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Der Eros von Morgen

siehe Bildunterschrift

Nacktspiele im Freien.
(Beispiel ernster Nacktkultur.)

Um 1900 war von einer erotischen Kultur, wie sie heut am Beginn des zweiten Viertels des XX. Jahrhunderts nicht nur in Berlin, sondern überall in der Welt zu bemerken ist, nichts zu verspüren.

Daran änderte auch nichts der kleine Teil galanten Lebens, der sich in den cabinets particuliers von Uhl, Dressel, des Restaurants Opéra, des »Theaterrestaurants« und in Hoehnes Austernstuben verschwiegen und vergnügt abspielte. Es war im wesentlichen jeunesse dorée, die sich dort ziemlich kostspielig ergötzte. Nicht einmal die Karnevalsweinstimmung der späteren Rheinischen Winzerstuben war schon vorhanden.

Der junge Mittelstandskavalier mit der Ladenlady, die tagsüber im Geschäft steht und abends kühl, onduliert und glänzend ausstaffiert die Filmdiva markiert, war noch nicht erfunden.

Er ging noch zu Emberg in die Schumannstraße, zu Lestmann in die Chausseestraße, zu Brünsch in die Jägerstraße und tanzte und nahm sich ein Mädchen für Geld.

Um 1900 herum schlugen aber die ersten erotischen Flammen auch in Berlin auf. Es ist vielleicht kein Zufall, daß es zusammenfiel mit einer völligen Erneuerung des Theaters, der Tanzbühne und der Kleinkunst, die von Max Reinhardt, von den Metropolrevuen, von Ernst v. Wolzogen und nicht zuletzt von Isadora Duncan ausgingen, die 1900 zuerst in Berlin mit nackten Füßen tanzte, worüber damals ganz Berlin Kopf stand. Über Berlin aber ergoß sich eine Woge von Farbe, Rhythmus und Musik.

siehe Bildunterschrift

Ernst Stern: Pacholkes machen Schönheitsabend.
(Satire auf übertriebene Nachahmung.) (1908)

Es entstand sozusagen eine Liebeskonfektion.

Die modernen Balletts zeigten schöne Mädchen, raffiniert bekleidet und entkleidet und alles, was der Berliner bis dahin nur aus Modejournalen und pikanten Witzblättern, aus den Bildern des Herrn v. Recznicek und Marquis v. Bayros kannte, sah er auf der Bühne, farbig, bewegt, sinnlich, greifbar.

Nicht nur der Berliner. Sondern auch die Berlinerin. Sie sah, wie diese Frauen sich kleideten und entkleideten und der Wetteifer mit den Damen oben auf der Bühne setzte ein, um so mehr, als eine besondere Konfektion mit einem Male alle jene Requisiten weiblicher Erotik ausschüttete, die auf der Bühne in Entkleidungsszenen und Boudoiridyllen so überaus wirksam verwendet wurden.

Die Theaterzensur hatte schwere Zeiten. Sie mochte nicht mit Unrecht ahnen, daß eine neue Zeit anbreche, in der das bisher wenigstens äußerlich so strenge Berlin eine Erotisierung erfahre, die denn doch alle Bande frommer Scheu zu lösen drohte.

Diese Befürchtung war nicht ganz unberechtigt. Heut, wo die Stellung zur Nacktheit auf der Bühne schon in weiten Kreisen fast unbefangen geworden ist, versteht man kaum noch die Sensation des Augenblicks, in dem Olga Desmond auf der Bühne des Mozartsaals den königsblauen Mantel fallen ließ und nackt im Rampenlicht stand. Man versteht nicht mehr die Kämpfe um die Lex Heinze, um den dolus eventualis, und überhaupt die sittliche Bevormundung durch Stellen, deren Phantasie vielleicht lüsterner war als die der Leute, deren Phantasie man schützen wollte.

Das Kostüm der »Salome«, deren Aufführung noch 1904 verboten war, die Tänze der halbnackten Ruth St. Denis hatten noch immer unwilliges Kopf schütteln gefunden. Das, was sich auf den sogenannten Alpenbällen bei Kroll, den Bösen-Buben-Bällen und später auf dem Reimann-Ball und den zahlreichen ähnlichen Festen sehr viel handgreiflicher abspielte, wurde allerdings nicht so sehr bemerkt.

