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Der Mörder der Schwäne

»Der berühmte Gelehrte Dr. Triboula Bonhommé erfuhr beim Studium der Naturwissenschaften, daß die Schwäne im Sterben singen. Und er bekam Lust, diesen Gesang zu hören.

»In einem alten verlassenen Parke fand er im Schatten hundertjähriger Bäume einen alten heiligen Weiher, wo zwölf der stummen Vögel über den dunklen Spiegel des Wassers glitten. Ein schwarzer Schwan hielt nachts mit offenen Augen Wacht; in seinem rosa Schnabel hielt er einen glatten Stein, den er beim geringsten Geräusch ins Wasser fallen ließ; sobald die Schwäne ihn fallen hörten, flogen sie davon.

»In einer finstern Herbstnacht erhob sich Dr. Bonhommé, der an Schlaflosigkeit litt, von seinem Lager und zog die schon bereitgelegten Sachen an: lange, warm gefütterte Gummistiefel, die ohne Nähte mit einer ebenso warm gefütterten Gummijoppe verbunden waren, und ein Paar Ritterhandschuhe aus Stahl, die er bei einem Antiquar gekauft hatte. So ausgerüstet, verließ er das Haus, schlich sich an den Weiher heran und trat zuerst mit dem einen, dann mit dem andern Bein ins Wasser, das ihm nur bis an den Gürtel reichte. Er bewegte sich mit der größten Vorsicht, mit verhaltenem Atem, um den wachsamen Wächter nicht zu wecken. Er kam, im Dunkeln lächelnd, ganz nahe an ihn heran und begann mit dem Zeigefinger seines stählernen Handschuhs ganz leise auf dem glatten Wasserspiegel zu kratzen. Dieses Kratzen war so leise, daß der schlafende Schwan ohne zu erwachen aufhorchte. Als er die Gefahr witterte, fing sein armes Herz vor Entsetzen zu pochen an.

»Und alle die andern Schwäne, die den Stein nicht fallen hörten, aber gleichfalls Unheil ahnten, reckten die schlanken Hälse, und auch ihre Herzen fingen vor Entsetzen zu pochen an. Der gute Alte lauschte diesem Pochen und berauschte sich an ihrer Todesangst.

»›Wie angenehm ist es doch, Künstler zum Schaffen anzuspornen!‹ flüsterte er verzückt.

»Das Licht des Morgensterns brach plötzlich durch die Zweige und erleuchtete das schwarze Wasser, die weißen Schwäne und den tapfern Ritter. Im gleichen Augenblick ließ der erschrockene Wächter seinen Stein fallen ... Es war aber zu spät! Der Mörder stürzte sich, furchtbare Schreie ausstoßend, mit ausgestreckten Armen mitten unter die Schwäne. Die eisernen Finger griffen fest zu und brachen einen schlanken Hals nach dem andern.

»Die Seelen der Sterbenden stiegen als unsterblicher Gesang in den Himmel hinauf. Und der kluge Doktor lächelte ob dieser Empfindsamkeit und freute sich der Musik.« (»Der Mörder der Schwäne« von Villiers de l'Isle-Adam.)

Die Seele des modernen Spießbürgertums ist vernünftiger Wahnsinn, aufgeklärte Barbarei – das ist der Sinn dieser Legende.

Ein Luftschiff, das eine Bibliothek mit Bomben bewirft, ein Maschinengewehr, das eine antike Marmorstatue beschießt, eine zwanzigzöllige Haubitze, die einen Dom zerstört, das sind lauter Taten des berühmten Doktors, seine stählernen Finger, die den Schwänen die Hälse brechen.

Die aufgeklärte Barbarei wirft die Frage vom tiefsten Wesen, und nicht nur von einzelnen Teilen und Eigenschaften der modernen Kultur auf: ob sie tatsächlich nur ein Schwanengesang ist, der den berühmten Doktor entzückt? Ob die moderne Menschheit sich tatsächlich mit einem Herzen und mit einem Munde zum Nationalismus als zur letzten Wahrheit bekennt?

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen: der Nationalismus ist der Baum, der Militarismus die Frucht; der Nationalismus der Körper, der Militarismus die Seele. Doch das Körperlose, Gespenstische an jedem Körper ist der Ausgangspunkt der modernen Gnoseologie. Und der »positive« Doktor ist das gespenstischste von allen Gespenstern.

Wie dieses Scheines lock'rer Bau, so werden
Die wolkenhohen Türme, die Paläste,
Die hehren Tempel, selbst der große Ball,
Ja, was daran nur teil hat, untergeh'n:
Und, wie dies leere Schaugepräng' erblaßt,
Spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug
Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben
Umfaßt ein Schlaf ... Shakespeare, »Sturm«, IV. Aufzug, 1. Szene. Anm. d. Ü.

Das Leben ist ein Traum. Es gibt gute und böse Träume. Der Krieg ist ein böser Traum der Menschheit.

Die moderne Kultur ist auf den tiefsten Antinomien, auf ewigem Schwanken zwischen Idealismus und Materialismus begründet. Wenn aber die letzte Wahrheit besagt, daß Zeit und Raum nur »subjektive Formen unseres Denkens« sind, wenn alles trügerisch und gespenstisch ist, so sind der Materialismus und der Idealismus in ihrem tiefsten Kerne gleich: dieser Kern ist der Nihilismus, der Wille zum Nichts. »Die Welt als Vorstellung« ist ein Traumgesicht, der Schleier der Maja. »Die Gestalt dieser Welt ist vergänglich.« Die zwanzigzölligen Haubitzen und die Melinitbomben sind nur vergebliche Versuche, diesen Schleier zu zerreißen, den bösen Traum zu verscheuchen. Der Militarismus ist eine in Blut und Eisen gekleidete Metaphysik.

