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Die Leipziger Schlacht.

Von Ernst Moritz Arndt.

»Wo kommst du her in dem roten Kleid
Und färbst das Gras auf dem grünen Plan?«
»Ich komm' aus blutigem Männerstreit,
Ich komme rot von der Ehrenbahn,
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
Drob müssen die Mütter und Bräute klagen,
Da ward ich so rot.«

»Sag' an, Gesell, und verkünde mir,
Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die Schlacht?«
»Bei Leipzig trauert das Mordrevier,
Das manches Auge voll Tränen macht:
Da flogen die Kugeln wie Winterflocken
Und Tausenden mußte der Atem stocken
Bei Leipzig, der Stadt.«

»Wie heißen, die zogen ins Todesfeld
Und ließen fliegende Banner aus?«
»Es kamen Völker der ganzen Welt,
Die zogen gegen Franzosen aus,
Die Russen, die Schweden, die tapfern Preußen,
Und die nach dem glorreichen Österreich heißen,
Die zogen all' aus.«

»Wem ward der Sieg in dem harten Streit?
Wer griff den Preis mit der Eisenhand?«
»Die Welschen hat Gott wie die Spreu zerstreut,
Die Welschen hat Gott verweht wie den Sand,
Viel Tausende decken den grünen Rasen,
Die übrig geblieben, entflohen wie Hasen,
Napoleon mit!«

»Nimm Gottes Lohn! Habe Dank, Gesell!
Das war ein Klang, der das Herz erfreut!
Das klang, wie himmlische Zimbeln hell!
Hab' Dank der Mär von dem blutigen Streit!
Laß Witwen und Bräute die Toten beklagen,
Wir singen noch fröhlich in spätesten Tagen
Die Leipziger Schlacht.«

O Leipzig, freundliche Lindenstadt,
Dir ward ein leuchtendes Ehrenmal;
So lange rollet der Jahre Rad,
So lange scheinet der Sonne Strahl,
So lange die Ströme zum Meere reisen,
Wird noch der späteste Enkel preisen
Die Leipziger Schlacht.

 

Leipzig, den 25. September 1813.

M Meinen letzten, ziemlich ausführlichen Brief, den ich vor 14 Tagen abgesandt habe, scheinen Sie nicht empfangen zu haben. Kein Wunder! Andere Leute werden ihn schon gelesen haben. Glücklicherweise enthielt er nichts über öffentliche Angelegenheiten. Das Unschuldigste wird ja jetzt gemißdeutet. In den letzten Tagen sind wieder einige angesehene, als besonnen und wohlgesinnt bekannte Männer eingekerkert worden. Niemand weiß recht, warum. General Bertrand, unser Kommandant, erweist sich auch jetzt noch als einsichtsvoller, gemäßigter und menschlich denkender Mann. Aber was kann, was darf er gegen die mit eisernem Griffel tief und scharf in Stein gerissene Kreislinie des Napoleonischen Systems unternehmen?

Seit einigen Tagen erfreut uns wieder durch seine Anwesenheit der liebevolle Herzog von Padua Jean Toussaint Arrighi de Casanova, Herzog von Padua, ein Verwandter Napoleons, war ein französischer General, der in der Schlacht bei Leipzig die Vorstädte verteidigte, nach dem Kriege von 1815 aus Frankreich verbannt wurde und 1853 starb. Er hatte vor der Schlacht bei Leipzig die Bürger der Stadt arg bedrückt und wird deshalb ironisch der »liebevolle« Herzog von Padua genannt. und der teure Herr Bacher.

Unser neues Lazarett vor der Stadt, für etwa 3000 solche Kranke erbaut, die an ansteckenden Krankheiten leiden, kann nicht in Gebrauch genommen werden, weil auf der gesperrten Straße nach Böhmen die auswärts bestellten Fenster nicht ankommen. So sind die Gelder dahingegangen, die Kranken aber geblieben. Wir haben gegenwärtig an Verwundeten und anderen Kranken an 9000 in der Stadt. Auf 4 Einwohner – Weiber und Kinder mitgerechnet – kommt also ein Kranker. Das möchte noch sein, wären wir nur jene Ruhr- und Nervenfieber-Patienten los, deren an 1500 sind.

Die neue Zwangsanleihe des Magistrats, der nun kein Unterpfand mehr zuzusichern hat, als sein Wort, muß sehr schnell und eifrig eingetrieben werden, denn woher sollte der Rat sonst alles Nötige nehmen? Bei dem großen Mangel an barem Gelde kommt auch mancher der besten und sparsamsten Wirte in große Verlegenheit oder in die Hände reicher, gewissenloser Wucherer. Nach dem, was ich bis jetzt habe bezahlen müssen, beträgt die Kriegssteuer etwa 3 v. H. des Vermögens. Aber wieviel werde ich denn von dem also Besteuerten behalten? Und wieviel besitze ich denn wirklich jetzt? Ich weiß es nicht, und keiner weiß es zuverlässig. Die Einquartierung in der Stadt und in meinem Landhause vermehrt sich täglich, wie das auch nicht anders sein kann. Ich habe dort seit einiger Zeit durchschnittlich über 30 Mann zu unterhalten. Bei den jetzigen Preisen der Lebensmittel zahle ich für jeden täglich 20 Groschen. Während der noch nicht vollen 9 Monate dieses Jahres hat das Haus meiner Frau mich allein über 3000 Taler gekostet. Allem Anschein nach muß das bald noch um vieles höher steigen. Fast alle unsere Kirchen sind zu militärischen Bedürfnissen weggenommen worden; wir haben nur noch eine – zum Glück ist das unsere schöne Niklaskirche. In Dresden – ich meine in der Stadt auf den Straßen – soll es noch viel schlimmer aussehen als bei uns. Indes wer weiß, was uns noch zukommt!

 

Den 1. Oktober.

Wende ich mich auch mit Gewalt ab von dem, was rohe Übermacht übt, so ringe ich doch vergebens mit mir, den Eindruck los zu werden, den einzelne Erlebnisse auf mich machen, z. B. erst vorhin ein einziger kurzer Gang über die Straße.

Mein Weg führte mich zum Markte. Ich fand ihn voll Getümmel des Volkes, der Soldaten, des Fuhrwesens.

Diesem auszuweichen, schlich ich an der Seite hin und brauchte nicht zu fragen, was es gäbe. Von früh an hatten neue Züge Kranker und Verwundeter, die zum Teil noch nicht verbunden waren, die schon angefüllte Stadt überschwemmt. Noch um 10 Uhr vormittags war es unmöglich, sie alle nur ins Trockene zu bringen, und doch strömte der kalte Regen immerfort vom Himmel herab. An den Häusern, unter den kleinen Wetterdächern, die über den Gewölben der Kaufleute hervorragen, lagen ihrer noch reihenweise. Welche von Jammer und Schmerz oder Erbitterung und Haß zerrissenen Gestalten! In der Grimmaischen Gasse, durch die ein neuer Zug langsam vorrückte, mußte ich einige Minuten auf den Augenblick warten, da ich zwischen den Wagen durchschlüpfen konnte. Drei verwundete Pferde, deren Reiter wahrscheinlich auf dem Wagen lagen, mit verschobenem Sattel, hangendem Zeug, hinkend und blutend, aber in Reih und Glied geschlossen, fielen mir da zunächst ins Auge. Eben sank das eine, das mittlere, zusammen – still, ohne Laut. – (Es hat für mich immer etwas Rührendes gehabt, daß das edle Pferd nur im Freude- und Lustgefühl laut wird, nicht im Schmerz, nicht im Sterben!) Die anderen zwei sahen auf den Gefährten herab. Da rückte der Zug ein wenig vorwärts und, um den Sterbenden behutsam schreitend, schlossen sie sich nun aneinander und hinkten in Reih und Glied weiter. Ich kann's nicht sagen, auf wie ganz eigene Art dieser Anblick mich rührte.

Wenige Schritte weiter, da wo die Grimmaische Gasse nach dem alten Markte führt, hielten 6 oder 7 französische Gardisten, abgesessen, ihre Pferde an der Hand. Unter dem kleinen Wetterdach am Fürstenhause lagen vier gleichfalls französische Kranke, die auch noch nicht hatten untergebracht werden können. Ich kam eben dazu, als jene durch langes Liegen in Blutquellen versteinten Menschen ihre Landsleute und Kameraden unter dem Dache gleichgiltig weg in den Regen zu tragen begannen, um ihre Pferde trocken zu stellen. Das lebhafte Einreden mehrerer Umstehenden störte sie so wenig, als das Jammern jener Unglücklichen oder meine und eines andern Mannes Fürbitte. Mit einem Male aber brach das Menschengefühl bei den Herzulaufenden kräftig durch; man schrie auf die Gardisten ein, die eben den dritten Kameraden ergreifen wollten; man schimpfte, man drohte, man wollte ihnen zu Leibe. Mit trockenem Hohn und mit empörenden, zum Glück französischen Schimpfreden zogen sie sich geschlossen nach der Mauer zurück und griffen nach den Säbeln. Der Tumult schien ernsthaft zu werden, aber man schaffte Auskunft und brachte die Leidenden in das nächste kleine Haus, wo sie mit Labung und Stärkung überhäuft wurden. Voller Freude und Mitleid zogen wir ihnen nach, und niemand dachte mehr an jene Unmenschen, die den Kampfplatz behaupteten.

»Ah, gut Mann, Sachs'!« rief einer der Franzosen der Hökerfrau zu, die aus ihrem ärmlichen Handkorbe jedem einige Äpfel auf die Brust legte, die er freilich nicht brauchen konnte. »Ja«, erwiderte die Frau im Eifer, »aber Seine Kameraden, Musjeh, das sind ja Lümmel! Na, sei er nur stille, der Teufel kriegt die zeitig genug –!«

Was eigentlich über unser Weichbild hinaus neuerdings geschehen ist, erfahren wir nicht. Gerüchte aller Art verbreiten sich zwar, durchkreuzen aber, ja widersprechen sich so sehr, haben auch so oft getäuscht, daß sie keinen Glauben finden. Wissen wir doch nicht einmal, woher eigentlich die großen Züge Verwundeter kommen, und der gemeine Franzose weiß es auch nicht. Vornehmere sprechen wenig und von großen, aber schwer errungenen Vorteilen, doch ohne Übereinstimmung und Klarheit. Vielleicht muß man eben hieraus auf Bedenkliches schließen. Es ist ein dumpfes Treiben und Wogen, ein Zusammenlaufen und Ängsten auf den Straßen und allen geräumigen Plätzen, ein unbestimmtes Hoffen, Klagen, Drohen, fast wie es Sallust so trefflich schildert, wo er von Rom nach Catilina's Auszug spricht. Am 28. September abends traf der Herzog von Ragusa ein. Das Thomé'sche Haus am Markte wird für Napoleon eingerichtet und seine Ankunft verkündigt; bis jetzt ist er aber noch nicht hier.

Daß sich die Heere der Verbündeten fast von allen Seiten gegen uns herbeiwagen und schwedische Reiterei schon bis nach Halle gestreift ist, das ist das einzig Sichere, was wir wissen.

 

Den 5. Oktober.

Der Postenlauf ist nun nach allen Seiten hin, auch für sächsische Orte, gehemmt. So lasse ich denn diese Blätter liegen und schreibe daran in den einzelnen freien Stunden, ebenso wie ich, wohnten wir an einem Orte, einen Sprung zu Ihnen laufen würde, nicht um etwas Bedeutendes durchzusprechen, sondern Sie zu grüßen, irgend einen Vorfall Ihnen mitzuteilen und wegzugehen.

Die Not um die ersten Bedürfnisse, noch mehr der Pferde als der Menschen, fängt an schrecklich zu werden, und schließen uns die Verbündeten enger ein, so daß die Zufuhren aufhören, so helfe uns Gott! In meinem lieben Connewitz ist schon seit voriger Woche kein Haferkorn, kein Strohhalm mehr. Und so ist es fast in allen nahe umliegenden Dörfern. Die Stadt muß sie versorgen. Da unter den Truppen alle Zucht und Ordnung außer dem eigentlichen Dienst aufgehört hat, nimmt jeder, was irgend aufgefunden werden kann und denkt beim Gebrauch nur an sich und sein augenblickliches Bedürfnis. Die Tausende, die Tag und Nacht im Freien liegen, während rauhe Zugwinde daher streifen und der Regen den kalten Boden aufweicht, müssen sich allerdings zuerst gegen diese Unbilden der Natur schützen. Das geschieht in der Regel, indem sie in den Dörfern Türen, Fensterläden, Dielen u. s. w. losbrechen, daraus, so gut es gehen will, Hütten bauen, und den Boden wie das Dach mit Stroh bedecken – würden, wenn das vorhanden wäre. So aber gebrauchen sie unausgedroschene Garben, die auch den Pferden vor- und untergestreut werden. Rückt nun eine Horde weiter, so tut sie sich vorher die Güte, den Bau anzubrennen, um sich an dem Feuer einmal recht durchzuwärmen. Denn die von Breitwänden der Gärten, von Staketen, Tischen, Bänken oder von frisch gefällten Bäumen erhaltenen Wachtfeuer werden oft vom Regen verlöscht, oder sie verbreiten in ihrer dumpffeuchten Glut einen unerträglichen Qualm. Ich hatte vorgestern die schönste Gelegenheit, das zu beobachten, als ich mein Landhaus in Connewitz einmal zu sehen versuchen wollte, aber nicht weiter kam, als zum Biwak vor dem Dorfe. Die Soldaten lagen, schrieen wild durcheinander und sahen, vom Qualm geschwärzt, wie die Teufel aus. Jeder von den Gärten herzugeschleppte Baum schien mir einer meiner Lieblinge zu sein. Von meinem Wohnhause sah ich nur das Dach, vom Garten nur, was über die Mauer hinausgrünt, an dieser Mauer selbst aber mit Schrecken, daß der Ausgang ins freie Feld nun auch ohne Tür, mithin ein freier und bequemer Durchzug nach dem Lager hin sei. Mein kleiner schöner Birkenhain schien mir mit den schlanken Wipfeln seiner Bäume zuzunicken und schon ziemlich dünn geworden zu sein. Aus den Gedanken und Gefühlen, die sich dabei meiner bemächtigten, weckten mich mehrere der Herren Teufel, die achtsamer auf mich wurden und von denen der eine mit besonderer Zuneigung die Brauchbarkeit meines Mantels und meiner Stiefel zu erwägen schien. Da faßte ich mich zusammen, kehrte um, und sang mir selbst Goethes Worte vor: »Ich besaß es doch einmal –«

