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IV. Teplitzer Fragmente

1. Gefühl des Gefühls ist schon Empfindung; Empfindung der Empfindung u. s. fort.

2. Jedes Glied des Körpers ist aller Krankheiten fähig, denen eins seiner Mitglieder unterworfen ist.

3. Meister ist reiner Roman; nicht wie die andern Romane mit einem Beiworte. Historische Ansicht Meisters.

4. Noten an den Rand des Lebens.

5. Thetische Bearbeitung des neuen Testaments oder der christlichen Religion. – Ist die Umarmung nicht etwas dem Abendmahl Ähnliches? Mehr über das Abendmahl.

6. Mystizismus des gesunden Menschenverstandes. (Steinbart [Kleinjogg]). Campe. Asmus. Plurimi.)

7. Individuelles; selbstgegebner Name jedes Dings.

8. Noten zum täglichen Leben. Über das Schlafengehn, das Müßiggehn, Essen. Abend, Morgen, das Jahr. Die Wäsche. Tägliche Beschäftigungen und Gesellschaften. Umgebung, Meublement, Gegend und Kleidung etc.

9. Überschriften zu den Fragmenten. Was soll ein Titel sein? ein organisches, individuelles Wort, oder eine genetische Definition, oder der Plan, mit Einem Worte, eine allgemeine Formel. Er kann aber noch mehr sein und noch etwas ganz anders.

10. Wo ist der Urkeim, der Typus der ganzen Natur zu finden? Die Natur der Natur?

11. Jedes spezifische Faktum ist Quell einer besondern Wissenschaft.

12. Was ist der Bauer?

13. Was haben mehrere Menschen zusammen für eine Misch- oder Mittelkonstitution, Gesundheit, Krankheit? Kann man sie zusammen als Ein Individuum nach den Indikationen dieser komponierten Krankheit kurieren?

14. Die Forderung, die gegenwärtige Welt für die Beste und die absolut Meine anzunehmen, ist ganz der gleich, meine mir angetraute Frau für die Beste und Einzige zu halten, und ganz für Sie und in ihr zu leben. Es gibt noch viele ähnliche Fordrungen und Ansprüche, deren Anerkennung derjenige zur Pflicht macht, der einen für immer entschiednen Respekt für alles, was geschehn ist, hat – der historisch religiös ist, der absolute Gläubige und Mystiker der Geschichte überhaupt, der echte Liebhaber des Schicksals. Das Fatum ist die mystifizierte Geschichte. Jede willkürliche Liebe, in der bekannten Bedeutung, ist eine Religion, die nur Einen Apostel, Evangelisten und Anhänger hat und haben und Wechselreligion sein kann – aber nicht zu sein braucht.

Wo der Gegenstand die Eifersucht seiner Natur nach ausschließt, so ist es die christliche Religion, die christliche Liebe.

15. Begriff von Philologie: Sinn für das Leben und die Individualität einer Buchstabenmessung. Wahrsager aus Chiffern; Letternaugur. Ein Ergänzer. Seine Wissenschaft entlehnt viel von der materialen Tropik. Der Physiker, der Historiker, der Artist, der Kritiker etc. gehören alle in dieselbe Klasse. (Weg vom Einzelnen aufs Ganze – vom Schein auf die Wahrheit et sic porro. Alles befaßt die Kunst und Wissenschaft, von Einem aufs Andere, und so von Einem auf Alles, rhapsodisch oder systematisch zu gelangen; die geistige Weisekunst, die Divinationskunst.)

16. Nichts ist dem Geist erreichbarer, als das Unendliche.

17. Sofie, oder über die Frauen.

18. Vorrede und Motto zu den Fragmenten.

19. Verhältnisse des Titels, Plans und Inhaltsverzeichnisses. Notwendigkeit einer Nachrede.

20. Ist der äußere Reiz vielleicht nur zur Bewußtwerdung nötig? – Die Wirkung erfolgt jetzt nicht, sondern wir werden sie uns jetzt nur bewußt. – Es kommt uns vor, als geschähe es erst jetzt – und zwar durch Sollizitation von außen. Der Verstand trennt nur zum Behuf seines Zwecks des Trennens [B(ewußt)S(seins)].

