Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I

Wie ruhmreich ist es und doch wie qualvoll, ein Ausnahmeexemplar von einer Amsel zu sein! Ich bin gar kein Fabelwesen. Der Herr von Buffon hat mich beschrieben. Doch leider bin ich äußerst selten und sehr schwer zu finden. Wollte der Himmel, ich wäre überhaupt nicht da!

Vater und Mutter waren brave Leute, die seit etlichen Jahren in einem alten Garten hinten im Marais-Viertel lebten. Es war ein Musterhaushalt. Die Mutter saß im warmen Nest und legte regelmäßig ihre Eier, dreimal jährlich, brütete dann in geruhsamem Dauerschläfchen und mit patriarchalischer Andacht aus. Der Vater war trotz seines würdigen Alters noch sehr tüchtig und sehr feurig und flog den ganzen Tag nach Nahrung aus. Er brachte die schönsten Insekten herbei, delikat am Schwanzende gepackt, auf daß er seine Frau nicht degoutiere. Nachts bei schönem Wetter pfiff er ihr die schönsten Lieder und erfreute die ganze Nachbarschaft. Niemals gab es Streit. Auch nicht die kleinste Wolke trübte die sanfte Gemeinsamkeit.

Doch kaum war ich auf der Welt, wurde mein Vater zum erstenmal in seinem Leben schlechter Laune. In mir, der ich vorerst nur von zweifelhaftem Grau war, erkannte er durchaus nicht Art und Farbe seiner zahlreichen Nachkommenschaft.

»Was ist das für ein Schmutzfink«, sagte er zuweilen und sah mich von der Seite an. »Der Bengel scheint sich in allem Schutt und Kot zu wühlen, daß er immer so häßlich und dreckig aussieht.«

»Du lieber Gott, mein Freund«, entgegnete die Mutter (sie kuschelte sich stets in einem alten Napf, aus dem sie das Nest gemacht hatte), »du siehst doch, das liegt an seinem Alter. Warst du nicht selbst, als du jung warst, solch ein allerliebster Taugenichts? Laß unser Amselchen nur groß werden, und du wirst sehen, wie schön es wird. Es ist der besten eines, das ich legte.«

So verteidigte sie mich, doch sie machte sich nichts vor. Sie sah sehr wohl die Monstrosität meines unglückseligen Gefieders; aber sie tat wie alle Mütter und hing an den Kindern, die von der Natur schlecht behandelt wurden, am meisten, als ob sie an dem Unglück Schuld wäre oder wie um von vornherein gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals anzukämpfen.

Als die Zeit meiner ersten Mauserung kam, wurde der Vater mit einemmal nachdenklich und beobachtete mich aufmerksam. Während die Federn abfielen, behandelte er mich sogar ziemlich gut und brachte selbst mir, der ich halbnackt in einer Ecke fror, das Futter. Doch kaum begannen sich die armen erstarrten Flügelspitzen mit Flaum zu bedecken, wurde er wütend; und bei jeder weißen Feder, die zum Vorschein kam, immer mehr, so daß ich fürchtete, er werde mich für den Rest meiner Tage rupfen. O Gott, ich hatte keinen Spiegel. Ich kannte nicht den Grund seines Zornes und fragte mich, warum der beste aller Väter gegen mich so barbarisch sein könne.

Als eines Tages ein Sonnenstrahl und mein wachsendes Gefieder unwillkürlich so etwas wie Freude in mein Herz gaben und ich so über eine Allee flatterte, fing ich zu meinem Unglück zu singen an. Bei der ersten Note, die der Vater hörte, sprang er in die Höhe wie eine Rakete.

»Was höre ich da?« schrie er. »Pfeift so eine Amsel? Pfeife ich so? Ist das Pfeifen?«

Er ließ sich schrecklich drohend neben der Mutter nieder:

»Unglückliche! Wer hat den da in dein Nest gelegt?«

Bei diesen Worten schnellte die erzürnte Mutter aus dem Napf, stieß sich das Bein, wollte sprechen, konnte aber vor Schluchzen nicht. Halb ohnmächtig fiel sie zur Erde. Ich sah sie schon tot. Außer mir vor Furcht und zitternd warf ich mich dem Vater zu Füßen.

»O mein Vater! Wenn ich falsch pfeife und ein schlechtes Gefieder habe, kann die Mutter nichts dafür. Ist es ihr Fehler, daß die Natur mir eine Stimme wie die deine verweigert hat? Ist es ihr Fehler, wenn ich nicht so einen schönen gelben Schnabel habe wie du und nicht ein so schönes schwarzes Gewand à la française, in dem du aussiehst wie ein Küster, der gerade einen Eierkuchen verschlingt? Hat mich der Himmel zum Monstrum gemacht und muß es schon jemand ertragen, dann laß mich allein unglücklich sein.«

»Darum handelt es sich nicht«, sprach der Vater. »Auf was für eine absurde Manier erlaubst du dir zu pfeifen? Wer hat dich so zu pfeifen gelehrt, gegen alle Sitten und Regeln?«

»O Gott«, antwortete ich demütig, »ich pfiff, wie ich konnte; ich fühlte mich gerade wohl, weil das Wetter schön ist und ich vielleicht ein wenig zuviel Fliegen gegessen habe.«

»In meiner Familie pfeift man nicht so«, antwortete der Vater außer sich. »Seit Jahrhunderten pfeifen wir, vom Vater zum Sohn, und wenn ich meine Stimme in der Nacht hören lasse, dann öffnen im ersten Stock ein alter Herr und unter dem Dach die kleine Grisette die Fenster, um mir zuzuhören. Ist es nicht genug, daß ich die scheußliche Farbe deiner blöden Federn vor Augen haben muß, die dich gepudert wie ein Jahrmarktshanswurst aussehen lassen? Wäre ich nicht der friedlichste aller Amselväter, ich würde dich so rupfen, daß du aussähest wie ein Huhn am Bratspieß.«

»Schön!« schrie ich, empört über die Ungerechtigkeit, »wenn dem so ist, Herr, soll gleich Abhilfe geschehen! Ich werde mich Ihrer Gegenwart berauben, ich werde Ihren Blicken diesen unglückseligen weißen Schwanz entziehen, an dem Ihr mich den ganzen Tag zerrt. Ich werde weggehen, mein Herr, ich fliehe. Sie haben genug Kinder, die Ihr Alter trösten werden, zumal die Mutter dreimal jährlich legt. Fern von Ihnen werde ich mein Unglück verbergen, und vielleicht« – ich schluchzte – »vielleicht werde ich irgendwo in der Nachbarschaft einen Gemüsegarten oder eine Dachrinne finden und ein paar Regenwürmer und Spinnen, um mein trauriges Dasein zu fristen.«

»Wie du willst«, entgegnete der Vater und war gar nicht gerührt. »Wenn ich dich nur nicht wieder sehe! Du bist nicht mein Sohn. Du bist keine Amsel.«

»Und was bin ich denn, mein Herr, wenn ich fragen darf?«

»Das weiß ich nicht; aber eine Amsel bist du nicht.«

Nach diesen niederschmetternden Worten entfernte er sich langsam. Die Mutter erhob sich traurig und hinkte zu ihrem Napf, um sich auszuweinen. Ich Trostloser und Verwirrter nahm meine Flügel, so gut ich konnte, und flog, wie ich es angekündigt hatte, auf die Dachrinne eines benachbarten Hauses.

 

II

Der Vater war unmenschlich genug, mich etliche Tage lang in dieser unglückseligen Lage zu lassen. Doch so rauh er war, er hatte ein gutes Herz, und die scheuen Blicke, die er mir sandte, sagten, wie gerne er mir wieder verzeihen und mich zurückrufen wolle. Die Mutter war ganz Zärtlichkeit und wagte es sogar, mich mit kleinem, klagendem Schrei anzurufen. Doch die scheußlichen weißen Federn ließen beide immer widerwillig zurückschaudern. Ich sah wohl ein, daß Hilfe nicht mehr möglich war.

