! zu Paris?«

»Nein, zu Soissons.«

»Morgen früh! dieses liebe Kind verlässt uns?«

»Es ist nothwendig, mein Herr.«

»Und ohne Zweifel wird sie sich auch von meiner Frau verabschieden?«

»Ganz gewiss, Herr Marquis, sie muss in diesem Augenblick bei Ihnen sein.«

»Ach, wie bedauere ich! heute früh war die Marquise noch krank und heute Abend wollte sie ausgehen; ich habe ihr vorgestellt, dass es kalt sei; aber die Frauen wollen, was sie wollen; sie ist ausgegangen; nun gut, um so schlimmer für sie, sie wird Ihre liebe Tochter nicht sehen, und ich werde sie sehen, denn sie wird doch gewiss bald zurückkommen.«

»Sie hat mehrere Besuche zu machen,« sagte ich zum Marquis.

»Ja,« fügte Herr von Duportail hinzu, »wir erwarten sie erst zum Nachtessen.«

»Man speist also hier zu Nacht? Sie haben Recht, alles hat die Wuth, abends nichts zu essen! aber ich mag nicht Hunger sterben, weil es Mode ist. Sie speisen zu Nacht! nun gut, ich bleibe da; ich speise mit Ihnen. Sie werden sagen, ich nehme mir viele Freiheit heraus, aber ich bin nun einmal so und wünsche, dass man es bei mir eben so mache; wenn Sie mich einmal kennen werden, dann werden Sie sagen, dass ich ein guter Teufel bin.«

Jetzt war nicht mehr auszuweichen.

Herr Duportail hatte sich schnell besonnen.

»Ich bin äußerst erfreut, Herr Marquis, dass Sie die Güte haben wollen, unser Gast zu sein. Nur werden Sie erlauben, dass mein Sohn uns auf eine oder zwei Stunden verlässt, er hat einige dringende Geschäfte.«

»Mein Herr, ich bitte, dass man sich wegen meiner nicht geniert, er verlasse uns, aber er muss auch wiederkommen; denn er ist sehr liebenswürdig.«

»Sie werden auch erlauben, dass ich Sie einen Augenblick verlasse, um nur ein paar Worte zu ihm zu sagen?«

»Thun Sie, wie wenn ich nicht hier wäre.« (Ich grüßte den Marquis, er stand plötzlich auf, fasste mich bei der Hand und sagte zu Herrn Duportail:)

»Sehen Sie, mein Herr, Sie mögen sagen, was Sie wollen, dieser junge Mensch da gleicht seiner Schwester wie ein Ei dem andern! Ich verstehe mich auf Gesichter.«

»Ja, mein Herr,« antwortete Herr Duportail, »es gibt ein Familiengesicht.«

Mit diesen Worten führte er mich in ein anderes Zimmer.

»Wahrhaftig,« sagte er. »Es ist ein wunderlicher Kauz, Ihr Marquis, er geniert sich nicht bei denen, die er liebt.«

»Es ist wahr, der Marquis drängt sich uns auf; aber was mich anbelangt, so kann ich mich nicht beklagen; ich habe mich in seinem Hause sehr gut befunden.«

»Was Sie anbelangt, allerdings; aber Spass bei Seite! wie kommen wir aus der Geschichte heraus? Wenn ich nur ihn im Auge hätte, so wäre die Sache bald im Reinen; aber mein Freund, Sie haben wegen seiner Frau Rücksichten zu beobachten.

»Hören Sie, gehen Sie in Ihr Haus und lassen Sie Ihren Lakai irgend eine Livree anziehen, dann meldet er uns, Fräulein Duportail speise bei Frau von ...; der erste beste Name, der Ihnen einfällt.«

»Nun gut, und dann? Der Marquis wird dennoch bei Ihnen bleiben und ruhig die Rückkehr Ihrer Tochter erwarten; so ist er nun einmal, er hat es ja selbst gesagt.«

»Was nun machen?«

»Ich mache so gut Ihre Tochter! ich will Damenkleider anziehen und Ihre Tochter speist wirklich mit Ihnen zu Nacht.

»Dagegen wird Ihr Sohn aufgehalten und kann nicht kommen. Es ist sechs Uhr, bis zehn Uhr bin ich wieder da, ich habe Zeit.«

»Sie müssen doch gestehen, dass Lowzinski hier eine sonderbare Rolle spielt. Sie haben mich in ein Abenteuer verwickelt! Doch ich kann jetzt nichts mehr dagegen sagen; gehen Sie schnell und kommen Sie wieder.«

Ich eilte ins Hotel. Jasmin sagte mir, mein Vater sei ausgegangen, und ein sehr hübsches Fräulein wartet seit mehr als einer Stunde auf mich.

»Ein hübsches Fräulein, Jasmin?« Wie ein Blitz war ich in meinem Zimmer.

»Ah, Justine, Du bist's? Jasmin sagte mir, es sei ein hübsches Fräulein!« Ich umarmte Justine.

»Sparen Sie das für meine Gebieterin.«

»Für Deine Gebieterin, Justine? Du gibst ihr nichts nach.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Ich glaube es, und es kommt bloß auf Dich an, dass ich mich davon überzeugen kann,« und ich umarme sie und Justine lasst mich gewähren, indem sie wiederholt:

»Sparen Sie das für meine Gebieterin. Mein Gott, wie schön sind Sie in diesen Kleidern.«

»Diesen Abend zum letzten Mal, Justine, nachher werde ich immer Mann sein ... zu Deinen Diensten, schönes Kind.«

»Zu meinen Diensten? oh nein, zu den Diensten meiner Gebieterin.«

»Und zugleich zu Deinen, Justine.«

»Wie? Sie brauchen also zwei?«

»Ich fühle, meine Theuerste, dass es nicht zu viel ist.«

Ich umarmte Justine, und meine Hände ergiengen sich über einen schneeweißen Hals, der fast nicht vertheidigt wurde.

