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III.

Mitten in dem lärmenden Straßengewimmel, welches das linke Seineufer beinahe unkenntlich macht, hat das Viertel um die alte Kirche Saint-Sulpice herum sein eigentümliches, priesterliches Aussehen bewahrt. Im Schatten der alten Türme, die Victor Hugo so treffend mit ungeheuren Klarinetten verglich, im Schatten der großen Priesterschule, wo die Fliesen im Sprechzimmer noch dieselben sind wie zur Zeit, als Manons Thränen sie benetzten, sammeln sich all jene weltlichen Erwerbszweige, die von Priestern und Gläubigen leben, in ruhigen bescheidenen Läden. Diese liegen nach engen, fast dunkeln Straßen hinaus: Kaufläden, in denen Heiligenbilder, Wachskerzen, Meßröcke verkauft werden, und Buchhandlungen, die mit Meßbüchern, Brevieren, horae diurnae handeln. Selbst die Namen der Straßen klingen altertümlich und geistlich: Rue Saint-Placide, Rue Princesse, Rue Cassette, Rue du Vieux-Colombier. Zugleich befinden sich in diesem Viertel die besonders eingerichteten, christlichen Hotels und Herbergen, die von zureisenden Priestern und Nonnen besucht werden, nebst von Familien aus der Provinz, denen der Bischof ihres Kirchspiels die Adresse gegeben hat. In diesen Hotels haben die Zimmer alle ein gewisses Hospitals-Gepräge. Die Balkendecken sind weiß getüncht, die Feldbetten werden mit baumwollenen Vorhängen drapiert, der Kamin und die Wände sind mit frommen Bildern geschmückt. Die Reinlichkeit ist geradezu beängstigend, und man wundert sich das Dienstmädchen eintreten zu sehen ohne Nonnenhaube und Brustlatz, ohne den langen Rosenkranz mit dem unten daran baumelnden Kruzifix. Der Speisesaal ist ein wahres Refektorium mit plumpen Tellern und Schüsseln, großen groben Karaffen und grobem Tischzeug, das vor Sauberkeit strahlt, aber voll von sorgfältig ausgebesserten Löchern ist. An den Fasttagen muß der Gast morgens schon besonderen Auftrag geben, um zum Frühstück ein Beefsteak zu erhalten, und der Kellner serviert es ihm dann nicht ohne mißtrauische Blicke. Auf dem Tische des Lesezimmers liegen nur katholische Blätter: la Croix, mit dem bluttriefenden Christus in Strahlenglorie, l'Univers und Revue du Monde catholique... Abgesehen von dem besonderen Reiz, den die altväterische, verblaßte, priesterliche Einrichtung ihnen verleiht, würden diese Hotels mit ihren reinlichen Betten und ihrer soliden Küche sicher die besten in Paris sein, wenn ihnen nicht eine gewisse saure und trübselige Stimmung anhinge, die immer bei Leuten zu finden ist, die, ohne selber zu den Priestern zu gehören, dem priesterlichen Kielwasser folgen.

Zu diesen Hotels gehörte das Missionshotel, in dem M me. de Chantel, nebst Tochter und Sohn, während ihres Aufenthaltes in Paris eingekehrt waren. Sie bewohnten eine Wohnung im zweiten Stock, deren Zimmer teils nach der Rue Notre Dame des Champs hinauslagen, teils nach üppigen Klostergärten mit blühenden Gebüschen, großen, schattigen Bäumen, kleinen Teichen und christlichen Statuen, die rings auf den Rasenflächen angebracht waren. M me. de Chantel und Jeanne hatten die beiden Zimmer nach der Straße hinaus, die miteinander in Verbindung standen. Maximes Zimmer war kleiner und hatte Aussicht nach den Klostergärten und dahinter nach dem großen Gebäude der Priesterschule. Ein Zimmer, das so recht für einen jungen Priester gepaßt hätte, der nach Paris gekommen war, um das Seminar zu besuchen. Das enge Bett mit den weißen Gardinen lud zu friedlichem Schlummer ein, mit guten, frommen Träumen, ohne häßliche Anfechtungen. Das Mobiliar, das aus poliertem Nußbaumholz war, bestand außer dem erwähnten Bette aus einem kleinen Nachttisch, einer Kommode mit Marmorplatte, einigen Stühlen, von denen der eine so niedrig war, daß er als Betschemel dienen konnte, ferner aus einem Tisch und einem hängenden Bücherregal. Es war kein anderer Spiegel im Zimmer als der über dem Kamin; dieser war mit zwei großen Muscheln verziert. An der Wand hing ein Holzschnitt nach Rembrandts Kreuz-Abnahme, ein Beiblatt zum Magasin pittoresque.