»Ich bin ja gar keine Amsel!« wiederholte ich für mich selbst. Und wirklich, wenn ich mich des Morgens reinigte und in dem Wasser der Dachrinne spiegelte, sah ich nur zu klar, wie wenig ich meiner Familie ähnlich war. »Himmel! Sage mir, was ich bin!«

In einer Nacht, da es in Strömen regnete, wollte ich, matt vor Hunger und Leid, schlafen gehen, als ich einen Vogel neben mir sah, der so durchnäßt, bleich und mager war, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Er hatte ungefähr meine Farbe, soweit ich es in der Regenflut beurteilen konnte. Er hatte kaum genug Federn auf dem Körper, um einen Spatz zu bekleiden, und er war dicker als ich. Er schien mir im ersten Augenblick sehr armselig und bedürftig, doch er wahrte gegen den Sturm, der an seine fast geschorene Stirn schlug, so etwas wie Stolz. Das begeisterte mich. Ich machte bescheiden eine große Reverenz. Er antwortete mir mit einem Schnabelhieb, der mich fast von der Dachrinne geworfen hätte. Als er mich das Ohr kratzen, zerknirscht davonhüpfen und gar nicht versuchen sah, ihm in seiner Sprache zu antworten, fragte er mich mit einer Stimme, die ebenso heiser war wie sein Schädel kahl:

»Wer bist du?«

»Ach Gott, Durchlaucht«, antwortete ich und fürchtete einen zweiten Paradehieb; »das weiß ich gar nicht. Ich dachte, ich wäre eine Amsel, doch man hat mich überzeugt, daß ich es nicht bin.«

Die Aufrichtigkeit meiner seltsamen Antwort interessierte ihn. Er kam heran und forderte mich auf, meine Geschichte zu erzählen. Ich tat es mit aller Schwermut und Demut, die meine Lage und das abscheuliche Wetter verlangten.

»Wärest du eine Ringeltaube wie ich«, sprach er dann, »so würden dich diese Nichtigkeiten keinen Augenblick beunruhigen. Wir reisen. Das ist unser Leben. Wir haben wohl auch unsere Leidenschaften; doch ich weiß nicht, wer mein Vater ist. Die Lüfte zerschneiden, den Raum durchmessen, Berge und Felder zu unseren Füßen, himmlischen Azur atmen, nicht Erdenausdünstung, wie ein Pfeil unfehlbar auf sein Ziel schießen, das ist unsere Lust und unser Sein. Ich komme an einem Tage weiter als der Mensch in zehn.«

»Auf mein Wort, Herr«, sagte ich, ein wenig mutig geworden; »Sie sind ein Zigeunervogel.«

»Auch darum sorge ich mich sehr wenig«, entgegnete er. »Ich habe gar keine Heimat. Ich kenne nur drei Dinge: Reisen, mein Weib und meine Kleinen. Wo mein Weib, da mein Vaterland.«

»Aber was haben Sie denn da am Hals hängen? Das sieht ja aus wie ein alter zerknitterter Lockenwickler.«

»Das sind Papiere von Bedeutung«, erwiderte er und tat sehr wichtig. »Ich bin gerade auf dem Wege nach Brüssel und bringe dem berühmten Bankier *** eine Nachricht, die den Zinssatz um einen Franken achtundsechzig senken wird.«

»Gerechter Gott!« rief ich aus, »das muß ein schönes Leben sein, das Ihre. Ich bin sicher, Brüssel ist eine sehr sehenswerte Stadt. Könnten Sie mich nicht mitnehmen? Vielleicht bin ich, wenn nicht eine Amsel, ein Ringeltäuberich.«

»Wenn du einer wärst, dann hättest du mir meinen Schnabelhieb sogleich wiedergegeben.«

»Ja doch, Herr, ich werde ihn schon wiedergeben. Wir wollen uns doch nicht um solche Bagatellen erhitzen. Sehen Sie, der Morgen kommt, und das Unwetter hört auf. Ich bitte Sie, lassen Sie mich Ihnen folgen! Ich bin verloren sonst, ich besitze nichts auf der Welt. Wenn Sie nein sagen, bleibt mir nur noch übrig, mich in dieser Dachrinne zu ertränken.«

»Also los denn! Folge mir, wenn du kannst.«

Ich warf noch einen letzten Blick auf den Garten, in dem die Mutter schlief. Eine Träne rollte mir aus den Augen. Wind und Regen hoben mich hoch. Ich öffnete die Flügel und war schon fort.

 

III

Aber meine Flügel, das habe ich bereits gesagt, waren noch gar nicht robust. Mein Führer flog wie der Wind, und ich war bald außer Atem. Zuerst hielt ich mich ganz gut, doch bald bekam ich so heftige Schwindelanfälle, daß ich der Ohnmacht nahe war.

»Dauert es noch lange?« fragte ich mit schwacher Stimme.

»Nein«, antwortete er mir, »wir sind in Le Bourget und haben nur noch an die sechzig Meilen.«

Ich wollte wieder Mut fassen und nicht aussehen wie ein begossenes Huhn. Noch eine Viertelstunde flog ich, doch dann war ich mit einemmal fertig.

»Herr«, lallte ich wieder, »könnten wir nicht einen Augenblick haltmachen? Mich quält ein schrecklicher Durst. Wenn wir uns auf einem Baum niederließen ...«

»Geh zum Teufel! Du bist ja nur eine Amsel!« wütete der Täuberich.

Er drehte nicht einmal den Kopf und flog seinen rasenden Weg weiter. Ich sah und hörte nichts mehr und fiel in ein Kornfeld.

Wie lange ich so lag, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, mußte ich zuerst an das letzte Wort des Täuberichs denken: »Du bist ja nur eine Amsel.« »O meine teuren Eltern, ihr habt euch also doch getäuscht! Ich will zu euch zurückkehren. Ihr werdet mich als euer wahres und legitimes Kind aufnehmen und mir meinen Platz in dem warmen Laub des mütterlichen Napfes gönnen.«

Ich versuchte mich zu erheben; doch die Anstrengung der Reise und der schmerzhafte Sturz lähmten alle Glieder. Kaum war ich auf den Füßen, wurde ich wieder schwach und fiel hin.

Schon kamen fürchterliche Gedanken an das Sterben. Da sah ich durch Kornblume und Mohn zwei reizende Wesen auf Fußspitzen mir nahe kommen. Die eine war eine kleine, sehr gesprenkelte und arg kokette Elster, die andere eine rosarote Turteltaube. Das Täubchen blieb ein paar Schritte von mir stehen und war sehr verschämt und mitleidig. Die Elster aber hüpfte unendlich zierlich heran.

»Ach mein guter Gott! Du armes Kind, was hast du denn?« fragte sie mich mit einer silbern schelmischen Stimme.

»Ach Frau Marquise«, antwortete ich (denn das mußte sie zum mindesten sein), »ich bin ein armer Teufel, ein Reisender, den der Postillion zurückgelassen hat. Ich sterbe fast vor Hunger.«

»Heilige Jungfrau! Was sagen Sie da?«

Und gleich hüpfte sie hierhin und dorthin, unter die Büsche, die kreuz und die quer, und brachte mir eine Menge Beeren und Früchte, die sie vor mir aufschichtete. Dabei hörte sie nicht auf zu fragen.