»Doch seht, wie keck er ist!« sagte Justine; »wo ist denn die Verschämtheit des Fräulein Duportail geblieben?«

»Ach, Justine, Du weißt nicht, wie eine Nacht mich verändert hat.«

»Diese Nacht hat auch meine Gebieterin sehr verändert; am andern Morgen war sie blaß, abgemattet! Mein Gott! ich sah es wohl, und konnte leicht errathen, dass Fräulein Duportail ein sehr wackerer junger Mann war!«

»Wenn ich Dir sage, Justine, dass zwei für mich nicht zu viel sind.«

Ich wollte sie umarmen; diesmal vertheidigte sie sich zurückweichend. Mein Bett stand hinter ihr, sie fiel rücklings darauf und in Folge eines Unglücks, das man vielleicht erwartet, verlor sie das Gleichgewicht. Einige Minuten später fragte mich Justine, die sich sehr beeilte ihre Kleider wieder in Ordnung zu bringen, was ich von dem Streiche dachte, den sie dem Marquis gespielt hätte.

»Wie so, mein Kind?«

»Wissen Sie noch, der Zettel auf dem Rücken seines Dominos, was halten Sie davon?«

»Vortrefflich! herrlich! fast so schön als der Streich, den wir soeben der Marquise spielten.«

»Apropos, mein Auftrag! meine Gebieterin erwartet Sie ...«

»Sie erwartet mich? ich eile.«

»Da seht doch, wie vorschnell! und wohin wollen Sie gehen?«

»Justine, Du siehst ein –«

»Ich sehe ein, dass Sie ein ausgelassener Wüstling sind.«

»Hier, Justine, schließen wir Frieden; ein Louisd'or und einen Kuss.«

»Ich nehme den einen sehr gerne und gebe den andern vom Herzen. Der herrliche Junge! hübsch, lebhaft und großmüthig! Oh! Sie werden es weit bringen in der Welt! aber jetzt müssen wir gehen; folgen Sie mir in einiger Entfernung, aber so, dass es nicht auffällt; Sie werden mich in ein Geschäft gehen sehen, nebenan ist eine kleine Thüre, die Sie halb offen finden werden. Sie gehen hinein; ein Portier wird Sie fragen, wer Sie sind. Sie antworten: Die Liebe! Sie steigen zwei Treppen hoch, bis Sie auf einer kleinen weißen Thüre das Wort: »Paphos« lesen. Sie öffnen mit diesem Schlüssel hier und werden nicht lange allein sein.«

Ehe ich ausgieng, befahl ich Jasmin, eine andere Livree als die vom Hause anzuziehen, und Herrn Duportail, als Auftrag des Herrn Saint-Luc, zu melden, dass sein Sohn zum Abendessen nicht nach Hause kommen werde.

Indes wurde Justine ungeduldig, ich folgte ihr, sie trat zu einer Modehändlerin, ich eilte zu der Nebenthür hinein. Die »Liebe«, rief ich dem Portier zu, und mit einem Sprung war ich in Paphos.

Ich öffnete und trat ein; das Zimmer schien mir der Göttin, die hier verehrt wurde, sehr würdig. Einige wenige Wachskerzen verbreiteten eine angenehme Helle; ich sah reizende Gemälde, ebenso elegante als bequeme Möbel, vor allem aber bemerkte ich eine vergoldete Alcoven mit Spiegelthüren, ein elastisches Bett von schwarzem Atlas, der eine schöne weiße Haut ungemein heben musste.

Ich erinnerte mich, dass ich Herrn Duportail versprochen hatte, die Marquise nicht wieder zu sehen, aber man wird wohl errathen, dass diese Erinnerung zu spät kam.

Auf einmal öffnete sich eine Thüre, die ich nicht bemerkt hatte, und die Marquise trat ein. Mich in ihre Arme stürzen, sie mit Küssen bedecken, in den Alcoven tragen, auf das elastische Bett legen und in süßer Entzückung mit ihr darauf sinken, war das Werk eines Augenblicks. Die Marquise kam mit mir wieder zur Besinnung. Ich fragte sie, wie sie sich befände?

»Was, Sie da?« antwortete sie erstaunt. Ich wiederholte:

»Liebste Mama, wie befinden Sie sich?«

Sie brach in ein schallendes Gelächter aus:

»Ich glaubte falsch gehört zu haben; die Frage ist vortrefflich! Wenn ich mich nicht wohl befände, würden Sie zu spät darnach fragen. Meinen Sie, eine solche Behandlung sei für eine kranke Person? lieber Faublas,« setzte sie mich zärtlich umarmend hinzu, »Sie sind sehr lebhaft.«

»Liebstes Mütterchen, weil ich heute eine Menge Sachen weiß, die ich vor drei Tagen noch nicht wusste.«

»Fürchten Sie den Unterricht so bald wieder zu vergessen, Schelm?«

»Oh, nein!« sagte ich ihren schönen Busen küssend.

