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Meinen Helm! Mein Schwert!

Es war gegen zehn Uhr abends, Dienstag den 5. November im Jahre 1850. Durch die Berliner Linden vom Tiergarten her peitschte der Herbstwind und fegte die wenigen gelben trockenen Blätter von den Bäumen, die der Sommerstaub, das Gas und der Dunstkreis der großen Stadt etwa noch an den Zweigen gelassen.

Es war eine merkwürdig zerfahrene Zeit, die Spannung der Gemüter eine große, denn niemand wußte eigentlich, woran er war. Preußen, das mit der Revolution so tapfer gebrochen, beschützte sie, selbst gegen den Bundestagsbeschluß, im geheimen in Schleswig! Preußen, das die Demokratie in Baden und in Dresden zu Boden geworfen, das in Breslau, Schweidnitz, Elberfeld, Iserlohn und Düsseldorf den kläglichen Versuchen für Aufrechterhaltung der Paulskirchenbeschlüsse mit ernster Waffengewalt entgegengetreten war, dasselbe Preußen stellte seine Soldaten in Hessen für sie ins Feld. Die große Idee der deutschen Einheit, die das Volk gehabt, und der von den Intriguanten der republikanischen Propaganda leider die rote Jakobinermütze über das behelmte Haupt gezogen worden, sie fand einen ungenügenden Nachhall in dem monarchischen Versuch der Union, an deren Horizont bereits die Schmach von Olmütz lauerte. Erhabene Gedanken fanden unpraktische Vollstrecker, kurz, es war eine Übergangszeit voll falscher Träume, falscher Mittel und bitterer Erfahrungen!

Die konservative Regierung hatte noch nicht recht festen Halt gewonnen und traute sich selber nicht, daher ein Haschen nach Popularität, die man hätte verachten sollen; denn die wahre Volkstümlichkeit schließt sich nur an energisches Handeln, nicht an Exkursionen in Schludersche Bierstuben. Der Parteienhaß war noch in voller Kraft, aber die niedrige Heuchelei, das Hoflieferantentum und die Lüge wurde bei Bürgern und Beamten von oben herab gefördert, nur selten fand sich der Mut der Konsequenz. Subjekte, die am 18. März sich verkrochen oder mit Revolution fraternisiert, gingen jetzt großmäulig überall voran, Treubundsovationen und ekle Parforcejagden nach einem Bemerktwerden bei Hofe, nach patriotischen Demonstrationen und Lotterieen bei Kroll! Reaktionäre Unduldsamkeit, strenge Zurückgezogenheit der bewußten Demokratie und Gothaer Phantasterei, wenig Ehrlichkeit und schlaffe tiefgesunkene Moralität, so war der Sommer und Herbst des Jahres gewesen, das zum zweitenmal den Schandfleck des versuchten Königsmordes auf die Blätter der preußischen Geschichte geworfen.

Aus der Zeit der Freiheit und Volkssouveränität ragte noch so manches Zuchtlose herüber in den öffentlichen Verkehr; die eiserne Polizeiherrschaft Hinkeldeys hatte noch genug mit den politischen Operationen und den lächerlichen Büchsenverschwörungen und Handgranaten zu schaffen, während man das wirklich Gefährliche mit einigen mehr revolutionär als juristisch gehandhabten Prozessen zu schrecken suchte. Sie hatte noch nicht Zeit gehabt, mit dem jämmerlichen städtischen Lösch- und Straßenreinigungswesen und den Berliner Biermamsells sich zu beschäftigen, und die Polkawirtschaft stand noch in voller Blüte. Schamlose Weibsstücke tanzten von Mitternacht halb oder ganz nackend auf den Tischen zwischen den Bierseideln der jubelnden Gäste Cachucha, oder übertrieben hundert Schritt vom Centralsitz der Polizei das Altenburger Kostüm bis zu einer so schmutzigen Wirklichkeit, daß die ehemalige Jakobiner-Göttin der Vernunft dagegen noch den Vorzug des sanitätspolizeilichen Idealismus besaß. Man hatte eben in der preußischen Hauptstadt zu viel noch in deutscher Politik zu machen, um sich um deutsche Sitte bekümmern zu können, oder man wollte dem vornehmen und niedern Pöbel nicht allzu rasch alle Errungenschaften beschneiden.

Von den Linden her kamen zwei Männer, in ihre Mäntel gehüllt, das Trottoir der Wilhelmstraße entlang; der eine größere war von hagerer Gestalt und trug einen kleinen Reisesack unter dem Mantel in der Hand, der andere war kleiner und beleibt.

Die Straße war dicht mit Stroh belegt, von dem Eingang der Behrenstraße bis zum Palais Radziwill, auch schienen die Wagen absichtlich diesen Weg zu vermeiden, nur zwei Doktorwagen, an ihrem ungleichen Gespann und dem tiefen Kasten kenntlich, hielten vor dem Gebäude des Staatsministeriums, dessen Front im ersten Stock nur einige matt erleuchtete Fenster zeigte.

»Wie geht es ihm?« frug er. »Ich war heute dort, im Auftrag Monsignores, aber ein neues Bulletin noch nicht ausgelegt.«

Der Kleine zuckte die Achseln. »Schlecht genug; die Pillen, die sie ihm in Warschau zu verschlucken gegeben, und die er für die Fehler der andern hinnehmen mußte, waren zu stark. Der Preußenstolz ist in ihm auf das schwerste verletzt. Das Gehirnfieber ist wiedergekehrt, und die lichten Augenblicke sollen selten sein.«

»Und wie hat der König es aufgenommen?«

Jener wies nach den Laternen einer Equipage, die rasch von der Leipziger Straße daher kam und an ihnen vorbeieilte. »Es ist Herr von Gerlach,« sagte er. »Der König hat ihn gesandt, um noch mit dem letzten Zuge Nachrichten zu erhalten. Sie können in seiner Gesellschaft fahren.«

Der Größere blieb noch einmal stehen und sah zurück. »Es sollte mir leid thun, wenn er sterben müßte. Ich höre, er ist alsbald nach dem Ministerrat am Sonnabend erkrankt.«

»Die Sendung war nicht viel besser als ein Mord, auch Rauch ist ähnlich gestorben. Der Graf brachte offenbar die Galle mit sich zurück, von der das ärztliche Bulletin spricht. Ich habe kein besonderes Faible für ihn, aber für einen Mann, der wie er, ehrlich, kühn, ein Preuße bis in die Fußspitzen ist und das königliche Blut in den Adern hat, muß es entsetzlich gewesen sein, sich von Schwarzenberg coramieren zu lassen und die Thorheit eines andern mit der eigenen Demütigung vor der russischen Diktatur zu erkaufen.«

Sie waren an der Ecke des Platzes, der Sprecher wies nach dem Palais, das sie bildet.

»Der Prinz hat sich von Warschau mit nach Petersburg begeben,« fuhr er fort. »Die verwandtschaftliche Einladung ist ein Pflaster auf die bittere Wunde der Politik, aber es kann den Schaden so wenig decken, wie die moderierte Note, die heute Herr v. Budberg übergeben, die Sprache ihrer Vorgängerin.«

Der andere blieb wieder stehen. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, bis ich auf dem Bahnhof sein muß,« sagte er, »und Sie wissen, daß ich erst einen Tag vor der Abreise Monsignores von Breslau aus Galizien zu ihm gestoßen bin. Auch gestehe ich offen, daß ich mich mehr mit den politischen Verhältnissen des Südens beschäftigt habe, als mit Deutschland, und heute über andere Interessen des Ordens, namentlich wegen jener beiden Kinder, der Erbin des südamerikanischen Vermächtnisses und des Judenknaben von Bologna mit Ihnen zu sprechen hatte. Aber es ist nötig, daß ich wenigstens im allgemeinen über die augenblicklichen politischen Verhältnisse unterrichtet bin, wenn man in Rom Erläuterungen zu Ihren Berichten verlangt.«

Der Kleine blieb an einer der Bänke stehen, die an der Statue des alten Dessauers sich befinden. »Lassen Sie uns eine Viertelstunde hier sitzen, Fra Antonio,« sagte er. »Es scheint meine Bestimmung, daß ich Ihnen stets einige politische Erläuterungen geben soll, wenn Sie aus den Urwäldern zurückkommen, damals in Hamburg aus den Dschungeln der Havanna, jetzt aus den galizischen Bergen, wo die würdigen Naturkinder unter Ihrer Führung eine kleine reaktionäre Razzia unter dem liberalen Adel gehalten haben.«

»Ich erinnere mich, es war am Abend des großen Brandes, den Sie …«

» Silentio, Senjor Antonio! die Sache ist zwar vorüber, und hier in Preußen hat man wenig Ursache, mit dem Dank der Herren Hansestädter für die Hilfe zufrieden zu sein, die man ihnen damals erwiesen, aber es ist unnötig, von vergangenen Dingen zu reden. Die Herren in der City von London haben nur kurze Zeit davon profitiert. Indessen, um auf Ihren Wunsch zurückzukommen, so kann ich Ihnen einen ungenierten Rapport geben, da wir ungehört hier sind, denn niemand, der etwa vorüberkommt, versteht unser Spanisch.«

Der andere hatte die Reisetasche neben sich auf die Bank gelegt und die Stellung eines aufmerksamen Hörers angenommen.

»Sie kennen die Verhältnisse bis zur Frankfurter Revolte?« fragte der Dicke.

Der Spanier nickte. »Sie wissen, daß der Zufall mich an jenem Tag als Beichtiger an ein Sterbebett führte.«

» Bien! daß Se. Majestät der König von Preußen die von dem liberalen Parlament ihm angebotene deutsche Kaiserkrone zurückwies, so lange nicht die deutschen Fürsten sich mit der Frankfurter Verfassung einverstanden erklärt, werden Sie selbst in den galizischen Urwäldern gehört haben. Wäre der König damals weniger gewissenhaft gewesen, Österreich hätte wenig dagegen haben können, denn es war in Italien und Ungarn engagiert, und Preußen hatte die Leitung von Deutschland in der Hand. Auch den österreichischen Vorschlag der Teilung in Nord- und Süd-Deutschland und später die Tripelteilung hatte er zurückgewiesen wegen der revolutionären Grundlagen des Projekts, und das vergißt ihm so leicht Österreich nicht, das gern seine Macht vergrößert und im Trüben fischt. Aber es war sehr natürlich, daß eine Idee, wie die der deutschen Einheit, nicht spurlos an einem Geiste, wie der König Friedrich Wilhelms IV. es ist, vorübergehen konnte. Nur verträgt sich der ehrliche Mann mit dem Idealismus in ihm nicht. Was der revolutionäre Weg nicht zustande bringen durfte, das versuchte er auf dem der Fürstenverständigung, und da der alte Frankfurter Bundestag nach preußischer Meinung vollständig aufgelöst ist, hat der König eine Union der deutschen Fürsten mit einem Parlament der deutschen Staaten vorerst unter Ausschluß Österreichs versucht, die gemeinsam das künftige Deutschland feststellen sollten. Aber Württemberg, Bayern und Österreich wollten nichts davon wissen und erklärten die alte Bundesverfassung für noch zu Recht bestehend. Die Idee, für die der Minister von Radowitz, ein erklärter Gegner Österreichs, den König gewonnen, fiel kläglich mit dem Erfurter Parlament ins Wasser, die Bundesgenossen Sachsen und Hannover, Gott schütze jeden Menschen vor guten Freunden! fielen ab, und Preußen mit seinen deutschen Unionsplänen mußte auf den Rückzug denken. Die Fürsten wollen nun einmal keine Union, was ich ihnen gar nicht verdenken kann, weil in dieser der Große den Kleinen auffrißt, und die Völker haben nicht das Zeug dazu. Dazu ist der Deutsche viel zu engherzig. Was uns oder vielmehr die katholische Kirche betrifft, so haben wir auch keine Ursache, uns für eine Union zu echauffieren.«

»Das ist richtig! der Liberalismus ist der natürliche Verbündete der Ketzerei. Ich bin diesem allgemeinen Gang der deutschen Geschichte der letzten zwei Jahre genügend gefolgt, aber der Zusammenhang mit den gegenwärtigen Ereignissen ist mir noch nicht klar.«

»Das ist bloß die Gelegenheit zum Austrag, Senjor Antonio. Der König meint es wirklich ehrlich mit dem Konstitutionalismus und hat das Faible, die Segnung der konstitutionellen Errungenschaften auch andern deutschen Staaten sichern zu wollen, z. B. die hessische Verfassung von 1838, die noch unterm alten Bundestag mit Preußens Hilfe zustande gekommen und von ihm garantiert worden ist. Der Kurfürst aber ist anderer Meinung gewesen und hat die Gelegenheit wahrgenommen, mit der Revolution auch die Konstitution sich vom Halse zu schaffen. Das hat denn viel Verwirrung im Lande gegeben, und die Beamten und selbst die Offiziere protestierten, obschon es dem Volk ziemlich gleichgültig ist, ob es unter der Souveränität oder der Konstitution Steuern zahlt. Da der Bundestag aufgelöst ist, hat die preußische Regierung geglaubt, sich populär machen zu müssen, indem sie den Schutz der Verfassung, oder vielmehr der obstinaten Beamten und Offiziere übernommen hat, und Exekutionstruppen in Kassel einrücken ließ.«

»Und Österreich?«

»Österreich, Bayern und Württemberg mit seinem Anhang nehmen die Gelegenheit wahr, der verhaßten Großmacht im Norden ein Bein zu stellen. Die Politik Schwarzenbergs leugnet, daß der Bundestag aufgehört habe zu existieren. Man hat ihn aufs neue berufen und Beschlüsse gefaßt, während Preußen seine Rechtsbeständigkeit leugnete, und damit thörichter Weise auch seine Teilnahme verweigerte. So hat der Bundestag beschlossen, Schleswig-Holstein mit Gewalt zu pacifizieren und Österreich und Sachsen die Exekution übertragen, das heißt, Preußen hinauszuwerfen, wenn es nicht gutwillig die Holsteiner im Stich läßt. Die Pille ist bitter, aber sie hätte sich allenfalls noch verschlucken lassen, obschon sie dem König einen seiner entschlossensten Freunde, den Eisenkopf Rauch, gekostet hat. Die Mission nach Peterburg und Kopenhagen hat ihm etwas eingebracht, den Tod! Man kann also nicht mehr sagen: Travailler pour le roi de Prusse! Aber die Erinnerung in Wien, daß Preußen ein halbes Jahr Souverain in Deutschland gespielt, soll ihm noch ganz andere Kränkungen bereiten. Während der eigensinnige Kurfürst von Hessen gegen die preußische Exekution einen Protest über den andern erläßt, hat der Bundestag die Exekution an Baiern und Österreich übertragen und Preußen auch hier desavouiert. Man verlangt von ihm, sich den Bundestagstruppen zu fügen, und Preußen verweigert die Anerkennung dieser Beschlüsse und will nicht weichen.«

»Nun wohl! so mögen sie sich darum schlagen!«

»Dazu wird es auch kommen, wenn Preußen nicht nachgiebt, denn fast alle seine Bundesgenossen haben sich zurückgezogen. Der Kaiser Nicolaus hat sich in diesem Streit zum Schiedsrichter aufgeworfen. Er hat Österreich und Preußen vor sich nach Warschau geladen und will mit Gewalt die heilige Allianze aufrecht erhalten. Österreich, seines Triumphes gewiß, hat sich in der Person des Kaisers und des Fürsten Schwarzenberg eingestellt, der König aber traute dem Landfrieden nicht, und darum hat man den Minister-Präsidenten Grafen Brandenburg geschickt. Die Österreicher haben ihn schlecht behandelt und der Kaiser dazu. Der Graf verteidigte die Politik Radowitz nicht, aber er wollte die preußische Soldatenehre wahren. Kaiser Nicolaus hat als Ultimatum erklärt, daß er den Krieg in Deutschland nicht dulden, und daß er gegen den marschieren werde, der ihn begönne. Damit hat man den Grafen nach Hause geschickt, und jetzt erstickt er an seiner Galle.«

»Aber wie reimt sich der Rücktritt des Ministers Radowitz mit der beabsichtigten Mobilmachung? Auf der einen Seite das Aufgeben der anti-österreichischen Politik, auf der andern die Vorbereitung zum kräftigen Widerstand?«

»Bah! eine Komödie, die nur für die Menge berechnet ist. Um der sogenannten militärischen Ehre willen will man zeigen, daß man zum Widerstand fähig und bereit ist, unter uns, eine Lüge; denn ehe nach den Vernachlässigungen des langen Friedens und bei den jetzigen Einrichtungen die Mobilmachung zur Hälfte fertig sein kann, wären die Österreicher von Böhmen herauf längst in Berlin. Man wird vielleicht ein bißchen plänkeln, Graf Gröben steht in diesem Augenblick in Fulda den Bayern und Österreichern gegenüber, und dann wird die Diplomatie sich dazwischen legen und die armen Soldaten sehr friedfertig eine Position nach der andern räumen lassen, bis zuletzt nichts mehr zu räumen ist. Man spricht bereits von neuen Konferenzen in Olmütz oder Dresden. Preußen ist in diesem Augenblick nicht im stande, den Krieg zu führen; denn England, auf das man dabei gerechnet, erklärt, nur mit Noten und Anleihen Beistand leisten zu können, da die Heydtsche Schutzpolitik es vor den Kopf gestoßen hat.«

»Aber Frankreich?«

»Die konstitutionelle Republik liegt im Kreißen. Der Prinz-Präsident ist ein schlauer Fuchs und geht mit großen Plänen um. Er würde jeden Zwist benutzen.«

Der Spanier hatte einige Augenblicke nachgedacht. »Ich danke Ihnen, Senjor, und bin jetzt vollkommen unterrichtet. Ein vereintes Deutschland unter preußischem Szepter würde für uns ein großes Unglück sein, wir haben die deutschen Kaiser zur Genüge in Italien gehabt. Was die russische Einmischung betrifft, so bin ich der Meinung, daß Österreich sich sehr bald von allem Dank emanzipieren wird!«

Der Dicke nickte lächelnd.