»Aber wer sind Sie denn? Woher kommen Sie denn? Eine ganz unglaubliche Geschichte, Ihr Abenteuer! Und wohin wollen Sie? So jung und schon ganz allein auf Reisen! Sie haben doch gerade die erste Mauserung gehabt. Was treiben Ihre Eltern? Von wo sind sie? Warum lassen sie Sie in einem solchen Zustand? Da können einem ja die Federn zu Berge stehen!«

Während sie so sprach, legte ich mich ein wenig auf die Seite und speiste mit großem Appetit. Die Turteltaube guckte mich unbeweglich und voller Mitleid an. Sie merkte, daß ich den Kopf entkräftet hängen ließ, und begriff, ich hätte Durst. Von dem nächtlichen Regen war ein Tropfen auf einem Gauchheilhalm zurückgeblieben; sie barg ihn sorglich im Schnabel und brachte ihn mir ganz frisch. Ich bin gewiß, wäre ich nicht so krank gewesen, dann hätte sich eine so reservierte Person nicht zu diesem Schritt herbeigelassen.

Noch wußte ich nicht, was Liebe ist. Doch mein Herz schlug kräftig. Ich schwankte zwischen zwei Empfindungen und fühlte unerklärliches Entzücken. Meine Speisemeisterin war so lustig und meine Mundschenkin so mitteilsam und süß, daß ich für alle Ewigkeit hätte mit ihnen frühstücken können. Leider aber hat alles ein Ende, auch der Appetit eines Genesenden. Als das Mahl beendet und meine Kräfte wiedergewonnen waren, befriedigte ich die neugierige kleine Elster und erzählte ihr mein Unglück ebenso aufrichtig wie jüngst dem Täuberich. Die Elster hörte mit einer Aufmerksamkeit zu, die ihr kaum zuzutrauen war, und das Turteltäubchen gab mir rührende Zeichen seiner tiefen Anteilnahme. Doch als ich das Hauptkapitel berührte, jene Unkenntnis dessen, was ich bin, rief die Elster:

»Scherzen Sie? Sie eine Amsel! Sie, ein Ringeltäuberich! Pfui doch! Sie sind eine Elster, mein liebes Kind, eine Elster, wie sie im Buche steht, eine sehr niedliche Elster.« Sie gab mir mit dem Flügel einen kleinen Klaps wie mit einem Fächer.

»Aber Frau Marquise«, antwortete ich, »es scheint mir doch, ich bin für eine Elster von einer Farbe, nehmen Sie es nicht übel ...«

»Eine russische Elster, Lieber, Sie sind eine russische Elster! Sie wissen wohl gar nicht, daß jene weiß sind? Armer Junge, wie ahnungslos!«

»Aber gnädige Frau, wie kann ich als russische Elster mitten im Marais-Viertel geboren sein, in einem alten, zerbrochenen Napf?«

»Ach, das gute Kindchen! Sie stammen von der Invasion her, Teuerster. Glauben Sie, Sie nur alleine? Kommen Sie mit mir und lassen Sie mich nur machen. Ich nehme Sie gleich mit und zeige Ihnen die schönsten Dinge, die es auf Erden gibt.«

»Wo denn, bitte, gnädige Frau?«

»In meinem grünen Palast, Liebling. Da werden Sie das Leben sehen, das wir führen. Sie werden noch keine Viertelstunde Elster sein und von nichts anderem mehr hören wollen. Wir sind dort ungefähr an die hundert. Nicht etwa die dicken Dorfelstern, die auf der Landstraße betteln, nein, wir sind eine sehr gute und vornehme Gesellschaft, schlank, rank, faustgroß. Jede von uns hat genau ihre sieben schwarzen und fünf weißen Flecken. Das ist nun einmal so, und alles andere wird verachtet. Die schwarzen Flecken haben Sie allerdings nicht, aber Ihre Eigenschaft als Russe genügt, um Sie zuzulassen. Unser Leben besteht aus zwei Dingen: Schwatz und Putz. Von morgens bis mittags machen wir Toilette und von mittags bis abends Konversation. Jede von uns sitzt auf einem Baum, einem möglichst hohen und alten. Mitten im Wald steht eine ungeheure und leider unbewohnte Eiche. Das war die Wohnung des weiland König Elsterich X., dorthin pilgern wir und seufzen gar sehr. Doch abgesehen von dieser kleinen Kümmernis verbringen wir die Zeit entzückend. Die Frauen sind albern, die Ehemänner eifersüchtig, nicht zu viel und nicht zu wenig, doch unsere Vergnüglichkeiten rein und ehrenhaft; denn unser Herz ist ebenso vornehm wie unsere Sprache frei und lustig. Unser Stolz hat keine Grenzen, und wenn ein Häher oder irgendeine andere Kanaille selbst nur aus Zufall bei uns eindringt, wird sie unbarmherzig gerupft. Aber sonst sind wir die besten Leute von der Welt, und die Sperlinge, die Meisen und die Stieglitze, die bei uns im Holz wohnen, finden uns stets bereit, ihnen zu helfen, sie zu nähren und zu verteidigen. Nirgends gibt es eine herzlichere Unterhaltung als bei uns, und nirgends weniger Klatsch. Uns fehlt es nicht an alten Elstern, die fromm alle Tage ihr Paternoster sagen; doch auch die windigste und jüngste unserer Kusinen braucht niemals einen Schnabelhieb zu fürchten, wenn sie auch noch so dicht an der strengsten Witwe von Stand vorbeihuscht. Mit einem Wort: Unser Leben ist eitel Lust, Ehrenhaftigkeit, Gesprächigkeit, Ruhm und Putz.«

»Das ist ja recht schön, gnädige Frau«, antwortete ich, »und ich wäre übel beraten, wollte ich nicht den Vorschlägen einer Persönlichkeit wie Ihnen gehorchen. Doch bevor ich Ihnen zu folgen die Ehre habe, erlauben Sie mir bitte, ein Wort an diese freundliche Dame zu richten. – Mein Fräulein (ich wandte mich an das Täubchen), sprechen Sie frei heraus, ich bitte Sie sehr: Glauben Sie, daß ich wirklich eine russische Elster bin?«

Die Turteltaube senkte den Kopf und wurde blaßrot wie Lottes Bänder.

»Ach, lieber Herr, ich weiß nicht recht, ob ich ...«

»In des Himmels Namen, sprechen Sie, mein Fräulein! Meine Absicht kann Sie nicht im geringsten verletzen, ganz im Gegenteil. Sie alle beide scheinen mir so reizend, daß ich hiermit schwöre, derjenigen Herz und Fuß anzubieten, die es will, und zwar in dem Augenblick, da ich weiß, ob ich eine Elster oder etwas anderes bin. Denn wenn ich Sie ansehe (ich sprach ein wenig leiser und nur zu dem Täubchen), fühle ich irgend etwas ganz Unbestimmtes von einem Turteltäuberich, und das peinigt mich sehr.«

»Wirklich«, sagte das Täubchen und wurde noch röter. »Ich weiß auch nicht, ist es der Reflex der Sonne, der durch den Mohn auf Sie fällt, ist es etwas anderes: Ihr Gefieder scheint mir eine leichte Färbung ins ...«

Sie wagte nicht mehr weiterzureden.

»Oh, wenn ich nur wüßte«, rief ich, »an was ich mich halten soll! Wie soll ich mein Herz einer von Ihnen geben, wenn es so grausam zerrissen ist? O Sokrates! Wie war dein Rat bewunderungswürdig und ach so schwierig zu befolgen, als du uns sagtest: ›Erkenne dich selbst!‹«

Seit dem Tag, da das unglückselige Lied meinen Vater so aufbrachte, hatte ich von meiner Stimme nicht mehr Gebrauch gemacht. In diesem Augenblick kam mir der Gedanke, mich dieses Mittels zu bedienen, um die Wahrheit zu erfahren. Teufel noch einmal! dachte ich, wenn mich der Herr Vater gleich beim ersten Lied vor die Tür setzt, so ist es doch zum mindesten anzunehmen, daß auch das zweite irgendeinen Eindruck auf die Damen machen wird. Schon hatte ich mich höflich verbeugt, wie um Nachsicht zu erbitten, zumal wegen des Regens, dem ich ausgesetzt war, und dann fing ich an. Zuerst pfiff ich, dann zwitscherte ich, dann rollte ich in Läufen und Trillern und sang schließlich aus vollem Hals wie ein spanischer Maultiertreiber, wenn es windig ist.