21. An schlechten und mittelmäßigen Schriftstellern ließe sich noch mancher schöne Kranz verdienen. Man hat bisher fast lauter Schlechtes und Mittelmäßiges über dieselben – und doch würde eine Philosophie des Schlechten, Mittelmäßigen und Gemeinen von der höchsten Wichtigkeit sein.

22. Ein Roman ist ein Leben als Buch. Jedes Leben hat ein Motto, einen Titel, einen Verleger, eine Vorrede, Einleitung, Text, Noten etc., oder kann es haben.

23. Philologie im Allgemeinen ist die Wissenschaft der Literatur. Alles, was von Büchern handelt, ist philologisch. Noten, Titel, Mottos, Vorreden, Kritiken, Exegesen, Kommentare, Zitaten sind philologisch. Rein philologisch ist es, wenn es schlechterdings nur von Büchern handelt, sich auf solche bezieht und sich durchaus nicht auf die Originalnatur direkte wendet. Mottos sind philologische Texte. – Sie ist teils philosophisch, teils historisch; jenes ist ihr reiner Teil, dies ihr angewandter. Gelehrter im strengen Sinn ist nur der Philolog. Diplomatie ist philologisch, – die Historie auch.

24. Philosophie des Lebens enthält die Wissenschaft vom unabhängigen, selbstgemachten, in meiner Gewalt stehenden Leben – und gehört zur Lebenskunstlehre, oder dem System der Vorschriften, sich ein solches Leben zu bereiten. Alles Historische bezieht sich auf ein Gegebnes, so wie gegenteils alles Philosophische sich auf ein Gemachtes bezieht. – Aber auch die Historie hat einen philosophischen Teil.

25. Unsere Meinung, Glaube, Überzeugung von der Schwierigkeit, Leichtigkeit, Erlaubtheit und Nichterlaubtheit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, Erfolg und Nichterfolg etc. eines Unternehmens, einer Handlung bestimmt in der Tat dieselben. Z. B., es ist etwas mühselig und schädlich, wenn ich glaube, daß es so ist, und so fort. Selbst der Erfolg des Wissens beruht auf der Macht des Glaubens. In allem Wissen ist Glauben.

26. Allgemeine Sätze sind nichts, als algebraische Formeln. Die reine Philosophie ist daher gerade so etwas, wie die Lettern-Algebra. So eine Formel kann ein Gattungs, ein Klassen- und Lokalzeichen sein – methodischer Name einer echten genetischen Definition. Definition ist ein Faktum. Die Bezeichnung dieses Faktums ist die gemeinhin sogenannte Definition. (Auf eine ähnliche Weise wie sich die Logarythmen auf die geometrischen Progressionen beziehn, kann sich der Mechanism auf den Organism beziehn: bloß Bezeichnungsweise.)

27. Auch die Grammatik ist philologisch zum Teil; der andre Teil ist philosophisch.

28. Die eingezogene Erziehung der Mädchen ist für häusliches Leben und Glück darum so vorteilhaft, weil der Mann, mit dem sie nachher in die nächste Verbindung treten, einen desto tiefern und einzigen Eindruck auf sie macht, welches zur Ehe unentbehrlich ist. Der Erste Eindruck ist der mächtigste und treuste, der immer wiederkommt, wenn er auch eine Zeitlang verwischt scheinen kann.

29. Echte Kunstpoesie ist bezahlbar. Die Poesie aus Bedürfnis – die Poesie, als Charakterzug, als Äußerung meiner Natur, kurz die sentimentale Poesie läßt sich aber nur ein indelikater, roher Mensch bezahlen.

30. Die Welt ist ein Universaltropus des Geistes, ein symbolisches Bild desselben.

31. Das Epigramm ist die Zentralmonade der altfranzösischen Literatur und Bildung.

32. Charaktere, wie die Theophrastischen, müssen nicht wahr, aber sie müssen durchaus witzig sein. Es müssen eine Masse Einfälle sein, die für den Geist einen Charakter ohngefähr so darstellen, wie die Buchstaben in einer geschriebenen Zeichnung einen Kopf oder sonst etwas.

33. Der vollkommenste Charakter würde der durchsichtige, der von selbst verständliche, der unendlich leicht und natürlich scheinende, durchaus bekannte, deshalb unbemerkte, übersehene und elastische sein.

34. Das Bekannte, worauf der Philosoph alles reduzieren, und wovon er ausgehn soll, muß das Urbekannte, – das absolut Bekannte sein. Alles Vollkommne ist uns natürlich und absolut bekannt.