»Die Förderung seiner Interessen liegt hier in guten Händen. Preußen ist zu gefährlich durch seinen Nationalismus, als daß man nicht alles daran setzen müßte, sein Geschick immer in der Hand zu behalten, um, wenn es sich gegen die Kirche auflehnen sollte, ihm ein Ende zu machen. Indem der öffentliche Führer der revolutionären Partei der Unsere und das Werkzeug der Kongregation ist, wird es leicht, der Regierung jede Schwierigkeit zu bereiten, die sie auf die Unterstützung der katholischen Partei verweist. Jetzt noch einmal zu unseren persönlichen Angelegenheiten! Von der zweiten Frau des Fürsten sind also keine Ansprüche mehr zu fürchten?«

»Sie ist in Mecklenburg verheiratet. Das Geheimnis ist vollständig gewahrt und das Kind mit 20 000 Thaler abgefunden.«

»Aber wenn nun plötzlich ein anderer Erbe aus einer früheren Verbindung, etwa ein Sohn, aufträte, Senjor Boltmann?«

Der Kommissionsrat warf dem Verbündeten einen raschen, scharfen Blick zu. »Verbindungen hat der Fürst genug gehabt, aber es sollte schwer werden, zu beweisen, daß eine legitime darunter war. Das ist ein Feld, auf das wir uns nicht einlassen dürfen. Das Testament des Fürsten lautet bestimmt, und Sie wissen, daß eine hier und in Wien sehr einflußreiche Dame, die wir nicht vor den Kopf stoßen dürfen, sofort den Kampf aufnehmen würde. Die Verhältnisse nützen uns mehr, so wie sie sind.«

»Es war auch nur der hingeworfene Gedanke, da ich in Spanien zufällig von einem Verhältnis gehört. Ihre Entdeckung verspricht jedenfalls mehr Erfolg, wenn das Kind am Leben bleibt.«

»Es ist der besten Sorge übergeben!«

»Und die Mutter?«

»Hätten Sie Zeit, Fra Antonio, so würde ich sie Ihnen zeigen, sie befindet sich keine dreihundert Schritte von hier, aber sie hat den Satan im Leib, und man muß sich vor ihr in acht nehmen. Sie ist ganz toll geworden über den Tod ihres Kindes, den die Berenburg so geschickt untergeschoben, als dasselbe verschwunden war. Hätte sie eine Ahnung von dem Leben des Kindes, sie würde es mit dem Messer in der Hand aus jedem Versteck holen. Sie darf nicht eher davon wissen, als bis wir unserer Sache sicher sind. Aber ich lasse sie nicht aus den Augen.«

»Eine halbe Million! Der Orden kann sie brauchen. Lassen Sie uns gehen! es wird Zeit.«

Sie hatten sich erhoben und gingen nach der Leipziger Straße. An der Ecke derselben begegnete ihnen ein Menschenstrom, der Zug vom Rhein war vorher eingetroffen und die Passagiere zogen noch immer zu Fuß und in Droschken nach der Stadt. Am Thor, das gerade durch mehrere der letzteren gesperrt war, traf der Kommissionsrat auf einen Bekannten, der mit einem großen stattlichen Herrn einen Augenblick stehen geblieben war, um die Insitzenden einer haltenden Droschke zu mustern.

»Sieh da, Doktor! kommen Sie von Potsdam?«

»Ich war einen Augenblick noch in der Redaktion, um zu hören, ob Depeschen vom ›Kriegsschauplatz‹ eingegangen. Bei Bronzell soll heute Morgen ein Zusammenstoß der preußischen und bayerischen Vorposten stattgefunden haben und die Mobilmachung ist unvermeidlich.«

Der Kommissionsrat schien Lust zu haben, von dem Journalisten näheres über die Neuigkeit zu erfahren. »Wohin gehen Sie, Doktor?«

Der andere lachte. »Davon spricht man eigentlich nicht gern. Aber Ihnen kann man schon trauen, und darum sollen Sie wissen, daß mein Begleiter große Lust hat, aus purem Amtseifer, denn er ist ein Kollege Hinkeldeys, eine unserer berüchtigten Polkakneipen zu inspizieren. Da Sie alles kennen in Berlin, werden Sie uns auch sagen können, welche sich der Mühe lohnt.«

Die Sprechenden waren auf die Stufen der Steuerwache getreten, die Droschke, die der Journalist früher beobachtet, hatte längst ihr »Passiert« erhalten und einer andern Platz gemacht.

»Wenn Sie einen Augenblick auf mich warten wollen, Doktorchen,« sagte der Dicke, »so führe ich Sie selbst. Es soll mir Vergnügen machen, und wir plaudern dann eine Stunde. Ich habe nur diesen Herrn hier zum Bahnhof zu bringen.«

Der Doktor nickte. »Das ist liebenswürdig von Ihnen, wir werden warten. Aber sputen Sie sich, denn der Zug geht sogleich ab.«

Der Spanier und der Kommissionsrat eilten zum Bahnhof, die beiden Zurückbleibenden schritten auf und nieder.

»Wer ist der Herr?« fragte der Begleiter des Journalisten, ein großer stattlicher Mann von aristokratischem Ansehen.

»Wir hätten keine bessere Gesellschaft finden können, liebster Präsident, als der Zufall uns hier in den Weg geworfen. Der Rat Bollmann, obschon erst seit einigen Jahren in Berlin, ist das Faktotum der halben Stadt, verkehrt in allen Kreisen, vom höchsten bis zum geringsten, und kennt die Chronique skandaleuse vom Hof bis in die geringsten Stände. Der Mann scheint sein Geld einzig darauf zu verwenden, alles zu wissen. Wenn ich eine Auskunft über irgend eine Person, etwa die dunkle Vorgeschichte oder schwache Seite einer unserer Celebritäten in der Kammer, in der Justiz, in der demokratischen Agitation oder gar der lieben Polizei bedarf, wende ich mich nur an ihn!«

»Aber seine Stellung?«

»Er macht Kommissionsgeschäfte, selbst für den Hof, Geldvermittelungen und dergleichen; er hat für irgend einen der kleinen Staaten Anleihen negociert oder Banken gegründet und daher sein Titel.«

Der Besprochene ließ nicht lange auf sich warten. Er kam dicht hinter einer Droschke einher, die eben ins Thor fuhr und einen Augenblick an der Steuerkontrolle hielt. Ein einzelner Herr saß darin. Der Wagen fuhr sogleich weiter.

Der Rat sah ihr nachdenklich nach. »Haben Sie gesehen, wer es war?« fragte er leise den Doktor.

»Eben so gut, wie vorhin die linke Hand des Herrn von Manteuffel, den künftigen Hofbankier! Der Herr Hofbankier hatte gute Gesellschaft bei sich.«

»Ich hab' es gesehen, es war Nachwuchs vom Ballett. Ich wette, daß er den Lieferungskontrakt für die Mobilmachung heute im Josty-Keller mit einem Souper feiert. Es wird ein hübsches Sümmchen für die beiden Schnorrer abfallen.«

»Sie sind neidisch, würdigster Rat.«

»Bah! Sie täuschen sich! ich konnte mein Anteil haben, aber ich bin jetzt anders beschäftigt, als für die preußische Armee Lieferungen zu besorgen. Ich ärgere mich nur, daß die Burschen ihr Souper allein halten und hätte große Lust, dem einen das Vergnügen zu vergällen mit der kleinen Anekdote, daß die schönste Frau Israels mit einem Lichterzieher ihn zum Hahnrei macht.«

»Haben Sie nicht vielleicht auch eine kleine Schandgeschichte für den andern in petto?«

»Da müssen Sie seine Haushälterin fragen. Es ist seit Ostern bereits die fünfte, und alle waren verteufelt hübsche Mädchen. Die vorletzte lief davon, weil sie das adamitische Kostüm, mit dem er sie zu empfangen pflegt, wenn er sie mit der Klingel in seine Arbeitsstube ruft, doch etwas zu paradiesisch, oder vielmehr ihn zu alt zum Apfelpflücken fand.«

»Pfui, Kommissionsrat!«

»Es hat ein jeder seine Schwächen. Ich möchte aber wohl wissen, was Herr von Manteuffel für ein Gesicht machen würde, wenn er von den geheimen Besuchen hörte, die sein Leibfinanzier des Abends im französischen Gesandtschafts-Hotel neben Hiltl abstattet.«

»Herr von Manteuffel sollte Sie zum Chef seiner geheimen Polizei machen.«

»Er würde vielleicht nicht so übel dabei fahren. Er hat ein eigenes Talent, schofle Subjekte um sich zu dulden. Einige tüchtige Talente und gewandte Personen hat er allerdings zur Hand, wie die von vorhin, aber im ganzen ist viel Gesindel da, das nichts nutzt und ihn nur kompromittiert. Ich habe einige Pröbchen in Erfurt erlebt.«

Man war auf den Wilhelmsplatz gekommen und ging schweigend an der Statue des Helden von Moys vorüber um das Rondell. Um eine Cigarre anzuzünden, blieb man zufällig stehen. Plötzlich zog der Rat seine Begleiter noch mehr in den Schatten. »Still! keinen Laut!«

Von der andern Seite her kamen langsam, offenbar nur im Auf- und Niedergehen begriffen, im halblauten Gespräch zwei Männer. Die Aufmerksamkeit, die sie darauf verwendeten, und das Rollen der Wagen auf der nahen Straße ließen sie die Gegenwart anderer Personen auf der entgegengesetzten Seite des blätterlosen Bosketts nicht bemerken, das diesen erlaubte, die Nahenden zu beobachten und ihre Worte zu verstehen.

Jene waren beide unter Mittelgröße, der eine noch kleiner als der andere. Sein etwas markierter Ton, obschon vorsichtig gedämpft, war deutlich hörbar; er bewies offenbar seinem Begleiter, der ihn vertraulich obenhin behandelte, besondere Achtung.

»Sie sind also gewiß, ihn erkannt zu haben?« frug eine breite Stimme.

»Ich folgte ihm vom Bahnhof bis zum Hotel, zwei Minuten vorher, ehe ich Euer Excellenz begegnete.«

»Und woher schließen Sie, daß er wirklich in dieser kurzen Zeit in Paris gewesen? Er kann ebenso gut nach Potsdam gefahren sein.«

»Ich sah, wie er einem Passagier aus der dritten Klasse, der sich beim Aussteigen in seine Nähe drängte und offenbar sein Diener war, einen Wink gab. Der Bursche ließ sich am Gepäckraum eine Reisetasche geben, auf der ich im Fluge noch die Marke ›Paris‹ sah, die man abzunehmen vergessen. Der Diener ging zu Fuß fort, und Herr von Persigny stieg am Palais des Prinzen Karl aus der Droschke.«

»Vielleicht ein neuer Teilungsplan,« sagte der andere spöttisch. »Ich werde diesen Herrn Vialin an Bismarck empfehlen müssen, er schießt vortrefflich und hat ihn neulich bei der Soiree des Fürsten auf den Fuß getreten, worauf der Franzose sich noch höflich entschuldigte.«

»Herr v. Bismarck scheint ein besonderer Gegner des Napoleonismus.«

»Für jetzt, ja! indes die Ansichten wechseln! Er hat noch nicht mit den Österreichern zu thun gehabt. Herr von Prokesch …«

Der Journalist hustete stark und machte eine Bewegung, als wolle er weiter gehen.

»Still!« flüsterte auf der andern Seite des Bosketts der zweite, »dort kommen Leute!« Die Nahenden schwiegen und wandten sich in den Seitenweg nach der Straße, die ersten drei setzten rasch ihren Weg fort.

»Der Henker hole Ihren Husten,« rief der Dicke, als sie weit genug entfernt waren, um nicht gehört zu werden. »Konnten Sie ihn denn nicht unterdrücken?«

»Ich fand es nicht nötig, daß Sie vielleicht Dinge hörten, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren,« lautete ziemlich rauh die Antwort. »Es ist vollständig genug, daß Sie alle Privatklatschereien und Skandalgeschichten der Stadt wissen. Haben Sie den Kleinen erkannt?«

»So gut wie am Thor. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich ihn für den gewandtesten Agenten des Ministers halte. Man hat sich in Warschau direkt seine Anwesenheit verbeten.«

»Kaiser Nicolaus erinnerte sich wahrscheinlich an Herrn Wedeke und wollte die Kamine in Lazienka nicht verderben.«

»Was meinen Sie damit?« fragte der Präsident.

»Je nun, die Geschichte ist doch bekannt genug. Der neugierige Hofrat wollte einmal in irgend wessen Auftrag oder aus eigener Wißbegier einer Unterredung des Kaisers beiwohnen, als dieser im hiesigen Schloß logierte, und versteckte sich in den Schlot des Kamins. Aber gleich beim Beginn der Unterredung kam der Ruß dem armen Politiker in die Kehle, und er polterte den Kamin herunter zum höchsten Erstaunen Seiner moskowitischen Majestät, die ihn anfangs erstechen wollte, zuletzt aber, nachdem er allerlei gebeichtet und verraten, durch einen Leibkosaken mit einer tüchtigen Dosis Kantschuh und dem Versprechen die Treppe hinunter werfen ließ, daß er zu Tode geknutet werden würde, wenn er noch einmal ihm unter die Augen zu treten wage.«

Der Journalist lachte. »Der andere ist klüger, dafür wird er auch nicht ins Exil nach der Schweiz gehen, sondern sich bei Zeiten irgend eine Residentur oder ein General-Konsulat sichern. Geschwind, Kommissionsrätchen, noch eine Anekdote, denn wir sind gleich an Ort und Stelle.«

»Ich wüßte nichts, als daß Graf Redern gestern ein höchst merkwürdiges Diner gegeben hat.«

»Wieso merkwürdig?«

»Durch den wilden Schweinskopf, der dabei auf der Tafel paradierte. Der Eber war aus den Lonker Forsten des Grafen und wog 400 Pfund.«

»War die Rarität zum Ansehen oder zum Essen?«

»Da sehen Sie, wie boshaft Sie selber sind, während Sie mir es immer zuschieben. Es soll bei dem Diner alles so vollständig gewesen sein, daß wirklich alle satt geworden sind!«

»Dann haben sie Glück gehabt,« sagte der Journalist trocken. »Der Pariser Keller kann also wieder geschlossen werden!«

Der lange Präsident hatte nicht ohne stilles Mißbehagen die scharfe Plänkelei der beiden Plebejer angehört, aber er hütete sich, ein Wort einzuschieben, obschon seine aristokratischen und büreaukratischen Gefühle arg verletzt wurden. So war man zum Eingang der berüchtigten Polkakneipe gekommen. Es war ein kleines Haus am Anfang der Mohrenstraße, der offene Hausgang winkte dunkel zum heimlichen Eintritt, die Fensterläden des Parterres waren geschlossen.

Ein dumpfes Summen, untermischt mit Tönen hellen Gelächters und schreiender Saiten, drang zuweilen aus dieser Höhle des Vergnügens nach außen.

»Nun, wie ist's! wollen wir?« frug der Dicke mit dem Falstaffgesicht und den Mephistoaugen.

»Vorwärts! gehen Sie voran! Jedem das Seine!«

Die Thür öffnete sich, und sie traten ein.

Eine lange Halle aus mehreren durch Bogen verbundenen Zimmern streckte sich vor ihnen von der Straßenfront weit in das Hintergebäude, ziemlich spärlich beleuchtet und erfüllt von dickem Tabaksqualm und dem Brodem von allerlei Getränken und Speisen. Der Raum an den Straßenfenstern schien durch ein stillschweigendes Übereinkommen frei gelassen, und für Fälle der Überfüllung des Lokals aufgespart. Er war noch dunkler als die andern Teile, und nur zwei Männer sah man dort, an einem Tisch sitzend.

Gegenüber der Thür befand sich das Büffett, ein breiter Holztisch mit Zinkplatte, darauf eine Punschmaschine mit loderndem Spiritusfeuer, auf der andern Seite eine gleiche zu Glühwein, an der Hinterwand eine lange Garnitur von farbigen Likörflaschen, darunter das frisch angestochene Achtel, aus dem der Wirt-Ganymed der Kneipe unaufhörlich die durstenden Kehlen mit jenem abscheulichen Getränk versah, das unter dem Namen »Bayrisch«, gleich den Pariser Moden, dem französischen Sozialismus und der Judenemanzipation damals ganz Deutschland überflutete.

In wahrhaft majestätischem fleischigem Cynismus thronte die Wirtin hinter diesem Büffett, nahm das Geld ein, lächelte den Lieblingsgästen zu und konversierte mit den Nymphen der Halle.

Obschon diese Halle nichts weniger als eine Ähnlichkeit mit der freien Atmosphäre der Tiroler Berge hatte – es müßten denn die bunten Phantasieen eines angehenden Berliner Anstreichers in Felsen, Klüften, furchtbaren Hängebrücken und Gletschern mit elefantengroßen Gemsen darauf, mit denen die Wände bedeckt waren, diesen Anspruch begründet haben, erschienen die fünf Polkanymphen, welche die Bedienung des Lokals bildeten, doch in der Tracht von Tirolerinnen mit übermäßig kurzen schwarzen oder roten Röcken, beketteter Jacke, bunten Strümpfen und grünem Berghut. Nur die Gesichter zeigten nicht die kräftige frische Rundung und die gesunde Farbe der Alpenmädchen; meist hübsch, oder mit den unverkennbaren Spuren früherer Schönheit, trugen sie das Gepräge der tiefsten Abspannung, die Falten der Liederlichkeit und Ausschweifung um Nase und Mundwinkel und um die frechen tiefliegenden Augen dunkle Ringe.

»Ah mein Dicker willkommen! Hier ist ein frisches! ich will Dir Platz zeigen!« Die älteste der Phrynen hatte den Rat schon unterm Arm und schleppte ihn durch den Tabaksdampf und die Reihe der rechts und links an den Wänden plazierten und mit Gästen aller Art besetzten Tische.

Eine zweite war bereits bei dem Fremden, den sein Begleiter Präsident genannt. »Den nehme ich! Du gefällst mir, mein Junge! Kathi will Dich küssen!« Die Geste, die sie damit zum Willkommen verband, war so abscheulich tiefgreifend, daß der Betroffene sie unwillkürlich zurückstieß und einen Augenblick schwankte, ob er die Pesthöhle nicht lieber wieder verlassen sollte. Aber das Gelächter der Nächstsitzenden, und ein Wink des Journalisten bestimmten ihn, weiter zu gehen. Überdies schien das Frauenzimmer von dem üblen Empfang ihrer Aufdringlichkeit keineswegs beleidigt, sondern an dergleichen gewöhnt und lief lachend zum nächsten Tisch, wo sie sich einem jungen Handwerker auf den Schoß warf, sein Bierglas leerte und ihn umhalste.

Komme doch, komme doch Prinz von Preußen,
Komme doch, komme doch nach Berlin!«

schmetterten zwei Mädchen, Liesli und Anneli, faßten die beiden Eingetretenen an den Armen und chassierten mit ihnen nolens volens den Gang hinunter hinter dem Rat drein. Zugleich stimmte die ganze Gesellschaft rechts und links in die berüchtigte Polka, das Orchester, im Hintergrund der Halle auf einer mit rotem und blauem Glanzkattun drapierten Estrade plaziert und aus einer Harfe, einer Geige und einer Klarinette bestehend, brach mitten in »Dein ist mein Herz« ab und spielte die gesungene Melodie. Alsbald sprangen drei Viertel der Gäste in die Höhe, schwangen ihre Bierseidel und Punschgläser in der einen Hand, faßten mit der andern ihre Stühle und begannen um die Tische her oder hinter den drei Paaren drein zu polken.

Der Staub stieg in dicken Wolken in die Höhe unter diesem Lärm und verdichtete die Atmosphäre des Gases und Tabaksrauches.

»Es lebe die Polka! Hurra für die Polka!« Ein dünnleibiger Schneider tanzte auf einem Tisch und schwang zu dem Toast sein Glas. Plötzlich, wahrscheinlich infolge eines boshaften wohlgezielten Stoßes, geriet sein Podium ins Schwanken und der Schneider, der eben auf den Fußspitzen eine Pirouette schlug, stürzte unter allgemeinem Gelächter zwischen die Tische und Gläser.

Jubel, Hohngeschrei, Vivats, der Ruf nach einem Tusch der Musik gellten aus dem Haufen, der sich um den Gefallenen drängte. Die dicke Wirtin schreckte in die Höhe und erhob ihre kreischende Stimme: »Meine Herren! meine Herren! bedenken Sie, Sie befinden sich in einem anständigen Hause. An der Ecke steht ein Konstabler!«

»Konstabulör! Konstabulör, Mama Techown!« heulte die Menge.

Der Tumult hatte den Eingetretenen wenigstens Gelegenheit gegeben, einen unbesetzten Tisch in der Nähe des Orchesters zu gewinnen und sich niederzulassen. Der Doktor hatte ihn noch anders benutzt.