In dem Maße, da ich sang, rückte die kleine Elster von mir ab, überrascht zuerst, bestürzt darauf und schließlich eisig und sehr gelangweilt. Sie hüpfte rings um mich herum wie die Katze um den heißen Brei. Als ich diese Wirkung sah, wollte ich sie bis zum äußersten steigern. Je mehr die arme Marquise Ungeduld zeigte, desto heiserer schrie ich mich. Fünfundzwanzig Minuten hielt sie meiner kräftigen Melodik stand; dann konnte sie nicht mehr und flog geräuschvoll ihrem grünen Palast zu. Das Turteltäubchen indes war schon bei den ersten Tönen fest eingeschlafen.

Wie merkwürdig wirkt die Harmonie! dachte ich. O du mein Marais-Viertel! O mütterlicher Napf! Jetzt mehr denn je will ich zu euch zurück!

Gerade als ich mich aufmachen wollte, öffnete das Täubchen die Augen.

»Adieu, Fremder, der du so liebenswürdig und so langweilig bist. Mein Name ist Guruli. Denk an mich!«

»Schöne Guruli«, entgegnete ich, »Sie sind gut, anmutig und reizend. Ich möchte leben und sterben für Sie, aber Sie sind rosa. So viel Glück ist nicht für mich geschaffen!«

 

IV

Meines Sanges jämmerliche Wirkung machte mich recht traurig. »Ach, Musik! Ach, Poesie!« rief ich, als ich auf Paris zuflog; »wie wenige gibt es, die euch begreifen!«

Während ich dieses und anderes bedachte, rannte ich kopflings gegen einen Vogel, der mir gerade entgegenflog. Der Zusammenprall war so heftig und jäh, daß wir beide auf einen Baumwipfel fielen, der zu unserem Glück unter uns war. Ich schüttelte mich, sah mir den Neuankömmling an und machte mich auf einen Kampf gefaßt. Zu meiner Überraschung war er weiß. Er hatte einen etwas dickeren Kopf als ich und trug auf der Stirn so etwas wie einen Federbusch, so daß er aussah wie ein komischer Held. Zudem trug er den Schwanz sehr hoch, schien sehr gutmütig und zu gar keiner Schlacht willens. Wir begrüßten uns sehr höflich, beehrten uns mit vielen Entschuldigungen und kamen so ins Gespräch. Ich nahm mir die Freiheit, ihn nach Namen und Heimat zu fragen.

»Ich bin erstaunt«, sagte er mir, »daß Sie mich nicht kennen. Sind Sie denn nicht einer der Unseren?«

»In Wahrheit, lieber Herr«, antwortete ich, »ich weiß selbst nicht, wer ich eigentlich bin. Alle Welt fragt mich und sagt mir dasselbe. Das muß irgendwie eine Wette sein.«

»Sie wollen scherzen«, erwiderte er. »Ihr Federkleid schließt jeden Irrtum aus. Ich werde doch einen Mitbruder nicht verkennen. Sie gehören unzweifelhaft jener illustren und verehrungswürdigen Rasse an, die man lateinisch: cacuata nennt, wissenschaftlich: kakatoës und für gewöhnlich: Kakadu.«

»Meiner Treu, Herr, das ist möglich und wäre sehr viel Ehre für mich. Aber tun Sie so, als wäre es nicht der Fall, und würdigen Sie mich der Ehre zu wissen, mit wem ich spreche.«

»Ich bin«, sprach der Unbekannte, »der große Dichter Kacatogan. Ich habe gar umfängliche Reisen gemacht, mein Herr, harte Wüstenfahrten, harte Pilgerfahrten; es ist nicht seit gestern, daß ich reime. Meine Muse hat viel Unglück gehabt. Ich zirpte unter Ludwig XVI., mein Herr, ich kreischte während der Republik, ich besang vornehm das Kaiserreich, ich lobte diskret die Restauration, ich strenge mich sogar jetzt an und versuche nicht ohne Mühe, den Anforderungen unserer geschmacklosen Zeit gerecht zu werden. Ich habe in die Welt pikante Distichen geschleudert, sublime Hymnen, graziöse Dithyramben, fromme Elegien, langhaarige Dramen, kraushaarige Romane, gepuderte Possen, kahlköpfige Tragödien. Ich schmeichle mir, dem Musentempel einige galante Girlanden hinzugefügt zu haben, einige düstere Zinnen und einige bestrickende Arabesken. Was wollen Sie? Auch ich bin alt geworden. Aber ich dichte noch immer recht rüstig, mein Herr, und als Sie mir eine Beule in die Stirn rannten, sann ich gerade an einer Dichtung in einem Gesang, nicht weniger als sechs Seiten lang. Übrigens, wenn ich Ihnen in irgend etwas dienlich sein kann, stehe ich gern zur Verfügung.«

»Wahrhaftig, Herr, Sie können es; denn Sie sehen mich gerade in einer großen poetischen Verlegenheit. Ich wage nicht zu sagen, ich sei ein Dichter, vor allem nicht ein so großer Dichter wie Sie (ich verbeugte mich), aber ich habe von Natur eine Kehle bekommen, die mich juckt, wenn ich froh bin und wenn ich traurig bin. Doch um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich kenne absolut keine Regeln.«

»Ich habe sie vergessen«, sprach Kacatogan, »darüber beunruhigen Sie sich nicht.«

»Allein mir geschieht das Ärgerliche, daß meine Stimme auf die Zuhörer ungefähr dieselbe Wirkung ausübt, wie jene eines gewissen Jean de Nivelle auf ... Sie wissen, was ich sagen will?«

»Ich weiß es«, sprach Kacatogan; »ich habe es an mir selber erfahren. Die Ursache ist mir nicht bekannt, aber die Wirkung unbestreitbar.«

»Nun also, Herr. Und Sie, der Sie mir der Nestor aller Dichter scheinen, wissen Sie nicht, ich bitte Sie, ein Mittel gegen diese Peinlichkeit?«

»Nein«, sprach Kacatogan, »ich für meinen Teil habe nie eines gefunden. Ich habe mich in meiner Jugend sehr gequält, zumal ich immer ausgepfiffen wurde, aber heute denke ich gar nicht mehr daran. Ich glaube, das Publikum hat diesen Widerwillen, weil es außer uns noch andere liest. Und das lenkt es ab.«

»Ich denke wie Sie. Doch Sie werden verstehen, mein Herr, daß es für eine wohlmeinende Kreatur hart ist, die Leute in die Flucht zu jagen, sowie man sich in Positur setzt. Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mich anzuhören und mir dann ganz aufrichtig Ihre Meinung zu sagen?«

»Sehr gerne«, sprach Kacatogan, »ich bin ganz Ohr.«

Zugleich hob ich an zu singen und sah mit Genugtuung, daß Kacatogan weder fortlief noch einschlief. Er fixierte mich stark, nickte von Zeit zu Zeit beifällig mit dem Kopf und flüsterte seine Zustimmung. Doch bald bemerkte ich, daß er mir gar nicht zuhörte, sondern an seinem Gedicht brütete. Er benutzte einen Augenblick, da ich Atem holte und unterbrach mich plötzlich.

»Und ich habe ihn doch gefunden, diesen Reim!« lächelte er und wackelte mit dem Kopf. »Es ist der sechzigtausendsiebenhundertundvierzehnte, der aus diesem meinem Hirn spazierte! Und da wagt man zu sagen, ich sei alt! Schon gehe ich und lese ihn meinen guten Freunden vor! Da wollen wir einmal sehen, was sie sagen!«

Mit diesen Worten flog er auf und verschwand und schien mich vergessen zu haben.