»Ich glaube es Ihnen gern, Herr Bruder Liederlich« (sie umarmte mich).

»Versprechen Sie mir, diese Wissenschaft nur bei mir auszuüben.«

»Ich verspreche es Ihnen, liebstes Mütterchen.«

»Sie schwören, treu zu sein.«

»Ich schwöre, ewig will ich treu sein!«

»Aber sagen Sie mir doch, warum haben Sie mich so lange warten lassen. Undankbarer?«

»Ich war nicht zu Hause, ich hatte bei Herrn Duportail gespeist.«

»Bei Herrn Duportail? hat er von mir gesprochen?«

»Ja.«

»Ich hoffe. Sie haben ihm die Tollheit nicht erzählt?«

»Nein, liebe Mama.«

Sie fuhr in sehr ernstem Tone fort: »Sie haben ihm doch gesagt, dass ich, wie der Marquis, durch den Schein getäuscht wurde?«

»Ja, Mama.«

»Und dass ich es noch bin?« setzte sie mit zitternder Stimme hinzu, indem sie mir zugleich den zärtlichsten Kuss gab.

»Herrliches Kind,« rief sie, »so muss ich Dich denn anbeten!«

»Wenn Sie keine Undankbare sind, so werden Sie es wohl müssen.«

Diese Antwort trug mir eine Menge Liebkosungen ein. Da ihre Unruhe noch nicht ganz beschwichtigt war, fuhr sie erröthend fort:

»Sie haben also Herrn Duportail versichert, dass ich Sie für ein Mädchen halte?«

»Ja.«

»Sie können also lügen?«

»Habe ich gelogen?«

»Ich glaube, der Schelm macht sich über seine Mama lustig!«

Ich stellte mich, als wollte ich fliehen, sie hielt mich zurück.

»Bitten Sie auf der Stelle um Verzeihung.«

Ich bat sie darum, als ob ich ihrer schon gewiss wäre. Der Streit erhitzte sich, der Friede wurde unterzeichnet.

»Sind Sie nicht mehr böse?« sagte ich zur Marquise.

»Gut,« antwortete sie lachend, »hält wohl der Zorn einer Liebenden gegen solche Mittel Stand?«

»Liebstes Mütterchen, ich genieße bei Ihnen herrliche Augenblicke! Wissen Sie auch, wem Sie das zu verdanken haben?«

»Erklären Sie sich, lieber Freund.«

»Ich wusste nichts von dem Glück, das Sie mir zugedacht haben, und wäre noch bei Herrn Duportail, wenn Ihr werter Gemahl nicht gekommen wäre, ihm einen Besuch zu machen.«

»Er hat Sie bei Herrn Duportail gesehen?«

Jetzt erzählte ich meiner schönen Freundin alles, was sich in Folge des Besuches des Marquis zugetragen hatte.

Sie zwang sich sehr, um nicht zu lachen.

»Der arme Marquis,« sagte sie, »über ihn waltet das unglückseligste Gestirn! man sollte glauben, er gehe absichtlich darauf aus, sich lächerlich zu machen. Eine Frau ist sehr unglücklich, lieber Faublas, wenn sie einen Gemahl hat, der als Einfaltspinsel gelten kann.«

»Es scheint mir aber, liebste, theuerste Mama, dass Sie nicht so sehr zu beklagen sind, denn es scheint mir, als wäre in diesem Falle das Unglück auf Seite des Gemahls.«

»Ach!« antwortete sie ernsthaft. »Man leidet bisweilen durch die Erniederungen, die dem Gemahl widerfahren.«

»Man leidet oft, ich glaube es gerne, aber benützt man sie nicht auch hie und da?«

»Faublas, Sie bekommen Schläge! aber sagen Sie einmal, Sie müssen mit dem Marquis zu Nacht speisen und haben kein Kleid, und dann, wollen Sie mich denn so bald wieder verlassen?«

»So spät als möglich, schöne Mama.«

»Sie können sich hier ankleiden.« Bei diesen Worten rief sie Justine herbei: »Geh,« sagte sie zu ihr, »hole eines von meinen Kleidern, mir müssen das Fräulein anziehen.«

Ich schloss die Thür hinter Justine, die mir eine kleine Ohrfeige gab; die Marquise bemerkte es nicht. Ich setzte mich wieder neben sie.

»Sind Sie auch sicher, dass Ihre Kammerfrau nicht schwatzt?«

»Mein Freund, ich gebe ihr für ihr Schweigen weit mehr, als sie für ihr Plaudern erhalten würde. Ich konnte Sie nicht in meinem Hause empfangen, und musste deshalb entweder dem Vergnügen, Sie zu sehen, entsagen, oder mich entschließen, eine Unvorsichtigkeit zu begehen; lieber Faublas, ich habe keinen Anstand genommen, reizendes Kind! es ist die erste Thorheit, die Du mich begehen machst!« Sie nahm meine Hand, küsste sie und bedeckte ihre Augen damit.

»Liebste Freundin, Sie wollen mich nicht mehr sehen?«

»Ach! immer und überall,« rief sie, »oder ich hätte Dich nie sehen sollen.«

Meine Hand, die soeben noch ihre Augen bedeckte, war jetzt an ihr Herz gedrückt. Es klopfte gewaltig, ihre langen Augenwimpern hiengen voll Thränen, und ihr reizender Mund, an den meinigen gedrückt, verlangte nach einem Kusse; er erhielt tausend.