In der Stadt fängt ein neues Übel an, sehr bemerkbar zu werden. Man hat kein Holz zum Heizen und zum Kochen. Da nämlich unsere bekannten Holzquellen schon längst entweder abgeschnitten oder anders verwendet sind, kein Holzbauer auch seiner Pferde mächtig ist oder wird, falls er deren noch hat, das wenige Flößholz aber, das dieses Jahr gesendet worden, kaum für den dringendsten Bedarf gereicht hat, so ist der Mangel nicht zu vermeiden gewesen, wie lange auch die Behörden sich schon voraus bemüht haben, ihm zu begegnen. Unter die, welche fast gar kein hartes Holz besitzen, gehöre auch ich. Der heutige Tag hatte übrigens viel Ängstigendes für uns alle. Es waren Reiterhaufen der Verbündeten, soviel ich weiß Preußen und Schweden, von der Dübener und Halleschen Straße bis gegen die nahen Dörfer vorgedrungen. Selbst hinter Gohlis ist gefochten worden, die Tore blieben gesperrt. Einander widersprechende Gerüchte wurden verbreitet. Auch ward selbst auf den Straßen das Wort lauter und freier. Kanonendonner vernahm man von Halle her fast immerfort. Ein Viktualienhändler, der mit seinem Kram die Stadt zu erreichen versucht hatte, kam ohne diesen am Tore an und berichtete, aus dem hinteren Gehölz des Rosentals, gegen Schönau, sei ein Trupp Kosaken hervorgeschwärmt und habe ihm seine Waren freundlichst abgenommen. Der Anführer, der etwas Deutsch gekonnt, habe ihm dafür aus seiner großen Geldkatze einen blanken Dukaten gegeben und ihm anbefohlen, nach der Stadt zu gehen und zu rufen: »Hurra, Kosaki, Franzos' kaput!« Darauf habe er ihn Bruder geheißen und ihm einen gewaltigen Kuß gegeben. Man beschwichtigte freilich den Mann nachdrücklichst. Aber obwohl nur ein paar Leute seinen Bericht vernommen hatten und obgleich ein einziges ausgesprochenes Hurra Arrest und Stockprügel bringt, lief das Geschichtchen doch pfeilschnell durch die Straßen, bis wieder ein anderes es verdrängte. Die Hoffnung, der Feind werde Leipzig verlassen, wenn die Armeen der Verbündeten heranrücken würden, scheint nun grundlos zu sein. Und wenn nun die verbündeten Heere wirklich in all ihrer Kraft heranrückten und Napoleon die Seinigen in unserer Nähe zusammenzöge, und wir beiden Parteien gewissermaßen zum Mittelpunkte dienten, was würde da mit uns, was überhaupt werden? Das weiß niemand als einer, aber zum Glück eben der, von dem es heißt: »Die Könige im Lande lehnen sich auf, aber er lacht ihrer!« Und weil wir nun von ihm wissen, nicht nur jenes: »Er lacht ihrer«, sondern auch: »Kann wohl ein Weib seines Kindleins vergessen? und ob es sein dennoch vergäße, will ich sein nicht vergessen!« so wird's ja wohl am besten sein und bleiben, in ihm zu ruhen, wenn sonst nirgends Ruhe ist und der inneren Stimme zu folgen bei dem, was man tut, wenn keine äußere sicher und weise sein kann. – –

Es ist spät in der Nacht, mir ist's aber noch gar nicht wie schlafen. Doch muß ich's wohl versuchen. Wer weiß, was morgen geschieht und eine durch Ruhe gestärkte Kraft verlangt. Gute Nacht denn! – –

 

Den 11. Oktober.

Wie vielen äußerst merkwürdigen Stoff mir die letztverflossenen Tage auch darboten, ich habe nicht schreiben können, weniger verhindert durch äußere Verhältnisse als durch meine innere Stimmung. Jetzt kann ich mir das in der Geschichte oft geschilderte greuelvolle Leben bloß für den Augenblick in einer von Hungersnot, Pest und dergleichen heimgesuchten Stadt erst in seinem Zusammenhänge und in seinen inneren und äußeren Quellen denken. Die Ordnung im französischen Heereshaufen im eigentlichen Dienst ist und bleibt freilich bei all dem Wogen und Strudeln bewundernswert.

Wallensteins Grundsätze: »Das Wort ist frei, die Tat ist stumm, der Gehorsam blind!« und: »Was nicht verboten ist, ist erlaubt« konnte man wohl in dieses eisernen Revolutionärs eigenem »Reich von Soldaten« kaum so vollführt sehen, wie hier bei uns. Der französische Kommissär, den man mir nun auch noch in meine Wohnung geschickt hat, und dem ich einige der empörendsten Vorgänge mitteilte, hörte mich ziemlich höflich an und sagte weiter nichts als einige Male mit dem Tone, als habe ein Kind ein Glas fallen lassen: » c'est dommage!« (»das ist schade!«). Dann aber erhob er die Stimme mit einem: » Mais, monsieur –!« (»Aber mein Herr!« –) und fuhr nun fort, um mir das »Rechtliche des Systems« darzulegen: Jedes Land mit allem, was darin und darauf ist, gehört doch dem Fürsten (» Bon!«, rief er sich selbst zu). Mithin Sachsen, mithin Leipzig, mithin auch Sie, mein Herr, mit dem, was Sie das Ihre nennen, gehört Ihrem König. » Bon!« Mit dem, was mir gehört, verfahre ich denn doch rechtlicher Weise, wie ich will, und wie es mir in jedem Augenblick als das Nötigste und Klügste einleuchtet. » Bon!« Nun ist Ihr König mit unserm Kaiser verbündet, Sie haben zwar einige Beschwerden für den Augenblick, das ist wahr, aber dafür wird Napoleon der Große Ihren König und sein Land schützen. Ihr König wird mit ihm triumphieren. Sie werden Teil haben an unserm Ruhm, Sie werden mit uns glücklich sein. Also Geduld, mein Herr, eine kleine Geduld! – –

 

Den 16. Oktober.

Die Würfel für Europas Gestaltung scheinen gefallen zu sein. Unser Los wird sich wohl nebenbei von selbst finden, wie das eines Frosches im Sumpfe, wo Eber kämpfen –.

Wer da glaubte, Napoleon besitze nur noch wenig Kerntruppen und fast keine tüchtige Kavallerie, der machte vor 3 Tagen, als Angereaus Corps von Naumburg her einrückte, große Augen, besonders bei der älteren aus Spanien herbeigezogenen Reiterei. Sie standen damals wie aus Eisen gegossen und erinnerten an die unter Alba in Brüssel eingerückten Spanier, wie sie uns Goethe im »Egmont« aus den Erwägungen der armen Teufel von Bürgern vors Auge zu stellen weiß. Auch das am 6. d. M. eingerückte Corps Infanterie, etwa 16-18 000 Mann stark, konnte schon stutzig machen. Zwischen diesen beiden Haufen drängen sich jetzt noch immerfort nun aber kleinere herbei, die aussehen, als wären sie von allen Kerkern und Raubhöhlen Frankreichs ausgespieen worden. In der Stadt und in der näheren Umgegend ist alles zu Pallisaden taugliche Holzwerk genommen worden. Da davon nicht genug vorhanden war, hat man nicht nur in den nahen Gehölzen, sondern auch in einem Teile unserer schönen Anlagen um die Stadt Bäume zu jenem Zwecke gefällt. Die Tore, die nicht zu den Hauptstraßen führen, sind ganz gesperrt und verrammelt. Die Haupttore sind es auch bis auf Öffnungen für die nötigsten Eingänge, die von spanischen Reitern bewacht werden. Die Mauern der Gärten, die fast ringsum die Stadt umgeben, sind für Schützen, Mann an Mann, durchlöchert worden.

Über Mangel an den nötigsten Nahrungsmitteln, vornehmlich an Brot, konnte bisher in der Stadt noch nicht geklagt werden. Die Tätigkeit unserer und die Geübtheit der französischen Behörden hatte noch immer Rat geschafft. Selbst jetzt macht sie das Nötigste noch möglich. Aber jeder fürchtet den nahen Mangel, will sich vorsehen und führt dadurch den Mangel herbei. Die Bäcker der Stadt können nicht viel über das liefern, was für die Heere vorausgenommen wird. Die Landbäcker können nur von den nächsten Orten hereinkommen, da die entfernteren von Streifkorps der Verbündeten weggefangen werden. Der Anblick, wie das Volk um jeden ankommenden Brotwagen sich schreiend drängt, wie jeder sein Geld hoch emporhält, um den Verkäufer zu bewegen, nur ihn zu versorgen, wie einer den andern wegstößt, wie die Weiber auch hier einander weniger schonen als die Männer, wie rohes Gesindel zu erringen weiß, was rechtlichen Leuten oft nicht gelingt, und nun auf der Stelle mit Jubel das Erhaschte verteuert verkauft, um sogleich sein Glück von neuem zu versuchen – dieser Anblick hatte für mich etwas äußerst Widriges. Die Polizei hilft freilich auch da nach, soviel sie kann, aber wie wenig vermag sie! –

Es ist nicht daran zu zweifeln, daß unsere Besorgnisse sich erfüllen werden. Die ganze Mulde bis zu ihrer Mündung in die Elbe, auch die Stadt Dessau, ist in den Händen der Franzosen. Die Verbündeten bilden um sie her einen großen, wenn auch noch nicht überall geschlossenen Bogen, der sich allmählich langsam von allen Seiten verengert und schließt. – – Man hatte bei Napoleons bekannter Tagewählerei schon am 14. Oktober, dem Jahrestage der Schlacht bei Jena, eine Entscheidungsschlacht erwartet, zumal da unser von dem Kaiser völlig umgarnter König und er selbst hier eintrafen. Nachmittags 2 Uhr entzündete sich auch nach gewaltiger Kanonade ein hitziges Kavalleriegefecht bei Liebertwolkwitz, das bis zum späten Abend dauerte, aber keine Entscheidung brachte. Die Franzosen behaupteten ihre günstige Stellung, die Verbündeten, meist Russen und Österreicher, zogen sich zurück. Der gestrige Tag war verhältnismäßig ruhig. Was der heutige bringen wird, muß sich bald zeigen. Ich schreibe nämlich in der Frühe.

Der Einzug unseres Königs, sonst ein herzerhebendes, freudenvolles Fest für die Bewohner der Stadt und der Umgegend, (auch wenn sie 3, 4 Stunden im Platzregen und Ungewitter seiner harren mußten), dieser Einzug, wie überaus traurig war er diesmal! Eine dumpfe Stille herrschte in den Straßen, durch die der König kam; der größte Teil achtbarer Bürger hielt sich vor ihm verborgen. Der Pöbel – Pöbel … – Sein Aufenthalt in Prag im Schutze des mächtigen, redlichen, uns wohlwollenden Kaiser Franz, war der lichteste Punkt für die Hoffnungen des Volkes gewesen! – Ich ging in das Haus meiner Frau, um die Schlösser unserer Gemäldesammlung zu untersuchen. Der König war eben in die Stadt eingezogen, ich hatte ihn nicht gesehen. Drei Bürger standen am Eingange jenes Hauses und klagten lernt, daß sie ihn jetzt und so hätten kommen sehen müssen, es schienen wackere Männer zu sein; darum trat ich zu ihnen. Sie ließen sich nicht stören. »Meine Herren«, sagte ich nach einer Weile, »vergessen Sie auch nicht, daß wir ohne ihn ganz als Feinde behandelt werden würden!«

»So? könnte es uns denn da schlimmer gehen als jetzt?«

»Denken Sie doch nur an eins, an offene Plünderung!«

»Das ließen sie wohl bleiben, sie wissen schon selbst, daß sie hernach verhungern müßten, wie eingesperrte Ratten.«

»Aber müssen Sie nicht wenigstens mit Dank erkennen, daß unser König mit uns aushalten, mit uns leiden will, wie Sie mit Ihren Weibern und Kindern?«

Die Männer schwiegen ein Weilchen und schienen gerührt zu sein. Dann begann der Beleibteste und Rauheste unter ihnen in unsicherem Tone etwas Unziemliches in Fortsetzung meines Vergleichs zu sagen, aber die anderen unterbrachen ihn schnell, offenbar in jener Verehrung und Anhänglichkeit an den König, die seit langen Jahren in den Herzen der Sachsen heimisch ist. Der aufgeregte Bürger ließ sich sofort beruhigen, richtete aber den kleinen Rest seines Unmutes gegen mich, indem er bemerkte: »Na, der hochedle Rat (er hielt mich für ein Mitglied desselben), der hochedle Rat mag über die Sachen denken, wie er will, wir wollen's ihm nicht verübeln, aber er mag uns auch bei unserm Unverstande lassen. Gut ist's wohl, wenn alle, oben und unten, einer Meinung sind, aber es geht vielleicht nicht immer an. Wir werden ja am Ende sehen, wer Recht gehabt hat, ich empfehle mich!«

Mit diesen Worten ging er, und seine Begleiter folgten ihm. An diesem Vorkommnis erkennt man die Stimmung der Volksmenge.

Napoleon hatte sich in der Stadt gar nicht verweilt, sondern war sogleich hinaus zu den Seinen geritten. Kaum eine Viertelstunde vorm Grimmaischen Tore wählte er seinen Standpunkt auf offenem Felde und nahe an der Straße. Hierher ward ein kleiner Tisch aus einem Landhause und dahinter ein Stuhl gestellt. Daneben loderte ein Wachtfeuer. Seine Karte hatte man wegen des rauhen stürmischen Wetters auf den Tisch genagelt. In seiner Hand hatte er ein kleines Fernrohr. Niemand war behindert, nach Gefallen so nahe zu treten, daß man nur nicht gerade ihm im Wege war. – Als er hinausritt, sah er finster und verschlossen aus; da nun aber die Kanonen mächtiger donnerten, öffnete sich gleichsam das verschlossene Gesicht, er ward gesprächig und beweglich. Seine Miene aber blieb starr, herrisch und ernst und änderte sich auch im Laufe des lebhaftesten Gesprächs fast so wenig, als die Miene einer Maske. Napoleon saß, auch wenn er den Finger auf einen Punkt der Karte legte oder etwas schrieb, nie länger als etwa 2 Minuten, dann richtete er sich hastig wieder empor und ging auf und nieder. Alexander Berthier war immer an seiner Seite. Mit kältestem Stolz und erdrückender Gleichgültigkeit behandelte er mehrere der vornehmen Herren, die sonst uns tyrannisieren und nun in größter Ehrfurcht vor ihm dastanden. Adjutanten und auch andere Offiziere flogen von allen Seiten unaufhörlich herbei. Er nahm ihre Papiere, las sie blitzschnell durch, schrieb oder gab mündlich im Augenblick Antwort. Das letztere geschah meist gegen Berthier hin, der dann, wie es schien, die kurze Entscheidung des Kaisers den Männern auseinandersetzte. Zuweilen winkte Napoleon die Adjutanten nahe zu sich heran und fertigte sie ohne Zwischenredner ab. Als einige Trupps Verwundeter, die zum Teil in jämmerlichem Zustande auf der Straße nach der Stadt gebracht wurden, in seine Nähe kamen, wendete er weder den Schritt noch den Blick um; die Sache war ihm völlig gleichgültig. – –

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Die ersten französischen Verwundeten in Leipzig am 14. Oktober 1813.