»Was giebt es neues von Mimili?« lautete seine hastige Frage an die falsche Tirolerin.

»Bah! Du wirst sie gleich sehen, sie ist heute wieder in ihrer tollen Laune, und es wird ihren Kurmacher schweres Geld kosten. Dort sitzt er und lauert auf sie und hat keine Ahnung davon, daß der Jude sie zum Souper eingeladen hat. Ich wollte, es würde unser einer auch einmal so lecker!«

»Wer? Herr Samuel Jonas?«

»Ja wohl! da drüben sitzt er mit dem buckligen Maler, der von uns immer so hübsche Bilder macht.«

Der Rat sah hinüber. »Es ist wahr!«

»Aber sage mir, Dicker,« fuhr die Dirne fort, »warum willst Du denn stets alles wissen, was die Mimili oder Male oder wie sie heißt, immer treibt? Bist Du etwa gar eifersüchtig auf sie?«

»Das kümmert Dich nicht. Da nimm!« Er drückte ihr einen Thaler in die Hand. »Es ist ein Dunst, daß man die Hand kaum vor den Augen sehen kann. Spielt er noch?«

»Na, was thäte der anders?«

Der Rat war aufgestanden, zündete sich eine Cigarre an und setzte sich an den gegenüberstehenden Tisch, an dem zwei Personen saßen, Herr Samuel Jonas und eine kleine bucklige Figur mit großem schönem Gesicht von ernstem sinnendem Ausdruck.

Herr Samuel Jonas hatte durchaus nichts mehr von dem alten schmutzigen Trödeljuden an sich, der noch vor anderthalb Jahren in der Jakobstraße seine Höhle hatte. Er war glatt rasiert mit einem kurzen schwarzen Backenbart und zeigte bereits einen Ansatz zum Embonpoint. Er trug die kurzen Finger voll kostbarer Ringe und einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen. Darüber trug er einen Paletot, dessen aufgeschlagener Kragen ihn wahrscheinlich inkognito machen sollte, und den weißen Hut auf dem Kopf. Aber die jüdische Prahlsucht konnte sich nicht verleugnen, und er benutzte, indem er sich den Anschein gab, die Urwähler-Zeitung zu lesen, jede Gelegenheit, die Diamanten seiner Ringe spielen zu lassen oder an der dicken goldenen Uhrkette mit den vielen Berlockes zu zerren, die aus seinem Frack hervorhing.

Der Bucklige ihm gegenüber, den Rücken nach dem Orchester gewandt, hatte sein Notizbuch in der Hand und skizzierte offenbar die Physiognomie seines Gegenüber, aber Herr Jonas that, als bemerke er es nicht.

Der Kommissionsrat hatte sich neben den Maler gesetzt. »Guten Abend, lieber Professor! Ich war neulich in Ihrem Atelier, um Ihnen mein Kompliment über Ihre schönen Bilder auf der Ausstellung zu machen, fand Sie aber nicht anwesend. Ist das Portrait der Fürstin Trubetzkoi, das ich dort sah, vollendet?«

»Bis auf eine geringe Retouche!«

»Es ist ein vortreffliches Bild, ganz die stolze königliche Miene der Dame mit dem schwermütigen fast leidenden Ausdruck im Auge.«

»Es ist wahr,« sagte der Maler, »ich habe seit Rom kein Bild mit solcher Liebe gemalt, wie dieses. Se. Majestät der König beehrten neulich mein Atelier, und Sie wissen, daß ich auf das Urteil eines so geistreichen Kenners großes Gewicht lege. Schade, daß ich das Gegenstück nicht vollenden kann.«

»Wie so, Professor?«

»Ich stieß vor etwa zehn Tagen auf einen gleich interessanten Kopf und nahm ihn als Modell; aber der Bursche ist auf merkwürdige Weise plötzlich verschwunden.«

»Wer war es?«

»Ein armer Slowak, einer jener wandernden Hechelkrämer, die aus Ungarn kommen und mit ihrem Drahtkram die Welt durchziehen, um ein paar Thaler als Schatz in die Heimat zurückzubringen. Es war ein Gesicht, das einem Apoll Ehre machen würde. Er war, wie all diese Leute, sehr wenig mitteilsam gegen Fremde, aber das wenige, was er sprach, war gutes Deutsch und verriet sogar eine gewisse Bildung.«

»Aber warum haben Sie ihn laufen lassen?«

»Ich konnte nicht bei der Arbeit bleiben, weil ich mit dem Bild der Fürstin beschäftigt war. Aber ich gab ihm Geld, seine Herberge zu bezahlen, und er versprach, so lange hier zu bleiben, als ich ihn brauchen würde. Zweimal ist er gekommen, seit acht Tagen aber spurlos verschwunden. Ich war selbst in dem gewöhnlichen Nachtquartier dieser Leute auf dem Wedding, aber niemand weiß, wo er geblieben, obschon seine Wandertasche und sein Paß noch dort sind.«

»Bah! Sie werden einen Andern finden, denn es wäre schade, wenn das Publikum um ein interessantes Genrebild von Ihrer Hand käme. Aber ich wundere mich, Sie hier zu treffen?«

»Ich bin hier wahrscheinlich aus demselben Grund wie Sie, ich liebe die Originale, und habe hier schon manches für ein Bild gefunden, das mir Lord Heresford, mein edler Protektor, bestellt, er, dem ich verdanke, was ich bin.«

Der kleine Maler, den der englische Sonderling am Tage des Auszugs Garibaldis aus Rom entführt und nach seiner Vaterstadt zurückgebracht hatte, wo sein Pinsel ihm trotz der ungünstigen Zeit bald Existenz und Ruf verschafft, reichte dem Rat das Skizzenbuch. Derselbe lachte, als er die letzten Blätter ansah. »Der Tausend! das muß ich sagen! das ist ja« – er that als ob er eben erst sein Vis-à-vis erkenne – »sieh da, Herr Jonas, Sie auch hier?«

»Man muß doch protegieren die Celebritäten in jedem Fach,« lächelte der ehemalige Trödler. »Ich habe gehört so viel von dem genialen Gesang der Mamsell Mimili, daß ich mich hab' wollen überzeugen und wenn's wahr ist, sie einladen in eine kleine Gesellschaft, die ich gebe meinen guten Freunden. Wenn Sie haben Zeit, Herr Rat, wollt ich Sie bitten, zu beehren mich gleichfalls, es sind da vornehme Herren, Fürsten und Barone und meine Fräulein Töchter unterhalten sie sehr gut! Wollen Sie nicht die Güte haben, mich zu machen bekannt mit dem Herrn!«

Der Kommissionsrat präsentierte sie mit etwas sarkastischem Lächeln gegenseitig. »Herr Porträt- und Historienmaler Professor S. – Herr Bankier und Rentier Jonas, ein großer Mäcen aller Künste.«

»Sie schmeicheln, aber es ist wahr, ich liebe die Kunst, und meine Jüngste soll werden ein zweiter Meyerbeer. Ich erinnere mich, ich habe gesehen von Ihnen drei große Bilder auf der Ausstellung, Sie sollen machen auch mein Porträt.«

»Sie müssen mich entschuldigen,« sagte der Maler kalt, der zur Genüge den Ruf des soi-disant Bankiers kannte, »ich porträtiere nicht für den neuen Pitaval.«

»Nein, es soll sein für die nächste Ausstellung, Sie können machen Ihren Preis. Wollen Sie mir vielleicht die Ehre schenken und besuchen meine Gesellschaft, wir sind alle Abende ganz ungeniert, und Sie werden finden auch viele Herrn vons Metier, Künstler und Dichter, außer den Herrn Grafen und Baronen, mit denen Sie sich können unterhalten, wenn Sie nicht lieben zu machen ein Spielchen. Es geht alles in bester Ordnung, die Herrn von der hohen Polizei beehren mir auch.«

»Nimmt auch der Verfasser der berühmten Grabschrift daran teil?«

»Wie heißt? Was meinen Sie?«

»Ich erinnere mich nur der ersten Zeile,« sagte der Künstler ruhig, dessen idealer Natur alle Gemeinheit und die Schamlosigkeit des Gelddünkels in tiefster Seele zuwider war.« Sie lautete:

»Hier liegt sie, wie sie sonst zu liegen pflegte!«

Diesmal verstand Herr Jonas, denn er wurde puterrot, und einer jener wilden Blicke, wie sie sonst wohl der »schwarze Schmul« auf seine Opfer geschleudert haben mochte, fiel auf die kleine verwachsene Gestalt mit dem mutigen, wackeren Herzen. Aber die Erinnerung, daß er mit aller Vergangenheit gebrochen und der ehemalige Dieb und Einbrecher nebst Verwandtschaft überhaupt nicht mehr existierte, sondern nur ein reich gewordener Geschäftsmann, dessen Haus, zur Schande der Gesellschaft muß es gesagt werden, in der That von Grafen, Baronen, Offizieren und hohen Beamten besucht wurde, die sich seine Soirées gefallen ließen, weil sie bis über den Hals in den Klauen des Wucherers steckten, und die oft die Versilberung neuer Wechsel an seinem Spieltisch aufs neue verschleuderten, – diese Erinnerung ließ ihn die Pille verbeißen, obschon er trotz seiner dreisten Stirn doch nicht ganz eine gewisse Verlegenheit verbergen konnte, als er sich geschwind an den Kommissionsrat wandte. »Apropos, werter Freund, der Herr Leutnant von Röbel hat an mir geschrieben wieder um Geld. Der Herr Baron stehen jetzt vor dem Feind und das Geschäft ist gewagt, es könnte kommen eine Kugel und mir machen einen Strich durch die Rechnung, wie gefallen ist sein Bruder am 18. März.«

Die Worte waren so laut gesprochen, daß der Spieler am nächsten Tisch mit dem dunklen wirren Haarwuchs, von dem vorhin die falsche Tirolerin gesprochen, sie hören mußte.

Er fuhr unwillkürlich zusammen und drehte sich um. Sein gerötetes, stechendes Auge fiel auf den Juden.

Aber dieser hatte die Wirkung seiner zufälligen Worte nicht bemerkt. »Wollen Sie ausstellen den Wechsel, Herr Rat,« fuhr er fort, »will ich geben dem Herrn Baron mit Vergnügen das Geld.«

»Bah, Herr Jonas! der Herr Leutnant v. Röbel ist in Hessen so sicher, als säß' er in Berlin. Es kommt zu keinem Krieg, wenn das Ihre einzige Befürchtung ist, denn Sie wissen, daß ich solche Geschäfte nicht mache.«

»Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen heute Nachmittag Unter den Linden, wie der Herr Prinz von Preußen, Königliche Hoheit, und der Herr General von Wrangel haben gemustert zwei Bataillone vons siebente Regiment, die gleich fortmarschiert mit der Anhalter Bahn, obschon sie gekommen sind erst diesen Morgen nach Berlin.«

»Sie werden eben so ruhig wieder zurückkehren, verlassen Sie sich darauf.«

»Es ist nur,« sagte der Wechselkäufer kleinlaut, »weil ich hab' gemacht die Bekanntschaft des Herrn Leutnant unter Ihrer Protektion. Wenn Sie meinen, daß die Erbschaft ist sicher, werd' ich ihm geben auch die zweitausend Thaler, obschon er bereits hoch steht in meinem Buch.«

»Ich habe Ihnen mitgeteilt, was ich darüber wußte,« sagte der Kommissionsrat kalt. »Der Eigensinn des Vaters allein hat sie zurückgewiesen.«

»Gott der Gerechte, wie kann man sein ein solcher Thor. Eine halbe Million! Aber er wird sich bekehren, er wird haben ein Einsehen, oder er wird doch nicht leben ewig, er ist ein alter Mann.«

»Jedenfalls ist die Familie gut,« sagte der Kommissionsrat, »für mehr als Ihre zweitausend Thaler.«

»Es ist wahr, ich habe mir erkundigt, ich werde geben dem jungen Herrn Baron das Geld, hat er mir doch zugeführt viele vornehme Bekanntschaft, die besucht meine Soiréen und spielt mit meinen Demoiselles Töchtern Klavier und Sechsundsechzig. Er soll es haben.«

Der Rat war aufgestanden und reichte dem Maler die Hand. »Ich sehe, die Herren, mit denen ich gekommen, winken mir. Auf baldiges Wiedersehen Ihres Modells, lieber Professor. Sehen Sie dort den stattlichen Kopf hinter dem Tisch am Fenster, der entschlossene, feste Ausdruck dieses jungen Gesichts möchte sich nicht minder für Ihr Album eignen. Es thut mir leid, Herr Jonas, daß ich Sie heute nicht besuchen kann, aber ich habe noch dringend zu thun.«

Er nickte ihm zu, die Hand in der Hosentasche, um nicht genötigt zu sein, sie ihm zu reichen, und kehrte zu seinem Tisch zurück.

Der Rat hatte sich zu seiner Gesellschaft gesetzt. »In welche Hölle haben Sie mich geführt,« sagte der Präsident, »diese Luft ist zum Ersticken und die Gesellschaft würdig, die Saturnalien des Altertums zu feiern oder auf dem Blocksberg zu tanzen. Daß man dergleichen hier in der Residenz unter den Augen des frommen, sittenstrengen Königs duldet, hätte ich niemals gedacht.«

»Vorerst, Wertester,« belehrte der Kommissionsrat mit philosophischer Ruhe, »geruhen Seine Majestät noch höchst selten diese liebe undankbare Residenz mit einem Besuch zu beehren, und haben gegenwärtig andere Dinge zu thun. Ehrlich gestanden, glaube ich auch nicht, daß die freie Wirtschaft lange dauern wird, einstweilen aber nehmen Wirte und Publikum die Sache noch mit. Die Freiheit ist von der Politik aufs Amüsement voltigiert, und etwas muß der Berliner doch haben. Darum ist auch die Gesellschaft gar nicht so schlecht, wie Sie denken! Sehen Sie, dort in dem halbtrunkenen Kreis der sechs jungen Leute befinden sich zwei, die einmal, wenn die Alten die Augen zumachen werden, eine Million zu kommandieren haben. Jene beiden sind Künstler, von denen der eine heute ein ganzes Opernhaus zum Applauswahnsinn hingerissen hat. Dort in der Ecke sitzen zwei Börsenleute; der mit der Habichtsnase macht namentlich in Hypotheken und verschafft den Gardeoffizieren Geld zu bloß hundertfünfzig Prozent. Schon auf den Schulbänken schacherte Goldschmidt seinen Mitschülern die silbernen Uhren für Hosenträger, Nadelbüchschen und Schuhschnallen ab; der andere hat bereits ein Haus Unter den Linden, er kündigte 48 die Hypothek und erstand es zum fünften Teil des Werts. Ich wette zehn Flaschen Champagner – Nota bene ich bezahle nie eine Wette! – daß der alte Sünder da am Ofen, der den Mantelkragen so hoch heraufgeschlagen hat, das Gesicht hinter der Doppelbrille mit den blauen Gläsern verbirgt und die Hand eben in Kathis Mieder schiebt, ein alter Sünder aus dem Geheimratsviertel ist, von der Sorte, mit der man in Berlin wirklich die Straßen pflastern könnte.«

»Sie scherzen!«

»Scherzen? na ob! Wissen Sie nicht, daß vor vierzehn Tagen Mutter Colditzen, die famose Haus- und Kammerklatsche der Reaktion, Herrn von Hinkeldey um die Erlaubnis angegangen ist, ein Bordell bloß für Geheimeräte und sonstige vornehme Kunden anlegen zu dürfen? Die Sache ist aktenmäßig! Am Ende – sind wir nicht selbst hier?«

Der Aristokrat zuckte mit ziemlich saurer Miene die Achseln. »Ich habe Ihnen den Zweck gesagt, der mich hierher geführt,« meinte er. »Ich bitte, fahren Sie fort in Ihrer pikanten Erläuterung.«

Der Rat nahm eine Prise. »Das da,« belehrte er, »sind Handwerker, Familienväter, ganz ehrbare Leute, für gewöhnlich Stammgäste von Klausing. Dort Ladenschwengels, die den Prinzipal bemausen, Wundärzte mit dem Privilegium der fünf Messingbecken, höchst wahrscheinlich fehlen auch einige Gauner, Schlepper und Spitzbuben nicht, und dort die Gesellschaft am Tisch – ventre saint gris! – wenn Sie morgen bei Schott dinieren oder in einer Stunde zu Ewest gehen, werden Sie sicher dieselben Gesichter dort finden. Aber zum Teufel! es ist noch keine Lust unter den Gentlemen! Gebt etwas Politisches zum besten,« fuhr er fort, in übergroßer Großmut ein ganzes Zweigroschenstück auf das Notenblatt der Harfenistin werfend, die eben sammeln ging, »des lahmen Straß lahme Marseillaise: ›Schleswig-Holstein meerumschlungen!‹ oder unser gemütliches ›Immer langsam voran!‹ das besser auf uns Preußen als auf die Österreicher und Strafbayern paßt, oder die ›Schöne Minka‹ und den ›Neuen Nebukadnezer!‹ Wo zum Henker bleibt Mimili?«

»Du hast recht, altes Haus,« sagte, am Tisch vorübertaumelnd, ein langer Kerl mit einem Gesicht, das seit acht Tagen nicht gewaschen und rasiert war. »Heraus mit der Mimili! Mimili raus! Unterdes wollen wir den Holsteiner singen! Auf Dein Wohl, Bruder Deutscher!« Die schmutzige Faust streckte sich herüber, ergriff das Bierseidel, das eben die schöne Kathi vor den Rat hingesetzt, und leerte es auf einen Zug.

Der Dicke zuckte die Achseln und zwinkerte mit den Augen zu dem Aristokraten hinüber. »Wie manche Flasche Clicquot hab' ich mit ihm geleert! Er hatte 40 000 Thaler von seinem Vater geerbt,« flüsterte er mit bedeutsamen Daumenzeichen. »Das Königstädtische Theater oder vielmehr seine Grazien haben ihm in 2 Jahren davon geholfen. Er flüchtete nach Paris und ist jetzt zurück gekommen, weil man ihm doch nichts nehmen kann, und wichst jetzt einstweilen Stiefel bis auf bessere Zeiten.«

»Ein Bouquet, schöner Herr!« »Schwefelhölzer, Herr Graf!« »Hundert Wachslichte für lumpige zwei Groschen. Sie halten drei Treppen aus, wenn Sie zur Liebsten gehen!«

Das Elend, oder mehr noch die Schande und die Verderbtheit im frühesten Keim lag auf diesen kindlichen Gesichtern; Mädchen, von 10 und 12 Jahren schon mit den dunklen Ringen der Befleckung um die Augen, Knaben mit den frechsten Zoten-Anekdoten und noch frecheren Gebärden die Gäste zum wiehernden Gelächter reizend, ein System von zudringlichster Bettelei zarter Jugend neben dem grell aufgeputzten Alter mit den Brezel- und Kuchenkörben, das den Menschenfreund erbeben ließ bei dem Blick in die Zukunft.

»Hagelsbrut! daß dich das Donnerwetter zerschmeiße! Wollt Ihr dem schönen Karl Platz machen!« Ein Mensch von mittlerer Figur mit grauem Husarenschnurrbart, eine Militärmütze auf dem spärlichen grauen Haar, den Körper in einen polnischen Schnürrock gehüllt, stößt die Kinder zur Seite. »Laßt mich heran, Ihr Satansbrut! Cigarrenhalter, meine Herren, echter Meerschaum, Wiener Spitzen aber keine Spitzerl! Hier, Herr Baron, etwas für den höhern Geschmack! Grecourts Gedichte und Jettchen und Julchen auf der Leipziger Messe!«

Ein Blick tiefen Mitleidens fiel aus den Augen des Journalisten auf das faltige Gesicht des alten Bettlers. Der »schöne Karl« war in der That einst als der schöne Husar, der schönste Mann Berlins bekannt, und Fürstinnen und Gräfinnen schwärmten für ihn und liefen ihm nach!