 

V

Ich blieb allein mit meiner Enttäuschung und wußte für den Rest des Tages nichts Besseres, als schnurstracks auf Paris zuzufliegen. Leider kannte ich den Weg nicht. Die Reise mit dem Täuberich war recht wenig angenehm gewesen und hatte mir keine genaue Vorstellung gelassen. So wandte ich mich, anstatt geradeaus zu fliegen, links nach Le Bourget, wurde von der Nacht überrascht und gezwungen, eine Unterkunft im Wald von Morfontaine zu suchen.

Alles ging zu Bett, als ich ankam. Die Elstern und die Häher, die unangenehmsten Schlafgenossen, keiften schon nach Kräften miteinander. In den Büschen piepsten die Spatzen und stupsten sich gegenseitig. Am Wasser stolzierten zwei Reiher sehr gravitätisch auf ihren langen Stelzen, meditierten vor sich hin und warteten als gehorsame George Dandins geduldig auf die Gemahlinnen. Mächtige Raben hoben sich schlaftrunken auf die höchsten Baumwipfel und näselten das Abendgebet. Weiter unten jagten verliebte Meisen noch in den Sträuchern einander. Ein struppiger Grünspecht schleppte an seiner Beute und wollte sie in einer Baumhöhle bergen. Eine Horde Feldsperlinge kam, tanzte in der Luft wie eine Rauchwolke und stürzte sich auf ein kleines Bäumchen, das sie ganz bedeckte. Buchfinken, Grasmücken, Rotkehlchen hockten leicht auf vorspringenden Zweigen, wie Kristalle auf einem Armleuchter. Überall tönten Stimmen, und man vernahm deutlich: »Los, Frauchen!« »Komm doch, mein Töchterchen!« »Kommen Sie, meine Schöne!« »Hierher Liebling!« »Da bin ich ja, Teuerster!« »Guten Abend, Geliebte!« »Adieu, ihr Freunde!« »Schlaft gut, Kinderchen!«

Welche Situation für einen Junggesellen, in einer solchen Herberge zu nächtigen! Ich versuchte, mich einigen Vögeln meiner Größe anzuschließen und sie um Gastfreundschaft zu bitten.

In der Nacht, dachte ich, sind alle Vögel grau und im übrigen tut man den Leuten doch kein Unrecht, wenn man höflich bei ihnen schläft.

Ich flog zuerst zu einem Graben, in dem sich Stare versammelten. Sie machten gerade mit ganz besonderer Sorgfalt ihre Nachttoilette. Ich bemerkte, daß die meisten von ihnen vergoldete Flügel und polierte Nägel hatten. Das waren die Dandys des Waldes, ganz nette Geschöpfe, die mich indessen nicht der geringsten Beachtung würdigten. Aber ihr Gehabe war so hohl, sie erzählten sich mit solcher Geckenhaftigkeit ihre Streiche und ihre Erfolge, sie rieben sich so plump aneinander, daß es mir unmöglich war zu bleiben.

Dann setzte ich mich auf einen Zweig, auf dem sich schon ein halbes Dutzend der unterschiedlichsten Vögel wiegte. Ich nahm bescheiden auf dem äußersten Ende Platz und hoffte, daß man mich dulden würde. Zu meinem Unglück war eine alte Taube meine Nachbarin, dürr wie eine rostige Wetterfahne. Ich kam in ihre Nähe, als sie sich gerade um ihre dürftigen Rückenfedern beträchtlich sorgte. Sie tat so, als ob sie sie putze; aber sie hatte viel zu große Angst, sie auszureißen. Sie ließ sie einzeln Revue passieren und sah nach, ob sie noch alle da waren. Ich streifte sie knapp mit den Flügelenden. Sie wandte sich majestätisch um.

»Was tun Sie denn da, mein Herr?« fragte sie mich und kniff den Schnabel mit geradezu britannischer Schamhaftigkeit zusammen.

Dann stieß sie mich so kräftig und warf mich mit solcher Wucht hinunter, daß es einem Packträger Ehre gemacht hätte.

Ich fiel in Heidekraut und neben eine dicke Haselhenne. Nicht einmal meine Mutter in ihrem Napf war so sehr Seligkeit, so rundlich, vergnügt und behaglich auf ihrem dreifachen Bauch. Sie sah aus wie eine Pastete, von der die Rinde abgegessen war. Ich glitt verstohlen neben sie. »Vielleicht wird sie gar nicht aufwachen«, sagte ich mir; »auf jeden Fall kann eine so gute dicke Mama nicht bösartig sein.« Sie war es auch wirklich nicht, öffnete halb die Augen und stöhnte leicht: »Du drückst mich, Kleiner, mach, daß du fortkommst.«

In diesem Augenblick hörte ich mich rufen. Es waren Krammetsvögel, die mich hoch von einem Vogelbeerbaum heranwinkten.

Das sind endlich gute Seelen, dachte ich.

Sie machten mir lachend Platz und waren ein bißchen albern. Ich schob mich geschickt in den Haufen Federn hinein wie ein Liebesbrief in einen Muff. Doch ich merkte bald, die Damen hatten mehr Weintrauben gegessen, als gut war. Sie hielten sich nur mit Mühe auf den Zweigen. Ihre schlechten Witze, Gelächter und schlüpfrigen Lieder jagten mich fort.

Ich war fast verzweifelt und wollte mich in einem ganz versteckten Winkel hinlegen. Da fing eine Nachtigall zu singen an. Schon herrschte überall Schweigen. Wie rein war diese Stimme! Wie süß ihre Melancholie! Sie störte keinen Schlaf. Ihre Akkorde waren wie ein Wiegelied. Niemand hieß sie schweigen. Niemand fand es schlimm, daß sie zu dieser Zeit sang. Der Vater schlug sie nicht und die Freunde liefen nicht davon.

»Nur ich soll nicht glücklich sein!« rief ich. »Auf, fliehen wir diese grausame Welt! Lieber will ich mir meinen Weg im Finsteren suchen, lieber riskiere ich es, von einer Eule gefressen zu werden, als mir hier von dem Glück der andern das Herz zerreißen zu lassen!«

Ich machte mich auf den Weg und irrte lange Zeit auf gut Glück umher. Beim ersten Tagesschimmer sah ich die Türme von Notre-Dame. Im Nu hatte ich sie erreicht und brauchte nicht mehr lange, um unsern Garten zu finden. Ich flog schneller als der Blitz ... Himmel! Er war leer ... Vergeblich rief ich nach meinen Eltern. Niemand antwortete. Der väterliche Baum, der Busch meiner Mutter, der geliebte Napf: nichts war mehr da. Die Axt hatte alles zerstört. Wo die grüne Allee stand, in der ich geboren war, lagen nur noch hundert Reisigbündel.

 

VI

Zuerst suchte ich meine Eltern in den benachbarten Gärten. Umsonst. Sie hatten sich wohl in ein entfernteres Viertel geflüchtet. Ich hörte niemals mehr von ihnen. Unsäglich traurig hockte ich mich auf die Regentraufe, auf die mich des Vaters Zorn verbannt hatte. Dort saß ich Tag und Nacht und beklagte mein trauriges Geschick. Ich schlief nicht, ich aß kaum, ich starb fast vor Kummer und Schmerz.

Eines Tages jammerte ich wie gewöhnlich:

»Eine Amsel bin ich also nicht; denn mein Vater hat mich arg gezaust; auch keine Taube; denn ich fiel ja herunter, als ich unterwegs nach Belgien war; auch keine russische Elster; denn die kleine Marquise hielt sich die Ohren zu, kaum daß ich meinen Schnabel öffnete; auch keine Turteltaube; denn Guruli, selbst die gute Guruli, schnarchte wie ein Mönch, als ich sang; auch kein Papagei; denn Kacatogan gab sich nicht dazu her, mir zuzuhören; überhaupt gar kein Vogel; denn zu Morfontaine hat man mich ganz allein schlafen lassen. Und doch habe ich Federn auf dem Körper, doch habe ich Krallen und Flügel. Ich bin kein Ungeheuer. Guruli kann es bezeugen und selbst die kleine Marquise, die beide mich recht nach ihrem Geschmack fanden. Doch aus welchem unerklärlich geheimnisvollen Grund sind diese Federn, Flügel, Füße nicht zu einem Ganzen geformt, dem man einen Namen geben kann? Sollte ich nicht zufällig ...«

Meine Ergüsse wurden durch zwei Portiersfrauen unterbrochen, die sich auf der Straße zankten.