In der Nacht haben die französischen Heere in jener Gegend schrecklich gehaust. Entsetzliches Wetter, rauhe Stürme, unaufhörlicher Regen u. s. w. zwangen sie wohl zu vielem. Ein Teil von Liebertwolkwitz ist in Feuer aufgegangen, auch weiterhin war der Himmel am Abend glühend rot, hoffentlich nur von Wachtfeuern. Von meinem zweiten Heim im lieben schönen Connewitz habe ich noch keine sichere Kunde. Boten hinaus sind für kein Geld zu haben; Boten herein gibt's nicht mehr, weil es überhaupt draußen fast niemand mehr gibt als Soldaten. Alles ist in den Wald oder in die Stadt geflüchtet. Ich selbst kann mich der Gefahr nicht aussetzen, da ich nichts damit erreichte, was solch eines Wagestückes wert wäre. –

Soweit hatte ich geschrieben, als morgens gegen 8 Uhr der erwachsene Sohn meines Nachbars in Connewitz hereinkam, um mir Botschaft zu bringen. Mein ehrlicher Gärtner will draußen bleiben, wie es ihm auch gehe. Seine Frau und seine Kinder haben sich in die Stadt geflüchtet. Draußen ist es greulich zugegangen. Ganze Reihen meiner ausgewählten Bücher, die ich draußen hatte und schlechterdings nicht hereinbringen lassen konnte, sind verbrannt worden. Im gedielten Saale des Pavillons im Garten hat man ein Feuer gemacht, das nach allen Fenstern hinausschlug und das ganze Gebäude verzehrt hätte, wenn nicht die Glut vom Gärtner noch rechtzeitig gedämpft worden wäre. Dies alles aber ist unter den Augen des Obersten geschehen, der mit seinen Leuten das Wohnhaus inne hat. Er sowohl, wie jene Brandstifter, sind keine Franzosen, sondern Polen. Meinen ehrlichen Gärtner haben sie nicht mehr anderswo, als mit Lachen im Keller geduldet, da muß er selbst die Nacht zubringen. Hundert und fünfzig Pferde stehen im Garten oder vielmehr auf dem fast ganz verwüsteten Platze, der einst mein Garten war. Das Wohnhaus wird indes von den Offizieren leidlich erhalten. Außer diesen Einquartierten, denen ich nun freilich nichts mehr geben kann, habe ich im Hause meiner Frau stets zwischen 40 und 60 Mann zu unterhalten und in meiner Wohnung noch einen Kriegskommissar mit seiner Bedienung. Gestern bezahlte ich allein für die Einquartierung jenes Hauses für den einzigen Monat September 618 Taler – –

Ich war ausgegangen, etwas über die Lage der Stadt zu erfahren. Der Brotmangel nimmt überhand. 13 000 Kranke und Verwundete sind zu versorgen. Napoleon selbst hat befohlen, man müsse noch für 15 000 Raum schaffen. Kommen diese, so erreicht ihre Zahl fast die sonstige Einwohnerzahl der Stadt. Dank der Fürsorge meiner Frau fehlt es mir selbst und den Meinen nicht an Nahrungsmitteln. Allerdings würde ich schon gestern kein Brot mehr gehabt haben, hätten uns nicht gute Freunde unterstützt.

 

Abends.

Es war gegen 9 Uhr, als ich plötzlich durch einen gräßlichen Kanonendonner von mehreren Seiten, besonders von Süden, und durch ein Geschrei auf der Straße aufgeschreckt ward. Von der Geschichte dieses qualvollen, höchst blutigen Tages will ich nur das Wenige in flüchtigen Umrissen hinzeichnen, was mir selbst aus unmittelbarer Beobachtung zugekommen ist. Noch verlautet nichts über den Zusammenhang und den Erfolg des Ganzen. Diese Kanonade begann zuerst wieder heftig von den Anhöhen bei Liebertwolkwitz und krachte so schrecklich herein, als sei sie unmittelbar vor den Toren, weil eben der Luftzug von dort her kam. Vom Boden eines hohen benachbarten Hauses konnte ich die Stellungen und Bewegungen der Heere sehr gut beobachten. Die Franzosen hatten die Anhöhen um Wolkwitz und gegen Wachau noch ganz inne, offenbar die vorteilhafteste Stellung. Sie von da zu vertreiben, war vielleicht der Hauptzweck der Verbündeten, sie zu behaupten, die der Franzosen. Die Infanterie schien noch wenig zum Angriff zu kommen, desto häufiger und gewaltsamer waren die Anläufe der Kavallerie. Murat führte sie in Person an, man vermutete aber auch den Kaiser dort. Ungeachtet der wogenden Bewegungen einzelner Haufen standen die Heere beider Parteien bis nach 10 Uhr fest. Da dehnte sich unmittelbar an der Bornaischen Straße die Heereslinie allmählich immer weiter zurück. Und jetzt zeigt sich sogar eine von französischer Reiterei durchbrochene Lücke, deren beide zurückgedrängte Enden ein bedeutendes Getümmel verraten. Ein vornehmer französischer Offizier am Nebenfenster stößt einen Freudenruf aus und eilt die Treppe hinab. Ein badischer Oberstleutnant, der neben mir am Fenster steht, blickt mich bedeutsam an und will in den zurückweichenden Truppen die Russen erkennen. Mehrere anwesende Herren und Frauen hielten sich nicht und brachen in laute Klagen aus. Einige der Männer machten Bemerkungen, über die ich ihnen gern zu Leibe gegangen wäre. »Na, habe ich's nicht gesagt? Es wird wieder das alte Lied!« Sie ließen sich's gefallen, auch ferner in dem Folterbett langsam ausgerenkt zu werden, wenn diesem nur die eleganten, blutroten, seidenen Vorhänge nicht fehlen und oben der in Feuer vergoldete Adler, der mit seinen Fängen diese zusammenhält! Jetzt sehen wir im Bogen eine gedrängte Reitertruppe pfeilschnell angeflogen kommen, die jenen durchbrechenden Franzosen Halt zu gebieten schien. »Das sind Preußen«, flüsterte mein Oberstleutnant, »wahrscheinlich Kleist!« Das Handgemenge dauerte nicht lange, die Franzosen zogen in Ordnung auf ihre Linie zurück, und das Gemetzel, an dem sich nun auch die Infanterie beteiligte, wurde besonders um Wachau so heftig und gedrängt, daß man nichts mehr erkennen konnte. Jene Lücke füllte sich wieder aus. Ich eilte jetzt zu den Meinen – –

Auf der entgegengesetzten Seite, mithin in der Gegend, nach der die Zimmer unserer Wohnung nach der Promenade sehen, um Leutzsch, Schönau und Zschocher, war eine so fürchterliche Kanonade losgebrochen, daß ich fürchten mußte, in meinen hinteren Zimmern kein unzersplittertes Fenster mehr zu finden. Darum glaubte ich, mich den geängsteten Lieben nicht länger entziehen zu dürfen. Es schien mir, als ob die Verbündeten hier mehr und gröberes Geschütz besäßen, als die Franzosen. Es kämpften hier besonders Österreicher, später auch Preußen. Gegen 11 Uhr entwickelte sich auch das Klein-Gewehrfeuer. Fliehende Landleute berichteten, daß auf der durch das Zschochersche und Connewitzer Gehölz führenden Straße auch österreichische Infanterie stritt und russische Kosaken schwärmten. Der Hauptkampf schien bei Wachau stattzufinden. Ohne einen Augenblick Unterbrechung hallte das Geschütz aller Art zu uns herüber. Um die Mittagsstunde wandte sich das Hauptfeuer mehr gegen Gossa hin und zugleich gegen Möckern, näher der Stadt zu. Hier schienen also offenbar die Franzosen zu weichen, und unsere Hoffnung hob aufs neue ihre Schwingen. Plötzlich sahen wir Napoleon mit großem glänzenden Gefolge, Murat und Poniatowski unmittelbar an seinen Seiten, vor unsern Fenstern nach dem Peterstor sprengen. Er trug einen unscheinbaren Überrock und einen vom Regen der letzten Tage übel genug entformten Hut. Murat war in glänzendem Schmuck, Poniatowski schön ritterlich gekleidet. Wo der Kaiser bisher gewesen war, konnte ich nicht erfahren. Wir vermuteten, daß er den weichenden Truppen zueile. Mit gleicher Hitze und Gewalt dauerte das Feuer auf diesem Punkte etwa eine Stunde fort, bis sich dann das Toben der Schlacht mehr in die Breite verlor. Wie auch mein Gefühl sich dagegen sträubte, ich mußte mir sagen: Hier wendet sich's zum Vorteil der Unterdrücker! Von gegen 2 Uhr an sah ich von meinen Fenstern an der Promenade 5 oder 6 Regimenter frischer Truppen in vollkommener Ordnung im Eilmarsch nach dem Ranstädter Tore zu und dann auf der Lindenauer Chaussee hinmarschieren. Diese sollten wohl die langsam zurückweichenden Verbündeten entweder durchbrechen oder von der Seite und im Rücken fassen, während Napoleon unaufhörlich von der entgegengesetzten Seite auf sie drängte. Gegen 3 Uhr mochten diese zum Gefechte gekommen sein, aber auch ein großes Korps frischer verbündeter Truppen schien von Lützen her angerückt zu sein. Und zwar mit viel Reiterei und mit gewaltiger Artillerie. Nun ward das Feuer gräßlich. Adjutanten und Eilboten aller Art flogen jetzt herein in die Stadt, schrieen unaufhörlich die Siegespost und das Lebehoch ihres Kaisers aus, eilten zu allen Behörden, einer von ihnen mit großem Glanze zu unserm König. Alles was Franzose war oder sein wollte, schrie diese Siegespost und dieses Lebehoch nach. Von allen Kirchtürmen mußten die Glocken ertönen. Wer nicht Franzose war oder scheinen wollte, stürzte von den Straßen weg und warf die Türen zu, um ungesehen seine Schmerzgefühle ausströmen zu lassen. Für die auf dem Markte zusammentretenden Soldaten ward Wein herbeigeschafft, ihr Sieges- und Huldigungsgeschrei durchhallte die ganze Stadt. Dieser Augenblick war unter allen in den letzten Monaten erlebten der schrecklichste für mich. Seit die Verbündeten zu weichen schienen, war es, als ob alle meine Lebensgeister wie durch Erdbeben von unten aufgewühlte Ströme über ihre Ufer hinausstiegen – nicht in Furcht, nicht in Zorn, nicht in Erbitterung, sondern in einem neuen noch unbenannten geistigen Erzeugnis aus diesen Gefühlen, das bei höchst gesteigertem Affekt vollkommen klares Bewußtsein frei walten ließ. Ich blieb in meiner Wohnstube; mit gespanntester Aufmerksamkeit folgte ich erst dem Halle des Feuerns. Da aber das Weichen überhand nahm und schneller ging, preßte ich den Kopf an den Fensterstock, und die Aufmerksamkeit auf das Einzelne jener Erscheinungen verlor sich in ein Anstaunen des Bildes dieses Augenblicks und zugleich von allem, woran ich dabei zu denken Stoff hatte. Vor mir lag, in scharfen Umrissen zusammengedrängt, und in einer Klarheit und Bestimmtheit, wie niemals zuvor, was das deutsche Vaterland in seiner zeitherigen Entwürdigung gelitten, was es jetzt gehofft, getan, geopfert hatte, was es, wenn nun dies, das letzte, umsonst war, mit Wahrscheinlichkeit leiden, was es werden müsse.

Meine Frau und meine Kinder weilten noch mit dem Fernrohre auf dem obersten Boden des Hauses. Sie wollten die Überzeugung erzwingen, man irre sich. Da dröhnt das » Vive l'Empereur!« auch zu ihnen hinauf. Die Glocken fangen ihren Siegeston an, die Meinen fliegen die Treppe herab zu mir, und laut weinend, mich krampfhaft umklammernd, ruft meine Henriette: »So ist auch das und alles vorbei!« Ein Gefühl inneren Grimmes durchschüttelte meinen ganzen Körper und preßte mir Tränen aus, reizte mich aber auch zu dem schonungslosen Ausruf: »Laß uns sterben! Ein Leben, wie es uns nun erwartet, ist ohne Wert und kann auch uns nur verschlechtern!« – Da traten unsere Kinder, Georg laut weinend, Wilhelmine verstört und wie erstarrt, an uns heran. Wir zogen sie in unsere Umarmung. Was nun gesprochen ward, was wir empfanden und taten, wir wissen's nicht mehr. Überhaupt fanden wir uns erst gleichsam selbst wieder, daß wir von neuem an den weiteren Gang der Ereignisse denken konnten, als endlich die heute so schrecklichen Glocken schwiegen. –

Das Gefecht dauerte noch ununterbrochen fort, selbst als der Abend schon angebrochen war. Als das Dunkel sich verbreitete, verminderte sich zwar die Kanonade, aber das Kleingewehrfeuer hallte noch gegen 7 Uhr herüber.

Auch vor dem Halleschen Tore ist den ganzen Tag gefochten worden und, wie ich höre, mit bedeutendem Glück für die Verbündeten, von denen einzelne Streifkorps bis nahe an die Stadt gedrungen sein sollen. Wie mir jener Oberstleutnant sagte, stehen dort vornehmlich Preußen, von Blücher befehligt, an den sich der Kronprinz von Schweden anschließen soll. Selbst mein Herr Kriegskommissär meinte, dort und bei Möckern habe man noch nicht so entschieden gesiegt, als nach Wachau hin. Aber morgen werde sein großer Kaiser auch dort sein Glück erzwingen und dann seinen Schutz ringsum über uns verbreiten. »Schlafen Sie ruhig,« setzte er hinzu, »noch einige Tage Beschwerden, und die glänzendste Zukunft tut sich vor Ihnen auf, je vous assure!« (»Ich versichere Sie!«) – Gegen Abend brachte man den tapfern Latour-Maubourg herein, ein Fuß war ihm vom Schenkel an weggerissen worden. Auch andere bedeutende Generäle wurden schwer verwundet hereingetragen. Jetzt, 11 Uhr nachts, sehe ich aus meinen Fenstern, so weit das Auge in die Umgegend trägt, ganze Ketten hochlodernder Wachtfeuer. Von der Chaussee herüber rasseln dumpf langsam fahrende Wagen, die in ununterbrochener Reihe Verwundete nach der Stadt führen.