Das kleine geistliche Zimmer hatte schwerlich jemals einen Gast beherbergt, dessen Seele so von widerstrebenden Leidenschaften durchwühlt war, wie Maximes. Den einen Tag konnte es ihn außer sich vor Glück sehen, stundenlang ein Porträt von Maud anstarrend und in der Erinnerung die herrlichen Augenblicke, die er mit ihr verlebt hatte, wiedererlebend – den nächsten Tag fand es ihn in schmerzliche, angstvolle Grübeleien versunken, daran denkend, wie er am besten alles verlassen und nach Vézéris zurückfliehen konnte. Denn jedesmal, wenn die Angst und der Schmerz ihn von neuem überfielen, stieg vor seinen Gedanken die heimatliche Erde auf, als der einzig sichere, der rettende Zufluchtsort.

Die wahre Leidenschaft erkennt man an der tiefen Einsamkeit, die sie um die Seele des Menschen verbreitet. Wenn ein Lebemann von jener mystischen Macht ergriffen wird, kann er scheinbar sein vielbewegtes, geselliges Leben fortführen: er fühlt sich nichtsdestoweniger einsam, und so lange die Leidenschaft andauert, wandert er durch den Trubel des Gesellschaftslebens, als gehörte er nicht hinein. Wie viel größer muß da die Wirkung werden, wenn die Macht der Leidenschaft eine im voraus verschlossene Seele in Besitz nimmt, einen Mann, der von Natur und durch Erziehung schon Einsiedler ist.

Mit Ausnahme der zwei Jahre in der Offiziersschule zu Saint-Cyr und der dreißig Monate Garnisondienst, hatte Maxime sein Leben auf Vézéris im Schoß der Familie zugebracht, nur Bauern und einen alten geistlichen Hauslehrer als einzigen, täglichen Umgang. In die Jahre, wo seine militärische Laufbahn ihn hinaus in die Welt führte, fiel jene Sinnlichkeits-Krise, von der ein Arzt ihm vorher gesagt hatte, daß sie auf seine keusche, enthaltsame Jugend folgen würde; doch ehe er nach Vézéris zurückkehrte, war diese Krise längst überstanden. Es kam ein Augenblick, wo er Ekel empfand vor sich und vor den Frauen, die sich dafür bezahlen lassen, die Sinne des Mannes zu befriedigen. Er hatte sich die Hörner abgelaufen. Immerhin blieb Maxime der empfindsame Mensch, mit dem gewaltsamen und leidenschaftlichen Temperament. Sein Gefühl der Frau gegenüber, die er liebte, wurde deshalb sofort akut, monoman. Er litt, wenn er bei ihr war, und er litt, wenn er von ihr entfernt war; er war außer sich darüber, daß er sie nicht beständig um sich haben konnte, und jedesmal, wenn sie zusammen waren war er wieder außer sich darüber, daß sein linkisches Wesen ihn hinderte und ihm den Mut nahm, Maud auch nur um die geringste Liebkosung zu bitten. Auf der anderen Seite litt er darunter, seine Energie vernichtet, seinen Willen geschwächt zu fühlen. Es war nicht das Richtige – sein gerader Sinn, seine feste Überzeugung sagte es ihm – daß ein Mann in die Ehe ging, im voraus schon unterjocht von der Frau. Wie oft hatte er sich nicht in der ländlichen Einsamkeit die Ehe ausgemalt, wie er sie sich dachte, als eine Verbindung zwischen einem männlich herrschenden Willen, einer überlegenen Intelligenz, und einer hingebenden, sich aufopfernden Weiblichkeit, wie seine Schwester Jeanne sie besaß, die durch seine Hände geformt, durch seinen Geist beseelt war. Und jetzt hatte er sich – das fühlte er – mit einer Frau verlobt, die einer feineren, überlegeneren Rasse angehörte, und die ihn ins Joch spannen würde. Ihm war zu Mute, ungefähr wie jenen Barbaren-Häuptlingen, die Rom einnahmen, und denen die vornehmen Römerinnen ihre Gunst schenkten: mißtrauische Sklaven, die zugleich ihre Knechtschaft verachteten und anbeteten. Gepeinigt von der Einsprache, die das Bewußtsein seiner männlichen Würde immerfort gegen diese Liebe erhob, hatte er diesem Gefühl Schweigen geboten. »Ich will so sein ... Ich will gehorchen ...« Wie die Katholiken, die einen Genuß darin finden, ihre Neigungen zu opfern, ihr Herz zu demütigen, opferte er seinen Stolz auf dem Altar der Geliebten.