35. Symbolische Behandlung der Naturwissenschaften. Was symbolisiert unser gewöhnliches Leben? Es ist ein Erhaltungsprozeß.

36. Alle Bezauberung ist ein künstlich erregter Wahnsinn. Alle Leidenschaft ist eine Bezauberung. Ein reizendes Mädchen eine reellere Zauberin, als man glaubt.

37. Über den Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

38. Tout est Vanité – ist der empirische Idealism. C'est la Philosophie des Esprits forts, des Gens du Monde, le Précipité d'une Vie vague et variée au possible. Tous les Vieillards, surtout, qui ont bien joui de leur Vie, prêchent ce système. Le jeune homme vigoureux l'entend et va préférer une Vanité gaie à une Vanité triste. Une Vérité triste n'est aussi qu'une Vanité, qui a perdu son teint frais et coloré, ses lèvres vermeilles, et la marche légère. Laideur de la Vieillesse est-ce qu'elle est donc plus réelle, que la beauté du premier Age – parcequ'elle est la dernière? C'est donc le dernier, qui a toujours Raison?

39. Jedes Buch, was der Mensch mit oder ohne Absicht, als solcher geschrieben hat, was also nicht sowohl Buch, als geschriebene Gedanken und Charakteräußerung ist, kann so mannigfaltig beurteilt werden, als der Mensch selbst. Hier ist kein Künstler, sondern der echte Menschenkenner kompetent; es gehört nicht für ein artistisches, sondern für ein anthropologisches Forum. So einseitig und unbillig, so arbiträr und inhuman Menschen beurteilt werden, eben so auch diese Art Schriften. Es gibt so wenig reifen Sinn für universelle Humanität – daß man sich auch über die Kritiken dieser Schriften nicht wundern darf. Gerade das Beste wird am leichtesten übersehen; auch hier findet der Kenner, für den der Mensch erst eigentlich vorhanden ist, unter dessen Augen er wird, unzählbare Nuancen, Harmonien und Gelungenheiten; nur er weiß sie zu apprezieren und bewundert vielleicht in einer sehr mittelmäßig, oder gar schlecht scheinenden Schrift eine seltne Kombination und Ausbildung menschlicher Anlagen, die herrliche Naturkunst eines Geistes, der sich ihm in einer barbarischen Form offenbart, weil er nur das Talent des schriftlichen Ausdrucks nicht besaß, oder vernachlässigte.

40. Fragmente über den Menschen.

41. Das Schwächungs- und Abhärtungssystem der strengen Moralisten und strengen Asketen ist nichts, als das bekannte, bisherige Heilungssystem in der Medizin. Ihm entgegen muß man ein Brownisches Stärkungssystem setzen, wie dem letztern. Hat dies schon jemand versucht? Auch hier werden die bisherigen Gifte und reizenden Substanzen eine große Rolle spielen, und Wärme und Kälte ebenfalls ihre Rollen wechseln.

42. Eine reizbare Vernunft ist eine schwächliche, zärtliche. Daher die Moralisten und Bemerker oft so schlechte Praktiker.

43. Les femmes sind um deswillen der Pol, um den sich die Existenz und La Philosophie der Vornehm-Klugen dreht, weil sie zugleich Körper und Seele affizieren. Auch Sie lieben die Ungeteiltheit und setzen einen unumschränkten Wert auf diesen gemischten Genuß; dieser Geschmack geht auf alles über: das Bett soll weich und die Form und Stickerei hübsch, das Essen delikat, aber auch animierend sein und so durchaus.

An den Femmes reibt sich auch ihr schreibender Verstand gern, drum haben sie so viel darüber geschrieben.

Jeder sieht überall sein Bild; daher findet die Eitelkeit alles eitel.

Nichts ist tröstender, als das Bild des Zustandes, zu welchem La Philosophie du monde führt, welches unabsichtlich und wahrhaft naiv die konsormierten und konsumierten Weltleute von sich und ihrer Denkungsart in ihren Schriften und Reden ausstellen. Tröstlich und anlockend wahrhaftig nicht; ein an Unannehmlichkeit dreifach verstärktes Alter – so wie gegenteils die Jugend auch dreimal gepfeffert war.