Die Harfe zirpte in schrillen Akkorden, Violine und Klarinette arbeiteten hinterdrein, und aus der Menge klang es:

»Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Deutscher Sitte hohe Wacht« –

Der politische Choral, der letzte Aufschrei deutscher Sympathieen, brauste mit seinen veredelnden Klängen über diesen Pfuhl von Gemeinheit.

»Sehen Sie den kleinen Burschen! ich erinnere mich ganz gut des kleinen barfüßigen Rackers,« erzählte der Journalist, »es war vor zwei Jahren, am Tage, als die Opernhausthüren und die Nationalversammlung vernagelt wurden, und Jung den Obersten v. Griesheim Arm in Arm durch die Menge führen mußte, wenn er nicht die Terzerolkugel durch die Schläfe haben wollte. Ich saß bei Scheible und neben mir Lindenmüller, als der Kleine da atemlos hereinstürzte, das Feuer politischer Begeisterung auf dem flammenden Gesicht; ›Herr Präsident! Herr Präsident!‹ ›Was soll's, Taugenichts?‹ ›Herr Präsident, das souveräne Volk rückt an mit Fackeln!‹«

Aus dem brüllenden Gesang erhob sich eine kräftige volle Altstimme, und durch den rauhen Bierbaß und den fistelnden Tenor der Zecher erklang es:

»Hohe Wacht an deutscher Pforte –,
Sollst nicht preisgegeben stehn.
Hör' die mächt'gen Losungsworte,
Die durch Deutschlands Auen geh'n,
Schleswig-Holstein stammverwandt:
Einheit! Treue! Vaterland!«

Erstaunt, betroffen, denn auch der Journalist befand sich zum erstenmal an diesem Ort, blickten die beiden Männer auf. Die Kattunvorhänge zur Seite des Orchesters hatten sich geteilt, auf einem niedern Postament stand die Sängerin, ein Mädchen in Tirolertracht, wie die andern, und doch so anders als diese. Es war eine große stattliche Blondine von schönen Formen, mit prachtvollem Haar um das runde Gesicht, der Mund voll und üppig gewölbt; aber das schöne Gesicht mit dem durchsichtigen Teint war auf den Wangen von jener hektischen Röte angemalt, die ein inneres Fieber verkündet, und in dem lichtblauen Auge, das mit einer gewissen Starrheit über die Gesellschaft hinausschweifte, lag ein Ausdruck von Trotz und Bitterkeit.

»Mimili! die Königin der Polka!« flüsterte der Kommissionsrat. »Ich sage Ihnen, Sie sollten das Mädchen in der Musenhalle polken sehen, sie hat drei Teufel im Leibe, so teilnahmlos sie aussieht. Nun halten Sie das Herz fest, und die Börse dazu!«

»Wer ist sie? woher stammt sie? sie sieht aus, als wäre der Körper bloß hier, und ihr Geist weit abwesend und ganz anders beschäftigt, als uns hier Freiheitslieder vorzusingen.«

»Sie heißt Amalie und ist die Schwester eines Diebshehlers oder Wechselfälschers, der in Spandau im Zuchthause sitzt. Ein Offizier hat sie vor drei Jahren, sie ist höchstens dreiundzwanzig, verführt. Nur um das Kind in gute Pflege bringen zu können, wurde sie Biermamsell, wie ich mir habe erzählen lassen, und sie soll eine wahre Lukretia unter der eben nicht durch große Ehrbarkeit sich auszeichnenden Gesellschaft gewesen sein. Aber seit das arme Würmchen gestorben, ist der Teufel in das Mädchen gefahren, und sie legt sich förmlich darauf an, in Tollheit und Ausschweifung alles zu überbieten, als wolle sie sich selbst aufreiben. Man sagt, der Offizier, der in den Märztagen erschossen wurde, habe sie heiraten wollen. Ihre prächtige Stimme, der höhere Grad von Bildung, den sie sich erworben, und der launenhafte Eigensinn, den sie bei jeder Gelegenheit zeigt, haben ihr eine Art Ruf vor allen ihren Genossinnen verschafft, selbst unter der höhern Männerwelt.«

Schwächer und schwächer wurde der Chor, einer der Sänger nach dem andern schwieg und lauschte der reinen Stimme des Mädchens, dessen Augen jetzt lebendiger, herausfordernder umherfuhren. Mit einer Kraft, mit einer Energie, der man das anfangs so apathische Wesen in dieser Umgebung nicht hätte für fähig halten sollen, erklangen die Verse:

Gott ist stark auch in den Schwachen,
Wenn sie gläubig ihm vertrau'n.
Zage nimmer, und dein Rachen
Wird trotz Sturm den Hafen schau'n.
Schleswig-Holstein stammverwandt:
Harre aus, mein Vaterland!

Nein, der Däne soll's nicht haben!
Und der Russ' soll nicht herein!
Unsre Warte, Wall und Graben,
Sollen unsre Leiber sein!
Schleswig-Holstein stammverwandt:
Ewig bleib' beim Vaterland!

Die Augen der Sängerin fielen am Schluß der Strophe auf den Kartenspieler ihr gegenüber, der sich vorhin bei den Worten des Bankiers umgewandt und der bei ihrem Erscheinen die Karten fortgelegt hatte, sie mit seinen Blicken förmlich verschlingend.

Ein finsterer Triumph, ein wilder Haß funkelte in dem Strahl ihres Auges wie ein Dolchstoß nach jener Richtung hin, aber es war nur ein Moment, dann wandte es sich nach der anderen Seite, wo der Rat und seine Gesellschaft saßen. Sie ließ die Guitarre fallen, die sie im Arm trug, unbekümmert, ob das Instrument Schaden nähme oder nicht, klatschte in die Hände, setzte den zierlichen Fuß auf die Lehne des Stuhls und sprang über den nächsten Tisch, zwischen den Seideln und Gläsern hindurch, in keineswegs sehr decenter Haltung, auf den Boden. Im nächsten Augenblick stand sie, die Arme in die Seiten gestemmt, vor den beiden Fremden.

»Ein Hurra für Mimili! Hip hip hurra!« schrie einer der Ladenschwungs und schwang sein Seidel, indem er ihre Taille umschlingen wollte.

Sie stieß ihn kräftig zurück. »Geh' zum Teufel, Nassauer! Du bist mir viel zu grün! Knöpfe der Kathi Dein Herz auf, sie kann Dich vielleicht zum Menschen machen!«

Sie saß bereits dem Präsidenten auf dem Schoß, dessen Taschen sie sehr ungeniert zu visitieren begann, und dem gewaltig warm wurde bei dieser Konversation. »Höre, mein hübscher Langer, Du bist wohl nicht in Berlin gewachsen?«

»Warum glauben Sie das, Mademoiselle?«

»Ah bah, dumme Frage! Das sieht man Dir gleich an der Nase an. Hier hast Du einen Kuß und nun schenk' mir etwas zu einem neuen Ballkleid. Ich will tanzen, tanzen, tanzen! Wenn man im Galopp rast, dann vergißt man sich selbst und das Vergangene!«

Ihre von dunklen Schatten umgebenen Augen waren dabei immer auf den Kommissionsrat gerichtet, wie fragend; er zuckte bedauernd die Achseln.

»Wenn's Ihnen beliebt, Fräulein Mimili,« sagte eine süßliche Stimme. »Bin ich doch gekommen, wie Sie gewollt, hierher, Sie abzuholen. Der Wagen wartet draußen.«

Sie sah ihn groß an. »Was willst Du? Ich habe keine Zeit! Pack' Dich!«

»Sie werden doch nicht sein eigensinnig, Sie werden doch halten Ihr Wort, und haben's mir versprochen heute Mittag auf meine Einladung, daß Sie wollen singen in meiner Gesellschaft in Kostüm, wenn ich Sie wollte abholen hier bei der Madam Techow.«

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Es ist wahr,« sagte sie leise. »Sie haben recht, man spielt ja wohl viel bei Ihnen, Herr Jonas, und hoch?«

»Was heißt hoch? Ein paar Lugedore. Es ist für die Herren Kavaliere, die lieben mehr die Musik vons klingende Gold, als die Musik vons Klavier. Die Unterhaltung ist frei, und der Punsch und das Essen auch. Ich spare nichts, um gute Gesellschaft zu haben und alle Herrschaften und Celebritäten in meinem Salon zu sehen. Wenn ich erst werde haben gekauft eine eigenes Haus, wird's noch schöner werden!«

»Ich kann nicht ohne Begleiter zu Ihnen gehen; laden Sie den Herrn dort ein, mitzukommen.«

Sie wies mit dem Finger auf den Mann, der am Tisch gegenüber saß und sie mit seinen Blicken verfolgte.

»Main! Ich habe doch nicht die Ehre, ihn zu kennen!«

»Das ist gleichgültig! er wird spielen, das ist genug!«

Herr Itzig Samuel Jonas, als er sah, daß er die Polka-Primadonna, die er seinen vornehmen Gästen versprochen hatte, nicht von der Stelle bringen würde, wenn er nicht ihren Willen erfülle, machte sich mit einer Verbeugung an den unerwarteten Gast.

Dieser war ein Mann von mittlerer Größe und schlanker Figur, wohl gekleidet und etwa einige dreißig Jahre alt. Sein blasses, gelbes Gesicht zeigte die Spuren starker Leidenschaften in den beim Sprechen sehr beweglichen, leicht verzerrten Zügen, und in der That tobten auch zwei große und gefährliche Gewalten in seinem Innern, er liebte die Polka-Königin mit einer sinnlichen Leidenschaft und Begierde, die um so heftiger wurde, als er sich von ihr verhöhnt und genarrt sah, und er war ein ebenso leidenschaftlicher Spieler.

Das Mädchen beobachtete den Erfolg ihrer Sendung, um die Einladung nötigenfalls zu unterstützen, denn trotz der abstoßenden Behandlung, die sie ihrem Verehrer zu teil werden ließ, wußte sie ihn durch berechnete Koketterie der Art zu behandeln, daß er ihr wie ein Sklave folgte, der vergeblich gegen seine Ketten knirscht.

Der Journalist sah den Kommissionsrat fragend an. »Was bedeutet das?«

»Kennen Sie den Mann dort drüben?«

»Ja!«

»Dann wissen Sie, daß er ein brillantes Geschäft hat, aber er ist toll und voll in die Dirne verliebt und überall zu finden, wo sie ist, obschon sie ihn behandelt wie einen Hund. Er hat sie schon früher heiraten wollen, und hat sich jetzt wieder scheiden lassen, nachdem er seine Frau lange mißhandelt, bloß in der Hoffnung, daß ihn das Mädchen jetzt, wo der Fleiß und das Geschick seiner Frau sein Geschäft in Blüte gebracht hatte, heiraten würde. Aber mit dem Wohlstand wird's nicht lange dauern, denn er vernachlässigt alles, um diesem Mädchen nachzulaufen, und läßt sich von ihr zur tollsten Verschwendung verleiten, obschon sie nie einen Pfennig von ihm annehmen soll.«

»Das ist merkwürdig!«

»Aber leicht erklärlich, wenn man den Schlüssel dazu hat!«

»Und das ist?«

»Die Rache!«

Das kurze Gespräch war leise geführt worden, denn der Präsident, dem das tolle Treiben Spaß machte, hatte eine Bowle Punsch kommen lassen, und sofort sammelte sich die ganze Gesellschaft der Pseudo-Tirolerinnen um den Tisch, ihren Anteil zu erhalten. Schallendes Gelächter, obscöne Späße und Tollheiten aller Art kreuzten einander. Dazwischen siedelte und klimperte die Musik wieder lustige Tänze, und eine wilde Gesellschaft am andern Ende des Saales jubelte das »Madel ruck ruck« in verschiedenen Variationen.

Der Mann, von dem der Journalist und der Rat soeben gesprochen, stand plötzlich neben der Polka-Königin und preßte ihr heftig den Arm.

»Sie haben von dem Herrn da einen Fünfthalerschein genommen, leugnen Sie es nicht, ich habe es gesehen!«

Seine Augen glühten, die gelbe Stirn war mit fliegender Röte überdeckt.

»Das fällt mir nicht ein! was geht es Sie an, ich will ein neues Ballkleid!«

»Amalie!« sagte er bittend, demütig, »Sie wissen, daß Sie nur ein Wort zu sagen brauchen, und Sie sollen in Sammet und Seide gehen. Warum weigern Sie sich, meine Frau zu werden, da ich jetzt wieder frei bin? Warum nehmen Sie nicht wenigstens von mir, was Sie brauchen? Da, in dieser Brusttasche sind zweihundert Thaler, nehmen Sie, was Sie wollen, nehmen Sie alles! Sie sollen mehr haben, als das!«

»Ich will nichts!«

»Aber warum? warum verschmähen Sie mich allein?«

»Sie wissen es!«

Dunkle Glut des Zorns flammte wieder über das gelbe Gesicht. »Der Teufel hole ihn, ich wünschte, ich hätte zehn Kugeln in seine Brust geschickt, denn er stiehlt Sie mir noch im Tode. Aber ich werde Sie zwingen, ich will es nicht länger dulden, daß Sie Geld von andern nehmen und mit andern schön thun!«

»Was soll ich mit Ihren zweihundert Thalern? Gewinnen Sie heute Abend zweitausend damit, vielleicht nehme ich sie. Ich werde mit Ihnen spielen!«

»Wo?«

»Der Herr da hat Sie ja eingeladen! Ich dächte, es wäre genug, wenn ich Ihnen erlaube, mich zu begleiten. Gehen wir! Meinen Mantel!«

Ihre Gebärde war so gebieterisch, daß der unglückliche Liebhaber fortschlich, ohne ein Wort zu sagen, um den Mantel aus der Garderobe zu holen.

Sogleich änderte sich der Ausdruck ihres Gesichts, sie sank auf einen Stuhl, ihre lichten Augen starrten vor sich hin.

»Sie ruinieren ihn,« sagte der Kommissionsrat, neben dem sie saß, leise. »Bei Jonas wird hoch gespielt; er verliert immer, und er soll bereits stark in Schulden stecken.«

Sie starrte ihn wie geistesabwesend an. »Das ist mir lieb!«

»Aber was nützt es Ihnen? warum wahren Sie nicht wenigstens Ihren Vorteil dabei?«

»Ich von ihm Geld nehmen? von seiner blutigen Hand? Wissen Sie nicht, daß er den Mann ermordet hat, der mich liebte, mich, das arme, verlassene Mädchen, allein auf Gottes Welt? Darum hasse ich ihn, und wenn zehnmal das Glück ihm immer wieder auf die Beine hilft, er soll verderben und in Verzweiflung enden!«

»Aber Sie ruinieren sich selbst dabei!«

»Was thut's? hab' ich nicht alles verloren, ihn, den ich liebte, und das Kind, mein letztes Gut! Fluch dem Mörder und Fluch allen, die mich gezwungen, mein Kind von mir zu geben! Möge ihre Herzenshärte und ihr Stolz ihnen zum eigenen Verderben werden!«

»So sind Sie jetzt gewiß überzeugt, daß Ihr Kind tot ist?«

»Tot! Ich wollte es anfangs nicht glauben, daß mein lieber kleiner Engel tot sein könnte, ich hab' ihn ja nicht wieder gesehen, denn er war schon begraben, als sie mich es wissen ließen, und es ist den Müttern nicht erlaubt, mit ihren Nägeln die Gräber aufzuwühlen! Aber sie haben mir's ja bewiesen, schwarz auf weiß, mit dem Totenschein, und die Frau v. Berenburg ist eine fromme Frau, die nichts dafür kann, daß gerade mein Kind von dem umfallenden Schrank erschlagen werden mußte und das andere am Leben blieb!«

»Armes Mädchen!«

Er sagte es nicht ohne Mitgefühl mit dem Schmerz, obschon er wußte, daß ein Wort von ihm sie hätte glücklich, selig machen können. Aber er wußte auch, daß bei der Energie ihres Charakters die geringste Andeutung hingereicht hätte, sie auf seine Spur zu führen und das Kind seinen Plänen zu entreißen, ehe diese zum Ziel gereift. Darum hatte er zu dem Betrug geschwiegen, den die würdige, fromme Haltemutter mit einer andern kleinen Leiche zur Vertuschung ihrer Fahrlässigkeit gespielt.

Die Polka-Königin reichte ihm die Hand. »Sie sind gut und freundlich gegen mich und haben, seit ich Sie kenne, wie ein Freund zu mir gesprochen, darum habe ich Vertrauen zu Ihnen; denn der einzige Mann, der es redlich mit mir meinte, der Freund Ferdinands, ist fern von hier, und ich habe ihn nicht wieder gesehen. Ich habe nichts mehr zu thun in der Welt, als mich zu rächen, und der da« – sie wies mit einem finstern Blick nach dem Nahenden – »seiner Hand allein dank' ich es, daß ich geworden, was ich bin, und daß mein süßes Kind sterben mußte unter Fremden!«

Sie ergriff das Punschglas, das vor dem Rat stand, und leerte es auf einen Zug. »Es lebe die Polka! Musik! Musik! Heute Nacht giebt's Ball in der Friedrichsstädtischen!«

Sie warf den Mantel um ihre Schulter und schwang den Tirolerhut. »Vorwärts, Kleiner! Ich hoffe. Du läßt Champagner springen! Zum Teufel mit der Melancholie!«

»Komme doch, komme doch, Prinz von Preußen,
Komme doch, komme doch nach Berlin!«

Sie raste zur Thür hinaus unter dem Bravo und Hurra der Gäste, Herr Itzig Samuel Jonas in hocheigener Person trug ihr die Guitarre hinterdrein.

»Sie ist heute in der Laune, die größten Tollheiten zu begehen,« sagte ihr nachsehend der Rat. »Wenn sie es so fort treibt, lebt sie keine zwei Jahre mehr!«

Er blickte nachdenkend einige Augenblicke vor sich hin, dann sah er nach der Uhr. »Es ist halb elf, und Sie müssen mich entschuldigen, ich habe noch eine Zusammenkunft, die ich nicht versäumen darf.«

Auch der Präsident und der Journalist erklärten, genug zu haben und gehen zu wollen. Man beschenkte die Dirnen, die sich wie Kletten an die Männer hingen, um ihnen mit eklen Liebkosungen Geld abzuschmeicheln und überließ ihnen und ihren Louis den Rest der Punschbowle.

Während sie hinausgingen, blieb der Rat einen Augenblick stehen und sah scharf nach den beiden Männern, die im vordern Teil des Zimmers allein saßen und sich leise unterhielten.

Der eine war ein großer hagerer Mann mit stechenden Augen, der Kalabreser-Hut lag neben ihm auf dem Tisch; der zweite, auf den der Rat früher im Gespräch mit dem Maler gedeutet, war um vieles jünger, sehr einfach gekleidet, wie etwa ein Handwerksgesell. Sein regelmäßiges Gesicht mit der langen geraden Nase zeigte Mut und Entschlossenheit.