Ein verzehrendes Feuer brannte in meinen Adern; ich glaubte, es würde getheilt, und wollte es löschen; allein meine glücklichere Geliebte, in den Wonnerausch einer zärtlichen Herzensergießung versunken, genoss die unaussprechlichen Freuden, die aus der Seele kommen.

»Dich nicht mehr sehen!« versetzte sie, »das wäre so viel, als nicht mehr leben; ich lebe erst seit einigen Tagen.«

»Angebetete Freundin, ich erlaube mir eine vielleicht unbescheidene Frage: bei wem sind wir hier?« Diese Frage riss die Marquise aus ihrer Entzückung.

»Bei wem wir sind? Bei einer meiner Freundinnen. Diese Freundin liebt. Die Liebe hat diesen reizenden Ort geschaffen, er ist für ihren Geliebten.«

»Und für den Ihrigen, himmlisches, vergöttertes Mütterchen.«

»Ja, theuerer Freund, sie hat die Güte gehabt, das Boudoir mir auf diesen Abend einzuräumen.«

»Diese Thüre, zu der Sie hereingetreten sind, führt in ihr Zimmer, ist es nicht so, theuere Freundin?

»Aber noch eine Frage: Sie waren vorgestern krank, Herr von Rosambert –«

»Sprechen Sie nichts von ihm! Rosambert ist ein Unwürdiger, dem es nicht darauf ankommt, mir tausend boshafte Streiche zu spielen und Ihnen tausend Lügen aufzubinden. Sobald er sieht, dass Sie ihm glauben, wird er dreist behaupten, er habe die ganze Welt gehabt. Wenn er bloß geckenhaft wäre, so könnte man ihm verzeihen, allein sein boshaftes Betragen gegen mich wäre, wenn ich es auch verdient hätte, jedenfalls nie zu entschuldigen.

»Ich habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen! Doch lassen wir das, wenn ich nur Dich sehe, theuerer Freund, so denke ich nicht mehr an das, was ich um Deinetwillen gelitten habe. Wie schön er in seinen Manneskleidern ist! wie hübsch, wie reizend! nur schade,« setzte sie leichtfertig hinzu, »dass Sie das alles zurücklassen müssen! Vorwärts, Herr von Faublas, machen Sie dem Fräulein Duportail Platz.«

Mit diesen Worten riss sie mir alle Knöpfe meiner Weste auf. Ich rächte mich an einem verrätherischen Busentuche, das ich schon sehr in Unordnung gebracht hatte und jetzt ganz entfernte. Sie setzte den Angriff fort, ich gefiel mir in der Rache; wir nahmen einander fast Alles, ohne etwas zurückzugeben. Ich zeigte der Marquise das glückliche Kabinet, und diesmal ließ sie sich hineinführen.

Man klopfte leise an die Thüre; es war Justine. Ich musste ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen, diesmal hatte sie ihren Auftrag schnell vollzogen. Obschon nicht zum anständigsten gekleidet, wollte ich der Zofe sogleich öffnen; die Marquise zog an einer Schnur, die Vorhänge fielen vor uns, und die Thüre öffnete sich von selbst

»Gnädige Frau, das ist Alles, was Sie brauchen; soll ich das Fräulein ankleiden helfen?«

»Nein, Justine, das will ich besorgen, aber Du wirst sie frisieren, wenn ich Dir läute.«

Justine gieng hinaus; wir ergötzten uns noch einige Zeit.

»Vorwärts,« sagte die Marquise mich umarmend, »ich muss meine Tochter ankleiden.«

Ich wollte den Augenblick unserer Trennung durch einen letzten Sieg bezeichnen.

»Nein, nein, lieber Freund,« entgegnete sie, »man muss nichts missbrauchen.«

Meine Toilette begann; während die Marquise sich ernstlich damit beschäftigte, ergötzte ich mich an anderen Sachen.

»Wollen Sie jetzt nicht aufhören?« sagte meine schöne Geliebte. »Sie müssen jetzt klug werden, Sie sind ein Mädchen.«

Ich hatte einen Unterrock und ein Korset angezogen.

»Liebstes Mütterchen, Justine muss mich vorher frisieren, dann wird sie mich vollends ankleiden.« (Ich wollte läuten.)

»Wie unbesonnen! sehen Sie nicht, in welchen Zustand Sie mich versetzt haben; muss ich mich nicht vorher ankleiden?«

Ich bot der Marquise meine Dienste an und machte Alles verkehrt.

»Theuerster Engel, man braucht mehr Zeit zum Aufbauen, als zum Einreißen.«

»O ja! ich sehe es wohl! was habe ich für eine Kammerfrau! sie ist noch mehr vorwitzig als ungeschickt.«

Endlich läuteten wir der Justine.

»Kleine, Du musst das Kind frisieren.«

»Ja, gnädige Frau; aber soll ich nicht auch Ihre Haare ordnen?«

»Warum doch, sind sie verwirrt?«

»Ja, gnädige Frau, ich glaube ein wenig.«

Die Marquise öffnete einen Schrank und legte meine Mannskleider hinein.

»Morgen früh,« sagte sie, »wird ein verschwiegener Bote Ihnen dies alles bringen.« Man setzte einen Toilettentisch vor mich, und jetzt ließ Justine ihre kleinen leichten Finger in meinen Haaren spielen.

Die Marquise setzte sich neben mich und sagte:

»Fräulein Duportail, erlauben Sie, dass ich Ihnen meine Aufwartung mache.«

»Ja, ja,« fiel Justine ein, »bis Herr von Faublas Ihnen wieder die seinige macht.«

»Was sagte die Naseweise?« versetzte die Marquise.