La vraie Philosophie gehört zu der passiven Wissenschaft des Lebens. Sie ist eine natürliche, antithetische Wirkung dieses Lebelebens, aber kein freies Produkt unsrer magischen Erfindungskraft.

Auch im Schlimmen gibts eine Progression. Wenn man sich gehn läßt, so entsteht allmählich ein Ungeheuer in seiner Art. So in Brutalität, in Grausamkeit, Frömmelei etc.

44. Jedes Geschäft muß künstlerisch behandelt werden, wenn es sicher und dauernd und durchaus zweckmäßig gelingen soll.

45. Leute, wie Ligne, Voltaire und Boufflers, halten sich für absolute Esprits und glauben, daß sie selbst unabsichtlich sich als Esprits zeigen. Sie essen, träumen und machen selbst Sottisen mit Esprit. Kreatoren und Annihilanten des Esprit.

46. Brown ist der Arzt unserer Zeit. Die herrschende Konstitution ist die Zärtliche, die Asthenische. Das Heilsystem ist das natürliche Produkt der herrschenden Konstitution –, daher es sich mit dieser ändern muß.

47. La Mémoire ne se comporte pas bien avec la sensibilité – comme avec le jugement – ce qui devient clair par le fait, qu'une grande douleur l'affaiblit. (du Prince de Ligne.)

48. Brownische Psychologie.

49. Mit Ärzten und Geistlichen macht sich kein Großer Bedenken, öffentlich und vertraut zu erscheinen, denn jeder, der ihm begegnet, ahndet so gut, wie er, die Unentbehrlichkeit dieser Leute in unvermeidlichen Stunden.

50. Nur der keine Gesellschaft bedarf, ist bon Compagnon. Nur dieser wird, von der Gesellschaft unabhängig, sie haben und mannigfach reizen und nach willkürlichen Plan behandeln können. Die Andren werden von ihm gehabt und haben ihn nicht. Die Gesellschaft muß mich nicht reizen, wenn ich sie reizen will. Sie muß Appetit zu mir haben, und ich muß mich nach ihrer Konstitution stimmen können, welche Gabe man Takt im allgemeinen nennen könnte. Ich muß nur den passiven Willen haben mich hinzugeben, mich genießen zu lassen, mich mitzuteilen.

51. Les femmes haben sich nicht über Ungerechtigkeit zu beklagen. Schade, wenn eine Frau dabei war! Die Beauxesprits haben in Rücksicht des femmes vollkommen recht. Wer wird aber Les femmes mit den Frauen verwechseln?

52. Les Femmes sind Muster der zärtlichsten, weiblichsten Konstitution, höchste Asthenien, mit einem Minimum von Vernunft. So werden sie sehr begreiflich. Annihilantinnen der Vernunft.

Über die Mode. Sollte der höchste Reiz für einen Astheniker eine Asthenische sein? und umgekehrt.

53. Sinne der ersten, zweiten, dritten Hand etc.

54. Dürfte es wohl eine Dame geben, die sich aus echter Liebe zum Putz, aus uneigennützigem Geschmack gut anzöge?

55. Mancher Skeptizism ist nichts, als unreifer Idealism. Realist ist der Idealist, der von sich selbst nichts weiß. – Der rohe Idealism – der aus der ersten Hand ist der Realism.

56. Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von Asmus und Ligne und Voltaire. Auch Jacobi gehört zu den transzendenten Empirikern. Empiriker ist: in dem die Denkungsart eine Wirkung der Außenwelt und des Fatums ist, – der passive Denker – dem seine Philosophie gegeben wird. Voltaire ist reiner Empiriker und so mehrere französische Philosophen. Ligne neigt unmerklich zu den transzendenten Empirikern. Diese machen den Übergang zu den Dogmatikern. Von da gehts zu den Schwärmern oder den transzendenten Dogmatikern, dann zu Kant, von da zu Fichte und endlich zum magischen Idealism.

57. Die Geschichte der Philosophen gehört zur philologischen Philosophie.

Man hat bisher Geschichte der Bildung der Menschheit, Geschichte der Philosophen und Geschichte der Philosophie immer vermengt – man hat nur die lexikographische Vollständigkeit gesucht, und dadurch entstehn eben die Zwitter und Monstren, daß man z. B. unter den Artikel Philosophie alles bringt, was die Philosophie nur irgend berührt, wo nur das Wort Philosophie etc. vorkommt.