 

Den 17. Oktober, vormittags 9 Uhr.

Ich habe fast keine Stunde geschlafen, jene Fuhren dauern noch ununterbrochen fort. Zwischen ihrem dumpfen Rollen hallte oft von der Straße herüber das Geschrei der Wagenführer, der Hilfesuchenden und dergl. mehr, das in der übrigens stillen Nacht umso schauerlicher wirkte. In der ganzen Stadt ist jetzt um keinen Preis Brot zu kaufen. Alle Bäcker haben verdoppelte Wachen, damit auch nicht ein Stück Brot, sowie es heiß aus dem Ofen kommt, den Behörden entgehe. Man hat seit gestern abend unaufhörlich mit Verbinden und Unterbringen der Verwundeten sich abgearbeitet, und noch immer liegen nicht wenige am Markte und in den angrenzenden Straßen unversorgt auf den Steinen, so daß man an mehreren Stellen buchstäblich durch Blut schreitet. – Unter den Verwundeten bemerkt man ungewöhnlich viele und schwer getroffene Offiziere, im ganzen weit mehr Deutsche als Franzosen. Der Verlust an Toten und Verwundeten soll ungefähr 20 000 Mann betragen, bei den Verbündeten aber ungleich größer sein. So sagen nämlich die Franzosen; von andern Nachrichten wird kein Wort hereingelassen. Gleichwohl erfahren wir auch noch nichts Bestimmtes über den gestern so feierlich verkündeten Sieg, und wir suchen an den Straßenecken vergebens nach einem Anschlage, wie man ihn sonst beim geringsten Anlaß nicht fehlen läßt. Von den Gefangenen sind nur einige kleine Abteilungen von 50-60 Mann eingebracht worden. Mein Herr Kommissar versichert zwar, es seien deren unendlich viele eingebracht. –

»Wohin?«

»Nicht in die Stadt; aus Fürsorge unserer Verwaltung, um sie nicht ernähren zu müssen.«

»Auf den nahen Dörfern ist aber selbst für die Ihrigen gar nichts mehr.«

» Eh bien; sie sind gebracht – anderswo hin. Seien Sie ganz unbesorgt!«

Bis jetzt hörte ich außer einigen Plänkeleien der Vorposten von früh 6 Uhr an kein Feuern. Alle weiteren Nachrichten sind nur Gerüchte. Die Verbündeten sollen sich in der Nacht vom Schlachtfelde zurückgezogen und einige Stunden weiter hinaus Stellung genommen haben.

Connewitz

In Lindenau und Connewitz ging mehrmals Feuer auf, obgleich in dem letztgenannten Dorfe selbst nicht eigentlich gefochten worden ist. Eben erfahre ich, daß auf dem Gute des Herrn Dr. Hillig, dessen Garten von dem meinen nur um einige Schritte entfernt ist, einige Nebengebäude niedergebrannt sind. Mein und des Nachbars Haus ist dadurch erhalten worden, daß die Luft still war und die Flammen gerade aufstiegen. Das schöne und größte Gut in Connewitz, das jetzt die Witwe Carl besitzt (es ist dies der ehemals in Leipzig berühmte Wenzel'sche Landsitz, dem gesellschaftlichen Vergnügen der feinsten Leipziger Welt gewidmet), ist leider mit allen Wirtschaftsgebäuden bis auf die Grundmauern aus- und niedergebrannt.

 

Abends.

Der Zustand der Stadt ist schrecklich. Seit die gestrige Schlacht beendet war, weiß niemand (die ausgenommen, die es wissen sollen), wo der Kaiser ist. Die Greuel auf den Straßen übersteigen fast alle Begriffe, und die Barbarei, mit der die umherliegenden Elenden von ihren französischen Kameraden behandelt werden, spottet jeder Beschreibung. Über die Stadt selbst ist bis morgen Mittag 12 Uhr ein Vertrag geschlossen worden, wenigstens sagt man dies, und die Preußen und Kosaken, die vor dem Halleschen Tore bis nach Pfaffendorf plänkern, dringen nicht ein. Aber es sind etwa 12 Granaten hereingeworfen worden, die alle mehr oder weniger Schaden angerichtet haben.

Jede Familie, arm oder reich, hat bei Androhung der härtesten Strafen schnell abliefern müssen, was die Armee brauchen kann: Betten, Küchengeräte und Mundvorrat, Äxte, Spaten und dergleichen.

Alles, was dazu fähig ist, muß hinaus, um an den Schanzen arbeiten zu helfen. Die Tore und Straßen der Vorstädte, selbst einzelne Häuser der letzteren werden befestigt, vom Militär besetzt, und sollen bis zum letzten Mann verteidigt werden. Die Not, die Angst und das Jammern vieler armer Vorstädter, die ihr Eigentum preisgeben müssen und nicht wissen, wo sie mit ihrer tragbaren Habe unterkommen sollen, ist wahrhaft herzzerreißend – – –. Die verbündeten Korps in der Gegend von Wolkwitz behaupten ihre Stellung, die bei Lindenau und Schönau u. s. w. haben eine neue Stellung in derselben Gegend eingenommen. Gegen 11 Uhr vormittags war ein großes französisches Korps den zurückweichenden Verbündeten in der Richtung gegen Grimma hin nachgezogen. Unaufhörlich, doch ziemlich entfernt, hörte man das Donnern der Geschütze. Mein Herr Kommissar hatte auch dahingemußt. Jetzt, abends spät, kommt er zurück und sagt: »Wir haben dort einen großen und harten Kampf gehabt, aber gesiegt. Haufenweise liegen weit und breit Tote und Verwundete umher, morgen gibt's ein frohes Ende!« –

Unser König hat einen Gesandten des Kronprinzen von Schweden empfangen. Er hat den Verbündeten die Stadt zu möglichster Schonung empfohlen, zugleich aber beschlossen, sie nicht zu verlassen. Napoleon soll diesen Vormittag von den verbündeten Fürsten, zunächst vom Kaiser Franz, freien Abzug seines Heeres verlangt haben. Dieser sei ihm zugestanden worden, wenn er zuvor Wittenberg und Torgau räumte. Das habe er nicht gewollt, und so seien die Unterhandlungen abgebrochen worden. Welch ein Tag wird uns morgen bevorstehen! Ich sehne mich nach Schlaf und brauche ihn wahrlich; darum will ich mich an einigen Erinnerungen des heutigen Tages in den Schlummer zu schreiben versuchen.

Eine uns bekannte junge Frau, zart gebaut, fein, zierlich und scheu in ihrem ganzen Wesen, hört, wie alle Bewohner ihres Hauses, eine der hereingeworfenen Granaten an diesem Morgen durch das Dach brechen, aber dann ist's still. Sie sagt: »Die Granate ist nicht gesprungen, wer wagt's, hinaufzugehen und Unglück abzuwenden?« Niemand wagt's, sondern man erzählt, daß die Teufelsdinger sich oft erst nach langer Zeit auf ihre Bosheit besännen. Sie aber rafft augenblicklich eine wollene Decke auf, taucht sie in Wasser, eilt hinauf, ohne daß ihr ein Mensch folgt, breitet sie vielfach um die Granate, kommt wieder herunter und sagt ruhig: »Jetzt haben wir das Unsrige getan, nun wird Gott das Seine tun.« Die Granate sprang nicht.

Eine andere nicht mehr junge, sehr gebildete Frau, die vor einer Maus alle Fassung verliert und vor einer Raupe bebt, hat einen General in Quartier, der als einer der übermäßigsten Quäler bekannt war und, weil er nirgends befriedigt werden konnte, in 5 Tagen 3 Mal umquartiert worden war. Sie tut alles Mögliche, aber der General findet dennoch alles schlecht, und seine Forderungen wachsen immerfort. Er bedient sich, weil er selbst zu stolz ist, um seiner Wirtin das Wort zu gönnen, eines Adjutanten als Vollstrecker seines Willens. Dieser, ein junger Mensch, ahmt seinem Gebieter in der ärgsten Übertreibung nach. Je mehr gewährt wird, umso mehr wird gefordert. Alle Vorstellungen werden mit Spott, alle Weigerungen mit Drohungen und neu ersonnenen Neckereien beantwortet. Endlich kommt der junge Herr mit einer neuen, geradezu tollen Forderung und wird dabei äußerst impertinent. Madam gibt ihm blitzschnell eine tüchtige Ohrfeige. Mit einem Schrei der Wut greift der Herr nach dem Säbel. Sie spricht: »Tun Sie, was Sie wollen, aber das schwöre ich Ihnen: Wenn Sie künftig still und bescheiden sind, so erfährt kein Mensch, was hier vorgefallen ist, so lange Sie hier sind und es Ihnen schaden könnte; sonst aber rufe ich Allen zu: Dieser Offizier hat Ohrfeigen von einem Weibe verdient und bekommen. Dann sehen Sie zu, wie Sie mit Ihrer Ehre und im Dienst auskommen!« Drohend eilte er fort, wurde aber still und bescheiden. Die Frau hielt Wort, selbst ihr Mann hatte keine Ahnung von dem Vorgefallenen. Erst als der General und der Adjutant ausgerückt waren, vertraute sie sich ihrem Manne, der nicht unterlassen konnte, seine Freude über die sonst so sanfte, nachgiebige Gattin einigen Freunden mitzuteilen.

 

Den 18. Oktober, vormittags 11 Uhr.

Die ganze Nacht hindurch zogen Geschütze, Wagen und Regimenter vor unsern Fenstern an der Promenade vorüber, und zwar nach der Gegend des Ranstädter Tores hin. Da ließ sich's freilich nicht schlafen. Mit Tagesanbruch hörte man die Kanonade, die jene Züge zu decken oder zu hindern schien. Dann begann sie von der Gegend des Halleschen Tores her stärker, immer stärker, endlich fürchterlich stark zu werden. In ähnlicher Weise erhob sie sich nun nach allen Seiten hin und um die ganze Stadt. Ney und Marmont sind vorgestern bei Düben vornehmlich durch Preußen und Schweden geschlagen worden. Napoleon soll das gestrige Gefecht bei Grimma gewonnen haben. Es naht die Stunde, in der der Vertrag über die Stadt abläuft. Wegen Feuersgefahr habe ich in den Morgenstunden einige Wertgegenstände in den Keller geschafft. Die Meinigen habe ich in dem einzigen Zimmer nach der Straße, das man mir gelassen hat, einquartiert. Der König, der bisher gefaßt in seiner Wohnung am Markte geblieben war, hat sich eben ins Schloß begeben. Vor den Toren, und besonders vor dem Ranstädter Tor, wohin der ungeheuerste Andrang gewesen ist, haben die Truppenzüge selbst einander die Wege versperrt. Mit Toben und Wüten stürzten sie Straße auf, Straße ab, sammelten sie sich und zerstreuten sie sich wieder. – – Von Schlaflosigkeit, körperlicher Anstrengung und innerer Bewegung fühle ich mich wie gelähmt, aber es muß doch vorwärts gehen, und es wird auch …

Da schlägt's 12 Uhr. Gott, welch ein Krachen des größten Geschützes, vielleicht zur Bezeichnung der Stunde, auch das Feuer des kleinen Gewehrs, das gar nicht fern von den äußeren Toren zu sein scheint, beginnt mächtig. Ist es doch wahrlich, als ob …

 

Nachmittags 5 Uhr.

Das war eine arge Unterbrechung! vom Halleschen Tore her warf man 8 Granaten in die Stadt, und gleich eine der ersten flog in das Haus, das ich bewohne. Sie schlug durch den Schornstein, zersprang über mir im 3. Stockwerk in der Küche, die Stücke zertrümmerten, was sie erreichten. Mehrere flogen durch die Fenster und mit diesen in den Hof. Dampf- und Pulvergeruch verbreitete sich durchs ganze Haus. Die unerwartete, ganz eigentümliche, mir neue Art des Krachens, Schmetterns und Klirrens, das gewaltsam ausgestoßene Angstgeschrei meiner weiblichen Dienstboten, die laut kreischend in das Zimmer stürzten, wo ich mit den Meinigen versammelt war, dies alles lähmte uns auf einige Augenblicke.

Nachdem ich mit einigen Hausgenossen die oberen Gemächer und Böden untersucht und keine Feuerspur gefunden hatte, überkam mich eine körperliche und geistige Ruhe, in der ich's vermochte, meine Veranstaltungen für die Zukunft zu treffen. Ich bewog alle die Meinen, auch sämtliche Dienstboten, sich hinunter in das bombenfeste Gewölbe zu begeben und blieb selbst ganz allein oben, um das Weitere abzuwarten und fast gemächlich zu erwägen, was bei fortgesetztem Bombardement, bei Eroberung durch Sturm, bei Plünderung, Feuersnot u. s. w. zunächst zu tun sei. Ich machte mir das alles ganz klar und schrieb die Hauptpunkte auf, das Blatt so legend, daß es den Meinen sogleich in die Augen fallen mußte, wenn mir etwa, wie Tell sagt, »was Menschliches begegnete.« Hierbei störte mich weder die furchtbare, nahe Kanonade, noch das entsetzliche Geschrei auf der Straße, als in meiner Nachbarschaft eine zweite Granate einschlug und auch mehrere Kanonenkugeln niederfielen. So viel ich bis jetzt erfahren, haben nur einige der Granaten gezündet, das Feuer ist aber gedämpft worden, ehe es um sich griff. Nur wenige Personen sind verwundet. Durch den Erker des Hauses meiner Frau in der Katharinenstraße hat eine 6pfündige Kanonenkugel geschlagen und ihn übel zugerichtet. Unmittelbar darüber steht mein Anteil an der Winklerschen Gemäldesammlung aufgestellt. Rochlitz war durch Erbschaft in den Besitz eines großen Teiles jener berühmten Privatgemäldesammlung gelangt, die dem Vater des verstorbenen ersten Mannes seiner Gattin Henriette, verw. gew. Winkler, gehört hatte. Nahe an den Fenstern steht der große herrliche Rembrandt und manches andere der schönsten Bilder. Ich freue mich, daß die gute, werte Bewohnerin des verletzten Zimmers mit dem Schrecken davon gekommen ist. – Jetzt, seit 4 Uhr, ist die Kanonade allmählich verstummt, auch das Gewehrfeuer hat sich weiter entfernt und seit ½5 Uhr fast ganz aufgehört. Der Weg für die flüchtenden Franzosen zum Ranstädter Tore hinaus ist wieder offen. Die großen Züge gehen langsam unter Toben und Geschrei der Anführer vorwärts. In das Stockwerk unter mir brachte man noch einen General mit seinem Adjutanten, beide schwer verwundet. Sie wollen ihre Namen nicht nennen – da ich die Meinen zu verlassen mir nicht gestatte, folglich fast niemand spreche, erfahre ich auch nichts über den Zusammenhang des eben so unerwartet abgebrochenen und des vorher wieder beginnenden Sturmes. Wahrscheinlich erführe ich auch nichts, als leere Vermutungen, wenn ich ausginge.