»Himmeldonnerwetter!« schrie die eine gegen die andere, »ich schenke dir eine weiße Amsel, wenn du einmal still bist!«

»Gerechter Gott!« rief ich aus; »das geht mich an. O Vorsehung! Einer Amsel Sohn bin ich, weiß bin ich: Eine weiße Amsel bin ich!«

Diese Entdeckung beeinflußte meine Gedanken stark. Ich klagte nicht mehr lange, sondern warf mich in die Brust, stolzierte die Regentraufe auf und ab und betrachtete sieghaft die Welt.

»Das ist etwas: eine weiße Amsel. Das findet man nicht hinter jedem Esel. Ich war schon gut, mich aufzuregen, daß ich nicht meinesgleichen kenne. Das eben ist das Schicksal des Genies, mein Schicksal! Ich wollte die Welt fliehen; jetzt werde ich sie staunen machen! Ich, der ich dieser unvergleichliche Vogel bin, unerkannt von der gemeinen Menge, ich muß und werde mich auch als solcher betragen, nicht anders als der Phönix, und werde das übrige Federvieh verachten. Ich muß mir die Memoiren von Alfieri und Lord Byrons Gedichte kaufen. Diese geistige Nahrung wird mich mit edlem Stolz begeistern, ungerechnet den, den Gott mir schon gab. Jawohl, ihn, den Stolz, will ich noch dem Prestige meiner Geburt hinzufügen. Die Natur schuf mich selten, ich werde mich geheimnisvoll tragen. Auszeichnung wird es sein, Ruhm wird es sein, mich zu sehen. – Und wahrhaftig«, setzte ich leise hinzu, »wenn ich mich ganz einfach für Geld sehen ließe?

Pfui! welch unwürdiger Gedanke! Ich will ein Gedicht machen wie Kacatogan, nicht in einem Gesang, nein, in vierundzwanzig, wie alle großen Männer. Noch nicht genug, achtundvierzig sollen es werden, mit Fußnoten und Anhang! Das Universum soll wissen, daß ich bin. Ich werde in meinen Versen meine Einsamkeit beweinen; aber so, daß auch die Glücklichsten mich beneiden. Der Himmel versagte mir ein Weibchen; so will ich Fürchterliches über die der andern sagen. Ich werde beweisen, daß alles zu grün sei, die Weintrauben ausgenommen, die ich esse. Die Nachtigallen sollen sich nur hüten! Ich werde beweisen: Wie zwei mal zwei vier ist, so sicher verursacht ihr Gejammer Übelkeit, so sicher ist ihre Ware wertlos. Ich muß Charpentier aufsuchen, muß mir zuerst eine mächtige literarische Position schaffen. Ich werde mich mit einem Hof umgeben, nicht nur aus Journalisten, sondern aus wahrhaften Autoren und selbst aus Schriftstellerinnen. Ich werde für Fräulein Rachel eine Rolle schreiben. Verweigert sie sie mir, so rufe ich mit Trompetenstimme in alle Welt, daß ihr Talent kleiner ist als das einer alten Provinzschauspielerin. Ich werde nach Venedig gehen, werde mir den schönen Palazzo Mocenigo mieten, am Canale Grande, mitten in der feenhaften Stadt. Er kostet täglich vier Pfund zehn Sous. Dort werde ich mich von den Erinnerungen inspirieren lassen, die der Autor von ›Lara‹ zurückgelassen hat. Aus meiner Einsamkeit heraus will ich die Welt mit einer Sintflut von Kreuzreimen überschwemmen, in Spencerschen Strophen. So werde ich meine große Seele erleichtern. Alle Meisen werde ich seufzen lassen, alle Turteltauben girren, dumme Gänse werden in Tränen schwimmen und die alten Eulen heulen. Ich persönlich aber werde mich der Liebe vollkommen unerbittlich und unempfindlich zeigen. Vergeblich wird man mich bedrängen, anflehen, Mitleid mit den Unglückseligen zu haben, die meine sublimen Gesänge verführten. Ihnen allen antworte ich: ›Zum Henker!‹ O Übermaß des Ruhmes! Meine Manuskripte werden mit Gold aufgewogen werden, meine Bücher die Meere überqueren. Überallhin verfolgt mich Geld, Anerkennung. Nur ich allein bleibe gleichgültig zu dem Geflüster der Menge ringsum. Ich bin die vollendete weiße Amsel, ein wahrhaft exzentrischer Schriftsteller, gefeiert, verzärtelt, bewundert, beneidet, doch absolut unzugänglich und unausstehlich.«

 

VII

Nach nicht mehr als sechs Wochen schon war mein erstes Werk der Welt gegeben. Es war, wie ich es versprochen hatte, ein Gedicht in achtundvierzig Gesängen. Wohl konnte man einige Nachlässigkeiten finden; man bedenke, welch ungeheure Fruchtbarkeit mich schreiben ließ. Aber ich meinte, das Publikum von heute, gewöhnt an die Belletristik »unter dem Strich«, würde mir keine Vorwürfe machen.

Ich hatte einen Erfolg ohnegleichen, also meiner würdig. Mein Werk behandelte niemand andern als mich selbst. Ich schloß mich darin der großen Mode unserer Zeit an, erzählte meine Leiden mit charmanter Albernheit, gewährte dem Leser tausend häusliche Einzelheiten von interessanter Pikanterie. Die Beschreibung des mütterlichen Napfes füllte nicht weniger als vierzehn Gesänge. Ich zählte alle Fugen auf, alle Löcher, Beulen, Splitter, Sprünge, Nägel, Flecken, Farben, Reflexe. Ich malte das Innere, das Äußere, die Ränder, den Boden, die Seiten, die schiefen und die geraden Ebenen. Weiterhin beschäftigte ich mich eindringlich mit den Gras- und Strohhalmen, dem trocknen Laub, den kleinen Holzstückchen, Kies, Wassertropfen, Fliegenresten, zerbrochenen Maikäferbeinen und was sich ansonsten noch darin befand. Es war eine hinreißende Schilderung. Aber glauben Sie nicht, ich hätte alles in einem weg drucken lassen. Gibt es doch unverschämte Leser, die es übersprungen hätten. Geschickt teilte ich es in kleine Stückchen und mischte es in den Bericht, daß auch nichts verlorengehen könne. An den interessantesten und dramatischsten Stellen kamen dann plötzlich fünfzehn Seiten Napf. Das ist, glaube ich, eines der großen Kunstgeheimnisse. Und da ich weiß Gott nicht geizig bin, mag ein jeder daraus profitieren.

Ganz Europa wurde durch das Erscheinen meines Buches erregt. Es verschlang die intimen Enthüllungen, die ich ihm mitzuteilen großmütig genug war. Wie sollte es auch anders sein? Nicht nur zählte ich alle Tatsachen auf, die sich auf meine Person bezogen, ich gab auch dem Publikum ein vollständiges Bild aller meiner Träumereien, vom zweiten Monat meines Lebens angefangen. Ja, ich hatte in die schönste Stelle eine Ode aus dem Eidotter eingeschoben. Wohlverstanden auch: Ich vergaß nicht, so im Handumdrehen das große Thema zu umfassen, das augenblicklich alle Welt beschäftigt: die Zukunft der Menschheit. Das Problem schien mir interessant. Ich skizzierte in einer Mußestunde die Lösung und befriedigte die Allgemeinheit.