Aber was er nicht zum Schweigen bringen konnte, was er immer wieder hören mußte, das war die warnende Stimme, die an jenem Tage, als er von Saint-Amand flüchtete, zum erstenmal zu ihm gesprochen hatte; die Stimme, die an jenem Abend, als er mit Hector Le Tessier in den Opernsaal trat, und ferner an dem Nachmittage draußen auf Chamblais von neuem laut wurde, und die seitdem unaufhörlich in seiner Seele diese Worte wiederholte: »Sie ist keine Frau für dich. Es ist Wahnsinn von dir, deine künftige Gattin in der verräterischen und gekünstelten Welt zu suchen, zu der du nicht gehörst ... An dem Tage, da du sie zu lieben anfingst, nahm der Irrtum Platz in deinem Herzen, gingst du deinem eigenen Untergange entgegen ...« Diese hartnäckig warnende Stimme zerstörte ihm die besten und heitersten Augenblicke, brachte einen Mißklang in das fröhliche Glockengeläute, das in seinem Herzen ertönte, wenn er nach seinem Hotel zurückkehrte, nachdem er einen langen, entzückenden Nachmittag mit Maud verbracht hatte ... Ja, und selbst wenn er bei der Geliebten war, verfolgte die Stimme ihn, so daß Maud öfters, verwundert und erschrocken über seine finstere Miene, ihn gefragt hatte: »Aber lieber Freund, woran denken Sie?« Doch gleichviel! Er wollte sich ohne Widerstand in sein Schicksal ergeben, wie wenig es auch mit seinen Neigungen und Plänen übereinstimmte. Er ließ sich nach den Pariser Damenschneidern, Modistinnen und Tapezierern herumschleppen, die Seele erfüllt von unendlicher, herzbeklemmender Traurigkeit, gehorsam, mit der Tapferkeit eines Soldaten, der an einem Schlachttage den Befehl erhält, am Wege Steine zu klopfen, bereit, sich in alles zu finden, nur um desto länger den Duft von Mauds Nähe einzuatmen, sie zu sehen und zu sprechen. Selbst wenn er nach einem der schlimmen Tage, wo die Angst ihn schweigsamer als sonst gemacht hatte, von ihr ging, und der Gedanke ihm kam: »Jetzt sehe ich sie vor morgen nicht wieder!« – fühlte er sich so entsetzlich verlassen, so verzweifelt über die Minuten seines Lebens, an denen sie nicht teilnahm, daß er demütig Abbitte that, wie ein Büßender sein Herz züchtigte, sich anklagte, sie nicht genug zu lieben, alle ihre Launen anbetete und nur um eines flehte: daß sie immer bei ihm bleiben möchte, ob sie ihn peinige oder liebe, einerlei, aber nur bei ihm bleiben ...

In dieser Verwirrung seines Herzens, in diesem Fieber seiner Sinne kamen jetzt, da der Hochzeitstag endlich festgesetzt war, Schlag auf Schlag die Briefe, die als seien auch sie warnende Stimmen, von den Vorsehung geschickt, Maud anklagten. Er hatte Maud geschworen, daß er ihr vertrauen, daß er nicht an ihr zweifeln wollte; aber welche Qualen bereiteten ihm diese Briefe, die scheinbar so wohl unterrichtet waren, die ihre Toiletten, bis in die geringsten Kleinigkeiten, beschrieben, die angaben, wann sie ausging, und wann sie heimkehrte und jede Stelle kannten, wo sie im Verlauf des Tages gewesen war. Er litt, er kämpfte mit sich selber, er suchte Hilfe gegen den Zweifel, indem er sich an Hectors Worte erinnerte: »Es existiert in der leichtfertigen Pariser Gesellschaft kein junges Mädchen, dem man nicht häßliche Freunde vorwürfe ... Und Fräulein de Rouvre ist viel zu schön, als daß sie nicht den Neid erregt hätte. Waffnen Sie sich mit Geduld und stählen Sie ihr Herz ...« Trotz allem, trotz der vielen Vernunftgründe, trotz des überzeugenden Beweises, den Mauds untadelhaftes Benehmen ihm lieferte, trotz der Verachtung, die er, wie jeder ehrenhafte Mann für anonyme Anschuldigungen hatte, saß dennoch der Zweifel – ohne daß er es je gewagt hätte, sich offen einzugestehen: »Ich zweifle« – in grausamer Weise in seinem Herzen fest.