Seit es dunkel geworden ist, sieht man in mehreren Dörfern und Vorwerken Feuer. Gott helfe den Unglücklichen! Wir können es nicht! Unter den nächsten Orten erkenne ich Pfaffendorf und nach dem Feuerschein am Himmel Schönefeld. In Pfaffendorf war ein Hauptlazarett voller Franzosen. Sollten diese abgezogen sein und angezündet haben, was sie geschützt und beim Leben erhalten, damit es ihren Feind nicht auch schütze und seine Leidenden erhalte? – – Rund um die Stadt in der Promenade lagert sich, soweit ich sehen kann, Mann an Mann um hochauflodernde Wachtfeuer. Die unmittelbar meinen Fenstern gegenüber brennenden Feuer werfen dunkelrote Glut an die Wände meiner Zimmer. Die mächtig gegen Barrieren und Bäume geschwungenen Äxte, das Knickern und Knackern beim Losbrechen jener, das Krachen beim Fallen dieser, der Anblick der gelagerten kochenden und trinkenden Soldaten, deren gegen das Feuer gerichtete Gesichter glührot, deren durch Schatten scharf abgeschnittene Rückseiten brandschwarz aussehen, die dann bei einem Stoße des Abendwindes auf einen Augenblick alle in Rauchwolken gehüllt sind: das zusammen gibt höchst interessante Bilder und lehrt mich, wie treffend und wahr van der Poel, Casanova, Loutherbourg und andere Maler dergleichen Szenen dargestellt haben.

 

Den 19. Oktober, früh 6 Uhr.

Da bin ich wieder, und zu meiner Verwunderung durch 5stündigen festen Schlaf gestärkt. Getrost will ich dem entgegengehen, was uns heute erwartet. Vor meinen Fenstern längs der Promenade hin brennen noch die Wachtfeuer, aber die Truppen sind in Bewegung. Soviel ich erkenne, drängt sich noch alles zum Ranstädter Tore hinaus, also auf der Lützener Straße hin. Da nun, wie mir gestern abend mein Herr Kommissar selbst eingestand, die Verbündeten alle Hauptstraßen rund um die Stadt herum inne haben, und da, wie es scheint, der Abzug der Franzosen gestört wird, so hat es den Anschein, daß es Absicht sei, die Franzosen nach jener Richtung bis zu einem gewissen Punkte ziehen zu lassen, um sie dann desto sicherer zu fassen.

Der General, der gestern mit seinem Adjutanten schwer verwundet in das erste Stock meines Hauses gebracht wurde, verharrt dabei, seinen Namen nicht zu nennen, damit seine Soldaten, die ihn lieben, durch sein Geschick nicht im Kampfe gestört werden sollen. Zu einem der Ärzte sagte er gestern abend: »Mein Herr, ich weiß, daß ich sterben werde, aber wenn Ihre Kunst mir das Leben so lange zu erhalten vermag, bis ich meinen Kaiser aus dieser Verlegenheit befreit sehe, so wenden Sie sie sorgsam an. Es wird nur kurze Zeit dauern, dann brauchen Sie sich nicht mehr viel um mich zu bemühen, ich werde gern sterben!«

Eine mit Recht hochgeachtete Familie, Vater, Mutter und Kinder, waren gestern während der schrecklichen Kanonade in ihrem Zimmer versammelt. Eins der Kinder, ein etwa zweijähriges Mädchen, wird von der Mutter auf dem Schoße gehalten. Da fällt eine Granate ins Haus, ins Zimmer, sie zerspringt, ein Stück reißt dem Kinde auf dem Mutterschoß ein Ärmchen ab. Die Mutter schreit und jammert überlaut. Der kleine Engel aber sagt: »Gute Mutter, weine nicht, es wächst mir ein anderes, nicht wahr, Vater?« Hat je ein Dichter so mit einem leisen Griffe alle Saiten der Menschenseele erbeben gemacht? – – Gott rief bald darauf den holden Engel dahin ab, wohin er gehörte.

 

Vormittags 8 Uhr.

Soeben verteilte meine Frau ihren letzten Rest an Brot unter die Hausgenossen. Da für Geld nichts zu haben ist, ich auch nicht bei Freunden anklopfen mag, so müssen wir's heute ohne dieses Nahrungsmittel versuchen. Mangel brauchen wir darum noch nicht zu leiden. Seit heute morgen ging der Zug der Flüchtlinge, meist Kavallerie und Munitionswagen, in möglichster Eile und mit französischem Toben an meinen Fenstern vorüber nach dem Ranstädter Tore. Nur einzelne Schüsse hörten wir noch fallen. Es gewährte mir einen herrlichen Genuß, nachdem ich erfahren habe, daß auch die Meinen durch festen Schlaf erquickt sind, wieder einmal eine Stunde am gewohnten Schreibtisch zuzubringen. Ich werde ihn jedoch schließen und mich in die vorderen Zimmer begeben müssen, sonst könnte mich eine Kugel hier gar zu bequem treffen. Den Aufenthalt vorn erschwert uns, wie allen Bewohnern nicht eben breiter und mit hohen Häusern besetzter Straßen, der fast unausstehliche, betäubende Geruch der Fäulnis von moderndem Stroh, Unrat der Pferde u. s. w. Zuvor will ich von den oberen Vorratskammern alles herunterschaffen, was von Wert ist und leicht Feuer fängt. Da ich nur wenige Dienstboten habe und für Bezahlung keine Hilfe zu erlangen ist, werde ich derb anpacken müssen. Nun, ich habe ja wieder einmal geschlafen, frisch ans Werk also! – –

 

Abends 7 Uhr.

Diese Stunden – o, diese Stunden, lohnend für tausend Drangsal, beschreibe, wer es kann! Wo sollte ich anfangen, auch nur mit dem, was ich selbst gesehen, selbst erfahren; wo enden? Indes, was sich in mir eben jetzt, nachdem der erste Sturm der Gefühle vorüber und ich im gewohnten Stübchen Gott gedankt habe, daß er mich den furchtbar großen Tag hat erleben lassen, was sich in mir da hervordrängt, das will ich niederschreiben, so gut oder so schlecht die fliegende Feder es hinzeichnen will – –

Vom Schreibtisch, an dem ich Vorstehendes vollendete, ging ich an das erwähnte Tagelöhnergeschäft. Was vermag man, wenn man muß! Ich habe gehoben und getragen, was ich nun kaum rücken kann. Das Geschäft war erst begonnen, als fast in ein- und demselben Augenblick die Kanonade vor allen Toren zugleich und schrecklicher als je donnerte. Herr ***, der auf einige Minuten vom Rathaus zu den Seinigen eilte, brachte die Botschaft, unser König habe den verbündeten Monarchen die Stadt nochmals zur Schonung empfohlen, und es sei die Antwort gekommen, man werde schonen, soweit es die Kriegsführung irgend zuließe. Nur möchte man sorgen, daß die abziehenden Franzosen nicht anzündeten oder sonst verwüsteten. (Sie haben gestern wirklich die Lazarette in Brand gesteckt, nachdem sie sie ausgeplündert hatten, wobei auch die kostbaren Sammlungen chirurgischer und anderer Instrumente verloren gegangen und die meisten der schwer verwundeten Franzosen umgekommen sind. Auch Pfaffendorf ist in Feuer aufgegangen. So wäre es auch dem Place de Repos u. s. w. ohne schleunige Hilfe ergangen.) Kaum hatte ich diesen Viertelstrost vernommen, als ich in der Klostergasse Napoleon in großer Begleitung seiner Garde vorüberreiten sah. Er war in schlichtem, kotbespritzten Überrock; sein Gesicht war weder verlegen, noch verwegen, noch sonst beunruhigt, sondern es zeigte die starre, scheue Ehrerbietung erzeugende Kälte, die an ihm oft vor entscheidenden Augenblicken, eben wenn's in ihm kocht und sprudelt, bemerkt worden ist. Murat und Poniatowski waren glänzend geschmückt, die andern schimmernden Herren zu erkennen, war nicht Zeit. Nur der despotische Weichling, der uns so vielfach gequält, fiel mir noch in die Augen. Sie ritten nach mehreren Toren, zunächst nach dem Peterstor und dessen Pforte am Floßgraben. Wollte Napoleon die Verteidigungsanstalten nochmals überblicken? Oder den Mut der Seinen neu entflammen? Oder über den Punkt sicherer werden, auf dem zu entkommen sei, oder wollte er über diesen Punkt irre führen? Jeder Posten seiner Soldaten empfing ihn mit Jubelgeschrei; in den Straßen ward kein Laut gehört. Hierauf stieg er am Markte vor unsers Königs Hause ab und ging mit Murat hinauf. Sein Besuch dauerte vielleicht eine halbe Stunde. Aus der Nachbarschaft konnte man ihn bemerken, wie er mit dem Könige im Erker redete, während Murat sich mit der auf dem Sofa sitzenden Königin besprach. Napoleons Bewegungen waren hastig und bezeichnend, seine Miene gefaßt und anständig. Er sprach viel und fast immerfort. Der König stand in seiner gewohnten stillen Würde, er schien wenig und nur Bedeutendes zu sagen. Dies glaubte man aus Napoleons Achtsamkeit und Mienen lesen zu können.

Darüber, wie der Kaiser hernach entkommen ist, erfahren wir noch nichts Sicheres. Man hat ihn durch die jetzt versumpften Wiesen gegen Lindenau reiten sehen. Aber auch in Richters Garten (jetzt dem Herrn Bankier Reichenbach gehörig) soll er mit einem Trupp seiner Vertrauten gewesen sein. Gewiß ist, daß Poniatowski und Macdonald, die seinen Rückzug zu decken hatten, dort durch die Elster gesetzt sind, so hoch und steil auch da ihre Ufer sind. Poniatowski soll bei diesem Wagestück ertrunken sein. Anmerkung des Herausgebers: Poniatowski ist unmittelbar nach der Sprengung der steinernen Elsterbrücke beim Ranstädter Tor schwer verwundet auf seinem scheuenden Pferde in die Elster gesprungen und hat seinen Tod in den Fluten gefunden. Das alles wird sich bald aufklären und berichtigen.

Das Folgende erfuhr ich von einem Manne, der unmittelbar dabei tätig sein mußte:

Gegen die Mittagsstunde, als eben das österreichische Heer auf der Landstraße in die Stadt drang, kam Napoleon mit den Seinen nach Lindenau, hielt an der Mühle, die hart an der Straße steht, verweilte mehrere Minuten und aß, während im Dorf von Franzosen zum Plündern getrommelt ward.

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Wie Napoleon weiter fortgekommen ist, weiß jetzt noch niemand. Manche meinen, es sei ihm aus noch unbekannten Ursachen absichtlich jener Ausweg offen gelassen worden, da alle Zugänge zur Stadt gänzlich in der Gewalt der Verbündeten waren.

Ehe noch Napoleon in Lindenau sein konnte, hörten wir einen einzelnen entsetzlichen Krach: »Sie haben eine ganze Batterie gegen das verrammelte Tor gerichtet!« schrieen einige Untenstehende zu mir herauf. Es war aber die alte, sehr starke Elsterbrücke gewesen, die gesprengt worden und in den Fluß gestürzt war. Jetzt ging der Tumult französischer Flüchtlinge, der Kanonen, Pulverwagen und anderer Fuhrwerke an den Promenaden hin über allen Begriff. Der Zug hatte sich verfahren und konnte selten nur um einige Schritte vorwärts. Nun war die Brücke des einzigen Ausgangs gesprengt, und jeder Einzelne wütete. Mit dem tausendfältigen Hallen des Geschützes gab es einen Teufelslärm, wie ihn sich kein Mensch denken kann, der ihn nicht gehört hat. Hier schien sich ein kleiner Trupp durchgehauen zu haben, er rückte ein Stückchen vor, alles drängte nach, er ward zurückgeworfen oder stockte sonst, und alles hetzte und tobte wie zuvor.

Indem dies vor meinen Augen vorging, brachen in der Nachbarschaft wieder einige Granaten herein, Mehrere andere Kugeln pfiffen umher, einige fielen auch in den Hof. Da gab ich dem Drängen der Meinigen nach und ging ebenfalls hinunter in das geräumige feste Gewölbe. Dort gab es ganz andere Szenen.

Ein junges fremdes, mir unbekanntes Paar, das nur aus Gefälligkeit aufgenommen worden war, stand, von allen übrigen abgesondert, schweigend und fast regungslos da. Eine Linke hatte eine Rechte gefaßt. Man blickte einander bloß zuweilen ins Auge und schien, ohne auf die Umgebung zu achten, dem andern, der Liebe und unserm Herrgott vertrauend, es ruhig darauf ankommen zu lassen, was weiter werden möge.

Ein mir ebenfalls unbekannter, sehr hübscher junger Mann, heftig aufgeregt, und voll begeisterter Vaterlandsliebe, flog immer ab und zu, brachte stets eine neue Siegesnachricht und erzählte sie hastig allen, die sie hören oder nicht hören wollten. Er jauchzte auf, wenn eine Batterie darein krachte und eilte wieder fort, um neue Beweise dafür zu holen, daß die Franzosen bald alle tot wären. Die kecken originellen Einfälle, die Begeisterung und die drolligen Sprachwendungen, die ihm die Hast abzwang, würzten seine Siegesberichte ungemein.