58. Von wie wenig Völkern ist eine Geschichte möglich! Diesen Vorzug erwirbt ein Volk nur durch eine Literatur, oder durch Kunstwerke, denn was bleibt sonst von ihm Individuelles, Charakteristisches übrig? Es ist natürlich, daß ein Volk erst geschichtlich wird, wenn es ein Publikum wird. Ist denn der Mensch geschichtlich, eh er mündig ist und ein eignes Wesen vorstellt?

59. Paradoxien beschämen immer – daher sie auch so verschrieen sind.

60. Das wäre ihnen die Liebste, die die glänzendste Tugend gegen die Andern und die reizendste Wollust für sie –, die überall angebetete Tyrannin gegen alle, und die anbetende Sklavin gegen sie allein wäre.

61. Auch Männern kann man absolut anhänglich sein, so gut wie Frauen. (Ein offner, edler Charakter – überall sichtbar.)

62. Das Herz ist der Schlüssel der Welt und des Lebens. Man lebt in diesem hilflosen Zustande, um zu lieben und Andern verpflichtet zu sein. Durch Unvollkommenheit wird man der Einwirkung Andrer fähig, und diese fremde Einwirkung ist der Zweck. In Krankheiten sollen und können uns nur Andre helfen. So ist Christus, von diesem Gesichtspunkt aus, allerdings der Schlüssel der Welt.

63. Ökonomie im weitesten Sinne begreift auch die Lebensordnungslehre. Es ist die praktische Wissenschaft im Ganzen. Alles Praktische ist ökonomisch.

64. Selbstempfinden (ist) wie Selbstdenken: aktives Empfinden. Man bringt das Empfindungsorgan wie das Denkorgan in seine Gewalt.

65. Wer viel Vernunft in gewissen Sinn hat, bei dem wird alles Einzig: Seine Leidenschaften, seine Lage, seine Begebenheiten, seine Neigungen, kurz alles, was ihn berührt, wird absolut – zum Fato.

66. Echte Unschuld geht, so wenig wie echtes Leben, verloren. Die gewöhnliche Unschuld ist nur Einmal wie der Mensch da und kommt so wenig wieder, als er. Wer, wie die Götter, Erstlinge liebt, wird nie an der zweiten Unschuld den Geschmack finden, wie an der Ersten, ohngeachtet die Letztere mehr ist, wie die Erste. Manches kann nur Einmal erscheinen, weil das Einmal zu seinem Wesen gehört. Unser Leben ist absolut und abhängig zugleich. Wir sterben nur gewissermaßen. Unser Leben muß also zum Teil Glied eines größern, gemeinschaftlichen Lebens sein.

67. Ein gemeinschaftlicher Schiffbruch etc. ist eine Trauung der Freundschaft oder der Liebe.

68. Die Hypochondrie bahnt den Weg zur körperlichen Selbstkenntnis – Selbstbeherrschung und Selbstlebung.

69. Ob das Erst Sehn und Dann Lesen oder das Umgekehrte vorzuziehn ist? Kunst, sehn zu lassen – Kunst zu schreiben.

70. On dédaigne la Boue pourquoi? Ne sommes-nous pas de la boue parvenus? Partout de la boue, rien que de la boue, et on s'étonne, que la boue n'a pas changé de Nature.

71. S'il faut, que Dieu nous aime, et que Dieu est tout, il faut bien aussi, que nous soyons rien.

72. Une forte quantité d'opinions est fondée sur le principe que nous sommes rien. Les Meilleurs ajoutent, que nous sommes pourtant susceptibles d'une certaine Espèce de Valeur absolue – en nous reconnaissant pour rien, et en croyant à l'amour de Dieu.

73. Das gewöhnliche Leben ist ein Priesterdienst, fast wie der vestalische. Wir sind mit nichts, als mit der Erhaltung einer heiligen und geheimnisvollen Flamme beschäftigt – einer doppelten, wie es scheint. Es hängt von uns ab, wie wir sie pflegen und warten. Sollte die Art ihrer Pflege vielleicht der Maßstab unserer Treue, Liebe und Sorgfalt für das Höchste, der Charakter unsers Wesens sein? Berufstreue – symbolisches Zeichen unsrer Religiosität, d. i. unsres Wesens? (Feueranbeter.)