*

Alles, was je über die Thorheit und Gemeinheit anonymer Briefe gesagt und geschrieben ist, wird nicht verhindern, daß selbst der weiseste Mann von einem Gefühl der Unsicherheit ergriffen wird beim Empfange eines solchen Briefes, der die geliebte Frau des Verrats beschuldigt. Möge er eine noch so festbegründete Achtung vor ihr hegen, durch den Brief wird doch der Zweifel in seiner Seele erweckt, wenigstens die beunruhigende Frage ins Leben gerufen: »Was verbirgt sich hinter der weißen Stirn meiner Geliebten? Was weiß ich von ihren Gedanken?« Ach, sie mag in ihrer Hingebung noch so innig erscheinen, der verständige Mann weiß sehr wohl, daß er nie alles erfährt! Zweifel und Mißtrauen sind ja eben Beweise von Klugheit, denn die eine Seele ist und bleibt ein Mysterium für die andere; Vertrauen haben heißt alles aufgeben, es ist die gutwillige Verblendung. Das sind die Gedanken, die selbst beim gläubigsten Liebhaber erweckt werden durch einen schändlichen Lappen Papier, auf dem, ohne Unterschrift, geschrieben steht: »Diese Frau belügt Sie!« Und Maxime hatte sich nur durch einen Willensakt zum Vertrauen emporgeschwungen, etwa wie ein Prediger, der mit Macht den entfliehenden Glauben und mit ihm den Frieden seines Herzens festzuhalten sucht. Mit einem Schlage lag das ganze Gebäude in Trümmern: sie sind so hinfällig, die Gebäude, die unser überlegter Wille mühsam errichtet! Die einzigen soliden sind die, welche sich in uns von selber aufbauen, ohne jegliche Überlegung.