Einige im anmutigen Aufblühen stehende junge Mädchen waren von ihren treuen Müttern in den allerdunkelsten Teil des Gemachs geschoben und durch eine zweite ihnen vorgesetzte Reihe Stühle vor irgend einer Gefahr (freilich leicht genug) geschützt worden. Die guten jungen Seelen waren, die Angst ihrer Mütter teilend, mit Tränen in den Augen herabgekommen. Bald aber löste sich ihr Schmerz in das drückende Gefühl der Langeweile auf, indem die ewigen Klagen und Mordgeschichten sie nicht mehr interessierten, und selbst das Aufschrecken beim Knall einer Batterie für sie bald den Reiz der Neuheit verlor. Sobald aber junge Mädchen Langeweile fühlen, ist ihnen jede Kurzweil willkommen. Sie schienen sich ganz wohl zu befinden und lächelten zufrieden vor sich hin, bis etwa ihr Blick auf eine der geängsteten Mütter fiel und nun schnell in sanfter Trauer niedersank, bis wieder ein Tröster oder eine Erfrischung nahte.

Bei drei lustigen lebensfrohen Knaben schlug der Jammer noch weniger an. Sie hatten zwar auf kurze Zeit versucht, neben ihren Eltern ernst zu bleiben, hatten auch manche kriegerische Vorkehrungen getroffen. Einer hatte einen Säbel umgeschnallt und versicherte seiner Mutter, er werde jeden, der ihr etwas tun wolle, durch den Leib stechen. Bald hatten sich die Knaben unvermerkt zusammengetan, freuten sich, halb verstohlen, des prächtigen Schießens und trieben bald ihr gewohntes Wesen so frisch und unbekümmert, daß ein gewisser Herr mit scharfen Worten dreinzufahren für nötig hielt. Zu seiner großen Genugtuung war die Ermahnung so wirksam gewesen, daß man die Knaben lange nicht mehr sah. Sie aber hatten im Gewölbe ein hohes Faß mit süßen Mandeln ausgegattert, einander geschickt hinauf und hineingeholfen und schmausten da in stillem Behagen mit schönstem Appetit. –

Indessen dauerten Kanonade und Kleingewehrfeuer rund um die Stadt ganz in der Nähe der äußeren Tore aufs hitzigste fort. Viele Kugeln flogen in die Stadt und stifteten gar manches Unheil an. In den Vorstädten plünderten Franzosen. Sie suchten nach Pulver. Wie wir erfuhren, hatte die gesamte Besatzung heute nur halbe Portionen Munition bekommen können. Am Brühl, ziemlich nahe am Hause meiner Frau, ging Feuer auf. Es ward aber bald gedämpft. Ich ging aus dem von der zusammengepferchten Menschenmenge mit Stickluft angefüllten Gewölbe mehrmals hinauf in meine Zimmer, die ins Freie sehen. Am Fenster pfiffen mir aber einige Kugeln doch zu nahe an der Nase vorbei, deshalb zog ich mich wieder zurück.

Endlich, endlich – es war ungefähr ¾1 Uhr, da erhebt sich auf der Straße, nahe bei uns, ein gräßliches Zetergeschrei. Wir erschrecken, wissen nicht, was es ist, könnens auch nicht erfahren. Ein wildes Geschrei anderer Art folgt, eilende Pferde und eilende Menschen hören wir dahinstürmen, alles dringt vorüber, anderes folgt nach. Gott, es war errungen! Jenes erste Geschrei kam von einem Trupp Franzosen und Deutschen, die sich verschossen und die Waffen von sich geworfen hatten und auf welche die ersten eindringenden Sieger im Siegesrausche einhauen wollten. Das zweite war Freudenjubel. Das erste Korps Preußen, meist Infanterie mit einem Trupp Kosaken, drang jauchzend die Straße herauf.

Nun ich hinauf! Ich kam zu dem Augenblicke, da unmittelbar vor meinen Fenstern soeben die Barfüßer-Pforte gesprengt worden war und nun Tausende der Siegenden durch die Gärten, über die Wiesen brechend in die Stadt hereinfluteten. Nahe am Ranstädter Tore hatten die Franzosen noch zwei starke Batterien von gewaltiger Kraft. Ein starkes Korps Sieger bricht von der Straße am sogenannten Kuhturm und nun durch den Sumpf der Wiesen, durch die Gräben der Gärten mit Jubel herüber, gerade herüber auf die Stadt. Was sich entgegenstemmen will, wird geworfen und entweder in die Pleiße und in den Stadtgraben gejagt, oder es ballt sich zu Haufen zusammen und schreit, daß einem das Herz hätte zerspringen mögen, in dem überhöhen Tone Rasender um Pardon. In demselben Augenblicke tönt von der anderen Seite zum ersten Male wieder in meinen Ohren der früher tausendmal vernommene fröhliche Marsch der hellen Jagdhörner preußischer Freiwilliger – derselben, unter denen die befreundeten jugendlichen Krieger Theodor Körner, Georg Göschen und andere die Waffen trugen. Wie seltsam spielen unsere Sinne mit uns, selbst in Augenblicken hohen Ernstes, höchster Spannung! Ich wußte, was geschah. Ich hatte es schon gesehen, und doch, diese wohlbekannten Töne, die es nur verkündigten – kein Wort bezeichnet den Eindruck, den sie auf mich machten. Meine Tränen stürzten hervor. Überlaut rief ich den Meinen zu, herbeizukommen und gleichfalls zu hören, ob sie mich gleich nicht vernehmen konnten. Von meiner Brust war mit einem Male alles Beengende verflogen. Ich riß die Fenster auf und ließ die Kugeln pfeifen, wie sie wollten. Ich wehte mit dem weißen Tuche hinüber, dann eilte ich hinab, allen zuzurufen, was ich gesehen, was ich gehört hatte. Unten hat die gute, alte Besitzerin des Hauses, gichtgelähmt an beiden Füßen, sich mit ihrem Lehnstuhl in eine durch starke Pfeiler gesicherte Ecke tragen lassen und zittert nun der Entscheidung entgegen. An sie, die zum Sterben Geängstete, wende ich mich zunächst, beuge mich, ihr Trost und Freude einsprechend, zu ihr und komme dadurch an das Fenster zu stehen, Eine vierpfündige Kanonenkugel fliegt in den Hof, schlägt mit solcher Gewalt an die Mauer unter eben dieses Fenster, daß sie, auf die entgegengesetzte Seite abspringend, noch da hart an eine eiserne Türe kracht. – Kam sie eine halbe Elle höher an, so drang sie mir durchs Rückgrat, und alles war aus für mich. Ich hatte nicht Zeit und nicht Ruhe, dem lieben Gott zu danken, er wird wohl das Ganze meines Innern in Diesem Augenblick für Dank angenommen haben.

Ich eilte wieder hinauf, um die Fortsetzung des Kampfes zu sehen. Vor meinen Augen war kein eigentlicher Widerstand mehr. Die Sieger zogen in scharfgedrängten Reihen eilig herein. Neben diesen Reihen drängten Ungeduldige jauchzend sich noch schneller vorwärts, wo sich irgend ein Räumchen fand. Zwei große preußische Jäger, die mit verschlungenen Armen vorauseilten, kamen mir eben zufällig vor das Fernglas. Da schießt einer der im Garten vor meinen Fenstern versteckten Franzosen dem einen dieser wahrhaft schönen Jünglinge in den Leib, daß er sogleich zusammensinkt. Sein Freund will ihn halten, er vermag's nicht, zieht ihn an eine Linde, lehnt ihn halbaufgerichtet an sie, kniet an seiner Seite nieder und ist liebevoll um ihn beschäftigt. Dieser Anblick riß mir tiefer in die Seele, als das tausendfältige Ähnliche, was ich nur in Masse gewahret hatte. Ich warf mich aufs Sofa, die frohe Begeisterung war, wenigstens auf einige Minuten, ganz dahin. Das Los des Menschen, Großes nur durch Leiden, Frohes durch Schmerz, Leben durch Tod erringen zu sollen, trat wie ein mit Feuer auf Nachtgrund gemaltes Bild plötzlich vor meine Seele. – –

Die Rachewut und Todesverachtung vieler versprengter Franzosen war heldenmütig, aber gräßlich. Im Garten unter meinen Fenstern lauerten nicht wenige hinter Bäumen und schossen immerfort blind unter die einziehenden Sieger. Selbst in dem kleinen Pavillon am Hause staken deren vier. Als wir ihnen freundlich zuriefen, sich zu retten, legten sie auf uns an und schworen dem den Tod, der ihnen zu nahe käme. Wir ließen sie denn schalten; zwei davon mögen später entkommen sein, der dritte lag tot und nackt mehrere Tage im Zwinger unter meinen Fenstern. Der vierte wurde, dem Verscheiden nahe, am dritten Tage in einer Laube gefunden. Er war weder verwundet noch krank, sondern wollte verhungern, um sich nicht ergeben zu müssen. – – Im Stadtgraben, an der Barfüßer-Pforte standen viele bis unter die Arme im Wasser, hielten die Gewehre und, was für diese nötig war, empor, luden und schossen immerfort. Und wenn dann einer von den vorüberziehenden Siegern wie ein versprengtes Wild auf der Lustjagd vom Jäger gefaßt wurde, und getroffen unter die Wasserfläche sank, so schrieen die anderen, als wären sie die Jäger, über den Gewinn.

Gleich nachdem die Preußen in die Stadt gedrungen waren, quollen auch Schweden, Russen, Österreicher u. s. w. zu allen Toren herein. Mehrere Gärten, besonders am Grimmaischen und am Peterstore, ja mehrere Gartenhäuser, hatten einzeln mit Sturm genommen werden müssen, weil darin Franzosen sich nach Möglichkeit verrammelt und gewehrt hatten. Bis in viele Wohnzimmer war gefochten, geschossen und gar mancher erlegt worden. – Das Korps der Badener streckte am Markte, unser sächsisches in der Grimmaischen Gasse das Gewehr. Auf Befehl des Kronprinzen von Schweden nahmen sie es sogleich zurück. Auf den Anruf der Sieger: »Brüder, mit uns!« stürzten ganze Haufen einander in die Arme. Dies, sowie das Zusammentreffen der Monarchen auf dem Markte, nahe an der Wohnung unseres Königs, wo sie sich ebenfalls umarmten und einige Minuten verweilten, dazu den Jubel der Wonne, des Preisens Gottes von den Heeren und allem Volk – dies nicht selbst gesehen, nicht unmittelbar mitempfunden zu haben, werde ich stets für einen der größten Verluste meines Lebens erachten. So überströmend, so trunken die Freude war, so kam doch nicht die geringste Ausschreitung vor. Kein Mensch wurde beleidigt. Alle sprachen oder dachten:

»Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr!«

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Poniatowskis Tod in der Elster am 19. Oktober 1813 (S. 40).

Alle Häuser waren geöffnet. Niemand dachte für sich oder seine Habe an Gefahr. Wer noch Lebensmittel hatte, trug sie heraus; auch hierbei sah man kein gewaltsames Herandrängen, so ausgehungert auch viele der Soldaten waren. Nach mehreren Trupps Preußen zog vom Ranstädter Tore herauf ein großes österreichisches Heer dahin, an der Spitze der edle Kaiser Franz, höchst einfach und mit mildem Ernst. Dem Hause, in dem ich wohne, sollte anfänglich die Aufnahme und Bewirtung des Königs von Preußen zu teil werden. Ich brauche nicht zu erwähnen, wie freudig ich mit Weib und Kind mich in irgend ein Hinterstübchen eingeschachtelt hätte. Leider fand man dann, daß für den König wenigstens ein größeres Zimmer nötig sei, als wir besaßen.

Mein schönes liebes Connewitz soll recht eigentlich verwüstet sein. Vielleicht ist's übertrieben, aber kann ich's auch nie wieder aufbauen, ich klage nicht mehr, gehöre ich doch unter die, von denen es heißt:

»Was auch das Schicksal ihm geraubt,
Ein süßer Trost ist ihm geblieben,
Er zählt die Häupter seiner Lieben,
Und sieh, ihm fehlt kein teures Haupt.«

Darum, gelobt sei Gott!

 

Den 20. Oktober, morgens.

»Genießen Sie die Freude der Rettung der Stadt und des Sieges der gemeinsamen guten Sache. Aber setzen Sie sich auch in Fassung, noch einige Zeit die Lasten gern zu tragen, die selbst aus dieser erwünschten Wendung der Dinge für Sie entspringen müssen, und die auch der beste Wille nicht von Ihnen nehmen kann,« so ungefähr sagte Kaiser Alexander zu der Familie, die ihn zu beherbergen die Ehre genoß, und die er sogleich vom Ersten bis zum Letzten an seine Tafel zog. Mit sichtbarer Anstrengung unterhielt er sich deutsch, bis er bemerkte, daß man französisch verstand. – Schon diesen Morgen hatten wir Gelegenheit genug, diese huldvolle Weisung begründet zu finden, doch will ich mit den Abscheulichkeiten, womit viele abziehende Franzosen, wahren Mordbrennern gleich, sich und das Jahrzehnt gebrandmarkt haben, das Papier nicht beflecken. – – –

Erst nach Mitternacht war ich in einen erquickenden Schlummer versunken. Nun stößt mein Schlafzimmer unmittelbar an das der Familie des Herrn Ratsbaumeisters V**. Ungefähr 2 Stunden mochte ich geschlafen haben, als ich stark und wiederholt an meine Wand pochen hörte. Ich fuhr auf und rief, noch halb im Schlafe: »Was gibt's denn?« – »Seh'n Sie nur ans Fenster.« Ich springe hin, da schlägt gerade vor meinen Augen eine mächtige Flamme hell und prasselnd gen Himmel auf. In einigen Minuten war ich vor dem Hause, mitten unter schlafenden Pferden und Menschen, in so rabenschwarzer Nacht, daß kein Weg zu sehen war, denn man hatte keine Zeit gefunden, die gewöhnlichen Laternen anzuzünden. Ich tappte und stolperte, so gut ich konnte, vorwärts; so kam ich ins innere Ranstädter Tor, wo ich zuerst wieder die Flammen erblickte und zugleich von der Wache erfuhr, die äußersten Häuser des Steinwegs wären in Brand geraten. »Warum wird denn nicht gestürmt?« – »Es ist verboten.« So komme ich durch das Tor – hilf Himmel – in welch ein Greuel der Verwüstung! Beim matten Scheine der ausbrennenden, erlöschenden Wachtfeuer sehe ich hier am engsten Eingange zur Stadt, wo der Boden überall von einem Gemenge sterbender und gestorbener Menschen und Pferde, von Kanonen, Pulverkarren, Wagen, Kriegsgerätschaften und dergleichen bedeckt war, daß schlechterdings nicht anders fortzukommen war, als grade drüber hin. Ich dachte an keine Gefahr und an nichts, als daß ich helfen müsse, und so drang ich denn vor, bis daß ich dem Feuer nahe war. Dieses war jenseits des Mühlgrabens. Ich wollte hinüber und suchte nach den Brücken, die aber sämtlich von den fliehenden Franzosen zerstört waren. Drüben war mein besonnener Wandnachbar und mehrere andere für unsere Löschanstalten verpflichtete Männer, die hinten vom Lazarett her einen Zugang zum Feuer gefunden hatten, mit den Spritzen schon in voller Tätigkeit. Aber es fehlte an Arbeitern und an Wasser. So eilte ich so schnell wie möglich, um in der Stadt Lärm machen zu helfen. Im inneren Tore kam ich eben dazu, als 5 oder 6 Reiter hinaus wollten, deren erster der Wache in recht gutem Deutsch zurief, er sei der Platzkommandant. Ich sagte: »Mein Herr, nur Licht und Raum und die Sturmglocke, dann weiß hier jeder Mann, was er zu tun hat!« Er aber schnauzte mich mit einer Bärenstimme an: »Glaubst du denn, daß ich's zum Spaß verboten habe?« – –