Jeder Tag brachte mir Komplimente in Versen, Glückwünsche und anonyme Liebeserklärungen. Besuche empfing ich nie, meinen Vorsätzen getreu. Meine Tür war jedermann verschlossen. Indessen mußte ich zwei Freunde empfangen, die sich als meine Verwandten ankündigten. Der eine war eine Amsel aus Senegal, der andere eine Amsel aus China.

»Ach mein Herr!« riefen sie und umarmten mich, daß ich fast erstickte. »Was sind Sie für eine große Amsel! Wie gut haben Sie in Ihrem unsterblichen Gedicht das tiefe Leid des verkannten Genies geschildert! Wären wir nicht schon so verkannt wie nur möglich, wir würden es werden, nachdem wir Sie gelesen haben. Wie sympathisieren wir mit Ihren Schmerzen, mit Ihrer feingeistigen Verachtung des Plebs! Denn wir, mein Herr, wir erfuhren am eigenen Leibe das heimliche Weh, das Sie besangen. Hier sind zwei Sonette, die wir dichteten, das eine zum andern, und die wir freundlichst anzunehmen bitten.«

»Hier ist außerdem«, setzte der Chinese hinzu, »eine Komposition meiner Frau auf einen Abschnitt Ihres Vorwortes. Die Musik gibt wundervoll die Intention des Autors wieder.«

»Meine Herren«, sagte ich, »soweit ich urteilen kann, scheinen Sie mir von großem Herzen und erleuchtetem Geist. Doch verzeihen Sie, wenn ich frage: woher kommt Ihre Melancholie?«

»Ach, mein Herr«, antwortete der Einwohner von Senegal, »sehen Sie, wie ich gebaut bin. Mein Federkleid zwar ist freundlich anzuschauen in seiner schönen entengrünen Farbe. Doch der Schnabel ist zu kurz und der Fuß zu groß, und sehen Sie, mit welchem Schwanz ich behaftet bin. Mein Körper ist nicht zweidrittel so lang. Ist das nicht, um aus der Haut zu fahren?«

»Und ich, Herr«, sprach der Chinese, »ich trage ein noch viel peinlicheres Mißgeschick. Der Schwanz meines Mitbruders fegt die Straßen; doch auf mich zeigen die Gassenbuben mit dem Finger, dieweil ich gar keinen habe.«

»Meine Herren«, entgegnete ich, »ich bedaure Sie von ganzem Herzen. Es ist immer ärgerlich, zuviel oder zuwenig zu haben, was es auch sei. Doch gestatten Sie mir zu sagen, daß es im Jardin des Plantes mehrere Personen gibt, die Ihnen ähnlich sind und schon lange höchst friedfertig ausgestopft dort wohnen. So wenig es genügt, daß eine Schriftstellerin schamlos ist, um ein gutes Buch zu schreiben, so wenig kann eine Amsel, nur weil sie unzufrieden ist, Anspruch auf Genie haben. Ich bin der einzige meiner Art, und ich beklage es. Vielleicht habe ich unrecht, aber das ist mein Recht. Ich bin weiß, meine Herren. Werden Sie es, und wir werden sehen, was Sie zu sagen haben.«

 

VIII

Doch aller Entschlossenheit und geheuchelten Ruhe zum Trotz war ich nicht glücklich. Um des Ruhmes willen von aller Welt abgesperrt zu sein wurde zur Qual. Mit Schaudern ward mir die Notwendigkeit bewußt, mein ganzes Dasein im Zölibat zu leben. Die Wiederkehr des Frühlings vor allem wurde mir zur argen Pein. Wieder schleppte ich mich traurig durch die Tage. Da bestimmte ein unvorhergesehenes Ereignis über mein ganzes Leben.

Meine Schriften waren natürlich auch über den Kanal gedrungen, und die Engländer rissen sich um sie. Die Engländer reißen sich um alles, ausgenommen das, was sie verstehen. Eines Tages bekam ich aus London einen Brief, der von einer jungen Amselin unterzeichnet war:

»Ich habe Ihre Dichtung gelesen. Meine Bewunderung heißt mich, Ihnen mein Herz und meine Hand anzubieten. Gott hat uns füreinander geschaffen! Ich gleiche Ihnen, ich bin eine weiße Amselin! ...«

Man stelle sich meine Freude und meine Überraschung vor. »Eine weiße Amsel! Ist es möglich? Ich bin also nicht allein auf der Erde!« Rasch antwortete ich der schönen Unbekannten und gab ihr zu verstehen, wie sehr mir ihr Vorschlag gefalle. Ich drängte sie, nach Paris zu kommen oder mir zu erlauben, zu ihr zu fliegen. Sie antwortete, sie wolle lieber kommen, weil ihre Eltern ihr Ärger bereiteten. Sie wolle nur ihre Angelegenheiten ordnen. Ich würde sie bald sehen.

Und wirklich, sie kam wenige Tage danach. O Glück! Es war die hübscheste Amselin von der Welt und noch weißer als ich.

»O mein Fräulein«, rief ich aus, »oder vielmehr meine Frau, denn ich betrachte Sie von nun ab als eheliches Weib, ist es glaublich, daß so ein entzückendes Wesen auf Erden lebt, ohne daß ich von seiner Existenz wußte? Gesegnet sei alles vergangene Leid, seien die Schnabelhiebe, die mir der Vater gab, da mir der Himmel so unverhofften Trost bewahrte! Bis heute glaubte ich mich zu ewiger Einsamkeit verdammt. Es war eine schwere Last, ich spreche frei zu Ihnen. Aber wenn ich Sie ansehe, fühle ich in mir Familienvatereigenschaften. Nehmen Sie ohne Verzug meine Hand. Heiraten wir auf englisch, ohne Zeremonie. Reisen wir gemeinsam in die Schweiz!«

»Nicht so«, entgegnete die junge Amselin. »Ich will, daß unsere Hochzeit prächtig ist und alles, was in Frankreich irgendwie einen wohlgeborenen Amselnamen hat, feierlich versammelt wird. Leute wie wir dürfen sich um ihres Ruhmes willen nicht vermählen wie Katzen auf der Dachrinne. Ich habe einen Vorrat Banknoten bei mir. Beginnen Sie mit den Einladungen, kaufen Sie ein, was Sie brauchen, und knausern Sie nicht mit Erfrischungen.«

Ich gehorchte blind. Die Hochzeit war von überwältigendem Luxus. Zehntausend Fliegen wurden verspeist. Wir empfingen den ehelichen Segen von Hochwürden Pater Kormoran, Erzbischof in partibus. Ein wundervoller Ball beschloß den Tag. Nichts fehlte zu unserm Glück.

Meine Liebe für meine reizende Frau wuchs, je mehr ich mich in ihren Charakter vertiefte. Das kleine Persönchen vereinigte in sich alle Vorzüge des Körpers und der Seele. Nur war sie ein wenig prüde. Aber das schrieb ich dem Einfluß des englischen Nebels zu, in dem sie bisher gelebt hatte. Ich zweifelte nicht, daß Frankreichs Klima sie bald davon heilen würde.

Ernster beunruhigte mich etwas anderes. Sie umgab sich zuweilen und seltsam hartnäckig mit einem Geheimnis, schloß sich mit ihren Dienstboten ein und verbrachte so etliche Stunden, angeblich um Toilette zu machen. Ehegatten lieben diese Phantastereien im Haushalt durchaus nicht. Es geschah häufig, daß ich an die Tür meiner Frau klopfte, ohne Einlaß zu erhalten. Das machte mich furchtbar ungeduldig. An einem Tag verlangte ich in so schlechter Laune Eintritt, daß sie wohl nachgeben mußte und mir ein wenig hastig öffnete, nicht ohne sich über meine Aufdringlichkeit zu beklagen. Ich bemerkte eintretend eine große Flasche voll einer Art Kleister aus Mehl und Schlämmkreide. Ich fragte sie, zu was sie die Mixtur gebrauche. Es sei ein Mittel gegen Frostbeulen, an denen sie litte, entgegnete sie.