»Sie sagt, dass ich Sie sehr liebe!«

»Hat sie Recht, Faublas?«

»Zweifeln Sie noch?« und ich küsste ihr die Hand; dies missfiel Justine offenbar.

»Die verdammten Haare!« sagte sie, mich heftig zupfend, »wie sie verwirrt sind!«

»Ach! Justine, Du thust mir weh!«

»Achten Sie nicht darauf, mein Herr, denken Sie an Ihre Sachen. Madame spricht mit Ihnen.«

»Ich sage kein Wort, Kleine,« sagte die Marquise, »ich sehe Fräulein Duportail nur an. Du machst sie recht hübsch.«

»Damit sie der gnädigen Frau besser gefällt.«

»Ich glaube, Kleine, dies amüsiert Dich im Grunde; Fräulein Duportail gefällt Dir nicht übel?«

»Gnädige Frau, Herr von Faublas gefällt mir noch weit besser.«

»Sie ist doch wenigstens aufrichtig,« sagte die Marquise.

»Sehr aufrichtig, gnädige Frau, fragen Sie nur ihn selbst.«

»Mich, Justine? ich weiß von nichts.«

»Sie lügen, mein Herr, Sie wissen wohl, dass, wenn es etwas für Sie zu thun gibt, ich immer bereit bin, wenn Madame mich zu Ihnen schickt, husch, bin ich fort!«

»Ja,« fiel die Marquise ein, »aber Du kommst nicht zurück.«

»Gnädige Frau, heute ist es nicht meine Schuld, er hat mich warten lassen.« (Hier kitzelte mich Justine sanft am Hals, während sie mir eine Locke drehte.)

Nun trat eine kleine Pause ein; meine schöne Freundin hatte eine von meinen Händen in den ihrigen, die schelmische Zofe beschäftigte die andere, indem sie mich das Ende von dem Bande halten ließ, womit sie meine Haare knüpfen wollte; sie benützte diesen Augenblick, mir etwas Pomade ins Gesicht zu schmieren.

»Kleine, Sie sind heute sehr ausgelassen, ich werde Sie nicht mehr zu ihm schicken.«

»Ist es gefährlich, gnädige Frau? ich fürchte mich nicht vor ihm.«

»Aber Justine, Du weißt nicht, wie gefährlich, ich wollte sagen, wie lebhaft er ist.«

»O ja, gnädige Frau.«

»Sie wissen es, Justine?«

»Ja, gnädige Frau, Madame erinnert sich noch des Abends, an dem dieses schöne Fräulein bei uns übernachtete, ich erbot mich sie auszukleiden, Madame wollte es nicht haben.«

»Allerdings, sie sah so verschämt, so schüchtern aus! wer hätte sich nicht täuschen lassen sollen? ich weiß nicht, wie ich ihm verzeihen konnte.«

»Ja, Madame ist so gütig. Gnädige Frau, ich sagte, dass Sie es nicht zugeben wollten, Fräulein Duportail entkleidete sich hinter den Vorhängen; ich kam zufällig an ihr vorbei in demselben Augenblicke, wo sie das letzte Unterröckchen fallen ließ ...«

»So sag es doch vollends heraus,« rief ich ihr zu.

»O nein, dies wage ich nicht zu sagen.«

»Sprich,« sagte die Marquise ihr Gesicht mit dem Fächer bedeckend.

»Sie sprang so sonderbar und so unvorsichtig, dass ich merkte ...«

»Was, Justine,« unterbrach sie die Marquise in beinahe ernstem Tone, »Sie merkten, dass es ein junger Mann war, und haben es mir nicht gesagt?«

»Gut! Madame, wie konnte ich? Ihre Frauen im Zimmer, der Marquis im Begriff einzutreten? dies hätte einen schönen Lärm gegeben. Und dann wusste es die gnädige Frau vielleicht.«

Bei den letzten Worten erblasste die Marquise.

»Sie werden unverschämt, Mädchen; wissen Sie, dass, wenn ich mich auch einmal vergesse, ich nicht will, dass man sich gegen mich vergisst.«

Der Ton, womit diese Worte gesprochen wurden, machte die arme Justine zittern; sie entschuldigte sich, so gut sie konnte.

»Ich scherzte, gnädige Frau.«

»Ich will es glauben, Mädchen; wenn ich denken könnte. Sie hätten im Ernst gesprochen, so würde ich Sie auf der Stelle fortschicken.«

Justine fieng an zu weinen. Ich suchte die Marquise zu besänftigen.

»Gestehen Sie,« sagte diese zu mir, »dass sie mir eine Unverschämtheit gesagt hat! Diese Voraussetzung zu wagen! mir in's Gesicht und in Ihrer Gegenwart zu sagen sich erfrechen, ich hätte gewusst ...« (sie nahm meine Hand und drückte sie sanft).