74. L'homme en Général est un Alcibiade: A Force d'Amabilité il est partout l'enfant flatteur de la Nature. Par Complaisance envers eile il est Nègre et Esquimau, Européen et Tatare, Jaméo et Grec selon l'usage du pays.

75. Man kann immer zugeben, daß der Mensch einen vorwaltenden Hang zum Bösen hat – desto besser ist er von Natur, denn nur das Ungleichartige zieht sich an.

76. Böse Menschen müssen das Böse aus Haß gegen die Bösen tun. Sie halten alles für böse, und dann ist ihr zerstörender Hang sehr natürlich – denn so wie das Gute das Erhaltende, so ist das Böse das Zerstörende. Dies reibt sich am Ende selbst auf, und widerspricht sich sogar im Begriff, dahingegen jenes sich selbst bestätigt und in sich selbst besteht und fortdauert. Die Bösen müssen wider ihren, und mit ihrem Willen zugleich böse handeln. Sie fühlen, daß jeder Schlag sie selbst trifft, und doch können sie das Schlagen nicht lassen. Bosheit ist nichts, als eine Gemütskrankheit, die in der Vernunft ihren Sitz hat und daher so hartnäckig und nur durch ein Wunder zu heilen ist.

77. Die Anstrengung überhaupt bringt nur, als indirekter, vorbereitender Reiz, eine Operation zu Stande. In der rechten Stimmung, die dadurch entstehn kann, gelingt alles von selbst. Der Mangel an mehreren, zugleich gegenwärtigen Ideen etc. rührt von Schwäche her. In der vollkommensten Stimmung sind alle Ideen gleich gegenwärtig; in dieser ist auch keine Passion, kein Affekt möglich; in ihr ist man wahrhaft im Olymp und die Welt zu unsern Füßen. Die Selbstbeherrschung geht in ihr von selbst von Statten. Kurz, alles scheint von selbst zu geschehn, wenn das rechte Medium vorhanden ist, wenn das Hindernis gehoben wird. Alle Konstruktion ist also indirekt. On ne fait pas, mais on fait, qu'il se puisse faire. In einer gewissen Höhe der Sensation ist man von selbst, ohne Zutun tugendhaft und genialisch.

78. Unser ganzes Leben ist Gottesdienst.

79. Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser, indem sie schreiben, und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers, so viele kritische Rücksichten, so manches, was dem Leser zukommt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobene Stellen – alles dies gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Akzent willkürlich; er macht eigentlich aus einem Buche, was er will. (Schlegels Behandlung Meisters.) (Ist nicht jeder Leser ein Philolog?) Es gibt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freie Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben.

(Soll nicht der Schriftsteller Philolog bis in die unendliche Potenz zugleich – oder gar nicht Philolog sein? Der Letztere hat literarische Unschuld).

80. Elemente des Gliedes, und Elemente des Individuums müssen streng unterschieden werden; denn ein Individuum kann Glied zugleich sein.

81. Über die Charakteristik. (der Geizige, Stolze, Eitle, etc. – Im Guten und Bösen und in mannigfaltigen Variationen.)

82. Eine Idee ist desto gediegener, individueller und reizender, je mannigfaltigere Gedanken, Welten und Stimmungen sich in ihr kreuzen, berühren. Wenn ein Werk mehrere Veranlassungen, mehrere Bedeutungen, mehrfaches Interesse, mehrere Seiten überhaupt, mehrere Arten verstanden und geliebt zu werden hat, so ist es gewiß höchst interessant – ein echter Ausfluß der Persönlichkeit. Wie sich die höchsten und gemeinsten Menschen, die höchst- und gemeinverständlichsten, gewissermaßen gleichen, so auch mit den Büchern. Vielleicht gleicht das höchste Buch einem Abc-Buch. Überhaupt ist es mit den Büchern und mit allen, so wie mit den Menschen. Der Mensch ist eine Analogienquelle für das Weltall.

83. Von der Trüglichkeit und Alldeutigkeit aller Symptome. Demohngeachtet sind sie auch nur zweideutig – und mit einem disjunktiven Urteil wird man immer den Knopf treffen. (Jedes ist der höchsten, der niedrigsten und der neutralen Auslegung fähig.)