Diese Arznei schien mir ein wenig verdächtig. Doch was sollte ich gegen ein so süßes und artiges Wesen mißtrauisch sein, das sich mir mit so viel Begeisterung und Aufrichtigkeit hingab? Ich wußte zuerst auch nicht, daß mein vielgeliebtes Weib schriftstellerte. Sie gestand es mir erst nach etlicher Zeit und zeigte mir dann sogar das Manuskript eines Romanes, in dem sie Walter Scott und Scarron zugleich imitierte. Diese liebenswürdige Überraschung erfreute mich sehr. Ich besaß nicht nur eine unvergleichliche Schönheit, ich konnte auch gewiß sein, daß die Intelligenz meiner Gefährtin mir durchaus kongenial war. Von da ab arbeiteten wir gemeinsam. Während ich meine Gedichte komponierte, schmierte sie stoßweise Papier voll. Ich rezitierte ihr meine Verse; sie kümmerte sich wenig darum und schrieb ruhig weiter. Sie brütete ihre Romane mit einer Leichtigkeit aus, die fast der meinigen gleichkam, wählte stets die dramatischsten Themen, Vatermorde, Verführungen, Totschlag und Betrug. So im Vorbeigehen attackierte sie stets die Regierung und predigte die Emanzipation der Amselinnen. Keine Anstrengung scheute ihr Geist und keine Kraftprobe ihre Schamhaftigkeit. Sie radierte niemals eine Zeile, arbeitete niemals nach einem Plan. Sie war der Typ einer literarischen Amsel. Eines Tages arbeitete sie mit ungewöhnlichem Feuer. Ich bemerkte, daß sie große Tropfen schwitzte, und sah erstaunt auf ihrem Rücken einen großen schwarzen Fleck.

»Guter Gott! Was hast du denn da? Bist du krank?«

Zuerst schien sie ein wenig erschreckt und verdutzt; aber ihre große Weltgewandtheit half ihr bald wieder zu ihrer königlichen Haltung. Es sei ein Tintenfleck, meinte sie, das passiere ihr öfter in den Augenblicken der Inspiration.

»Sollte meine Frau abfärben?« fragte ich mich ganz leise. Der Gedanke ließ mich nicht schlafen. Ich dachte an den Kleistertopf. »Himmel! Welcher Verdacht! Sollte dieses göttliche Wesen nichts anderes als Malerei, als leichte Tünche sein? Lackierte sie sich, um mich zu mißbrauchen? Habe ich nicht eine Schwesternseele, mein ausgewähltes einziges Weib umarmt, sondern Mehlkleister?«

Der schreckliche Zweifel verfolgte mich. Ich mußte ihn loswerden. Ich kaufte einen Barometer und erwartete gierig einen Regentag, wollte dann mit meiner Frau an einem zweifelhaften Sonntag aufs Land und sie der Probe eines Abwaschs unterziehen. Doch wir waren mitten im Juli und hatten abscheulich schönes Wetter.

Der Schein von Glück und angestrengtes Schreiben hatten mich sehr nervös gemacht. Naiv wie ich war, geschah es mir beim Arbeiten oft, daß das Gefühl stärker war als der Gedanke und daß ich, einen Reim erwartend, zu weinen anfing. Meine Frau liebte diese seltenen Tränen sehr. Jede männliche Schwäche entzückt den weiblichen Stolz. In einer Nacht, als ich nach der Vorschrift Boileaus an einer Korrektur feilte, öffnete sich mein Herz.

»O du!« sagte ich meiner geliebten Amselin. »Du meine Einzige und Geliebteste! Du, ohne die mein Leben ein Traum wäre. Du, deren Blick und Lächeln das Universum für mich verwandeln, Pulsschlag meines Herzens, weißt du, wie sehr ich dich liebe? Wenn ich einen banalen und schon von andern Dichtern benutzten Gedanken in Verse bringen will, lassen mich ein wenig Übung und Aufmerksamkeit leicht die Worte finden. Aber wo soll ich sie hernehmen, um das zu sagen, was mir deine Schönheit eingibt? Selbst die Erinnerung an vergangenes Leid gibt mir kein Wort, um das Glück der Gegenwart zu beschreiben. Bevor du zu mir kamst, war meine Abgeschiedenheit wie die eines verbannten Waisenknaben. Heute ist sie eines Königs würdig. In diesem schwachen Körper, dessen Trugbild ich bin, bis ihn der Tod zerbricht, in diesem kleinen, fiebrigen Gehirn voll unnützer Gedanken ist nichts, was dir nicht gehört. Weißt du das, begreifst du das, meine Schöne? Höre, was mein Hirn zu sprechen vermag, fühle, wieviel größer meine Liebe ist! O wäre mein Genie eine Perle und du Kleopatra!«

Also faselte ich und weinte über meine Frau hin. Sie färbte sichtlich ab. Bei jeder Träne, die mir aus den Augen fiel, erschien eine Feder, nicht einmal schwarz, sondern braunrot. (Ich vermute, sie hatte schon einmal woanders abgefärbt.) Nach einigen Minuten der Rührung sah ich mich einem entkleisterten und entmehlten Vogel gegenüber, der aussah wie die gemeinste und gewöhnlichste Amsel.

Was tun? Was sagen? Wie handeln? Jeder Vorwurf war nutzlos. Der Fall gäbe wohl einen Scheidungsgrund, könnte die Ehe zerbrechen, aber sollte ich meine Schande noch öffentlich kundtun? War mein Unglück noch nicht groß genug? Ich nahm mein Herz in beide Füße, beschloß, die Welt zu verlassen, die literarische Karriere aufzugeben, in die Einöde zu fliehen, jedes Lebenden Anblick zu meiden und, wie Alcest,

»... den fernsten Ort zu suchen:
Wo man in Freiheit weiße Amsel ist!«

 

IX

So flog ich hin, weinte. Und der Wind, der der Zufall der Vögel ist, trug mich auf einen Zweig im Wald zu Morfontaine. Heute war schon alles zu Bett.

Was war das für eine Ehe? Was für ein Streich! Sicher tat sie es in der besten Absicht, das arme Kind, als sie sich weiß anstrich. Aber darum bin ich nicht weniger zu beklagen, noch ist sie weniger braunrot.

Noch sang die Nachtigall. Einsam, aus tiefer Nacht, genoß sie die Wohltat Gottes, die sie den Dichtern so überlegen macht, und sang ihr Gefühl in die Stille ringsum. Ich mußte zu ihr hin und sie sprechen.

»Was bist du glücklich! Du singst nicht nur, was du willst, du singst nicht nur vortrefflich und hast alle Welt als Hörer, du hast auch ein Weibchen und Kinder, ein Nest, Freunde, weiches Mooskissen, Vollmond und keine Zeitungen. Rubini und Rossini sind nichts neben dir. Du bist besser als der eine und erfaßt den andern. Auch ich sang und zwar erbarmungswürdig. Ich stellte die Worte in Schlachtordnung wie preußische Soldaten, ich stammelte fades Zeug, dieweil du auf den Bäumen saßest. Kannst du mir dein Geheimnis sagen?«

»Doch«, entgegnete die Nachtigall; »aber es ist nicht so, wie du glaubst. Meine Frau ist mir langweilig. Ich liebe sie gar nicht, ich bin verliebt in die Rose. Sadi, der Perser, hat davon erzählt. Ich schreie mir die ganze Nacht nach ihr die Kehle aus, doch sie schläft und hört mich nicht. Ihr Kelch ist jetzt geschlossen und wiegt einen alten Käfer, – und morgen früh, wenn ich zu Bett gehe, matt von Leid und Müdigkeit, dann öffnet sie sich wieder, auf daß eine Biene ihr Herz verzehre!«

 


 << zurück