»Mein theuerer Faublas, mein lieber Freund, Sie wissen, wie dies alles zugegangen ist; Sie wissen, ob meine Schwachheit zu entschuldigen ist. Ihre Verkleidung täuscht jedermann. Ich sehe auf dem Ball ein junges Fräulein, hübsch, voll Geist und Feuer, für das ich sogleich große Zuneigung fasse; es speist in meinem Hause zu Nacht, schläft daselbst, alles begibt sich zur Ruhe. Das liebenswürdige Fräulein liegt in meinem Bette, an meiner Seite! Es zeigt sich, dass es ein reizender Jüngling ist! So weit hat der Zufall, oder vielmehr die Liebe Alles gethan. Nachher bin ich allerdings sehr schwach gewesen, aber welche Frau hätte an meiner Stelle widerstanden? Am anderen Tage freue ich mich über den Zufall, der mein Glück gemacht hat und es sichert. Faublas, Sie kennen den Marquis; man hat mich gegen meinen Willen verheiratet, man hat mich aufgeopfert. Welche Frau könnte Entschuldigung hoffen, wenn man mich streng beurtheilen wollte?«

Ich sah, dass der Marquise Thränen in die Augen traten, ich suchte sie durch den zärtlichsten Kuss zu trösten und wollte sprechen.

»Noch einen Augenblick,« sagte sie, »noch einen Augenblick, mein Freund! am anderen Tage vertraue ich diesem Mädchen mein wunderbares Abenteuer an, ich sage ihr Alles! Faublas, sie hat das Geheimnis meines Lebens, mein theuerstes Geheimnis! sie scheint mich zu beklagen, mich zu lieben; aber nein, sie missbraucht mein Vertrauen, beschuldigt mich einer Abscheulichkeit, sagt mir es in's Gesicht!«

Justine zerfloss in Thränen; sie sank ihrer Gebieterin zu Füßen und flehte zwanzigmal um Verzeihung. Ich verband meine Bitten mit den ihrigen, denn sie war tief gerührt. Die Marquise ließ sich erweichen.

»Gehen Sie!« sagte sie, »gehen Sie, ich verzeihe Ihnen.«

Justine küsste ihrer Gebieterin die Hand und entschuldigte sich auf's neue.

»Genug,« sagte diese, »ich bin beruhigt, ich bin zufrieden; stehen Sie auf, Justine, und vergessen Sie nicht, dass, wenn Ihre Gebieterin Schwachheiten hat, man dennoch keine Laster bei ihr voraussetzen darf, dass es Ihre Pflicht ist, statt sie schuldig zu finden, sie vielmehr zu entschuldigen oder zu beklagen; und dass Sie endlich, wenn Sie sich nicht ihrer Güte unwürdig machen wollen, es niemals an Treue und Ehrerbietung fehlen lassen dürfen.«

»Nun gut, meine Kleine,« setzte sie sehr gütig hinzu, »weine nicht, stehe auf, ich sage Dir, dass ich Dir verzeihe; vollende diese Frisur und es soll nie mehr die Rede davon sein.«

Justine gieng wieder an ihr Geschäft und sah mich beschämt an. Die Marquise betrachtete mich schmachtend; wir sprachen alle drei kein Wort; meine Toilette kam nur um so geschwinder zu Stande; ich hatte zwei Kammerfrauen statt einer.

Es war neun Uhr, mir mussten uns trennen und gaben uns den Abschiedskuss.

»Gehen Sie, Schelm,« sagte die Marquise zu mir, »und schonen Sie meinen Gemahl; morgen werde ich Ihnen schreiben.«

Vor dem Hause traf ich einen Fiaker; als ich einstieg, giengen zwei junge Herren vorbei; sie betrachteten mich sehr genau und erlaubten sich einige mehr plumpe als galante Spässe. Dies war mir auffallend; konnte wohl das Haus, aus dem ich kam, verdächtig sein? es gehörte ja einer Freundin der Marquise. Auch war meine Kleidung durchaus nicht die eines öffentlichen Mädchens! warum machten sich wohl diese Herren auf meine Rechnung lustig? offenbar schien es ihnen seltsam, dass eine schöne geputzte Dame ohne Domestiken abends um neun Uhr allein in einen Fiaker stieg.

Während der Fahrt nahmen meine Betrachtungen eine ganz andere Richtung. Ich war allein und dachte an meine Sophie.

Ich hatte ihr am Morgen nur einen kurzen Besuch gemacht; am Abend war bloß ein flüchtiger Augenblick ihrem Andenken geweiht worden; aber man muss mich entschuldigen, wenn man bedenkt, welche süße Genüsse mir eine bezaubernd schöne und wollüstige Frau verschafft hatte, auch will ich meine Leser versichern, dass Justine das anmuthigste Gesichtchen hat, besonders aber vergesse er nicht, dass Faublas seine Lehrzeit beginnt und kaum sechzehn Jahre zählt.

Ich kam zu Herrn Duportail.

Der Marquis empfieng mich mit tiefen Komplimenten und sagte sogleich, ob ich seine Gemahlin gesehen hätte. Sosehr es erlogen war, musste ich dennoch nein sagen.

»Ich wusste es wohl,« sagte er.