Maxime kannte die furchtbare Arbeit, welche die geschäftigen Gedanken während einsamer Tage und schlafloser Nächte in den Seelen der Menschen vollziehen, wie stark auch dagegen angekämpft wird, die Arbeit, die darin besteht, Ähre für Ähre zu sammeln, sie zu einer riesenhaften Garbe zusammenzubinden und so aufzustellen, daß man in Zukunft nicht mehr vermeiden kann sie überall zu erblicken. Sein Gedächtnis arbeitete wie eine unermüdliche Ährensammlerin, beharrlich und mit Ausdauer, das mußte man ihr lassen! Saint-Amand ... wo sie sich zum ersten Male sahen ... »Die Mutter hat ein sehr unfeines Wesen ... die kleine Schwester auch ... Sie ist schön und ihre Haltung untadelhaft, aber sie sieht nicht aus wie ein junges Mädchen ...« Und schon damals, er erinnerte sich jetzt deutlich, seit dem ersten Tage ihrer Begegnung hatte er das Bedürfnis gefühlt, beruhigt zu werden, an Maud glauben zu dürfen; er wurde ganz glücklich, als M me. de Chantel zu ihm sagte: »Es sind sehr liebenswürdige und sehr feine Leute ...« Jeanne hatte nichts geäußert: er verstand indessen augenblicklich, daß sie die Gesellschaft der beiden Fräulein de Rouvre nicht liebte; aber Jeanne war so schüchtern! .. Es vergehen lange Monate, einsame Monate, in denen sein ganzes Wesen von verzehrender Sehnsucht nach der Abwesenden erfüllt ist, doch der Zweifel bleibt; er weicht nicht mehr von ihm. Dann kommt das Wiedersehen in Paris. Er trifft Maud in ihrem Heim, in der Avenue Kléber, so königlich schön, scheinbar ohne Verständnis für die unpassenden und widerlichen Reden der übrigen Gesellschaft ... »Wäre sie wirklich rein geblieben in diesen unreinen Umgebungen? Sollte es möglich sein? ...« Der Zweifel steigert sich; er ringt mit der immer stärker werdenden Liebe. Er folgt ihr Schritt für Schritt er wächst mit ihr ... Dann taucht das Bild aus der Vorhalle der großen Oper auf: Suberceaux mit verzerrtem Gesicht zwingt Maud den Arm Maximes loszulassen, und sie wechseln leise Worte. Allerdings gibt Maud Maxime eine Erklärung, die ihn damals befriedigte, weil er bei ihr war, weil der Zauber ihres Wesens ihn gefangen hielt; aber wie kindlich erscheint sie ihm jetzt! Daß Maud ihn belogen hat, ist offenbar; er kennt jetzt den »Kreis« und weiß sehr wohl, daß Julien de Suberceaux nicht in Marthe de Reversier verliebt ist ... Und ein zweiter Anhaltspunkt bietet sich seiner Erinnerung dar: der Mittag auf Chamblais, mit der darauf folgenden unvergeßlichen, romantischen Ruderfahrt auf dem zauberhaften See, an jenem Abend, wo in träumerischem Mondschein und Nebeldunst Winter und Lenz sich begegneten, um in der wundersamen, lauen Nacht mit einander zu verschmelzen – der erste Kuß, den er zu rauben wagt und dem sie sich entzieht. Weshalb? Aus Unschuld, aus Schüchternheit? Damals glaubte er es. Aber die geschäftige Reflektion antwortet ihm ironisch; »Wo denkst du hin! Ein junges Mädchen, die einer Gesellschaft von kleinen Koketten und professionellen Libertinern angehört, sollte sich von einem Kuß auf die Stirn erschrecken lassen!« Aber weshalb denn sonst? Und nun bohrte sich das Schwert tiefer in sein Herz hinein. »Sie liebt den anderen ... Meine Liebkosungen sind ihr peinlich. Könnte ich wohl daran denken, eine andere Frau auch nur zu berühren? ...« So unerfahren er auch darin war, in welcher Weise die Liebe eines jungen Mädchens sich äußert, so liebte er doch selbst mit einem viel zu wachsamen Feingefühl, als daß er nicht unter dem unüberwindlichen Schrecken gelitten hätte, womit Maud sich von seinen Versuchen sie zu liebkosen, zurückzog ... Als aber die Logik seiner Reflektion ihn dazu genötigt hatte, dies zu konstatieren, wollte er dennoch nicht daran glauben, empörte er sich dagegen mit aller Kraft seiner ringenden Liebe: es wäre auch zu schmerzlich gewesen, zu schrecklich sich zu denken, daß diejenige, die er anbetete, Abscheu vor ihm hege; das war noch furchtbarer als der Gedanke verraten zu werden. Er zwang sich wiederum sich selber von neuem zu beruhigen; »Wie lieb, wie sanft sie gegen mich ist, wie augenscheinlich sie sich Mühe gibt, mir nicht zu mißfallen! Hat sie nicht während meiner Abwesenheit auf Vézéris jeder Geselligkeit entsagt? Lebt sie nicht jetzt fern von den Leuten, mit denen sie früher verkehrte? Hat sie mir nicht ehrlich und aufrichtig ihre Meinung über sie gesagt?« Er durchlebte von neuem in der Erinnerung die entzückenden Tage, an denen die unruhige Geschäftigkeit für die Aussteuer und Einrichtung des neuen Heims an den Nagel gehängt wurde. Dann kam er schon zum Frühstück nach Chamblais hinaus, verbrachte den ganzen Vormittag draußen, blieb den Mittag über und reiste mit einem Abendzug nach Paris zurück. War das Wetter schön und trocken (und in diesem wunderbaren Frühling war es fast immer der Fall), pflegte er zu Fuß von der Station nach Armidens Schloß zu gehen, und dabei einen Richtweg durch den Wald einzuschlagen, der ihn bedeutend schneller an sein Ziel brachte. Maud wußte, zu welcher Zeit er kam; sie war auf die Idee gekommen, ihm entgegen zu gehen, und ihn bei der kleinen Lattenthür, die vom Park in den Wald führte zu erwarten ... Ach, wenn er dann schon aus weiter Ferne im grünen Waldesgeflimmer die Umrisse ihrer schlanken Gestalt erblickte, und wenn er kurz darauf ihr anmutiges, für ihn immer neues Gesicht, unterschied! und wenn er dann ihre schmale, feine Hand in der seinen fühlte! ... wenn sie dann schließlich zusammen durch den Park wandelten nach Armidens Schloß hinauf ... das war die beste Zeit am ganzen Tage, ja und dann noch die wenigen Augenblicke, die sie nachmittags allein zusammen im Wintergarten verbrachten. Wenn andere anwesend waren, und wären es auch nur M me. de Rouvre, Jeanne oder Jacqueline, wurde Maxime sofort gereizt und verstimmt darüber, daß er ihr nicht länger frei heraus sagen konnte, wie sehr er sie anbete. Ihre königliche Sicherheit wich allerdings niemals von ihr, aber auf der anderen Seite schienen die Tête-à-tête'n mit Maxime ihr nicht zu mißfallen, und mehrere Male bereits hatte sie ihm eine entschiedene, sicherlich nicht erheuchelte Achtung bezeigt, vor seinem Charakter und Verstande. Nach einem solchen glücklichen Tage pflegte Maxime abends gegen elf Uhr zu seinem kleinen priesterlichen Hotelzimmer zurückzukehren in berauschter, halb verrückter Stimmung: der Schlaf lockte ihn nicht, im Gegenteil, er wünschte, ihm zu entfliehen; er wollte den Tag in seinen Gedanken von neuem durchleben. Dann zweifelte er nicht, er war ihrer sicher und seiner selbst sicher, bis eine neue anonyme Warnung, oder auch nur ein neuer Anfall böser Gedanken ihn wiederum in das Wirrsal der Eifersucht und des Zweifels stürzte.