84. Die Unschuld des Königs und der Königin. Der Anfang der Regierung. Die Forderungen an ihn. Braucht ein König sehr in Sorgen zu sein? Preußens Aussichten. Finanzen. Über meinen Aufsatz. Phantasie des Königs.

85. Das Postulat des weiblichen Mystizism ist gang und gäbe. Alles fordert von den Frauen unbedingte Liebe zum ersten, besten Gegenstande. Welche hohe Meinung von der freien Gewalt und Selbstschöpfungskraft ihres Geistes setzt dies nicht voraus.

86. Das Augenspiel gestattet einen äußerst mannigfaltigen Ausdruck. Die übrigen Gesichtsgebärden, oder Mienen, sind nur die Konsonanten zu den Augenvokalen. Physiognomie ist also die Gebärdensprache des Gesichts. Er hat viel Physiognomie, heißt: sein Gesicht ist ein fertiges, treffendes und idealisierendes Sprachorgan. Die Frauen haben vorzüglich eine idealisierende Physiognomie. Sie vermögen die Empfindungen nicht bloß wahr, sondern auch reizend und schön, idealisch auszudrücken. Langer Umgang lehrt einen die Gesichtssprache verstehn. Die vollkommenste Physiognomie muß allgemein und absolut verständlich sein. Man könnte die Augen ein Lichtklavier nennen. Das Auge drückt sich auf eine ähnliche Weise, wie die Kehle, durch höhere und tiefere Töne (die Vokale), durch schwächere und stärkere Leuchtungen aus. Sollten die Farben nicht die Lichtkonsonanten sein?

87. Stimmungen, unbestimmte Empfindungen, nicht bestimmte Empfindungen und Gefühle machen glücklich. Man wird sich wohl befinden, wenn man keinen besondern Trieb, keine bestimmte Gedanken- und Empfindungsreihe in sich bemerkt. Dieser Zustand ist wie das Licht ebenfalls nur heller oder dunkler. Spezifische Gedanken und Empfindungen sind seine Konsonanten. Man nennt es Bewußtsein. Vom vollkommensten Bewußtsein läßt sich (sagen), daß es sich alles und nichts bewußt ist. Es ist Gesang, bloße Modulation der Stimmungen – wie dieser der Vokale oder Töne. Die innere Selbstsprache kann dunkel, schwer und barbarisch – und griechisch und italienisch sein – desto vollkommner, je mehr sie sich dem Gesange nähert. Der Ausdruck: er versteht sich selbst nicht, erscheint hier in einem neuen Lichte. Bildung der Sprache des Bewußtseins, Vervollkommnung des Ausdrucks, Fertigkeit sich mit sich selbst zu besprechen. Unser Denken ist also eine Zweisprache, unser Empfinden Sympathie.

88. Der größeste Zauberer würde der sein, der sich zugleich so bezaubern könnte, daß ihm seine Zaubereien wie fremde, selbstmächtige Erscheinungen vorkämen. Könnte das nicht mit uns der Fall sein?

89. Jahrszeiten, Tagszeiten, Leben und Schicksale sind alle, merkwürdig genug, durchaus ryhthmisch, metrisch, taktmäßig. In allen Handwerken und Künsten, allen Maschinen, den organischen Körpern, unsren täglichen Verrichtungen, überall: Rhythmus, Metrum, Taktschlag, Melodie. Alles was wir mit einer gewissen Fertigkeit tun, machen wir unvermerkt rhythmisch. Rhythmus findet sich überall, schleicht sich überall ein. Aller Mechanism ist metrisch, rhythmisch. Hier muß noch mehr drin liegen. – Sollt es bloß Einfluß der Trägheit sein?

90. Über die eigentliche Schwächung durch Debauchen. Durch viele indirekte Asthenie entsteht endlich direkt asthenische Disposition. Dies begünstigt Browns Meinung von der quantitativen Erregbarkeit.

91. Schlaf, Nahrung, Anzug und Reinigung, mündliche, schriftliche und handgreifliche Geschäfte (für mich, für den Staat, für meine Privatzirkel, für Menschen, für Welt.) Gesellschaft, Bewegung, Amüsement, Kunsttätigkeit.

92. Mechanischer Gottesdienst. Die katholische Religion ist weit sichtbarer, verwebter und familiärer, als die protestantische. Außer den Kirchtürmen und der geistlichen Kleidung, die doch schon sehr temporisiert, sieht man nichts davon.