Herr Duportail unterbrach ihn:

»Meine Tochter, Sie haben lange auf sich warten lassen, mir wollen uns sogleich zu Tische setzen.«

»Ohne meinen Bruder?«

»Er hat mir sagen lassen, dass er in der Stadt speise.«

»Wie, am letzten Abend vor meiner Abreise?«

»Schönes Fräulein, Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie einen Bruder haben.«

»Mein Herr, ich glaube es der Marquise gesagt zu haben.«

»Sie hat mir nichts davon gesagt.«

»Wirklich?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass sie mir nichts davon gesagt hat.«

»Ich glaube es Ihnen, Herr Marquis.«

»Ja, die Sache ist von Bedeutung; Ihr Herr Vater könnte glauben, ich stelle mich nur als Kenner, ohne es wirklich zu sein.«

»Wie so?«

»Mein Fräulein, Sie werden nie glauben, was mir begegnet ist. Sowie ich in das Zimmer trat, habe ich Ihren Herrn Bruder erkannt, den ich doch nie gesehen habe; fragen Sie Ihren Herrn Vater.«

»Nun gut, mein Herr, sie haben ihn erkannt, aber die Frau Marquise?«

»Hat mir nichts von ihm gesagt, das schwöre ich Ihnen.«

»Wirklich?«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

»Aber doch Herr von Rosambert.«

»Auch dieser nicht.«

»Ich glaube doch gehört zu haben, dass er etwas ähnliches zu Ihnen gesagt hat.«

»Kein Wort, das sich darauf bezöge, das betheuere ich Ihnen!«

Und der Marquis wurde beinahe böse.

»So habe ich mich also getäuscht! in diesem Falle, mein Herr, müssen Sie ein sehr großer Physiognom sein!«

»Oh, ja, das ist wahr,« antwortete er mit außerordentlicher Freude; »niemand versteht sich auf die Physiognomie, wie ich.«

Herr Duportail ergötzte sich an der Unterhaltung und sagte, damit sie nicht zu schnell ausgieng, zum Marquis:

»Man muss aber glauben, ja vielmehr, man muss zugeben, dass es ein Familiengesicht gibt.«

»Ich lasse es gelten,« versetzte dieser; »aber eben dieses Familiengesicht muss man sich genau merken und in den Zügen unterscheiden; dies macht den wahren Kenner aus; zwischen Vater, Mutter, Schwestern und Brüdern gibt es immer eine Familienähnlichkeit.«

»Immer,« rief ich, »glauben Sie wirklich, mein Herr?«

»Ob ich es glaube, ich weiß es sogar gewiß. Bisweilen ist diese Ähnlichkeit in die Haltung, die Manieren, die Blicke eingehüllt – eingehüllt, sage ich Ihnen, so eingehüllt, dass man sie nicht leicht merkt. Nun gut, ein Mann von Talent macht sie ausfindig. Ich entwirre sie, nun Sie verstehen?«

»So, dass Sie, nachdem Sie mich gesehen hätten, meinen Vater hier aber nicht, ihn unter zwanzig Personen errathen hätten?«

»Ihn! unter tausend wollte ich ihn erkannt haben!«

Herr Duportail und ich fiengen an zu lachen. Der Marquis stand auf, verließ den Tisch, gieng auf Herrn Duportail zu, faßte mit einer Hand seinen Kopf und sagte, indem er mit dem Finger über das Gesicht meines angeblichen Vaters strich:

»Lachen Sie doch nicht, mein Herr, lachen Sie ja nicht! hier, Fräulein, sehen Sie diesen Zug, der hier anfängt, da herüber geht und dann wiederkehrt; nun gut, sehen Sie (er kam auf mich zu)

»Mein Herr, ich lasse mich nicht berühren« (er blieb stehen und strich mit seinem Finger, aber ohne mich zu berühren, über mein Gesicht).

»Nun gut, Fräulein, dieser nämliche Zug hier, da und wieder dort, sehen Sie ihn?«

»Aber mein Herr, wie soll ich ihn sehen können?«

»Sie lachen! man muss nicht lachen, die Sache ist ernsthaft.«

»Sie sehen ihn also doch, mein Herr?«

»Ja wohl, ganz deutlich.«

»Außerdem, mein Herr, gibt es Ähnlichkeiten, gewisse, geheime, verborgene. Sie wissen vielleicht nicht, was verborgene Beziehungen sind. Man darf sich nicht wundern, mein Fräulein! Ich sagte also, mein Herr, dass es verborgene Ähnlichkeiten gibt, nein, nicht Ähnlichkeiten, habe ich gesagt, es ist ein anderes Wort, o weh, ich weiß nimmer, wo ich bin, man hat mich unterbrochen.«

»Sie haben von verborgenen Beziehungen gesprochen, mein Herr.«

»Ach, ja, Beziehungen! Beziehungen! und ich will dies Ihnen, mein Herr, begreiflich machen; Sie werden es schon verstehen.«

»Wie, Herr Marquis, ich glaube. Sie wollen mich beleidigen!«

»Nein, mein schönes Fräulein, Sie können nicht Alles wissen, was Ihr Herr Vater weiß; aber ich bitte, lassen Sie mich Ihren Herrn Vater erklären.«

»Mein Herr, die Väter und die Mütter machen bei der Erzeugung der Individuen Wesen, welche gleichen, welche geheime Beziehungen zu den Wesen haben, die gezeugt haben, weil die Mutter von ihrer Seite und der Vater von der seinigen –«

»Bst! bst! Ich begreife Sie schon,« unterbrach ihn Herr Duportail.