Was ihm sein Seelenleiden doppelt qualvoll machte, war, daß er einsam litt. Welche moralische Stütze hätte er bei seiner Mutter oder seiner Schwester finden können, deren Verstand dem seinen unterlegen war, deren Herzen nicht weniger leidenschaftlich und leicht verwirrt waren als das seine? Sie merkten wohl die inneren Kämpfe, die in ihm vorgingen, über sie wagten nicht, ihr Teil davon zu verlangen, wagten es nicht, ihn um sein Vertrauen zu bitten, denn sie hegten vor Maxime den angeborenen Respekt, den adlige Familien stets vor dem Oberhaupte der Familie hegen, der den Namen der Familie trägt und ihre Ehre verteidigt. Doch machte sie ihre Liebe bis zu einem gewissen Grade scharfblickend, und da sie sahen, daß er, ihr geliebtes und bewundertes Oberhaupt, litt, so litten sie auch, fühlten in ihrer Weise auch Angst und Sorge. Maximes schwarze Melancholie war der beständige Gegenstand ihrer Gespräche an den Tagen, wo sein leidvolles Gesicht und seine Geistesabwesenheit (obwohl er sich Mühe gab, sich nichts merken zu lassen und nichts eingestand) seine furchtbaren inneren Kämpfe verrieten. M me. de Chantel war mit ihrem gleichmäßigen, braven und reinen Gemüt ganz außer stande, das Rätsel seiner zusammengesetzteren und unruhigeren Seele zu durchdringen: sie, die selbst von ganzem Herzen geliebt hatte, hatte zwar die Erfahrung gemacht, daß die Liebe nicht ohne Anfälle von Schwermut und Angst verläuft, und sie sagte deshalb zu sich: »Er liebt seine Braut zu sehr; er ist ungeduldig« ... Es verursachte ihr kein Erstaunen. So rein ihr Herz war, so hatte sie sich doch mit höchster Leidenschaft hingegeben, aber nur einem einzigen Manne, demjenigen, welcher ihr Gatte geworden: ein herzensguter, warmblütiger, etwas unbeständiger Gatte, dem sie diente und wie eine verliebte Sklavin anbetete, und den sie heutigen Tages noch ebenso innig beweinte als damals, wie sie ihn vor sieben Jahren verlor ... Jeanne besaß nicht einmal diese Erfahrung, um sich die seelische Zerrissenheit ihres Bruders zu erklären. Sie sah nur die eine Thatsache: daß er litt, und sein Leiden hatte mit dem Tage begonnen, als er Maud kennen lernte; also war es ihre Schuld, wenn er litt. Da sie ihre ganze Jugend hindurch keinen anderen Freund gekannt hatte als diesen Bruder, der ihr eigentlicher Erzieher gewesen – und welch ein zärtlicher und begeisterter Erzieher! – so müßte sie nicht Weib gewesen sein, wenn in ihrem Herzen nicht eine gewisse Eifersucht emporgekeimt wäre gegen das junge Mädchen, das ihr den Bruder raubte. Sie bekämpfte dies Gefühl mit christlicher Demut und verurteilte es als ungesund und sündhaft ... aber ihr Entschluß, Maud zu lieben, hielt nicht Stand dem Kummer des Bruders gegenüber, für den sie sie verantwortlich machte. Maud gefiel ihr instinktmäßig nicht – instinktmäßig, in derselben eigentümlichen Art und Weise, wie gewisse Tierrassen einander feindlich gesonnen sind. Allmählich stieg ihre Abneigung bis zum Abscheu vor ihr. Und doch wollte sie selber in diesem Augenblick nur eines: glücklich sein, in dem wonnevollen Gefühl, das langsam in ihrem Herzen hervorblühte. Sie begann zu lieben, wie nur ein ganz unschuldiges junges Mädchen lieben kann, mit der naiven Freude in sich eine ungeahnte Kraft und Glut zu entdecken. Es war ihr zu Mute wie einem Blinden, welcher spürt, wie der Nebel, der das Tageslicht vor seinen Augen verbirgt, sich allmählich lichtet und verschwindet. Sie wagte noch nicht, es ihrer Mutter zu sagen; es schien ihr, als ob sie es niemals wagen würde; und doch wußte sie, daß sie diese Liebe eingestehen mußte, denn sie liebte, wie ihre Mutter einst geliebt, wie ihr Bruder Maxime liebte, mit dem gebieterischen, heißen Drange der Notwendigkeit, die da spricht: »Es muß sein – oder mein Leben ist dahin.«