Als sie vor der Thür auf der Straße standen, frug der Rat den Journalisten: »Haben Sie den Mann gekannt, der am Fenster im Halbdunkel saß?«

»Ich habe nicht Acht auf ihn gegeben.«

»Ein Zeitungsschreiber muß die Augen überall haben. Er kannte Sie wohl, denn er machte den andern auf Sie aufmerksam.«

»Wer war es denn?«

»Einer der schlimmsten Demokraten, ein Roter, in der Wolle gefärbt, der Tabakshändler Gleich. Ich möchte wohl wissen, wer sein Gesellschafter ist. Das Gesicht ist mir nicht ganz fremd, ich muß es schon gesehen haben.« Er dachte einen Augenblick nach, »jetzt erinnere ich mich, es ist der junge Schlosser, der neulich eine Reparatur bei mir machte!«

»Dieser Gleich soll ein gefährlicher Mensch sein,« bemerkte der Präsident. »Ich erinnere mich, schon mehrmals den Namen gelesen zu haben.«

»Nicht mehr als die andern, aber sie sind gefährlich und stark durch ihr entschlossenes und freies Zusammenhalten, das keine Opfer und keine Mühe und Gefahr scheut, während – wir wollen uns darüber klar sein – unsere gute konservative Partei an Egoismus und Apathie des einzelnen, an Trägheit, Mißmut zum geringsten Opfer und jämmerlicher Philisterhaftigkeit das Möglichste leistet. Ich bin unparteiischer Beobachter, weil ich eigentlich Ausländer bin, aber ich sage Ihnen, man täuscht sich schwer, wenn man glaubt, mit jenen Leuten bereits fertig zu sein. Sie benutzen ihre Niederlage, um sich besser zu organisieren. Das zeigt das gemeinsame Enthalten von den Wahlen. Aber sie warten ihrer Zeit und untergraben einstweilen die Fundamente der Monarchie, bis der Augenblick kommt, wo sie am Gebäude selbst rütteln können.«

»Die Regierung ist Gott sei Dank stark und fest!«

Der Rat lachte. »Sie hat nicht die Energie, einen einzigen ordentlich beim Kopf zu nehmen und den ersten besten Schreier über den Haufen zu schießen oder wenigstens zu reitpeitschen! Hat man doch nicht einmal den Mut gehabt, Kinkel erschießen zu lassen, als man das Recht dazu hatte. Es wäre strenge Justiz gewesen, aber einen Professor in Naugardt und Spandau Wolle zupfen zu lassen, ist eine politische Dummheit. Die Österreicher verstehen das besser. Man überläßt hier alles der konservativen Presse und in der That, die Kreuzzeitung allein ist ihre konservative Partei!«

Der Journalist nickte zustimmend. »Es ist wahr! Kaum ist die Gefahr vorüber, so ist der Hochmut und der Egoismus von früher wieder da! Die vornehmen Herren glauben wirklich schon zu viel zu thun, wenn sie einen Gruß mit einem gnädigen Kopfnicken erwidern, während sie vor zwei Jahren nicht genug die Hand zu schütteln wußten. Sie sind selbst Aristokrat, liebster Präsident, aber glauben Sie mir, wenn man sich nicht für das Prinzip schlüge, für das Königtum im ganzen, unsere sogenannte konservative Partei ist meist nicht mehr wert, daß man sich einen Finger drum schwarz macht.«

»Das Schlimmste, was die Regierung thun kann,« fuhr der Rat fort, während der Präsident nicht gerades sehr angenehm berührt, aber die Wahrheit der scharfen Kritik anerkennend, schwieg, »das Schlimmste sind die halben Maßregeln und das Kokettieren mit den halben und ganzen Gegnern. Statt eine Phalanx sich zu bilden aus denen, die sich bewährt haben, ist die ganze Politik darauf gerichtet, nicht bloß die Feigen und Ausreißer zurückzuholen, sondern auch die Feinde durch Gunstbezeugungen zu bestechen und zu gewinnen! Und nun Adieu, meine Herren, und amüsieren Sie sich besser, als mit der leidigen Politik.«

Sie trennten sich, Herr Boltmann, um, wie er sagte, nach seiner Wohnung zu gehen. Die beiden andern schlugen, trotz seines Rats, die politische Unterhaltung fortsetzend, den Weg zu dem Ewestschen Keller ein, wo sie gewiß waren, Gesinnungsgenossen zu treffen.

Die Bemerkung des Kommissionsrats über die Energie und Opferfähigkeit der demokratischen Partei war wohl begründet; hätten die Drei dem Gespräch lauschen können, das eben von den beiden geführt wurde, die Veranlassung zu den politischen Expektorationen gegeben hatten, sie würden etwas gehört haben, was bevor zwei Tage vergangen, nicht bloß Berlin, sondern Deutschland in Staunen und in gerechte Bewunderung setzen sollte.

Der jüngere Mann hatte sein Seidel ausgetrunken und schob es zurück. »Es ist Zeit, daß ich aufbreche,« sagte er in dem leisen vorsichtigen Ton, in dem die ganze Unterredung geführt worden. »Sie haben mich also vollständig verstanden und werden alles besorgen?«

»Verlassen Sie sich darauf!«

»Lassen Sie es uns noch einmal kurz wiederholen. Falkenthal wird dafür sorgen, daß der Wagen aus Moabit Punkt zwölf Uhr in Spandau ist. Das Erkennungszeichen für den Kutscher ist ein weißes Taschentuch in der linken Hand. Der Mann, der es trägt, wird ihn zu der Stelle begleiten, wo er halten muß, bis wir zu ihm kommen.«

»Der Besitzer der Pferde fährt selbst, Sie können den Wagen leichter erkennen, ein Schimmel und ein Brauner.«

»Das ist mir nicht lieb, weil es auffallen kann, aber nicht zu ändern. Die Kleidung muß der Doktor bereit haben, wir dürfen uns unterwegs nicht aufhalten.«

»Es ist bereits besorgt.«

»Schicken Sie morgen S… nochmals nach Potsdam. Die Relais am Stern im Tiergarten, in Nowawes und auf dem Wege nach Brandenburg müssen bis morgens 5 Uhr warten. Wenn wir nicht kommen, die nächste Nacht wieder ohne weitere Ordre!«

Der Tabakshändler nickte. »Für welche Weise haben Sie sich also entschieden?«

»Das muß der Augenblick lehren; wir müssen uns ganz auf Bruns verlassen. Den Offiziermantel und den Helm hat er glücklich versteckt, aber ich bin, wenn die Nacht irgend finster und schlecht ist, wie zu hoffen steht, für die Flucht am Seil. Das Verlassen des Gefängnisses als Offizier der Ronde kann, wenn er richtig kommt, zu leicht zu rascher Entdeckung führen, ehe wir den nötigen Vorsprung haben.«

»Aber die Wache, die in dem Gäßchen steht?«

»Der Ratsherr wird sie auf irgend eine Weise beschäftigen. Für den Notfall bin ich zur Stelle und stoße sie nieder, ehe der Bursche einen Laut von sich geben kann. Die Sache muß morgen versucht werden, denn ich weiß bestimmt, daß der Direktor des Zuchthauses gewarnt worden ist; nur kann ich den Verräter nicht ermitteln. Geserich hat zwar gelacht und gesagt, er habe den einzigen Schlüssel stets unter seinem Kopfkissen, aber er könnte doch versucht sein, in den nächsten Tagen neue Vorsichtsmaßregeln zu treffen.«

»Sie dürfen dem Wärter unbedingt vertrauen?«

»Er hat die Hälfte des Geldes, die andere erhält er, sobald der Gefangene außerhalb der Mauern ist. Die Schlauheit, mit der er uns den Abdruck des Schlüssels zur Thür der Zelle verschafft hat, bürgt für seine Gewandtheit. Ich habe ihm angeboten, uns zu begleiten, aber er zieht es vor, zu bleiben und sich herauszuwickeln, so gut es geht, wenn Verdacht auf ihn fallen sollte.«

»Sagen Sie mir, Herr Schurz, warum bringen Sie den Professor nicht gleich nach Warnemünde, wo Niemann das Schiff bereit hält?«

»Wir müssen die Verfolgung auf eine falsche Spur bringen, darum machen wir den Weg nach Berlin; hier verliert sich am leichtesten die Spur, und dann auf das Gut bei Brandenburg, wo er einige Tage bleiben soll, bis der erste Eifer der Verfolgung verraucht und durch die falschen Nachrichten nach anderer Seite geleitet ist. Man wird von Bremen aus seine Einschiffung melden. Es soll Herrn Patzke schwer werden, uns zum drittenmal die Sache zu vereiteln, wie in Schöppenstedt und an der Waldecker Grenze, obschon er ihm jetzt dicht vor der Nase bleiben wird. Wir müssen vor jedem Zufall sicher sein, und ich selbst werde erst den Weg machen und für die Relais sorgen, da wir bis Rostock nur bei Nacht fahren dürfen und jedes Mißverständnis von den schwersten Folgen sein könnte. Wir haben noch 17 000 Thaler und treue Freunde, damit erreicht man jedes Ziel.«

Der lange Tabakshändler reichte dem jungen Mann die Hand. »Den treuesten hat der arme Professor in Ihnen. Seit der Zeit, wo Sie als Schlosserlehrling Tag und Nacht an dem großen Werk seiner Befreiung arbeiteten, weiß ich erst, was wir vermögen. Dies Beispiel wird die Tyrannen auf ihren Thronen zittern lassen.«

Der junge Mann hatte sich erhoben. »Leben Sie wohl denn und grüßen Sie unsere Freunde. Vermeiden Sie morgen möglichst jeden unnötigen Verkehr – die Aufmerksamkeit, welche die Krankheit Brandenburgs erregt, wird uns zu Hilfe kommen. Wie steht es mit ihm?«

»Schlecht! Wir werden hoffentlich bald von diesem einen der reaktionären Schurken befreit sein!«

»Pfui, Herr! er ist ein ganzer Mann und das muß man achten, selbst am Feinde! Jetzt Adieu! ohne Aufsehen!«

Der Tabakshändler hielt ihn nochmals zurück. »Ist es nicht zu gefährlich mit dem Strick, wird er auch halten? Bedenken Sie, vier Stock hoch ist keine Kleinigkeit!«

Der andere zuckte die Achseln. »Glauben Sie, daß ich das Wagestück dem Freunde zumuten würde, ohne daß ich es dreifach selbst probiert? Die zerschundenen Hände kann der Professor später heilen! Gute Nacht, denn mein Weg ist weit! Donnerstag früh, wenn alles gelungen, erhaltet Ihr hier in Berlin von Moabit aus das besprochene Zeichen!«

»Hinkeldey wird rasen! Unsere Gedanken werden bei Ihnen sein! Auf Wiedersehen, wenn die Sonne der Freiheit auch hier aus dem Blut der Reaktion sich erhebt und wir Gericht halten über die Tyrannen!«

Sie schüttelten sich die Hände und trennten sich, der Tabakshändler blieb in der Kneipe.

Sie sahen sich nicht wieder. Den revolutionären Träumen des einen machte bald darauf der Tod ein Ende, der andere zog, nachdem er sein einer Frau gegebenes Wort Karl Schurz befreite bekanntlich den Dichter Gottfried Kinkel, der an dem Revolutionskampf in der Pfalz teilgenommen, aus dem Zuchthause zu Spandau. Anmerk. d. H. gelöst hatte, übers Weltmeer, um dort die Freiheit zu suchen. Erst als Gesandter der zerfallenden Republik des amerikanischen Nordens sah er nach zwölf Jahren auf flüchtiger Durchreise die rebenbekränzten Ufer der Heimat wieder.


Der Kommissionsrat war auf dem Weg zu seiner Wohnung die Wilhelmsstraße entlang gegangen. Vor der offenen Thür des Staatsministeriums hielten die Wagen der Ärzte nicht mehr, auf seine Erkundigung bei einem Diener hörte er, daß man sie nach Hause geschickt, Dr. von Stosch, der Hausarzt des Kranken, wollte die Nacht bei ihm zubringen.

Der Rat stand noch vor dem Hause, als ein großer schlanker Mann, in einen Mantel gehüllt, und von den Linden herkommend, die Stufen hinaufstieg, offenbar in der Absicht, sich gleichfalls zu erkundigen oder das ausgelegte Bulletin nachzusehen; denn die Nachricht hatte sich am Abend rasch verbreitet, daß die Krankheit des Grafen die bedrohlichste Wendung genommen. Die Gattin und die Töchter des Kranken waren, durch den Telegraphen herbeigerufen, schon am Vormittag aus Warschau und Schlesien angekommen, die ganze Familie um den Leidenden versammelt.

Der Rat sah dem Eintretenden aufmerksam nach; von der Stelle, wo er stand, konnte man das matt beleuchtete Innere des Hausflurs und den Aufgang der Treppe zum obern Stockwerk überschauen.

Die beiden Schildwachen vor der Thür, die bisher still auf- und niedergeschritten, fuhren plötzlich auf ihre Posten, das Gewehr an, kerzengerade sich richtend. Die Treppe herab, von einem kleinen Mann in Civil und den beiden ältesten Söhnen des Kranken begleitet, kam in seinen Militärmantel gewickelt, ein Offizier von hoher Gestalt.

Der Mann in Civil, den Hut in der Hand und anscheinend auch auf dem Wege, das Haus zu verlassen, redete respektvoll auf den Offizier ein, doch schien dieser den Worten nicht die geringste Beachtung zu zollen. Auf der letzten Stufe der Treppe blieb er stehen und wies die beiden ihn begleitenden Familienmitglieder zurück, indem er sie umarmte.

Eine energische Gebärde bedeutete den Herrn im Civil, ihm nicht zu folgen; er schritt allein dem Ausgang des Hotels zu, wo er auf den Eintretenden stieß.

Dieser verbeugte sich respektvoll.

Einen Augenblick blieb der Offizier stehen, stolz aufgerichtet, ohne den Gruß zu erwidern, dann drehte er sich um und machte eine fast wegwerfende Handbewegung, als wolle er die beiden Herren, den Eintretenden und den, der ihn durch den Flur begleitet, an einander verweisen, und verließ das Haus.

Die Schildwachen präsentierten.

»Bei Gott, der Prinz!«

Der Kommissionsrat hatte, wenn auch undeutlich, die ganze Scene mit angesehen; er lachte jetzt still in sich hinein, als er sah, wie der kleine Herr den Eingetretenen in ein Parterre-Zimmer zur rechten Hand nötigte, das zum Bureau diente.

»Ich möchte wohl in diesem Augenblick ein Mäuschen sein,« sagte er, sich die Hände reibend, »die Unterhaltung muß recht angenehm werden!«

Damit ging er seines Weges.

Der Herr, der hier gleichsam den Wirt in Vertretung des Hausherrn oder seiner um den Kranken versammelten Familie spielte, hatte die Thür geöffnet; das Vorzimmer und das anstoßende Gemach, in das er den andern nötigte, waren von einer Astrallampe erleuchtet.

»Treten Sie näher, Herr Baron, es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie selbst noch so spät sich erkundigen, wie der arme Graf sich befindet. Leider bin ich außer stande, Ihnen gute Nachrichten zu geben, ich komme soeben von ihm, er liegt in wilden Fieberphantasieen.«

Wären der Präsident oder der Journalist zugegen gewesen, sie würden sicher die breite Stimme wieder erkannt haben, die sie vorhin zufällig hinter dem Boskett des Wilhelmsplatzes belauscht. Der Eingeladene erwiderte höflich die Komplimente. Er war noch ziemlich jung, hatte eine hohe schlanke Figur, blondes Haar und dünnen Backenbart, seine Gesichtszüge zeichneten etwas hohe Backenknochen aus, die auf östlichen Ursprung schließen ließen.

»Das bedauere ich von Herzen,« sagte er höflich, »der Kaiser mein Herr nimmt den größten Anteil daran. Ich habe den Befehl, täglich zweimal durch den Telegraphen Nachricht zu senden, und komme daher selbst, nachzufragen, da ein Gerücht diesen Abend mich besorgt gemacht hat. Es würde Seiner Majestät tiefen Schmerz bereiten, wenn Preußen einen so würdigen und biedern Staatsmann und er selbst einen geachteten und lieben Verwandten verlieren sollte.«

»Es wäre vielleicht besser,« sagte der Kleine trocken, »wenn man das etwas eher befürchtet hätte! – Aber ich bitte, Herr Baron, nehmen Sie einige Augenblicke Platz und lassen Sie mich die Gelegenheit benutzen, daß ich die Ehre habe. Sie hier zu treffen, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, die mir morgen einen offiziellen Besuch erspart.«

Der Baron verbeugte sich. »Ich stehe Euer Excellenz stets zu Befehl!«

Der andere wies auf den Diwan und nahm selbst einen Stuhl. Er hatte so geschickt manöveriert, daß er den Halbschatten für sich behielt.

»Seine Majestät haben geruht,« sagte er, »bis zum Eintreffen des Herrn Grafen von Bernstorff aus Wien, der durch den Telegraphen berufen ist, die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten meinen schwachen Kräften anzuvertrauen.«

Der Baron lächelte ziemlich geringschätzig. » Madame la Comtesse,« sagte er, »können Wien nicht verlassen, sie sind krank.«

»Ich spreche von dem Grafen, mein Herr!«

»Richtig! ich habe mich auch nur geirrt, der Graf ist krank, er wird sich schwerlich beeilen, und, offen gesagt, Euer Excellenz, halte ich es für glücklicher, wenn die Leitung der deutschen Frage in Ihren Händen bleibt. Ich schätze Ihre Herren Diplomaten von Herzen, aber der Herr Graf dürfte die hessische Angelegenheit vielleicht nicht ganz richtig auffassen, sonst hätte er es in Wien schwerlich so weit kommen lassen.«

Der andere schien es nicht der Mühe wert zu erachten, sich mit der Verteidigung des Diplomaten aufzuhalten, sondern verfolgte sogleich sein eignen Eröffnungen.

»Wenn ich auch in betreff Österreichs mit den Intentionen des Herrn von Radowitz von vorn herein nicht einverstanden war, so muß ich doch bemerken, daß man von jener Seite eine sehr zweideutige Rolle gegen uns gespielt hat. Das Bündnis von Bregenz und die Unterstützung der Schweiz durch das Wiener Kabinett, als wir von Baden aus die Exekution zur Wiedererlangung unsers Eigentums Neufchâtel beabsichtigten, hat uns bewiesen, welche Gesinnung man in Wien gegen Preußen hegt.«

Der Baron zuckte die Achseln. »Euer Excellenz konnten das nicht anders erwarten nach der Suprematie, welche Preußen durch die Aufgabe des Bundestags, den Versuch in Erfurt und neuerdings durch die Union und das Vorgehen in Kassel über die kleineren deutschen Staaten zu erreichen gesucht.«

»Das ist falsch, mein Herr, der König meint es ehrlich mit den deutschen Interessen, und es ist, gerade heraus gesagt, vielleicht sein größter Fehler, daß er niemand zu nahe treten will. Er hat das bewiesen bei der Ablehnung der deutschen Kaiserkrone, und es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß dies noch neuerdings geschehen ist.«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Herr von Meyendorf,« sagte der Minister scharf, »hat seine Polizei hier und in Wien viel zu gut eingerichtet, als daß Sie nicht wissen sollten, wie das Wiener Kabinett zur Verhütung der Ernennung des Herrn v. Radowitz hier nochmals die Teilung Deutschlands, und zwar diesmal ein Triplegeschäft, in Vorschlag gebracht hat.«

»Euer Excellenz setzen mich in Erstaunen!«

Dem Minister entschlüpfte eine unwillige Bewegung.