»Nein, aber damit die hohen Herrschaften nicht erschreckt werden!« –

»Zum Teufel, mein Kaiser wäre der erste dabei, aber dann rennt die ganze Armee herzu, und alles verstopft sich, und die ganze Pastete brennt zusammen!«

Wie wahr der dickbärtige Mann gesprochen hatte, zeigte sich sehr bald, indem, selbst ohne, daß die Sturmglocke sie gerufen, die Herren Russen, haufenweise aneinander gedrängt, mit Pferden und Piken herbeikamen und die ganze Passage versperrten, so daß keiner auch nur einen Schritt weiter konnte. Nun blickten sie mit gelindem Fluchen abwechselnd auf die Flammen und auf die Verwirrung. Als nun nach langer Zeit einigermaßen Raum geschaffen wurde, zeigte sich zwar ihr herzlich guter Wille, aber auch ihre große Unerfahrenheit und ihr Ungeschick. Mehrere faßten mich am Arme, indem sie in mich hineinschrieen: » Coujon, Franzos! Caput, Franzos! Hurrah!« Andere, die nicht so sprachgelehrt waren, wußten wenigstens zu sagen: »Bruder, äh, Bruder!«

Nach 5 Uhr kehrte ich zurück, um die Meinen zu beruhigen. Dem Feuer waren die Kräfte gebrochen. Nur 3 Häuser sind niedergebrannt, das vierte ist sehr beschädigt. Der Haß sagt, abziehende Franzosen hätten es angelegt; man hat auch wirklich gleich nach ihrem Abzüge in Ställen und auf Böden Brennstoffe gefunden. An verschiedenen Spritzen, die während des Sturms auf die Stadt ins Freie gefahren worden waren, entdeckte man, daß Röhren und Eisenwerk losgebrochen und weggenommen worden waren. Mag diesen Raub Tücke oder Habsucht verübt haben, er bleibt eine umso greulichere Schändlichkeit, je mehr er Bedachtsamkeit voraussetzte, und je mehr Mühe und Fleiß er nötig machte.

 

Nachmittags.

Das Innere der Stadt fängt an, sich soweit zu ordnen, als es bei solcher Enge und Menge möglich sein kann. Doch ist noch nicht daran zu denken, die Vorstädte und Alleen von den Leichnamen der Menschen und Tiere zu reinigen. Möchte es nur erst möglich werden, allen Obdach und Hilfe zu schaffen, die verstümmelt und hilflos unter Leichen liegen und kriechen. Von den Straßen dampft ein scharfer verpestender Geruch des Unrats von Menschen und Pferden herauf in die Zimmer, der um so ekelhafter und verderblicher werden muß, als unsere Häuser so hoch, unsere Gassen so eng und der freien Plätze so wenige sind. Aus den Gärten und der weiteren Umgebung der Stadt höre ich noch immer einzelne Schüsse von versteckten Feinden fallen. – Die siegreichen Monarchen gehen mit wenig Begleitung zu Fuß umher, um aufzumuntern und Ordnung zu erhalten. Ich begann gegen Mittag meinen Rundgang bei Verwandten und Freunden, um zu sehen, ob und wie sie leben. Ich fand alle wohlbehalten, voll guten Muts und getrost in Hoffnung.

Bei meinem wackern Schwager R** wohnt der Generalleutnant von Thielmann. Er kam einige Minuten herüber und sah die Reste des Frühstücks stehn. »Was?« sagte er scherzend zur Frau vom Hause, »Sie haben Kaffee mit Sahne getrunken? So sind Sie reicher als der Kronprinz von Schweden, bei dem ich vorhin war, und dem man dieses nicht schaffen konnte. –« Nach einer Weile sah ich aus R**s Wohnung am Markte den Kaiser Alexander, nur von 6-8 Herren begleitet, durch die dichten Reihen seiner Krieger auf- und abwandeln. Man kann sich kein einnehmenderes Fürstenwesen denken, als er zeigt. Unbeschreiblich sind die originellen, höchst lebendigen und tausendfältigen Zeichen herzinniger Ergebenheit und vertrauensvoller Huldigung seiner Krieger gegen ihn. Wo ihr Jubel laut werden wollte, wendet er es freundlich ab, vielleicht aus Schonung gegen unsern König und die Seinen, der – Gott weiß, wie uns, die wir alle ihn verehren und lieben, dies schmerzt – am Markte einsam und verlassen wohnt. Alexanders Blicke waren nach allen Seiten den Seinigen huldvoll zugewendet. Mehreren Offizieren nickte er besonders freundlich zu. Ein alter Anführer, der Kleidung nach ein Kosak, fiel ihm in der gedrängten Reihe der Soldaten ins Auge. Auf diesen eilte er einige Schritte zu und redete ihn lächelnd an. Da dieser, von Freude bezwungen, niederfallen wollte, faßte er ihn schnell bei beiden Händen und schüttelte sie ihm derb und kräftig. Da ließ der Jubel der Umstehenden sich nicht mehr zähmen. – – Wie wenig bedarf doch ein Fürst, um das Volk zur frohsten Begeisterung in Verehrung und Liebe zu entflammen, wenn er – dieses beides schon besitzt.

König Friedrich Wilhelm ging wenig aus, zuerst aber in die Niklaskirche. Hier versprach er, diese schöne Kirche, die jetzt unsere einzige ist, solle uns unversehrt bleiben. – Den Kronprinzen von Schweden sah ich ebenfalls, umgeben von vielen vornehmen Offizieren. Er war sehr lebendig, heiter und feurig, seine ganze Bildung, Gestalt und Haltung, sein gesamtes Benehmen und besonders sein schnell bewegliches, geistvoll umherleuchtendes Auge – welch eine von jenen Beiden ganz verschiedene, im besten Sinne französische Erscheinung! Der ritterliche, heldenmütige Poniatowski ist wirklich, wie ich schon gestern hörte, in der Elster mit mehreren seiner kühnen Polen ertrunken. Man hat seinen Leichnam gefunden und zieht überhaupt immer noch viele Verunglückte aus unsern Gewässern. –

Die Hungersnot kann uns noch viele Schrecken bringen, wenn ihr nicht bald abgeholfen wird. Wie soll dies aber geschehen? Mehrere Meilen rund um die Stadt ist alles teils aufgezehrt, teils verwüstet oder verschleppt. Feldmarschall Blücher hat auffordern lassen, die Soldaten zu sättigen, womit es auch sei, sonst sei er genötigt, zu gestatten, daß sie überall selbst nach Lebensmitteln suchten. Das ist gewiß ebenso gerecht als gemäßigt. Wir tun, was möglich ist. Gott wird ja helfen!

Eben – es ist 5 Uhr – kam ein Freund mit der Nachricht zu mir, daß große Heeresabteilungen den Franzosen nachziehen; das ist ja schon einige Hilfe!

Unsere schönen Spaziergänge um die innere Stadt sehen aus wie ein Schlachtfeld. Nur große starke Bäume, an denen die eilige Axt verzweifelte, stehen noch. Zum Säubern kann man noch nicht kommen. Nur die Eingänge der Tore hat man freigemacht, und von den umherliegenden Verwundeten sind soviele untergebracht worden, als bis jetzt möglich war. Aber leider liegen noch viele umher.

Gegen Mittag kam ich zu einer Szene, die ich leider wohl nie aus dem Gedächtnisse verlieren werde, und die auch mir, wie allen Anwohnern der Thomaskirche, leicht verderblich werden konnte. Diese Kirche war schon seit geraumer Zeit ein Hauptlazarett der Franzosen und gestopft voll von Ruhr- und Nervenkranken. Nun war in einer der großen Nebenkapellen eine Menge Tornister, Lederwerk, Patronen und dergleichen aufgespeichert. Ich wollte eben aus dem Hause gehen, als ich einen einzigen, sehr starken, mehr hohlen als hellen, ganz eigentümlich klingenden Krach vernehme. Ich eile hinaus. Alles drängt nach dem Kirchhofe, aber niemand weiß, was geschehen ist. Ich werde vom Menschenstrome mit fortgetragen bis in die Nähe der Kirche, da zeigt sich's. Durch einen Zufall war in jene Kapelle Feuer gekommen. Was Pulver enthielt, hatte sich mit einemmale entzündet; das Dach der Kapelle und ein Teil der Seitenmauern war in die Luft geflogen. Da der Platz ganz frei und die Kapelle leicht gebaut ist, so ist weiter kein Unglück erfolgt. Gräßlich hingegen war der Anblick, wie die elenden, kaum Lebenden ähnlichen Kranken gleich Haufen von Gewürm, einer über dem andern herauskrochen, weil sie nicht wußten, was vorging. Alles Erläutern war umsonst. Sie mußten mit Gewalt zurückgetrieben werden, da der grauenvolle Gedanke unter sie gekommen war, man wolle die Kirche mit ihnen in die Luft sprengen, um sie nicht länger ernähren zu müssen.

Weil unser guter König im Augenblick der ersten Vereinigung der Monarchen auf dem Markte sich nicht zu ihnen gesellt hat, ist er als kriegsgefangen erklärt worden, obwohl er nach Napoleons Abschied bekannt gab, er werde keinen der Seinen hindern, wenn er zu den Verbündeten übergehen wolle, und obwohl er die Monarchen und zuerst den Kaiser Alexander hatte besuchen wollen, sobald sie in ihren Wohnungen angekommen waren. Man sagt, dieser Besuch sei abgelehnt worden. Später besuchte indes der Kaiser Alexander die Königin. Nachdem er sich entfernt hatte, sah man sie in Tränen aufgelöst, und ein starker Trupp russischer Leibgarde, der in der glatten, höchst eleganten Uniform einer dichten Mauer gleicht, wurde am Königshause zur Bewachung der hohen Personen aufgestellt. –

Morgen soll die Stadt und deren nächste Umgebung wenigstens von dem gesäubert werden, was Seuchen erzeugen müßte. General Bertrand, unser ehemaliger Kommandant, dem wir für manches Gute und für die Abwendung noch größeren Übels sehr dankbar sein müssen, hat sich mit anderen geachteten französischen Generälen und Obersten kriegsgefangen ergeben. Sie werden sehr anständig behandelt, auch Lauriston und Regnier sind gefangen. – –

 

Den 21. Oktober, vormittags.

Preußisches Fuhrwesen bringt einen nicht unbeträchtlichen Vorrat Fourage, aber kein Brot und keinen Branntwein, und der Mangel bei den Einwohnern, wie die Ungeduld bei den Soldaten nimmt beängstigend überhand. Man hört seit früh die Kanonade von Naumburg her, ist aber in der Stadt über den Erfolg ganz ruhig und sicher. Gebe es Gott, daß man Grund genug dazu habe; denn kämen Napoleon oder einzelne Haufen seines Heeres hierher zurück, so wäre das Unglück für uns nicht abzusehen, wenn auch die allgemeine Sache Deutschlands und der Verbündeten dadurch höchstens aufgehalten, aber nicht gestört würde. Bei Erfurt steht eine starke Armee, Napoleon zu empfangen. Bei Frankfurt sammelt sich schon eine zweite, durch die ihm die Verbindung mit Davoust unmöglich gemacht werden soll. Die uns Leipzigern so teueren Herren, der Herzog von Padua und Herr Bacher, sollen sich noch versteckt hier aufhalten. Bisher hat man aber vergebens nach ihnen gesucht, und es ist wohl kaum glaublich, daß sie gewagt haben sollten, hier zurückzubleiben.

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Kosaken im Hinterhalt.

Bei der Fortsetzung meines Rundganges kam ich vorhin auch zur **schen Familie. Eben war das russische Korps Bennigsen fortgezogen, dessen vielgeehrter Feldherr gerade äußerst verbindlichen Abschied von jener würdigen Familie nahm. Scherzend überreichte er der Dame des Hauses das jetzt sehr hoch zu schätzende Geschenk eines feinen weißen Brötchens, wie man es sonst etwa für einen Groschen, jetzt aber um kein Goldstück erhält. Meine Blicke mochten wohl etwas Sehnsucht verraten haben. Das Brötchen wurde geteilt, und ich bekam für meine Frau eine schöne Hälfte, die ich, aufs sorgsamste eingepackt, nicht ohne frohen Triumph nach Hause brachte. Wie reich wäre der Mensch, wenn er, es zu sein, nicht so leicht gewohnt würde!