Maximes Mutter und Schwester besaßen, außer ihren gegenseitigen Herzensergießungen, eine große Hilfe im Gebet. Wie manchen Morgen wanderten sie die Hügel der Rue Lepic oder der Rue Caulaincourt hinauf zu dem bereits ehrwürdig gewordenen Tempel, der mit seinen weißen Säulen und weißen Bogengängen, an denen die Gerüste noch hängen, über der Stadt emporragt! Wie manchen Nachmittag wieder verbrachten sie im stillen Dunkel von Notre Dame des Victoires, das von tausend Lichtsternen, tausend brennenden Wachskerzen durchflimmert wird! Sie sendeten glühende Gebete empor für Maximes Glück, daß er die Gattin fände, die treu seiner Ehre hütete ... Und Jeanne wagte es, in das selbstlose Gebet für den Bruder ein weniger selbstloses einzumischen: sie bat darum, daß auch ihr das Glück zu teil würde, geliebt zu werden. Es kam ihr als etwas so Fernes, so Unmögliches vor, und doch flüsterte ihr zwanzigjähriger, unschuldiger Kinderglaube ihr zu: »Es soll geschehen.«

Maxime hingegen betete nicht. Während Julien de Suberceaux in seiner bitteren Not die frommen Worte seiner Kindheit wiederfand und mit ihnen die Herzenswärme, die noch nicht ganz unter der Asche seiner Ausschweifungen erstickt worden, konnte Maxime, dessen Leben so regelrecht, so rein gewesen und der in einem gottesfürchtigen Hause erzogen worden, keinen Trost im Gebet finden; denn er glaubte nicht mehr. Er war kaum zum Jüngling ausgereift, da hatte er seinen Glauben verloren, in derselben Weise etwa wie einige Menschen ihre Haare verlieren, ohne ersichtlichen Grund, und ohne Schmerz. Welch unerforschliches Mysterium ist doch jene Gabe des Glaubens, die den einen begnadigt und den anderen im Stich läßt, die sich weder um Erziehung noch um Erblichkeit kümmert, die ohne Unterschied ausgeteilt wird von einer unberechenbaren, unentrinnbaren Laune. Maxime war ungläubig mit einer solchen Aufrichtigkeit, daß es ihm gar nicht einfiel, zu beten: ein untrügliches Zeichen von wirklichem Atheismus.

Wie er so dastand, ohne jegliche moralische Stütze, geschah, was geschehen mußte: es kam der Brief, der alle seine Entschlüsse zunichte machte. Der mit einer Maschine geschriebene Brief lautete:

»Sie wollen also nichts sehen! Sie wollen sich mit einer verächtlichen Frau verheiraten! Dieser Brief ist der letzte, der an Sie geschrieben wird von der unbekannten Person, die sich für Sie interessiert. Nehmen Sie sich in acht! Wenn Sie nicht ein Kind oder ein Verrückter sind, so stellen Sie sich heute, Donnerstag, zwischen fünf und sechs Uhr in der Rue de la Baume ein, vor einer kleinen, eisernen Pforte, der zweiten Pforte von der Avenue Percier. Welchen Unannehmlichkeiten könnten Sie sich wohl aussetzen, indem Sie hingehen und sehen? Wenn das, was wir Ihnen in diesem Briefe andeuten, nicht wahr ist, braucht niemand zu wissen, was Sie gethan haben, und jedenfalls werden Sie völlige Sicherheit erhalten ...«

Der geheimnisvolle Briefschreiber, Herr oder Dame, der sich Prudentia unterschrieb, war augenscheinlich ein sehr schlauer Psychologe. Die beiden Schlußargumente trafen den Nagel auf den Kopf. Das eine wendete sich an Gefühle, die weniger edel als gerade praktisch waren: »Niemand braucht es zu wissen.« Aber was ist auch unser Gewissen wohl überhaupt wert, wenn es vom universellen Gewissen getrennt wird? Das zweite Argument eröffnete die Aussicht auf Befreiung von allen Leiden: es war die Morphiumflasche, die dem gequälten Patienten vor die Augen gehalten wird: »Nur ein kleiner Stich und alle Schmerzen verschwinden.« Um fünf Uhr war Maxime in der Rue de la Baume. Er sah die Dame, die er für Maud hielt, durch die eiserne Pforte eintreten: fünf Viertelstunden wartete er draußen. Fünf Viertelstunden, in denen er die völlige Sicherheit hatte, daß Maud dort oben war, in den Armen Suberceaux's ... Fünf Jahrhunderte? Ach nein. Es dauerte weder kurz noch lange, in Wirklichkeit war ihm jegliche Zeitempfindung, jegliche Zeitbestimmung abhanden gekommen: jede Sekunde enthielt sein ganzes Märtyrertum ... Daher war es auch für ihn wie eine Auferstehung von Höllenqualen, als er sich mit eigenen Augen davon überzeugte, daß die Dame, die Suberceaux besucht hatte, nicht Maud war. Nicht allein, daß es ihn für dieses Mal beruhigte, nein, mit einem Schlage wurde alles klar: man hielt eine andere Dame für Maud. Der anonyme Brief hatte nicht gelogen. Maxime hätte keine vollkommnere Sicherheit erlangen können.