»Daß Österreich es aufrichtig mit Preußen meint und entschlossen ist, die heilige Allianz aufrecht zu erhalten,« fuhr der Diplomat fort, »das beweist die scharfe Ablehnung, die Herr von Prokesch vor kaum acht Tagen Herrn v. Persigny hat zu teil werden lassen, als dieser ihm die Zerstückelung Preußens vorgeschlagen, unter der Bedingung der Rheingrenze.«

Der Minister blickte den Redner aus seinem Schatten von der Seite an. »Ich halte das für keine große Kunst,« sagte er trocken, »nachdem Ihr Souverain zuerst das Projekt mit der Erwerbung von Polen, Preußen und Schlesien abgelehnt hatte. Indes muß ich doch bemerken, daß Preußen auch noch eine Stimme dabei gehabt hätte, und man des Bären Fell nicht gut verkaufen kann, ehe man ihn hat. Aber erlauben Sie mir, auf die Sache einzugehen. Die Regierung Seiner Majestät ist den österreichischen Anmaßungen und Wünschen in einer Weise entgegen gekommen, wie es sich kaum noch mit ihrer Ehre verträgt. Wir haben unsere Truppen aus Schleswig-Holstein zurückgezogen und sind bereit, die Pacifizierung den deutschen Bundestruppen zu überlassen. Wir sind ferner bereit, die Union fallen zu lassen und über die Wiederherstellung des Bundestags in freien Konferenzen zu unterhandeln, aber unsere Ehre gestattet uns nicht, uns auf solche Weise aus Hessen verdrängen zu lassen.«

Der Minister zog ein Papier aus der Tasche. »Diese Antwort des bayerischen Oberbefehlshabers an den Grafen Groeben, in der er erklärt, unsere Truppen mit Gewalt vertreiben zu wollen, ist eine Unverschämtheit und stützt sich allein auf die Instruktionen des Grafen Rechberg. Wir haben unsere möglichste Bereitwilligkeit zum Nachgeben und zu einer freundlichen Ausgleichung bewiesen, aber man will uns die Schmach einer Demütigung anthun, weil wir die Idee eines einheitlichen Deutschlands auf ehrliche Weise auszuführen versucht haben. Hiermit hört die deutsche Frage auf und die der preußischen Ehre tritt in den Vordergrund. Ich muß Ihnen daher im Auftrage Seiner Majestät Kenntnis davon geben, daß morgen im Ministerrat die Mobilmachung der preußischen Armee beschlossen werden wird.«

Es erfolgte eine Pause auf diese Ankündigung, dann erhob sich der fremde Diplomat.

»Ich bedaure, Euer Excellenz wiederholen zu müssen, daß im Fall eines Krieges zwischen deutschen Bundesstaaten der Kaiser, mein Herr, fest entschlossen ist, hunderttausend Mann einrücken zu lassen.«

»Gegen wen?«

»Gegen den, der den Frieden gebrochen!«

»Und wer giebt Ihnen das Recht dazu, sich in die innern deutschen Angelegenheiten zu mischen?«

»Die heilige Allianz. Das Kabinett Seiner Majestät des Kaisers kennt nur deutsche Fürsten, seine Verbündeten, nicht ein Deutschland.«

Auch der Minister hatte sich erhoben; die kleine, für gewöhnlich jeder äußeren Repräsentation so unzugängliche Gestalt richtete sich fest und sicher empor, der ungewisse, apathische Blick hinter den Gläsern der Brille nahm eine Würde an, wie sie nur das empörte Gefühl und aufrichtiger, wahrer Patriotismus verleihen kann, und in den schlaffen Falten des Gesichts drückte sich Kraft und Entschlossenheit aus.

»Die preußische Armee wird mobil gemacht werden!« sagte er fest; »der Beschluß ist gefaßt und muß ausgeführt werden, schon um anderer Zwecke willen. Wenn Preußen sich dann vor Gegnern zurückziehen muß, denen es sehr wohl die Spitze bieten könnte, so wird Europa wenigstens sehen, daß es nicht aus Furcht vor diesen geschehen ist, sondern weil wir wissen, daß wir in diesem Augenblick nicht zugleich mit Rußland den Kampf beginnen können. Aber, mein Herr Baron, ich hoffe, es wird eine Zeit kommen, wo Preußen an der Spitze von Deutschland jede fremde Einmischung ob von Westen oder Osten, mit Erfolg zurückweisen kann. Bis dahin wird auch das große Rußland vielleicht die Erfahrung gemacht haben, wie sehr man sich auf österreichische Dankbarkeit verlassen kann; und wenn mich nicht alles trügt, wird ebenso die Zeit kommen, wo das kluge Österreich mit sehnsüchtigem Auge nach preußischer Hilfe ausschauen wird. Dann, Herr Baron, wird man in Peterburg wie in Wien vergebens den Tag von Warschau bedauern! Uns kostet er einen Ehrenmann; was er Rußland und Österreich kosten wird, liegt im Schoße der Zukunft!«

Er verbeugte sich höflich und begleitete den Diplomaten zur Thür.


Der Kommissionsrat war nach dem kurzen Verweilen an der Thür des Staatsministeriums eilig nach seiner Wohnung gegangen.

Der alte Diener, den wir bereits aus früheren Scenen kennen, erwartete ihn an der Thür.

»Ist jemand da?«

»Die Frau Gräfin! Sie hat bereits dreimal gefragt, ob Sie noch nicht zurückgekehrt. Ich habe sie in den Salon geführt, indem ich sagte, daß Sie den Schlüssel zum Kabinett mitgenommen.«

»Dann vorsichtig, daß sie mich nicht hört, ehe Du mir Rapport abgestattet. Ich bin wirklich froh, daß sie nicht mehr im Hause wohnt!«

Der Diener öffnete leise die Thür des Arbeitskabinetts des Kommissionsrats. Die Lampen waren bereits angezündet, das Zimmer war behaglich erwärmt, und die dicken Teppiche dämpften jedes Geräusch.

»War jemand hier?«

»Zwei Personen. Der Sekretär aus dem Ministerium, der Große, Hagere. Er kam zweimal und schien es sehr dringend zu haben.«

»Bah, er kommt zu spät mit der Nachricht, ich kenne sie bereits. Und der andere?«

»Ein Fremder. Er kommt von Hamburg; der Name, den er mir sagte, klang polnisch.«

»Du hast ihn nicht behalten?«

»Doch! ich habe ihn aufgeschrieben.« Er reichte dem Rat den Zettel.

»Zum Henker! das thut mir leid, daß ich ihn verfehlt. Wird er wiederkommen?«

»Er ist mit dem Nachtzug nach Warschau abgereist und hat mich nur beauftragt, Ihnen zu sagen, daß in Irland und Liverpool die Sachen gut ständen. Der Sieg sei gewiß. Vier Briefe sind eingegangen.«

Er wies nach dem zierlich gestickten Korb an der Wand. Der Kommissionsrat nahm sie und betrachtete die Aufschriften und Siegel.

»Wer hat sie gebracht?«

Zwei sind vor einer halben Stunde von einem Diener aus dem französischen Gesandtschaftshotel gebracht worden, einen brachte die Stadtpost, den vierten gab ein Knabe ab.«

»Bleib' in der Nähe, für den Fall, daß ich Dir vielleicht noch einen Auftrag zu erteilen habe.«

Er hatte sich an sein Bureau gesetzt und begann die Briefe zu erbrechen, nachdem er sich sorgfältig überzeugt hatte, daß keine Verletzung der Siegel stattgefunden.

»Aus Paris!« murmelte er, »es ist also richtig, der Agent des Herrn von Manteuffel ist kein Dummkopf, und er war wirklich dort. Sehen wir, was die Marquise schreibt.« Er las. »Also zwanzig Millionen Franken. Der reichste Grundbesitzer Montevideos! Der Oberst ist am 19. in Paris mit seiner Tochter angekommen und bereits zweimal im Elysee gewesen. Sennora Carmen etwas eigensinniger Natur und scheint nicht besondere Neigung für den Grafen zu verraten … vielleicht wäre es besser, das Projekt der Kammerherrin zu kreuzen, ihren Neffen der Gesandtschaft in Paris zu attachieren! Aber er ist zu unbedeutend und wird sich desto rascher ruinieren!«

Er hatte den zweiten Brief geöffnet; dieser schien ihn sehr zu interessieren, denn er las ihn aufmerksam zweimal, ehe er ihn sorgfältig zusammenlegte und in ein geheimes Fach des Sekretärs verschloß.

»Wahrhaftig! der Plan ist nicht übel, und die Spanierin will hoch hinaus. Die Mutter ist eine Intriguantin, aber die schöne Eugenie ein Charakter und der Kirche treu ergeben, wie ihre Schwester, die Alba! Wenn wir ihr beistehen, werden wir uns jede Einwirkung bewahren, während das Beispiel Marie Luisens zeigt, daß es nicht immer die Prinzessinnen sind, denen die Männer gehorchen. Laßt sehen!« Er nahm den Gothaer Almanach und blätterte darin. »Die Pläne am sächsischen Hofe zu durchkreuzen, wird leicht sein, in Petersburg hat er ohnehin keine Aussicht, dazu kennen wir Kaiser Nikolaus zu gut, und der Korb wird in seinem Groll unsere Zwecke fördern. Prinzessin Elisabeth ist dem Österreicher bestimmt, die Italienerinnen kommen nicht in Betracht! Bei dem Herzen des heiligen Ignatius! ein Plan aus Weiberkopf ist oft schlauer als was das Hirn des klügsten Jesuiten ersann!«

Er hatte den dritten Brief geöffnet. Die kleinen listigen Augen in dem wohlgenährten Gesicht funkelten. »Fünfundzwanzigtausend Thaler in Wechseln auf Bleichröder; die Spekulation ist also gelungen, und die Papiere werden morgen um 2 Prozent fallen. Das ersetzt den Verlust der Lieferung, obschon wir uns die Revanche an dem Tölpel von Geheimen Rat vorbehalten. Ei, ei, was bedeutet das? er ist von dem Mädchen, das ich im Interesse der Gräfin bei ihrer Nichte, der kleinen Fürstin mit dem Marmorgesicht in Dienst gebracht. Wahrhaftig, für unsere katholischen Schulen hier in Berlin muß etwas gethan werden; die Gründung eines Ursuliner-Klosters ist notwendig. Das Gekritzel der Dirne ist kaum zu lesen.«

Das war es in der That, erst nach einiger Mühe fand er aus der klassischen Orthographie und Stilistik den Sinn heraus.

»Ein Mann seit acht Tagen heimlich in einem Zimmer unmittelbar neben dem der Fürstin verborgen? Nur die Maitresse des Fürsten und der Kosak wissen um ihn?« Bah, die Launen dieser russischen Nabobs sind oft seltsam! ich habe mehr zu thun, als mich um schmutzige Liebschaften zu kümmern, und werde der Gräfin den Brief geben. Jetzt zur österreichischen Sache! sie wird bereits ungeduldig sein.«

Er schellte dem Diener. »Benachrichtige die Gräfin, daß ich da bin, und führe sie hierher.«

Einige Augenblicke später – er hatte selbst die Seitenthür geöffnet, die nach den andern Zimmern führte, nachdem er seine Korrespondenzen beiseite gebracht – rauschte die Dame herein. Sie hatte einen schottischen Mantel umgeworfen und sich eine Cigarre angezündet, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben.

» Pardioux! Sie haben magnifique Condaflores, Rätchen,« sagte sie, sich auf die Bergère werfend. »Sie müssen mir tausend Stück davon schicken und können es auf unsere Abrechnung schreiben. Zum Henker, ich habe fast eine Stunde auf Sie gewartet, und hätte ich das Album mit den Kupferstichen nicht gefunden, ich hätte aus Langerweile irgend eine Tollheit begangen, etwa Ihre Schubfächer visitiert oder Ihrem Papagei den Hals umgedreht.«

»Meine Schubfächer haben gute Schlösser,« sagte der Kommissionsrat lachend, »und mein Papagei kratzt und beißt. Ich habe ihn von Herrn von Rotschild zum Geschenk erhalten, dem er zu bösartig und zu offenherzig war.«

»Wie so? Das Papchen spricht allerliebst, man kann sich förmlich mit ihm unterhalten!«

»So meinte Herr von Rothschild auch, als er ihn in Paris bei dem Vogelhändler an der Madeleine sah und kaufte ihn darum für 20 Louisdor. Da aber die Tiere bekanntlich durch den Transport auf den Bahnen für längere Zeit sehr eingeschüchtert werden, ließ er einen Handwerksburschen ermitteln, der nach Frankfurt heimwanderte und übergab diesem gegen eine sehr kleine Vergütung den Vogel zum Transport. Der Mann traf an einem Abend in Frankfurt ein, an dem der Baron gerade große Gesellschaft hatte, und dieser ließ dem Träger einen Gulden Extra-Trinkgeld zahlen und den Vogel in den Salon bringen. Die ganze Gesellschaft sammelte sich um das Wundertier, das in einen bereitgehaltenen prächtigen Käfig gesetzt wurde, vor dem der Hausherr jetzt ein Stück Zucker als Belohnung in der Hand in seinem berühmten Französisch frug: Qui est ton maître? Sie können sich denken, welches homerische Gelächter erscholl, als der Vogel infolge der täglichen Instruktion, die er unterwegs erhalten hatte, in gutem Frankfurter Deutsch schrie: »Schäbiger Jud! schäbiger Jud!«

Die Gräfin lachte. »Eine hübsche Lektion für diese orientalische Geldaristokratie! Die Anekdote ist allerliebst, ich werde sie kolportieren!«

»Aber nicht auf mein Konto, denn ich stehe mit Herrn Anselm vortrefflich.« Er hatte ihr galant eine andere Cigarre präsentiert und reichte ihr die Wachskerze, um sie nicht in der höchst ungenierten Stellung, wie sie das Bein auf die Lehne stemmte, zu stören. »Sie können dann gleich eine zweite mit in den Kauf nehmen.«

»Bitte, Rätchen, lassen Sie hören. Sie erzählen so hübsch Anekdoten, namentlich die schlüpfrigen. Ihre letzte, von der jungen Assessorin, die sich für die Brautnacht ätherisieren ließ, hat Furore gemacht.«

Der Rat kannte die schwache oder vielmehr starke Seite der Dame und warf geschwind die Anekdote von einem silbernen Löffel ein, den ein Jugendfreund beim Besuch eines katholischen Landpfarrers in dessen Bett versteckt hatte, und nach dessen Verbleib der würdige Pfarrer auf Betrieb seiner hübschen Nichte nach vierzehn Tagen noch bei dem Schalk von Universitätsfreund nachfrug. »Aber die andere Anekdote, Rätchen,« beharrte die Gräfin, die sich ein Glas Burgunder eingeschenkt. »Lassen Sie hören!«

»Nein, zunächst zu unseren dringenderen Fragen! Sie waren bei der Kammerherrin?«

»Drei volle Stunden!«

»Und Sie haben erfahren?«

»Alles was ich wissen wollte aus dem Kabinett des Königs. Wenn auch nicht direkt, so doch auf Umwegen!«

»Ich kenne Ihre große Gewandtheit, meine Gnädigste. Ist es erlaubt, Sie um die Resultate zu fragen?«

»Warum nicht! wir gehen ja Hand in Hand. Der Coup mit der untergeschobenen Proklamation des Grafen v. d. Gröben wäre ohne Ihre Hilfe nicht möglich gewesen.«

Der Kommissionsrat lachte. »Es ist wahr,« sagte er, »die Sache hat die Regierung arg kompromittiert und vollständig in eine schiefe Lage gedrängt.«

»Die Mobilmachung ist beschlossen!«

»Ich weiß es bereits. Aber ebenso das Nachgeben! Zu was also der Lärm?«

»Es ist eine erzwungene Konzession an den Prinzen. Es soll zu einem sehr heftigen Auftritt mit Herrn von Manteuffel gekommen sein, man spricht von einem zerbrochenen Stuhl.«

»Der König soll sich nur schwer zur Unterzeichnung entschließen. Es wäre sehr zu wünschen, er thäte es nicht.«

»Warum? gerade die Mobilmachung wird die Demütigung Preußens und den Sieg Österreichs in den deutschen Angelegenheiten erst recht eklatant machen! Sie wissen, daß wenn Österreich in diesem Augenblick mit seinen Verbündeten Ernst machen will, selbst ohne russische Hilfe, wir in vierzehn Tagen von Berlin aus unsere Bedingungen diktieren können.«

Der Rat schüttelte den Kopf. »Diese erzwungene Mobilmachung ist ein Bruch der österreichischen Obergewalt in Deutschland, man hätte es nicht so weit kommen lassen sollen!«

»Wieso? ich verstehe das nicht!«

»Es ist freilich zu spät, es zu ändern und das Wiener Kabinett scheint entschlossen, mit dieser Demütigung Preußens auf Grund der begangenen Fehler seine Scharten von achtundvierzig auszumerzen. Schwarzenberg und Rechberg sind darin einig. Aber hören Sie mich an, und Sie werden mir Recht geben.«

»Ich bin begierig!«

»Die preußische Armee ist in diesem Augenblick nur noch durch den Ruf gefährlich. Der lange Frieden hat sie, wenn auch nicht demoralisiert, doch zum Schlendrian des Gamaschendienstes heruntergebracht. Die Episoden in Schleswig-Holstein und Baden waren zu unbedeutend, um zu zeigen, daß es dem ›herrlichen Kriegsheer‹ an sehr vielem gebricht, und daß gar vieles auf dem Papier steht, was in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist.«

»Desto besser für uns!«

» Nicht desto besser für uns! Der Prinz ist ein tüchtiger, ein wirklicher Soldat, in Wahrheit der erste der Armee und er kennt sie zehnfach besser, als sein königlicher Bruder. Ich weiß ganz bestimmt, daß er schon bei Lebzeiten seines Vaters und dann wiederholt seinem Bruder ein umfassendes Projekt über die Reorganisation der Armee vorgelegt hat, das diese wieder auf einen den kriegsgewohnten Heeren der andern europäischen Mächte entsprechenden Standpunkt bringen soll. Er kennt die jetzigen Mängel und Schwächen ganz genau, und deshalb dringt er auf die Mobilmachung, weil diese unbedingt die Schwerfälligkeit und das Gefährliche des jetzigen Systems und alle die vorhandenen Mängel in der Ausrüstung ergeben muß, so daß man nicht mehr wird zögern können, Hand an die Besserung zu legen. Daß das preußische Volk an und für sich von einem tapfern militärischen Geist beseelt ist, werden auch seine Feinde nicht leugnen; durch die von Österreich erzwungene Mobilmachung aber wird seine Armee, mag man auch zuerst über die offenbar gewordenen Mängel spotten, eine um so gefährlichere; deshalb suchen Rußland und Frankreich diese Mobilmachung zu hintertreiben, während Österreich sie thörichter Weise erzwingt.«

»Ich hätte in der That nicht so viel militärisches Genie hinter Ihnen gesucht,« sagte die Gräfin spöttisch.

»Überdies« … er beachtete ihren Hohn nicht.