93. Alle Zerstreuung schwächt. Durch fremde Gegenstände, die mich reizen, ohne mich zu befriedigen – oberflächlich – werde ich zerstreut. Mir ist deshalb die Zerstreuung zuwider, weil sie mich entkräftet. Nützlich ist sie bei sthenischen Zufällen. Gegen Ernst und Leidenschaft ist sie mit Nutzen zu gebrauchen. (Die Menschen werden künftig in medizinischer Hinsicht mehr zusammenhalten müssen.)

94. Medizin und Kur um ihrer selbst willen. Schöne Medizin und schöne Kur. Beide sollen nichts bewirken. Man braucht, um zu brauchen. Man nimmt die Medizin um ihrentwillen.

95. Vorrede und Kritik der Fragmente in Fragmenten.

96. Gemüt – Harmonie aller Geisteskräfte – Gleiche Stimmung und harmonisches Spiel der ganzen Seele. Ironie == Art und Weise des Gemüts.

97. Frauen – Kinder – Esprit des Bagatelles. Art der Konversation mit ihnen. Die Muster der gewöhnlichen Weiblichkeit empfinden die Grenzen der jedesmaligen Existenz sehr genau und hüten sich gewissenhaft dieselben zu überschreiten; daher ihre gerühmte Gewöhnlichkeit – praktische Weltleute.

Sie mögen selbst übertriebne Feinheiten, Delikatessen, Wahrheiten, Tugenden, Neigungen nicht leiden. Sie lieben Abwechselung des Gemeinen, Neuheit des Gewöhnlichen; keine neuen Ideen, aber neue Kleider, Einförmigkeit im Ganzen, oberflächliche Reize. Sie lieben den Tanz, vorzüglich wegen seiner Leichtigkeit, Eitelkeit und Sinnlichkeit. Zu guter Witz ist ihnen fatal – so wie alles Schöne, Große und Edle. Mittelmäßige und selbst schlechte Lektüre, Akteurs, Stücke etc., das ist ihre Sache.

98. Über den Hanswurst und komische Rollen überhaupt.

99. Ordinäre Menschen ohne es zu wissen und zu wollen. Ordinäre Menschen aus Absicht und mit Wahl. Glücklicher Instinkt der Gemeinheit. Geborne ordinäre Menschen. – (Synthese des ordinären und extraordinären Menschen.)

100. Geborne Menschenbeherrscher.

101. Absolute Hypochondrie. Hypochondrie muß eine Kunst werden, oder Erziehung werden.

102. Unterschied zwischen Sitten und Gebräuchen (Langeweile und Mangel an Reizen des Seelebens drückt sich in den Reisebeschreibungen aus.) (Industrie, bestes Surrogat der Religion und Gegenmittel gegen alle Leidenschaften. Industrie der Not, Krankheit und Trägheit, Industrie des Überflusses, der Kraft und Gesundheit, oder Kunstindustrie.) Mancher wird erst dann witzig, wenn er sich dick gegessen hat, wenn er müde ist oder recht faul oder gedankenlos behaglich, wenn der üppige Wuchs und Andrang seiner Ideen gehemmt ist und er überhaupt körperlich gesättigt ist, wenn er so in Not ist, daß er über die Not ist, wenn er nichts mehr zu verlieren hat etc.

103. Bloße Gedanken, ohne eine gewisse Aufmerksamkeit auf dieselben, und Zueignung, wirken so wenig, wie bloße Gegenstände. Dadurch daß man häufig an reizende Gegenstände eines Sinnes wirksam denkt, wird dieser Sinn geschärft, er wird reizbarer. So wenn man häufig an lüsterne Dinge denkt, werden die Gst. (Geschlechtsteile?) empfänglicher, der Magen durch Gedanken an schmackhafte Speisen, der Kopf auf dieselbe Art, und so durchaus. – Methode eine schwächliche Konstitution zu verbessern. (Übung, allmähliche).

104. Die sogenannten falschen Tendenzen sind die besten Mittel vielseitige Bildung zu bekommen.

105. Liebe ohne Eifersucht ist nicht persönliche Liebe, sondern indirekte Liebe – man kann Vernunftliebe sagen; denn man liebt hier nicht, als Person, sondern als Glied der Menschheit. Man liebt die Rivale mehr, wie den Gegenstand.


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