»Oh! sie versteht dies nicht,« antwortete der Marquis, »sie ist zu jung, und dennoch ist es klar, was ich Ihnen auseinandersetze, aber nur für Sie ist es klar. Diese Sachen da sind physisch, mein Herr; sie sind physisch bewiesen worden von großen Physikern, die sich sehr gut auf diese Dinge verstanden haben.«

»Herr Marquis, warum sprechen Sie denn leise?«

»Ich bin fertig, mein Fräulein, ich bin fertig; Ihr Herr Vater ist im Klaren.«

»Sie verstehen sich auf Physiognomie, Herr Marquis; aber verstehen Sie sich auch auf Stoffe? was halten Sie von diesem Kleide da?«

»Es ist sehr hübsch, sehr hübsch. Ich glaube, die Marquise hat ein ähnliches, ja ein ganz ähnliches.«

»Von demselben Stoffe? Von derselben Farbe?«

»Ob von demselben Stoffe, weiß ich nicht, aber die Farbe ist ganz die nämliche; es ist sehr hübsch und passt Ihnen vortrefflich.«

Jetzt fieng er wieder an, mir Komplimente nach seiner Manier zu machen, während Herr Duportail, der leicht errieth, wem das Kleid gehörte, mir einen unzufriedenen Blick zusandte, in welchem ein Vorwurf zu liegen schien, dass ich das ihm gegebene Wort so schnell vergessen habe.

Wir standen vom Tische auf, als mein wirklicher Vater, Herr von Faublas, der mich abzuholen versprochen hatte, hereintrat.

Er verwunderte sich höchlich, seinen Sohn abermals verkleidet und den Marquis von B... bei Herrn Duportail zu finden.

»Schon wieder!« sagte er mich streng anblickend; »und Sie, Herr Duportail, Sie haben die Güte –«

»Ei! guten Abend, mein Freund; erkennen Sie nicht den Herrn Marquis von B..., er hat mir die Ehre erwiesen, bei mir zu Nacht zu speisen, um sich von meiner Tochter, die morgen abreist, zu verabschieden.«

»Die morgen abreist?« versetzte der Baron, den Marquis frostig grüßend.

»Ja, mein Freund, sie geht morgen in ihr Kloster zurück; wissen Sie es denn nicht?«

»Ei, nein!« sagte der Baron mit Ungeduld, »ei, nein, ich weiß es nicht.«

»Nun denn, mein Freund, so sage ich es Ihnen, sie reist ab.«

»Ja, mein Herr,« fiel der Marquis ein, sich an meinen Vater wendend, »sie reist ab; ich bedauere es außerordentlich und meine Frau wird sehr betrübt darüber sein.«

»Und ich, mein Herr,« antwortete der Baron, »ich bin sehr erfreut; es ist Zeit, dass dies aufhört,« setzte er mit einem Blick auf mich hinzu. Herr Duportail fürchtete, er möchte in Hitze gerathen, und zog ihn auf die Seite.

»Wer ist doch dieser Mann da?« sagte der Marquis zu mir; »habe ich ihn nicht vor einigen Tagen hier gesehen?«

»O, ja.«

»Ich habe ihn sogleich wiedererkannt; denn sehen Sie, mein werter Freund, wenn ich einmal ein Gesicht gesehen habe, so behalte ich's so fest im Gedächtnis, dass es nie aus demselben verwischt werden kann; aber dieser Mann gefällt mir nicht; er sieht immer so verdrießlich aus.

»Gehört er in Ihre Verwandtschaft?«

»Gott bewahre!«

»Oh! ich hätte doch gewettet, dass er nicht in die Familie gehört! es ist nicht die mindeste Ähnlichkeit zwischen Ihren Gesichtern vorhanden, das Ihrige ist immer heiter, das seinige immer düster, wenn nicht ein sartonisches, oder sagt man sard... Lächeln, verstehen Sie mich, ich will sagen, dass dieser Mann uns entweder mürrisch ansieht, oder ins Gesicht lacht.«

»Achten Sie nicht darauf, es ist ein Philosoph.«

»Ein Philosoph!« erwiderte der Marquis erschreckt, »nun wundere ich mich nicht mehr! ein Philosoph! ah! ich gehe!«

Herr Duportail und der Baron unterhielten sich miteinander und drehten uns den Rücken. Der Marquis wollte sich bei Herrn Duportail verabschieden.

»Lassen Sie sich nicht stören,« sagte er zu dem Baron, der sich umwandte, um ihn zu grüßen; »mein Herr, lassen Sie sich nicht stören; ich liebe die Philosophen nicht und bin sehr erfreut, dass Sie nicht zur Familie gehören. Ein Philosoph! ein Philosoph!« wiederholte er, hinausstürmend.

Als er fort war, fiengen mein Vater und Herr Duportail wieder sehr leise zu sprechen an. Ich schlief am Feuer ein; ein schöner, glücklicher Traum führte mir das Bild meiner Sophie vor.

»Faublas,« rief der Baron, »wir wollen gehen.«

»Zu meinem schönen Bäschen?« fragte ich noch ganz schlaftrunken.

»Sein hübsches Bäschen! seht doch, er schläft mit offenen Augen, ich glaube, er wird ein recht treuer Liebhaber sein.«

Herr Duportail lachte und sagte zu mir:

»Gehen Sie, mein Freund, schlafen Sie zu Hause; ich vermuthe, Sie haben es nöthig; wir sehen uns wieder, ich bin Ihnen noch Vorwürfe und die Erzählung meiner unglücklichen Schicksale schuldig. Auf Wiedersehen!«

Als ich nach Hause kam, fragte ich nach Herrn Person, er hatte sich soeben ins Bett gelegt, ich machte es ebenso und that wohl daran.

Nie hat man fester geschlafen bei den brüderlichen Predigten unserer Freimaurer, den öffentlichen Vorlesungen, den Lektüren des modernen Museums, oder bei den seltenen Verteidigungsreden der N. und N. und so vieler anderer, auf der berühmten Liste stehender Männer und großer Redner.


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