Aber auch über diese recht lebensfrohen Bälle war ein künstlerischer Zug der Aufmachung gekommen, der sich in der Form der Einladungen, der Reklame und der Ballausstattung äußerte. Immer mehr wurde der Bürger und die Bürgerin von dem unbekümmert daherstrudelnden Strom einer Faschingserotik, die von München und Paris herkam, ergriffen und mitgerissen.

Die Schaufenster bekamen ein neues Gesicht: üppige Schlafgemächer, Miedergeschäfte, Strumpfauslagen, Stiefel- und Schuhläden wurden eine Apotheose fraulicher Reize und ließen die Phantasie des Berliners und der Berlinerin nicht mehr in ihrer früher so genügsamen Ruhe.

Die erotischen Tänze, Cakewalk und Tänze von Übersee, Onesteps und Twosteps kamen durch Revuen und die neuen Operetten der Jungwiener Komponisten Lehár, Straus, Fall nach Berlin und setzten Tausende hübscher Frauenbeine in Bewegung.

Das schöne Frauenbein wurde entdeckt. Es war ja nie übersehen worden, wo es sich zeigte. Es zeigte sich nur nicht und kam erst kurz vor dem Kriege aus dem Schlitzrock schüchtern zum Vorschein, um nun im Seidenstrumpf wiederum eine neue erotische Sensation auszulösen.

Überall sah der Mensch, der die Verkaufsstraßen daherwandelte, in schönen Läden grüne, rote, blaue, fleischfarbene Frauenseidenbeine, die sich aus farbig rieselnden Spitzenseidenröcken streckten.

Die erotische Wirkung der aus Friseurfenstern winkenden wohlfrisierten Venusbüste mit wächsernem Dekollete war abgelöst durch eine Adoration des schönen, seidenbestrumpften Frauenbeines, die sich sehr bald auch in den Bilderzeitschriften und in der erotischen Lyrik fortsetzte.

Der Krieg schien zunächst mit diesem galanten Berlin gründlich aufräumen zu wollen. Statt dessen schuf er aber ein Chaos neuer, heftiger erotischer Beziehungen, wie es nur unter dem unerhörten Druck eines solchen Erlebens entstehen kann, das den Lebenshunger und die Hingabe bis zum Äußersten rasen läßt – denn für jeden einzelnen war ja diese Zeit ein Stück Weltuntergangsnähe, die das Lebensfieber noch einmal hochschnellen lassen mußte.

Das, was sich nach dem Kriege erotisch – nicht nur in Berlin – abspielte, ist in frischer Erinnerung.

Tanztaumel überall, aufgepeitscht von amerikanischer Jazzband. Das nackte Wort in Schnitzlers »Reigen« Hunderte von Malen auf einer Berliner Bühne. Nackttänze, inauguriert von Celly de Rheydt, überall, öffentlich und in verschwiegenen Bürgerhäusern, die in lächerlicher Weise zu Nachtlokalen hergerichtet sind.

siehe Bildunterschrift

Freibad

Die Kleidung auf den vornehmen Bällen sogar schrumpft bis auf ein Nichts zusammen und über die Berliner Tanzbühne ergießt sich in üppigen Revuen ein Reigen völlig nackter Frauen, erobert sich sogar die Nachtkabaretts, wo nun der Spießer weiße, gepflegte und zart gepuderte Frauenleiber nackt aus nächster Nähe beäugen darf.

Wo sind die Zeiten geblieben, da dieser selbe Bürger als schüchterner Verehrer seiner Angebeteten bei Bilse im Konzert saß, da wo heut das Kaufhaus Tietz in der Leipziger Straße steht? Und wo die Zeit, wo die Eröffnung des Freibades Wannsee 1907 einen Sturm auslöste, als sich Tausende von jüngeren und älteren Bürgerinnen auf dem Sande des Wannseeufers heiter-unbefangen in der Sommersonne entkleideten, um in das Wannseewasser zu steigen?

Schon gibt es Badestellen an den Gewässern um Berlin, wo auch das Badewams gefallen ist.