Und dieser Vorfall, der romantisch erscheinen mag, war nicht einmal das, was wir in unserer Unkenntnis von der Verkettung der Ursachen, gewöhnlich einen Zufall nennen. Wie alle professionellen Wollüstlinge hatte Suberceaux, der wußte, wie unzuverlässig und selten Mauds Besuche waren, Reserve-Freundinnen, gehorsame Seelen, die auf seinen leisesten Wink zu ihm kamen, ihm die einsamen leeren Stunden, die ihm unerträglich wurden, auszufüllen. Als Maud ihn davon benachrichtigt hatte, daß sie ihn vorläufig nicht mehr aufsuchen würde, hatte er an Juliette Avrezac telegraphiert, oder besser gesagt an M me. Duclerc, die die Rolle der dienstwilligen Vermittlerin übernommen, und das junge Mädchen hatte sich fügsam eingestellt, glücklich darüber, daß Julien, der sie so lange vernachlässigt hatte, sie wieder zu sich rief.

*

Als Maxime an jenem Abend ins Missionshotel zurückkehrte, war er in der fieberhaften, überströmend frohen Gemütsverfassung, die in ihrer Exaltation fast den Anschein der Verrücktheit annimmt. Seine Mutter und Schwester erwarteten ihn zu Mittag. Sie aßen an einem kleinen Separat-Tische im gemeinsamen Speisesaal des Hotels, der im Erdgeschoß gelegen war und im übrigen mit den gewöhnlichen Gästen des Hotels, alten weißhaarigen Damen, Nonnen und Priestern, angefüllt war.

Maxime küßte seine Mutter und Jeanne mit einer Herzlichkeit und Lebhaftigkeit, die sie gleichzeitig in Erstaunen versetzte und erfreute, und sie nun auch ihrerseits mit einer fieberhaften Heiterkeit erfüllte: es war der verloren geglaubte Sohn und Bruder, den sie endlich wiederfanden. Die alten weißhaarigen Damen, die frommen Schwestern und die vielen Priester waren sicher nahe davor, ein Ärgernis zu nehmen an der lustigen Fröhlichkeit, die am kleinen Tische der drei Gäste herrschte. Sonst blickten sie ja immer so trübe drein, heute abend aber wagten sie es – man denke sich an einem Sonnabend, an einem halben Bußtage! – eine Flasche mit silbernem Halse aufziehen zu lassen, aus der eine gelbe Flüssigkeit hervorschäumte, und die als Etikette ein frommes Bild mit der überraschenden Aufschrift trug: Echter St. Joseph-Champagner.

Durch die Fürsorge eines barmherzigen Schicksals verschwand Maximes Freudenrausch nicht sogleich. Er war von Dauer. Der Zweifel war tot; sein Herz erfüllte sich statt dessen mit einem starken Bedürfnis danach, sich vor Maud zu demütigen, sich ihr zu Füßen zu werfen und ihr die Sünde, die er gegen sie begangen, einzugestehen: um keinen Preis wollte er seinen Fehler und sein Geheimnis verstecken. Als er am folgenden Tage sein Geständnis abgelegt hatte, und der erste etwas bereitwillige Kuß von Maud die Verzeihung besiegelt hatte, beruhigte sich sein Fieber. Und der Tag ging zu Ende unter stiller Glückseligkeit; alles trug dazu bei, ihn schön und festlich zu machen: der lächelnde Himmel, die frohen Gesichter, in denen sich die Hoffnung auf ein gemeinschaftliches Glück spiegelte. Als Maxime gegen elf Uhr in sein kleines Priester-Zimmer trat dachte er nicht daran, sich schlafen zu legen. Er wollte in der tiefen Stille der Nacht, die nur von den Glockenschlägen der naheliegenden Kapellen unterbrochen wurde, die Seligkeit seines endlich gestillten Herzens völlig auskosten. Der heranbrechende Morgen graute schon an seinen Fenstern, als er einschlief.

Zur selben Stunde schloß Suberceaux, der arm und ruiniert vom Klub heimkehrte, seine Augen und fiel in einen tiefen Schlaf, in dem nur diese Überzeugung dämmerte: »Aus dieser Ehe wird nichts ...«


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