»Nun?«

»Die Demütigung, die Österreich Preußen in Hessen und bei den bevorstehenden Versammlungen – kennen Sie bereits den Ort?«

»Olmütz oder Dresden!«

»Also in Hessen und Olmütz bereiten mag, wird man zwar auf die Schultern des Herrn von Manteuffel laden, der eben nur dem Verstand und der Notwendigkeit folgt, aber in der Nation selbst wird eine tiefe Erbitterung, ein neues Mißtrauen gegen Österreich zurückbleiben, und das, Madame, wird uns für die Folge sehr hinderlich sein!«

»Bah!« sagte sie leichtfertig, »was kümmert uns die Zukunft! die preußischen Fehler werden uns nie fehlen, wir haben Diplomaten, und Preußen hat deren nie gehabt, Fürst Schwarzenberg ist der Mann, mit Berlin wie mit Petersburg umzuspringen. Die Art, wie der Graf Brandenburg in Warschau behandelt hat, ist großartig.«

»Die Russen müssen blind gewesen sein, nicht zu merken, was ihrer selbst wartet.«

»Unsere Dankbarkeit wird die Welt noch einmal in Erstaunen setzen,« sagte die Dame, den berüchtigten Ausspruch des österreichischen Premiers parodierend. »Preußen mag jetzt büßen, daß es dem Teilungsplan widerstrebt hat. Die einzig richtige Politik ist, zu nehmen, was man bekommen kann, und das bringt mir in Erinnerung, daß ich dringend Geld brauche.«

»Ich habe Ihnen die Anweisung am Ersten ausgezahlt.«

»Bah! Als ob eine Dame von Stand nicht Extra-Ausgaben hätte. Ich muß zu morgen tausend Thaler haben, sonst …«

»Sonst?«

»Nun, sonst bekommt der Fürst von Thurn und Taxis nicht die Abschrift der Instruktion, die morgen an den Grafen abgehen wird.«

»Wie? Sie sind in deren Besitz? wie haben Sie dieselbe erlangt?«

»Erst die tausend Thaler!«

Der Agent öffnete sein Pult und nahm zehn Banknoten heraus.

»Quittieren Sie!«

»Mit Vergnügen! und hier ist die Abschrift. Der Fürst wird sehen, daß er ohne Gefahr für unsere lieben Bayern vorrücken kann auf Fulda und Kassel. Man wird mit Parlamentieren und unter dem Vorwand gefährdeter militärischer Stellungen sich zurückziehen und es in keinem Fall zum ernsten Schlagen kommen lassen.«

»Diese Gewißheit ist für den Fürsten von größter Wichtigkeit, die Nachricht muß mit dem ersten Zug nach Hünfeld mitgeteilt werden, wo augenblicklich das Hauptquartier ist.«

»Ziska ist bereit, er kann morgen mit dem Frühzug abreisen.«

»Natürlich über Weimar und Gotha. Ich werde die Depesche fertig machen und Abschrift für Wien nehmen. Haben Sie sonst Nachrichten?«

»Die Kammern sollen zum 21. einberufen werden.«

Der Kommissionsrat zuckte die Achseln.

»Für den Fall der Mobilmachung bereitet die konservative Partei den Aufruf zu einer National-Anleihe vor. Er wird am Tage nach der Erklärung von der Kreuzzeitung ausgehen.«

»Schau! wie verschwiegen diese Herren Journalisten sind, ich werde es mir merken. Die Sache ist wichtiger, als die Kammern; denn trotz der Märztage lebt in diesem Volke noch ein solcher Patriotismus, ein solcher Zusammenhang, daß das Ergebnis einer solchen Nationalanleihe ein bedeutendes sein muß. Selbst für die anti-österreichische Stimmung ist die Sache von Bedeutung; denn wenn die Leute dabei noch Geld im Spiel haben, steigt die Antipathie und dies Schauspiel wird antiösterreichisch wirken, weil dort die Finanzen sehr schlecht stehen, und das Silber eine Seltenheit ist!«

Für uns hat es noch nie an barem Gelde gefehlt; die Canaille mag sehen, wie sie sich arrangiert. A propos! wie geht es dem Kleinen?«

»Wem?«

» Baszom a lelkedet! Meinem Pflegekinde, das Sie mir so bald wieder fortgenommen?«

»Was kümmert es Sie?«

»Man muß sich um alles kümmern, was vorkommt, und von der Idee, daß das Ding eine Frucht Ihrer petits amusements gewesen ist, bin ich so ziemlich zurückgekommen. Warum haben Sie es mir eigentlich schon am nächsten Tage gleichfalls bei Nacht und Nebel wieder fortgeholt? Ich liebe die Schoßhündchen.«

»Eben deshalb!«

»Glauben Sie denn, daß ich so einfältig gewesen bin, nicht weitere Erkundigungen einzuziehen? Das Interesse an der Diebsbande, die man in jener Nacht bei einem Einbruch in ein Haus, nicht weit von dem Ort, wo ich Sie traf, beim Kragen nahm, absorbierte freilich alles andere. Einige Tage darauf hörte man aber, daß ein Kind verunglückt sei in demselben Haus, von dessen Bewohnern man sich überhaupt seltsame Dinge erzählt. Das auffallendste war mir, daß selbst meine würdige Freundin, die Kammerherrin, für die sonst die Populace gar nicht existiert, an dem Tode des Haltekindes besondern Teil zu nehmen schien. Sagen Sie mir doch, liebes Rätchen …«

Der Kommissionsrat unterbrach sie. »Einen Augenblick, Frau Gräfin!« Er trat an sein Bureau, schloß ein Fach auf und nahm ein kleines Paket heraus. Dasselbe enthielt ein beschriebenes Blatt und drei kleine, in Form der Pulverdüten der Apotheker zusammengefaltete Papiere.

Der Rat öffnete eins derselben. »Wissen Sie vielleicht, was das hier sein mag?« fragte er ruhig.

»Ja, wie soll ich das sagen? Wahrscheinlich ein Brausepulver!« …

»Es hat allerdings eine niederschlagende Wirkung, jedenfalls auf unnütze Neugier! Diese Pulver – Sie wissen, daß ich ein Sammler von merkwürdigen Dingen bin – hat eine etwas lebenslustige Dame vor Zeiten sehr unvorsichtiger Weise dem Jäger ihres Gemahls, mit dem sie ein kleines Verhältnis hatte, gegeben, um sie bei Gelegenheit in den Kaffee oder die Schokolade seines Herrn zu mischen. Ich bin überzeugt, daß sie eben nur ein kleines Stärkungsmittel, vielleicht abstringierender Natur sind, um die Liebe des lauen Eheherrn aufzufrischen. Es ist eine Vermutung, denn die Pulver sind wirklich ohne allen Geruch und Geschmack und hinterlassen keinerlei Spur.«

Die Gräfin war sehr unruhig geworden bei der kurzen, gleichgültigen Erzählung des Rats; eine fliegende Röte wechselte mehrmals auf ihrem Gesicht.

»Wahrscheinlich ist es so,« sagte sie endlich. »Aber was hat das mit unserm Gespräch zu thun?«

»O, nichts! Es fiel mir nur gerade so ein als Merkwürdigkeit. Freilich gewinnen die drei Pulver erst durch das beiliegende Papier Bedeutung.«

»Wie so?« ihr Gesicht war sehr bleich.

»Es enthält die von dem Geistlichen auf sein Verlangen aufgesetzte Beichte des seitdem verstorbenen Jägers, von ihm selbst unterschrieben, in welcher er jenen Auftrag erwähnt mit allen Daten und Namen, und erklärt, daß sein Gewissen es nicht zugelassen habe, diesen Auftrag zu erfüllen. Er habe seine vornehme Geliebte daher getäuscht.«

Die Gräfin murmelte etwas zwischen den Zähnen, was wie »der Elende!« klang.

»Sagten Sie etwas?«

»Ich? Nein! Dars man die Namen in Ihrem interessanten Manuskript vielleicht lesen?«

»Die Unterschrift? Sehr gern! Aber den Namen der Dame und ihres Gemahl Ihnen zu zeigen, erlaubt meine Diskretion nicht!«

»Geben Sie her!«

Er zeigte ihr das zusammengefaltete Papier, doch so, daß eben nur die Unterschrift des Verstorbenen zu erkennen war.

Die Gräfin warf einen kurzen Blick darauf. Sie hatte die Lippen fest zusammengeklemmt und suchte mit Aufbietung aller Kraft die äußere Ruhe zu behaupten.

»Es ist gut!«

Der Rat schlug das Papier sorgfältig wieder zusammen und verschloß es in den Sekretär. »Und nun, liebe Freundin, lassen Sie uns weiter plaudern. Sie fragten, wenn ich mich recht erinnere, nach dem Kinde, das Sie damals so freundlich waren, vierundzwanzig Stunden bei sich zu pflegen?« …

»Daß ich nicht wüßte! die ganze Sache geht mich überhaupt nichts an, ich habe genug zu thun mit meinen eigenen Angelegenheiten!«

»Ich glaube das selbst,« sagte der Kommissionsrat trocken. »In dieser Beziehung – haben Sie kürzlich Ihre schöne Verwandte, die Fürstin Trubetzkoi, gesehen?«

»Wir kommen nur selten zusammen. Sie wissen ja, daß sie sich von aller Welt zurückzieht. Auch will der Fürst, nachdem hier die Ankäufe, die er für den Kaiser gemacht, beendet sind, schon im Dezember nach Paris oder nach dem Süden gehen.«

»Ist der Fürst eifersüchtig?«

Die Gräfin lachte ausgelassen, sie hatte sich von dem Intermezzo von vorhin vollkommen erholt. »Eifersüchtig, auf wen? auf die Nonne?«

»Es würde auch nicht mit dem, was man mir erzählt hat, harmonieren.«

»Darf man das wissen?«

»Warum nicht? Seit acht Tagen verweilt ein Mann heimlich in der Wohnung des Fürsten, ohne daß die Hausgenossen ihn zu sehen bekommen. Er ist in dem Zimmer neben dem Schlafgemach der Fürstin eingeschlossen, und nur der Kosak oder das Mädchen, das eine so zweideutige Stellung in dem Reisehaushalt des Fürsten einnimmt, verkehren mit ihm.«

»Das ist allerdings eigentümlich!« Die Gräfin sann einige Augenblicke nach. »Lazare hat mir höchst pikante Dinge erzählt von dieser Heirat, als er mich im vorigen Jahre hier besuchte, ehe er nach Paris und London geschickt wurde. Wenn nicht die Maitresse des Fürsten und sein Leibkosak darum wüßten, würde ich wirklich glauben, die ungarische Vestalin, meine werte Nichte, wäre ein trübes Wässerchen und setzte ihrem gestrengen Herrn und Gebieter die wohlverdienten Hörner auf.«

»Der Ruf der Fürstin ist fleckenlos,« sagte der Rat. »Um so mehr wundert man sich, daß sie ein so zweideutiges Geschöpf wie jenes wilde Mädchen um sich duldet, das die Maitresse des Fürsten vor seiner Verheiratung gewesen, ja noch immer sein soll. Man sagt sogar, daß sie sehr vertraut mit ihr umgeht!«

» Ebbadta! die Tugendheldin ist immer ein Original gewesen. Lazare wollte nicht mit der Sprache heraus, ich glaube aber sicher, daß er den Schlüssel dazu hat. Vielleicht ist es irgend eine politische Persönlichkeit, ein Kompromittierter, den der Fürst dort versteckt hält. Aber ich will es schon herausspionieren; morgen oder vielmehr heute, denn es ist über Mitternacht, werde ich einen Besuch im Hotel machen.«

Der Kommissionsrat dachte über die hingeworfene Äußerung der Gräfin nach. »Es ist nicht unwahrscheinlich. Ich will Ihnen sogar sagen, daß man in Petersburg seit dieser ungarischen Heirat den Fürsten mit einigem Mißtrauen betrachtet. Man glaubt, daß er sich der Partei des jungen Rußland zuneige. Jedenfalls sind seit jener Zeit auffallende Einflüsse bei ihm bemerkbar geworden.«

Die Gräfin lachte. »Er ist der ärgste Autokrat, den ich mir denken kann.«

»Gerade solche Charaktere schlagen oft in das Gegenteil um.« Die Sache mit dem Unbekannten ist zwar nicht von Wichtigkeit, aber es ist doch gut, Kenntnis davon zu haben. Ich verlasse mich auf Ihr Talent, Sie haben es glänzend bewiesen mit der geheimen Instruktion an den General.«

»Meinen Sie?«

»Es ist ein Meisterstück! Wie zum Henker sind Sie in den Besitz der Abschrift gekommen?«

»So fragt man dem Bauer die Künste ab. Aber Scherz beiseite! die Vertrauten seiner Majestät des Königs von Preußen sollten etwas weniger Vertrauen in ihre Bedienten setzen, die Sache kann einmal sehr unangenehm werden! Doch nun Adieu! mein Tagewerk ist gethan, und Sie haben noch zu thun. Um wie viel Uhr soll ich bei Ihnen sein, um die Briefe abzuholen?«

»Sie wollen sich selbst bemühen? das wäre zu viel, denn es wird ziemlich spät werden. Schicken Sie Ziska um sechs Uhr früh zu mir, der Zug geht um sieben Uhr ab.«

» Par Dieu! Glauben Sie denn, daß ich Lust habe, jetzt schon nach Hause zu gehen? Ich muß eine kleine Erholung haben auf meine Mühe und meinen Ärger, besonders, da ich tausend Thaler in der Tasche habe. Wenn ich am Morgen nach Hause komme, ist es Zeit, den Burschen zu wecken, und ich bringe ihn selbst hierher. Der Vormittag ist zum Schlafen.«

Sie hatte sich eine frische Cigarre angezündet und hüllte sich in ihren Mantel. Der Rat machte nicht Miene, sie länger aufzuhalten.

»Wenn Sie wollen, so thun Sie es! Mein Diener wird auf Sie warten, und Sie können den Jäger unterwegs instruieren, das erspart uns die Zeit. Viel Vergnügen, Gräfin, und seien Sie hübsch vorsichtig. Sie wissen, daß wenn Ihr Treiben herauskäme, Ihre ganze Stellung unhaltbar wäre!«

»Bah – ich kümmere mich so viel darum!« – An der Thür drehte sie sich nochmals um und kehrte zu dem Rat zurück, der sich bereits zum Schreiben niedergesetzt hatte. Sie reichte ihm die Hand.

»Wir sind Freunde,« sagte sie, »und Freunde achten ihre kleinen Geheimnisse, nicht, Rätchen?«

»Bewahren Sie diesen Grundsatz. Von meiner Seite wird er nicht gebrochen werden!«

»Ihr Wort?«

»Mein Wort darauf!«

Sie trat zum Tisch, nahm ihm die Feder aus der Hand und schrieb mit einem raschen Zug auf das Papier einige Buchstaben.

Sie lauteten:

I. H. S.

Sie warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und verließ, ohne ein Wort hinzuzufügen, das Zimmer.

Der Kommissionsrat betrachtete mit ärgerlicher Miene das Zeichen.

»Sie ist ein Satan und hat mich erraten! Aber sie ist in meinen Händen, und das genügt!«

Er nahm einen anderen Bogen und begann seine Arbeit.


Ein süßer, die Sinne angenehm aufregender Ambraduft füllte das Gemach; in der Mitte desselben stand ein breites Bett, von gewaltigen Gardinen umflossen, auf diesem von seidenen Kissen gebildeten Lager ruhten zwei Gestalten, Arm in Arm verschlungen, Herz an Herz, ein Mann und eine Frau, beide jung, beide schön, beide in seltsamer Übereinstimmung der Seelen mit tiefem Gram im Herzen, der sich auf ihren Zügen ausprägte.

Aber diese Züge vermochte in diesem Augenblick niemand zu prüfen, denn das ganze, so reich und kostbar drapierte Gemach war in das absoluteste Dunkel gehüllt.

Der Mann, der auf dem Lager ruhte, schlief. Sein Kopf war auf den Busen seiner nächtlichen Gefährtin gesunken und hatte dort ein süßes Lager für seine Träume gefunden.

Die Frau schlief nicht! Sie hatte den einen Arm auf die Kissen und den Kopf in die Hand gestützt, während die andere auf dem Schläfer an ihrer Brust ruhte.

So lag sie wohl schon eine Stunde lang in tiefen Gedanken.

Der Mann bewegte sich, ein leichter Seufzer kam über seine Lippen, dann ein Name, zweimal mit besonderem Ausdruck wiederholt.

Der Name klang so seltsam, er erinnerte an die Tiroler Berge, an die frische Natursprache des kräftigen Volks.

»Nandl! Nandl!«

Die Frau an der Seite des Schläfers lächelte traurig! War es ihr eigener Name? Fühlte er im Traum das süße Liebesglück weiter, das er soeben an ihrem Herzen genossen, kam ihr Name unwillkürlich von seinen Lippen voll Liebe und Dank?

Nein! es war nicht der Name der Frau an seiner Seite!

»Der Arme!« flüsterte sie leise vor sich hin. »Der Name stammt nicht aus seiner Heimat, wer weiß, wo er ihm auf seinem Wege begegnet ist, denn es ist nicht das erste Mal, daß ich ihn in seinen Träumen höre, und er muß seinem Herzen teuer sein.«

Wiederum versank sie in tiefes Sinnen. »Und warum sollte nicht auch in der Brust der Niedrigsten die Liebe wohnen?« sagte sie nach einer Pause. »Und wie schwerwird dann die Erinnerung dieser Nächte auf seiner Seele lasten. Ist er doch überhaupt so anders, als ich dachte; jedes Wort, das er zu mir sprach, verrät eine Bildung weit über seinen Stand, und dennoch mochte ich nicht um sein Geheimnis fragen, denn es hätte ihm ein Recht gegeben an das unsere! Es ist Zeit, daß dieses herzlose Spiel ein Ende nimmt, ich fühle, daß ich mich zu stark und zu kalt geglaubt! Eine Frau kann niemals gleichgültig sein gegen den Vater ihres Kindes!«

Sie machte eine Bewegung, der Schläfer erwachte. Er griff mit der Hand um sich und fühlte die warme wonnige Gestalt.

»Sie ist da,« murmelte er, »es ist kein Traum!«

»Sie haben Recht,« sagte sie, »es ist kein Traum, ich bin in Ihrer Nähe. Thut Ihnen das so sehr leid?«

Der Schläfer hatte sich ermuntert, seine Hand hatte die ihre gesucht und gefunden. »Wer Sie auch sein mögen,« sagte er traurig, »ich habe Sie ja nie gesehen und weiß kaum durch den frischen Odem Ihres Mundes, durch die süße Form dieser Glieder, daß Sie jung sein müssen, wie ich. Aber ich kann Ihnen nicht zürnen, so seltsam auch alles ist, was mir begegnet, und so sonderbar es auch sein mag, wie ich mich in diesem Zimmer wiederfand, nachdem ich mit jenem Mann gesprochen, ohne daß ich weiß, wie ich hierher gekommen! – Diese einsame Haft! – diese Nächte …

»Bedauern Sie dieselben?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich weiß nicht, wie mir geschieht. Sie waren so freundlich und gütig gegen mich, wenn ich Sie plötzlich an meiner Seite fand im Dunkel der Nacht; ich müßte ein Undankbarer sein, und dennoch bin ich unglücklich! Ich habe den Glauben an meine Kraft und an meine Buße verloren.«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Es ist gut, daß Sie es nicht thun! Sie würden dem Ausgestoßenen, der durch die Welt irrt, die Teilnahme entziehen, die Sie ihm so unbegreiflicher Weise gewidmet haben.«

»Sie sind nicht, was Sie scheinen.«

»Ich bin der Sohn eines verlorenen Stammes, der in seiner Heimat nicht einmal das Recht hat, sich Mensch zu nennen. Tôt nem ember! ein Bettler, schlechter als der ärmste dieses Landes, nichts weiter, ich schwöre es Ihnen!«

»Bewahren Sie Ihr Geheimnis, so gut wie ich das meine. Dies ist das erste Mal, daß wir so viele Worte gewechselt, wahrscheinlich ist es auch das letzte Mal!«

»Wie? ich werde Sie nicht mehr sehen? oder vielmehr hören und finden?«

»Sie sind frei! und die Heiligen mögen mir vergeben, was ich gethan. Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?«

»Ich? Ihnen?«

»Ich weiß, daß Sie an einem Finger Ihrer linken Hand einen kleinen silbernen Ring tragen. Geben Sie ihn mir!«

»Es ist das einzige Andenken an eine tote Schwester.«

»Es wird das Andenken dem lebendigen Kinde sein!«

»Dem Kinde? welchem Kinde?«

»Ihrem Kinde! dem Wesen, das ich aus diesen Nächten unter dem Herzen trage. Nehmen Sie!«

Der junge Mann fühlte, wie sie ihm sanft den einfachen Reif vom Finger zog und einen andern an seine Stelle steckte, dessen Stein sie sorgfältig nach dem Innern der Hand drehte.