Der nackte Leib des kräftigen Mannes und der schöngewachsenen Frau scheint seine Anstößigkeit endlich verlieren zu wollen.

Das, was Erotisierung war, wird vielleicht ein rein ästhetisches Vergnügen.

Denn Eros ist nie etwas Unreines gewesen. Das aber, was bis heute als Eros galt, ist vielleicht nie Eros gewesen.

siehe Bildunterschrift

In der Sonne.
(Aus dem Ufa-Film »Wege zu Kraft und Schönheit«.)

Die schönen Menschen im Film der 15 Jahre seit 1910 und die trainierten Gestalten unseres deutschen Sports bei den Berliner Sportkämpfen im Stadion und im Sportpalast – auch bei den Boxkämpfen – haben zu einer neuen Art des Menschensehens erzogen sowie auch die Verfeinerung der Tanzkultur durch Pflege des Gesellschaftstanzes in Tanzklubs zweifellos ebenfalls zu einer Verfeinerung in der äußeren Beziehung zwischen den Geschlechtern beitragen wird, und alles dieses, nachdem wir vor kurzem geglaubt haben, dieses Berlin, durchrast von Nackttänzen und perverser Lust am blutigen Boxkampf, sei mit anderen Weltstädten im Begriff, den letzten Halt zu verlieren. Auch der Ufa-Film »Wege zu Kraft und Schönheit« hat sich, fern von Spekulation auf »Nacktkultur«, zu einer bedeutenden Höhe erhoben und in vielen Bildern alles erfüllt, was man von ihm in künstlerischer Bedeutung und Reinheit erwarten konnte.

Das eine aber ist wohl sicher: das Spießertum, das alles sehen und erleben möchte, ohne aber nach außen hin seine Lust am Erotischen zuzugeben, wird nicht wiederkommen.

Das freie Bekenntnis des Rechtes der Augen auf die sinnliche Schönheit steht am Ende der letzten 50 Jahre, und diese Entwicklung hat sich vor allem in Berlin deutlich gezeigt, das bis dahin nicht auf dem Niveau einer erotischen Kultur stand, wie etwa Paris oder Wien.

Es ist schlimm, daß der Abschluß dieses Werdens gerade in eine Epoche tiefen sozialen Elends fällt, in dem breite untere Schichten Berlins leben. Und unerträglich scheint oft der Gedanke, daß in der Tiefe das Elend hockt und oben im Lichte die Sinne der andern sich in reiner Luft an Schönheit sättigen dürfen.

Der heiße Atem und die zeugende Kraft des Lebens wirkt aber über Not und Jammer hinweg und schafft eine Welt von morgen, die vielleicht glücklicher ist als die von heute.

Es muß auch in der Sexualexistenz der Menschheit eine Entwicklung geben: vielleicht ist es die Entwicklung vom Spießer zum galanten Genießer und darüber hinaus zum gesunden erotischen Menschen, und bei der Frau der Weg von der Bürgerin zum Luxusweibchen und darüber hinaus zur sinnenfrohen Trägerin einer Schönheit, die ihre Schönheit willig und lachend an ihre Kinder weitergibt.

Das mag vielleicht eine neue Zukunftsidee sein.

Die Betrachtung des galanten Berlin seit 1870 aber schon beweist, wie sich in fünfzig Jahren die erotische Einstellung und Auffassung in einer riesigen Stadt verändern und verfeinern kann.

Ist dieses Aufglühen der Erotik ein Morgenrot? Dämmern perikleische Tage herauf? Oder ist es ein Abendrot? Vor der Nacht – in der auch Berlin versinken soll?

Wer die hochgewachsenen, singenden, wandernden, anmutigen und freien jungen Berliner von heut sieht, wird diese Frage leicht beantworten.

Die Menschheit von morgen wird aufwachsen in der Sonne und auf den grünen Flächen der Stadions – in einem Wettstreit der Kraft und der Schönheit, der auch dem Eros neue leuchtende Flügel schenken wird.

siehe Bildunterschrift

Morgen.
(Aus dem Ufa-Film »Wege zu Kraft und Schönheit« dargestellt von der Hagemann Schule, Hamburg.)


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