Darum ist die Barbarei eine Frucht der modernen Kultur. Eine Vertierung, eine Verwilderung. Vertierung ist schlimmer als Tierheit, Verwilderung schlimmer als Wildheit.

Caliban ist ein ungeratener Schüler Prosperos:

Ein Teufel, ein geborner Teufel ist's,
An dessen Art die Pflege nimmer haftet,
An dem die Mühe, die ich menschlich nahm,
Ganz, ganz verloren ist, durchaus verloren ... Shakespeare, »Sturm«, IV. Aufzug, 1. Szene. Anm. d. Ü.

Wir glaubten schon, der Kampf zwischen Caliban und Prospero sei längst zu Ende; nein, er fängt jetzt erst an ...

»Ist das nun tatsächlich das erreichte Ideal? Ist es nicht das Ende? ... Alle sind so feierlich, siegreich und stolz, daß Ihnen der Atem stockt. Sie schauen auf diese Millionen von Menschen, die gefügig vom ganzen Erdballe hierher zusammenfließen, von Menschen, die der gleiche Gedanke hierher getrieben hat und die sich hier leise, hartnäckig und stumm drängen ... und Sie fühlen, daß hier etwas Endgültiges geschehen und abgeschlossen ist. Das ist wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse ... Ich weiß noch, wie ich einmal auf der Straße (in Hay-Market, dem Londoner Prostituierten-Viertel) im Volksgedränge ein kleines Mädchen erblickte, das wohl höchstens sechs Jahre zählte, nicht mehr, in Lumpen gekleidet, schmutzig, barfuß, ausgemergelt und blaugeschlagen. Sie ging wie eine Bewußtlose, ohne Eile irgend wohin zu kommen, sie trieb sich Gott weiß weshalb in dem Volkshaufen umher; vielleicht war sie hungrig. Niemand beachtete sie. Doch was mich am meisten betroffen machte: sie ging mit dem Ausdruck eines so großen Kummers, einer so hoffnungslosen Verzweiflung in ihrem Gesicht, daß der Anblick dieses kleinen Geschöpfs, das schon so viel Fluch und Jammer trug, fast unnatürlich war und doch unsagbar weh tat. Sie wiegte beim Gehen ihren zerzausten Kopf immer hin und her, ganz als erwäge sie etwas, bewegte dabei unausgesetzt die Arme, spreizte die Finger oder schlug plötzlich die Hände zusammen und preßte sie an ihre nackte kleine Brust. Ich ging ihr nach und gab ihr einen halben Shilling. Sie nahm die silberne Münze, sah mir scheu mit ängstlicher Verwunderung in die Augen und plötzlich lief sie davon, so schnell sie konnte, ganz als hätte sie gefürchtet, daß ich ihr das Geld wieder abnehmen könnte.« (Dostojewskij, »Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke«.)

Was ist entsetzlicher: das von den Stufen des Domes fließende Blut, oder die erstaunten Augen dieses Mädchens? Beides ist gleich entsetzlich. Der Krieg deckt nur das auf, was schon im Frieden war. Im Frieden hatten wir es vergessen; vielleicht besinnen wir uns darauf im Kriege.

Der Geist der aufgeklärten Barbarei ist – im Kriege wie im Frieden – der Geist des Nichtseins. Der Materialismus der modernen Kultur ist ein scheinbarer Realismus; der Idealismus der Religion ist aber der wahre Realismus der Kultur. »Der Herr ist die Stärke meines Lebens«. Wenn Er wahr ist, so ist alles wahr; wenn Er die Lüge ist, so ist alles Trug und Lüge.

Das schreckliche Gericht ist über uns hereingebrochen – nicht über einen einzelnen von uns, sondern über uns alle, denn alle sind für das Blut, das von den Stufen des Domes herabfließt, und für die erstaunten Augen des kleinen Mädchens verantwortlich.

»König Belsazar machte ein herrliches Mahl Tausend seiner Gewaltigen und Hauptleute und soff sich voll mit ihnen ... Da wurden hergebracht die goldenen Gefäße, die aus dem Tempel, aus dem Hause Gottes zu Jerusalem genommen waren; und der König, seine Gewaltigen, seine Weiber und Kebsweiber tranken daraus. Und da sie so soffen, lobten sie die goldenen, silbernen, ehernen, eisernen, hölzernen und steinernen Götter. Eben zu derselbigen Stunde gingen hervor Finger, als einer Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die getünchte Wand, in dem königlichen Saal. Und der König ward gewahr der Hand, die da schrieb. Da entfärbte sich der König, und seine Gedanken erschreckten ihn, daß ihm die Lenden schütterten und die Beine zitterten ...« Und der Prophet kam und las das Geschriebene: » Mene mene tekel upharsin – Gott hat dein Königreich gezählt und vollendet. Man hat dich gewogen und zu leicht gefunden. Dein Königreich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.«

Werden wir nicht auch in der gleichen Wage gewogen und zu leicht gefunden werden? Unsere vermeintliche Schwere ist in Wirklichkeit die Leichtigkeit des berühmten Gelehrten, des Mörders der Schwäne, der doch niemals erfahren wird, was die Schwäne vor dem Tode singen.


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