»Jetzt,« sagte sie, »leben Sie wohl und vergessen Sie, wo Sie waren; wir werden uns in diesem Leben nicht wiedersehen! Verzeihen Sie einer Unglücklichen, und wenn Sie das Mädchen einst wiedersehen, dessen Namen Sie in der Täuschung des Traumes mehr als einmal an der Brust einer andern genannt, so erinnern Sie sich, daß Ihr Herz nicht untreu war der Lebenden, wie ich nicht den Toten!«

Sie schlug den Arm um ihn, und ein warmer Kuß brannte auf seinen Lippen.

Dann langte die freie Hand zurück nach dem Nachttisch, der an ihrer Seite des Lagers stand.

Einen Augenblick suchte ihre Hand unter einem auf der Marmorplatte liegenden Tuch, dann kehrte sie zurück, einen feuchten Schwamm zwischen den Fingern.

Der Mann, berauscht von der warmen Glut jenes Kusses, suchte die schwellenden Lippen, indem er die süße Gestalt umschlang.

Plötzlich sanken seine Arme kraftlos nieder, seine Sinne verwirrten sich, sein Bewußtsein schwand, und starr wie ein Toter sank er zurück auf die Kissen.


Die Frau hatte sich von dem Lager erhoben, sie schlüpfte geräuschlos in die Morgenschuhe, die vor demselben standen und hüllte sich in ein weites Nachtgewand. Dann glitt sie ebenso leise über den Teppich, der den Boden des Zimmers deckte nach der gegenüber liegenden Wand und öffnete die Tapetenthür.

Das Zimmer, in das sie trat, war von einer Ampel erhellt, ein kostbares Möblement zeugte von dem Luxus der Bewohner, das seidene Himmelbett, die silbervergoldete Toilette und hundert andere Gegenstände bewiesen, daß man sich in dem Schlafzimmer einer vornehmen Dame befand.

Auf dem Tisch stand ein silberner Armleuchter mit tief herunter gebrannten Kerzen. Neben dem Tisch, in einem Armstuhl, schlief eine Frau, ein junges Mädchen, in einen warmen türkischen Shawl gehüllt. Das bräunliche Gesicht der Schläferin hatte etwas Pikantes, Boshaftes.

Die Dame in dem Nachtgewand blieb einen Augenblick neben dem Sessel stehen. In dem Schein der Kerzen und der Ampel ließ sich erkennen, daß sie wirklich jung und schön, und daß ihre Gestalt hoch und schlank war. Aber das von schwarzen, jetzt fessellos niederhängenden Haaren umwallte stolze Gesicht hatte in seiner Blässe etwas Kaltes und Düsteres.

Sie blickte starr vor sich hin, ein finsteres trotziges Lächeln glitt über ihre schönen Züge, dann legte sie ihre Hand auf die Schläferin.

Diese sprang sogleich empor.

»Gnädigste Frau …«

»Rufe Petrowitsch,« sagte die Dame kalt, »der Mann in jenem Zimmer muß noch in dieser Nacht entfernt werden!«

Das Mädchen sah sie etwas erstaunt und fragend an. »Wie, Durchlaucht …«

Die Dame unterbrach mit einem stolzen kurzen Neigen des Kopfes die Frage. »Du kannst Deinem Gebieter sagen, daß sein Wille erfüllt ist, und daß die Familie Trubetzkoi einen Erben haben wird; das Blut der Niedrigsten und Verachtetsten aus dem Volk wird in seinen Adern rollen. Geh! – ich bin schwanger!«

Das Mädchen wollte etwas erwidern, aber ein herrischer Wink der Dame wies sie fort. Sie verschwand durch die Thür und kehrte nach einigen Minuten zurück, hinter sich die herkulische Figur des Kosaken Petrowitsch.

Er trug auf seinem Arm ein Bündel schmutziger häßlicher Kleidungsstücke und einen Haufen blechener Hecheln, Mausefallen und ähnlicher Geräte von Draht.

»Geht hinein und kleidet ihn an,« sagte die Dame, die auf einem Ruhebett Platz genommen. »Wenn er eine Bewegung macht, zu erwachen, dann braucht den Schwamm!«

Das braune Mädchen öffnete dem Kosaken die Tapetenthür, indem sie den Armleuchter mit den Kerzen ergriff; beide verschwanden in dem anstoßenden Zimmer.

Nach etwa zehn Minuten kehrte das Mädchen zurück.

»Es ist geschehen! der Mensch ist in seine alten Lumpen gekleidet. Wollen Ihre Durchlaucht ihn sehen?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Ist jede Spur beseitigt?«

»Alles! nur …«

»Schweig! – Es ist drei Uhr. Nimm ein Licht und sieh zu, ob alles im Hause schläft, ehe Du die Hausthür öffnest, Feodora. Nimm dieses Tuch, Petrowitsch soll den Körper darein verhüllen, wenn er ihn fortträgt. Es ist am besten, er legt ihn auf die Stufen der Kirche nieder, wo er ihn damals abgeholt.«

»Ja, Durchlaucht! Haben Sie noch etwas zu befehlen?«

Sie reichte ihr die Hand. »Nichts, Kind, als das ewige Schweigen! Morgen magst Du ihm sagen, was ich Dir aufgetragen habe.«

Zwei große Thränen rollten über die marmorbleichen Wangen, wie die großen dunklen Augen so starr vor sich hin blickten.

Die braune Dirne faßte ihre Hand und küßte sie demütig. »Arme blanke Frau! Aber Tunsa leidet mit Dir und wird Dich beschützen!«

Sie ging.

Gleich darauf schlich ein schwerer aber vorsichtiger Schritt die mit Teppich belegte Treppe hinab.

Die Hausthür öffnete sich.


Ein großes, nur matt erleuchtetes Zimmer, der gedämpfte Schein der Lampe hinter dem Schirm mischte sich mit dem ersten durch die niedergelassenen Vorhänge grauenden Schimmer des Morgens.

Es war ein Sterbezimmer, der erhabene Ernst des nahenden Augenblicks, der ein Leben von allem Irdischen scheidet, lag auf den bleichen Gesichtern der Anwesenden.

Auf einem einfachen Lager ruhte eine mächtige Gestalt, das eingefallene Gesicht war von der Glut des im Innern tobenden Fiebers gerötet, die Hände fuhren in dem krampfhaften, seltsamen Zucken auf der Bettdecke umher, das gewöhnlich der furchtbaren Entscheidung vorangeht.

An dem Bett des Kranken saß eine stattliche ältliche Dame, von Zeit zu Zeit die feuchte Stirn des Leidenden trocknend oder sein Lager ordnend. Zwei junge Männer, kräftige Gestalten in Uniform, unverkennbar die Ebenbilder des Leidenden, standen am Fußende des Bettes, schweigend den tiefen Seelenschmerz unterdrückend, ein dritter, in Civil, sprach flüsternd Worte des Trostes zu zwei jungen Damen, die weinend in den Ecken des Diwans saßen.

Neben der Gattin, von Zeit zu Zeit seine Hand an den Puls des Kranken oder beruhigend auf seine Stirn legend, stand der Arzt.

Einer der Söhne näherte sich. »Wie steht es, Doktor, sagen Sie mir die Wahrheit!«

»Das Fieber ist leider im Zunehmen, 150 Pulsschläge in der Minute. Ich kann Ihnen nicht verbergen, daß der Anfall entscheidend sein wird. Wir müssen unser Vertrauen auf Gott setzen, der alles zum Besten lenken mag.«

Der junge Offizier senkte traurig den Kopf, er hatte die Meinung des Arztes verstanden.

In diesem Augenblick warf sich der Kranke nach der andern Seite, seine Augen waren weit geöffnet, als starrten sie auf eine, den Anwesenden unsichtbare Person.

»Sire,« sagte er mit leiser Stimme, »nehmen Sie sich in acht, den preußischen Stolz zu schwer zu verletzen. Bedenken Sie, Sire, daß der König« – seine Worte verloren sich in unverständliches Gemurmel.

Die Dame an seiner Seite beugte sich über ihn und trocknete seine Stirn. »Beruhige Dich, Friedrich,« sagte sie sanft. »Du bist hier, bei Deiner Familie!«

Der Kranke faßte die Hand, die ihn unterstützte. »Es sind die Weißmäntel, still! ich kenne sie! Hörst Du die Harnische klirren? – Bon soir, Messieurs! en vérité, le chemin est miserable! En quelle direction est l'ennemi? – wie die französischen Pallasche rasseln! auf meine Ehre. Es sind tüchtige Gesellen! Dort ist der Weg nach Chateauvert, jetzt, mein wackerer Fuchs, gilt es französischen Abschied! – Hurra! wie sie schreien und sakramentieren, daß der Preuße sie genarrt hat!«

Der Arzt versuchte aufs neue, sich der Hand des Kranken zu bemächtigen, um den Puls zu fühlen. Seine andere hielt die Sekundenuhr. »Er denkt an seine Heldenthat von 1813, als er unter den französischen Kürassieren ritt. Hundertdreiundachtzig in der Minute – es ist entsetzlich!«

Der Kranke fuhr empor. »Niemals!« rief er laut, »bedenken Sie es wohl, meine Herren: Niemals! Niemals!«

Über die Wangen der drei Söhne, die an dem Sterbelager versammelt standen, rollten schwere Thränen, die Mädchen schluchzten leise.

Einige Minuten hörte man nur diese Ausbrüche des Schmerzes, der Kranke selbst lag starr und still auf seinem Lager, die brennende Röte hatte einer gelben unheimlichen Blässe Platz gemacht, der Arzt beobachtete mit besorgtem Gesicht die schwer sich hebende Brust. »Wenn der Anfall sich erneuert,« sagte er, »so ist Hoffnung!«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als der Kranke sich mit einer raschen Bewegung emporwarf, so rasch und heftig, daß er halb aus dem Bett war, ehe die Umstehenden ihn zu hindern vermochten.

Seine Augen flammten, die Hände griffen in die Luft: »Falsches Österreich! die Österreicher kommen! dort! dort! Meinen Helm! mein Schwert! sattelt das Pferd! vorwärts, Kürassiere! mein Schwert! Österreich! Österreich

Ein gurgelnder Laut drang aus der Kehle herauf, die mächtige Gestalt fiel zurück auf das Lager, die Augen schlossen sich, die erschöpfte Brust atmete nur leise noch, kaum hörbar.

Der Arzt steckte die Uhr in die Tasche und trat von dem Bett zurück. »Die Krisis ist vorüber,« sagte er tonlos. »Ich bin jetzt unnütz hier, erlauben Sie mir, daß ich mich einstweilen entferne, in einer Stunde werde ich wieder hier sein.«

Die Familie hatte ihn umringt, sie hielt ihn fest; Bitten und Fragen über den Ausgang bedrängten ihn.

Der Arzt hatte seinen Hut genommen. »Menschliches Wissen,« sagte er feierlich, »ist zu Ende! Beten Sie zu Gott! er allein kann helfen!«

Er verließ das Zimmer.


Es war kurz nach dieser Zeit, fünf Uhr morgens vorüber.

Von dem Zeughausplatz her, am Opernhaus vorüber, kamen zwei Personen, eine Dame, in einem schottischen Mantel und ein Mann, und bogen an der katholischen, Kirche hin nach der Behrenstraße ein.

Plötzlich blieb der Mann, eine feste, gedrungene Gestalt, im Mantel, stehen. »Hörten Sie nichts, Frau Gräfin?«

»Was?«

»Ein Ächzen? ein Stöhnen?«

»Narr! glaubst Du etwa, daß Gespenster sich hier umhertreiben?«

»Es brauchen keine Gespenster zu sein, aber vielleicht ist ein Unglück passiert!«

»Was kümmert's uns!«

»Aber ich hörte es deutlich! Dort auf den Stufen der Kirche sah ich etwas sich bewegen, wir können doch unmöglich vorübergehen, ohne nachzusehen!«

»Dann mach' rasch – ich habe nicht Lust, mir wegen Deiner albernen Humanität hier den Schnupfen zu holen, und bin müde!«

Der Mann war die Stufen hinaufgegangen und vor dem dunklen Gegenstand, der auf der obersten lag, stehen geblieben. »Bei Gott! es ist ein Mensch, er ist vielleicht erkrankt!«

»Oder betrunken,« sagte die Frau ärgerlich. »Mach' fort! dort kommen Leute, sie können ihm beistehen.«

Man hörte in der That vom Opernplatz her einen lustigen leichtfertigen Gesang, und sah eine Laterne wie im Hüpfen und Springen eilig näher kommen.

Die Frau, die eine Cigarre rauchte, war ungeduldig einige Stufen hinaufgetreten, und stand jetzt in der Nähe des Kranken.

»Der arme Kerl,« sagte ihr Begleiter, »es ist ein Slowak, da liegen seine Mausefallen. Er hat sicher kein Unterkommen gefunden und geglaubt, es schliefe sich auf den Stufen der Kirchen hier so gut wie in bessern Ländern.«

»So laß das Vieh liegen! Komm!«

Sie hatte sich ungeduldig zum Gehen gewandt, als plötzlich einige Worte, die der Kranke oder Trunkene ausstieß, ihren Fuß zurückhielten.

»Ich will kein Spion sein! nein, ich will nicht!«

Die Worte wurden in deutscher Sprache ausgestoßen, der Ton war ihr so bekannt, auch die Worte klangen in ihrer Erinnerung wieder.

»Was ist das? Hast Du Feuerzeug bei Dir, Ziska?«

»Hier, Herrin!« Er reichte ihr das Etui mit den Wachshölzchen.

Sie hatte rasch zwei derselben an dem Feuer ihrer Cigarre angezündet, die sie dann fortwarf, und beleuchtete den am Boden liegenden.

Es war, wie der Jäger Ziska gesagt, ein Slowak, nur spärlich von seinem braunen Filzmantel bedeckt, der Hut war von seinem Kopf gefallen und der Schein des Lichts beleuchtete ein totenbleiches verzerrtes Antlitz; auf den blauen Lippen stand ein dünner weißer Schaum.

»Der Feldwebel! der Feldwebel, er ist sein Enkel! Martha – die Nandl! Ich will nicht! Blut, Szabó, Blut! Du hast ihn erschlagen …«

Trotz der Verzerrung aller Züge des Unglücklichen schien die Gräfin Törkyöny, denn diese war es, die neben ihm stand, diese zu erkennen.

Einen Augenblick schrak sie unwillkürlich zurück. »Matthias! wie kommt der Elende hierher!«

Die Laterne war näher gekommen, sie hing an einem dunklen Kasten, den zwei Männer im Hundetrab an Handhaben zwischen sich daher trugen.

Dicht vor der Kirche blieben sie stehen und setzten den auf einer Bahre befestigten Kasten nieder, um sich zu verschnaufen.

»Verflucht! es is kalt und eklich bei des Jeschäft,« sagte der eine, »jib mal die Pulle her, des ick mir stärke.«

»Et is heute Nacht der zweite,« sagte der andere, als er ihm die Schnapsflasche hinüberreichte. »Ick hoffe, die Doktorsch erfinden noch lange nischt nich dajejen. Wat der Kerl für Oogen jemacht haben wird, als sie ihn rausbuddeln wollten in de Charité, und er erst insah, deß er schon mausedod war.«

Die beiden Kerle lachten über den schlechten Witz, während sie über den Kasten hin einander zutranken.

Die Gräfin hatte sich aufgerichtet, die Wachshölzchen waren längst verloschen, aber der dämmernde Morgen erlaubte, die Gestalten zu erkennen.

»Was ist das?«

»Es sind Krankenträger,« sagte der Jäger. »Sie haben wahrscheinlich einen Cholerakranken zum Lazarett befördert oder holen einen solchen. Die Cholera war seit zwei Tagen wieder heftiger in der Stadt.«

Die Frau blieb einige Augenblicke stehen, dann stieg sie entschlossen die Stufen hinunter.

»Komm!«

Der Jäger folgte dem strengen Gebot, er kannte den Ton und wußte, daß er keinen Widerspruch gestattete. Die Frau blieb drei Schritte vor den Trägern stehen, die ihr neugierig entgegen sahen.

»Ist der Korb leer?«

»Ja, Madamken, aber noch warm! ist's jefällig, inzusteijen?«

Die Kerle lachten über ihre gottlose Frechheit.

»Wollt Ihr zwei Thaler verdienen?«

»Jott warum des nich? Davor kann unsereins sich lange die Beene abloofen! sie bezahlen hundsföttsch uf die Armenkommission!«

»Hier ist das Geld!« Sie warf zwei Thalerstücke auf das Pflaster, die Männer beeilten sich, sie aufzuraffen.

»Wat is zu dhun, Madamken? Denn umsonste is in Berlin nich mal der Dod!«

»Da auf den Kirchenstufen liegt ein armer Kerl, er hat die Cholera, schon in dem letzten Stadium, denn der Starrkrampf ist eingetreten. Legt ihn in den Kasten da, und bringt ihn ins nächste Lazarett!«

»Wenn's weiter nischt is!« Sie hatten die Laterne genommen und beleuchteten den angeblichen Kranken. Die krampfhaften Zuckungen, in welche die starke Anwendung des Chloroform den Unglücklichen versetzt hatte, ließ keinen Zweifel aufkommen, auch hätten sie sich den zwei Thalern gegenüber wenig um einen solchen gekümmert.

»Donnerwetter! 's is en ausländscher Kerl. Na, des Jeld hätten Sie sparen können – um so een Viech!«

»Wat kümmert's uns! angepackt, Kümmellude!«

Sie hoben den Stöhnenden empor und warfen ihn in den Kasten.

»Noch een kleenes Drinkjeld, Madamken, vor en Schnaps!«

Die Frau war verschwunden, der Jäger mit ihr.

»Et is schändlich, wat sie bei de Menschenliebe noch knickrich sind!«

Das Paar setzte sich mit der Bahre wieder in Gang.


Am Mittwoch Morgen, den 6. November, um sieben Uhr zweiunddreißig Minuten, war der Minister-Präsident von Preußen, Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg, verschieden.

Die letzte Stunde seines Leben lag der Kranke, von den vorhergegangenen Delirien erschöpft, still und ruhig, ohne einen Laut und ohne eine Äußerung des Schmerzes; er starb, von seiner Familie umgeben.

Mittag um ein Uhr beschloß der Ministerrat, dem Seine Majestät der König präsidierte, die Mobilmachung der Preußischen Armee!



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