Die naive Ehrlichkeit der Kosaken und ihre überaus innige Liebe zu dem, was andere Leute besitzen, führen originelle, oft recht komische Geschichten herbei. Besonders in den Vorstädten dringen sie, wie die Russen überhaupt, in kleinen Gesellschaften gern in die Häuser und beginnen meist mit großer Freundlichkeit zu versichern: »Kosak, gut Mann! Bruder, Kosak nix nehmen!« Dann fällt ihnen aber alles auf, ihre Blicke haften bald auf dem, bald auf jenem Gegenstande und unter Wiederholungen jener Versicherungen schenken sie sich's gegenseitig. Indem sie die Bitte aussprechen: »Bruder, gib Kosak das!« ist das Ding schon in ihrer Tasche. Doch nehmen sie nicht Kostbarkeiten, um sie zu verschachern, sondern sie fallen kindlich auf das, was sie zu brauchen gedenken, oder kindisch auf das, was ihre äußeren Sinne reizt, wovon sie sich ein Vergnügen versprechen, ohne es zu kennen. Zu einem Freunde von mir kamen 6 bis 8 Mann, als er mit den Seinen eben bei Tische saß. Unter obigen immerfort wiederholten Versicherungen eigneten sich die Kosaken mit herzlichem Händedrücken nichts zu, als alle aufgelegten Bestecke. Bei einem anderen Bekannten sahen einige Kosaken auf dem Billard die Bälle. Scherzend und mit freundlichen Bitten flehten sie, schon zulangend, um nichts als um diese Kugeln, nicht etwa, weil diese einigen Wert haben, sondern weil sie rollen. – Auf der Straße sind sie noch bescheidener, und da gilt auch eine Gegenvorstellung. Als ich vorhin über den Markt durch ihre Reihen ging, schlug mich jemand von hinten ziemlich derb auf die Schulter. Als ich mich schnell umsah, sagte einer von drei beisammenstehenden Russen: »Äh, schön' Rock, Bruder!« Ich erwiderte: »Den brauch' ich selbst, Bruder, und dir ist er zu eng!« In demselben freundlichen Tone wie vorhin sagte jener: »Äh, gut, gut.« So leben wir mit unseren russischen Gästen gewissermaßen im Naturzustande, der für uns zwar manchmal etwas unbequem, doch auch recht ergötzlich ist. Anders, und weder unschuldig noch ergötzlich, betragen sich nicht selten, besonders in den Vorstädten, unsere deutschen Landsleute. Ich will das, was ich erlebt habe, mit dem Mantel christlicher und vaterländischer Liebe bedecken und nur einen bezeichnenden Vorgang erzählen. Zu dem guten R** poltert ein – scher Sergeant in seine einsame, nette Junggesellenwohnung herein und ruft: »Sackerment, hier müssen Franzosen versteckt sein, gestehen Sie's nur, und heraus damit!«

»In meinen Zimmern ist kein lebendiges Wesen außer mir und meiner Köchin, glauben Sie mir, oder suchen Sie selbst!«

»Das will ich; bei meiner Seele, das will ich!«

Nun fährt er in den Zimmern umher, ohne jedoch die Plätze zu untersuchen, wo etwa ein Mensch stecken konnte. Dann befiehlt er: »Hier, der Schrank, schließen Sie mir den Schrank auf!«

»Recht gern, Sie finden aber nichts als gebrauchte Kleider!«

»Das wollen wir sehen, geschwind!«

Der Schrank wird geöffnet, der Held wirft einen Blick hinein, und da er keinen Franzosen findet, so fährt er in seinem polternden Tone fort:

»Na, sackerment, so will ich derweile die Weste mitnehmen!«

Damit steckte er sie in seine Tasche und geht fluchend davon.

Da ich einmal ins Anekdotenerzählen geraten bin, so stehe hier auch noch die vom Abschiede des französischen Herrn Kriegskommissärs, der bei mir einquartiert war.

Am 19. d. M., etwa von 9 Uhr vormittags an, fing auch er an, unruhig zu werden und eilig einzupacken. Seine Worte waren noch immer prahlerisch genug. Meiner Frau, die er auf dem Vorsaale traf, versicherte er, sie möge ganz ruhig sein, es werde alles gut gehen, sein Kaiser schütze die Stadt, und er schütze das Haus. Alle seine Habseligkeiten füllten ein großes Felleisen, eine elegante Uniform und ein sehr feiner dunkelblauer Tuchmantel wurden über einen Stuhl gehängt. Dann sagte er zu mir: »Ich muß jetzt zu meiner Behörde, es ist möglich, daß ich mit dieser in ein anderes Standquartier beordert werde. Ich werde zuvor wiederkommen, um meine Sachen abzuholen, oder meinen deutschen Bedienten deshalb zurücksenden.« Mit diesen Worten ging er zwischen 9 und 10 Uhr weg. Zwischen 10 und 11 Uhr kam sein Diener, um die Sachen abzuholen, die ihm auch ausgehändigt wurden. Zwischen 11 und 12 Uhr kam der Kommissär atemlos zurück und fragte: »Ist mein Diener hier gewesen?«

»Allerdings, er hat Ihre Sachen abgeholt.«

Fluchend stürzte der Kommissär fort. Nach 1 Uhr – die Stadt war eben eingenommen und das Haus noch verriegelt – kam derselbe Bediente zurück, begleitete einen vornehmen, deutschen Offizier, in dessen Dienst er urplötzlich getreten war, wies diesen ins Haus, ritt eins der schönen Pferde seines vorigen Herrn, hatte dessen feinen Mantel um und schien auch das Felleisen in Sicherheit gebracht zu haben. Er rühmte dem neuen Herrn uns Bewohner des Hauses und flüsterte meinen erstaunten Leuten zu: »Ja, im Kriege ändert sich's schnell mit dem Menschen!«

Einen Beweis von der nicht genug zu preisenden Genügsamkeit der gebildetsten und vornehmsten Offiziere der Verbündeten möchte ich noch anführen. Zu einer ehrwürdigen, hochbejahrten Matrone kommt ein russischer Graf mit seinem Bedienten und bittet um Quartier, und was ihm sonst nötig sei. Sie sagt der Wahrheit gemäß: »Ich habe alle meine Einquartierung schon angewiesen bekommen und außerhalb meiner Wohnung untergebracht. Ich bin hier mit einem Dienstboten allein, und meine Nahrungsmittel sind bis auf einen kleinen Vorrat Erdäpfel aufgezehrt.«

Der Graf antwortet: »Ich glaube das alles gern. Aber seit 4 Tagen habe ich kein ordentliches Unterkommen gehabt. Ich bleibe höchstens bis übermorgen früh und nehme mit allem vorlieb. Wollen Sie mir die Unterkunft verweigern?«

»Da sei Gott vor, aber nur eine Stube und ein Bett kann ich Ihnen geben.«

Der Graf ist's zufrieden, richtet sich ein und schont die Frau vom Hause auf alle erdenkliche Weise. Der Diener liegt vor seiner Tür auf der Diele. Beide genießen am Abend Erdäpfel, am folgenden Mittag und Abend wieder Erdäpfel, nur in verschiedener Zubereitung und ziehen dann mit Dank und fröhlich weiter. Welch ein Gegensatz gegen das, was wir sonst, selbst vom geringsten französischen Troßbuben erleiden mußten!

Im Hofe und im Vorhause des Gebäudes, wo ich wohne, liegen 42 Mann Schweden mit ihren Pferden. Will ich mir das Herz laben, so sehe ich diesen riesenhaften Männern, deren Gesicht beinahe nach einem Schnitt gebildet zu sein scheint, in ihrem stillen, bedächtigen, bescheidenen und brüderlichen Tun und Wesen ein Weilchen zu. Sie kommen mir vor, als dienten sie unter Gustav Adolf. Obwohl es ihnen fast an allem fehlt, kommt doch keine Klage und keine Beschwerde über ihre Lippen. Sie geben sich mit niemand ab und verkehren bloß unter sich, ohne alles Geräusch, ja fast ohne ein lautes Wort. Was man ihnen gibt, viel oder wenig, gut oder schlecht, das nehmen sie mit ruhigem Danke an und teilen es unter sich. Ehe einer an sich selbst denkt, muß sein Pferd versorgt sein. Mit diesen Tieren stehen sie in wahrhaft traulichem Verhältnis, geradeso, wie das Freund Fouqué so anmutig zu schildern pflegt. Kommen ihrer einige, die nach Fourage gesandt waren, mit dem Wenigen zurück, was sie haben erhalten können, so treten sie zusammen. Einige machen gleiche, wenn auch noch so kleine Teile und nun trägt jeder seinen Teil dem lieben Tiere zu, durch gute Worte das zu ersetzen suchend, was an Nahrung gebricht. Angeredet, geben sie anständigen Bescheid, ohne sich in mehr, als nötig ist, einzulassen. Am frühen Morgen sitzen die meisten auf der Erde, oder auf den Treppen und lesen in ihren kleinen Psalmbüchern. Sie halten sich, wie ihre Pferde, sehr reinlich; kommt einer ihrer Offiziere zu ihnen, so gibt das kein Aufheben, weder Scheu noch Zudringlichkeit, weder Verschlossenheit noch Geschwätz. Ruhig und anständig spricht er zu ihnen, ruhig und anständig antworten sie. Über ihre vielen Gefallenen sprechen sie mit wenigen frommen Worten und ohne alle Klage. Selbst über die verwundeten Brüder sagten sie mir nur: »Gott wird für sie sorgen.« Über ihren Kronprinzen urteilten sie: »Er hat uns gut geführt, und das Volk ist ihm lieb.«

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Völkerschlacht-Denkmal bei Leipzig.

 

Den 22. Oktober, früh.

Vor meinen Fenstern ziehen seit etwa einer halben Stunde vornehmlich russische Regimenter vorüber, dem Heere nach, das gestern bei Weißenfels ein sehr glückliches Gefecht geliefert hat, in dem viele Gefangene gemacht worden sind. Napoleon soll versucht haben, sich bei Dornburg an der Saale festzusetzen. Alexander, der Kronprinz von Schweden, Schwarzenberg u. s. w. sollen heute ihr Hauptquartier in Eisenberg beziehen. Man erwartet eine wichtige Schlacht, die wieder sehr viel Blut kosten wird. Napoleon hat schon vor der Schlacht bei Leipzig unter seinem Heere verbreiten lassen, alle Gefangenen würden von den Barbaren mit abgeschnittenen Ohren und aufgeschlitzten Nasen nach Sibirien geschickt, wo noch viel mehr Hunger und Kälte herrschen soll, als in Moskau. Wer aber verwundet gefunden würde, dem risse man den Leib auf und ließe ihn so verschmachten.

 

Den 23. Oktober.

Unser König ist mit den Seinigen diesen Morgen nach Berlin abgegangen, wo er, ich weiß nicht, ob als Staats- oder als Kriegsgefangener, im Königlichen Schlosse wohnen soll. Die Haltung der Bürger über die Schicksale unseres Königs ist seit der Einnahme der Stadt tadellos, bei denen, die dessen fähig sind, ruhig und besonnen, gefaßt, in Hoffnung und Zutrauen getrost, vor allem aber in Liebe teilnehmend und treu.

Napoleon hat sich nicht bei Dornburg festsetzen können, sondern zieht sich über Naumburg und Weimar zurück. Mit Sorge und tausend guten Wünschen denke ich an alle, die in Weimar meinem Geiste und Herzen mehr oder weniger nahestehen.

Das Innere der Stadt wird endlich reiner, noch aber werden's nicht die Vorstädte, noch weniger die Umgebung, woselbst die modernden Leichname nur erst zum geringsten Teile mit Erde bedeckt werden konnten.

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Napoleons letzte Ruhe vor Leipzig.

An Verwundeten und Kranken zählt die Stadt über 30 000, also fast so viel, als Einwohner. Leipzig hatte im Jahre 1813 gegen 33 000 Einwohner ( Engelhardt, Lehrb. d. Erdbeschr. d. Königr. Sachsen, 3. Aufl. Dresden 1811 S. 117). Von den französischen Gefangenen kann man ungefähr 6000 nicht anders unterbringen, als auf dem Gottesacker, wo einem kleinen Teile von ihnen die Totengrüfte einigen Schutz gegen rauhe, nasse Witterung und Nachtfröste gewähren. In allen Winkeln liegen dort Sterbende oder Gestorbene. Ihre Brüder sitzen auf diesen, das gleiche Schicksal erwartend. Von den dort nicht Eingeschlossenen schleichen die, die sich noch auf den Füßen halten können, als Bilder des Entsetzens oder des Ekels auf den Straßen umher. Nur wenige sprechen um Almosen an. Lieber wühlen sie im Kehrichthaufen nach schmutzigen Abgängen aus den Küchen. Man hat auch beobachtet, wie einzelne von dem Fleische der toten Pferde gegessen haben. Erbarmende Nächstenliebe hilft den Unglücklichen, soviel es möglich ist. Da es noch immer an Brot fehlt, auch andere Nahrungsmittel nicht herbeigeschafft werden können, so hat man jedem von ihnen täglich einen Groschen zugestanden. Doch was ist ein Groschen bei dieser Teuerung! Ihr Elend besiegt, selbst bei den gemeinsten und rohesten Menschen, alle Gefühle des Zornes, des Hasses und der Rache. Obwohl die letzten Schändlichkeiten der Franzosen, ihr Plündern, Zerstören und Anzünden der Lazarette, in denen ihre eigenen kranken Brüder lagen, erst jetzt recht bekannt werden, so wendet sich doch unser Unwille, unsere Empörung nur gegen die Gesamtheit der Feinde, während dem einzelnen Franzosen jedermann Mitleid bezeigt und, wenn es möglich ist, Hilfe leistet. –

 

Den 26. November, vormittags.

Es ist bei alledem kein Wunder, daß ruhrartige Krankheiten und Nervenfieber auch außerhalb der Lazarette sich auszubreiten beginnen!

Allmählich kehrt die öffentliche Ordnung, der nötige Lebensbedarf und die bürgerliche Sicherheit zu uns zurück. Vorhin war ich in dem großen schönen Garten der Löhr'schen Familie, die ihr schönstes Eigentum dem Herzog von Padua einräumen mußte und nach Weimar geflüchtet ist. Das schöne Vorderhaus hat wenig gelitten, obwohl einzelne Kugeln durch den von Oeser gemalten und so herrlich verzierten großen Saal geschlagen haben. Viele der herrlichen, über mannsstarken Bäume liegen ganz und halb zerschmettert umher. Das Mittelgebäude ist arg mitgenommen. Die getöteten Pferde sind noch nicht unter die Erde gebracht worden.

In dem hinteren Teile des Gartens, am Flusse, hatte ein starkes Korps Polen heftig gegen den Übergang der Preußen gekämpft. Es waren da Batterien für Kanonen aufgeworfen; ja man hatte sogar einige kleinere Geschütze in das zierliche hintere Gebäude eine Treppe hinauf geschleppt, und damit aus den Fenstern der Zimmer geschossen. Dorthin ist auch das Geschütz der heranstürmenden Preußen gerichtet gewesen, und so ist das einst so freundliche Gebäude eine traurige Ruine geworden. Der untere Saal ist mit Menschenblut besprengt. Ich vermag nicht zu schildern, wie dieser Anblick auf mich wirkte, der ich gerade hier so oft mit dem geistreichen, edlen Löhr, meinem bis zum Tode getreuen vertrautesten Freunde, so ungemein glücklich war.

 

Abends spät.

Diesen Nachmittag war ich zum ersten Male selbst wieder in Connewitz. Ich wußte vollständig, was ich im ganzen Dorfe und auf meinem Landsitze finden würde, und doch, wie fühlte ich mich erst überrascht und dann tief in der Seele betrübt. Ich erinnere mich kaum, in meinem Leben jemals solche Betrübnis empfunden zu haben. Das Bild dessen, was sich mir darbot, wird mir tief in der Seele bleiben, das Bild nicht nur des Raubes und der Verwüstung, sondern des Mutwillens und des Hohnes. Was mir geschehen ist, wird sich für den Anblick und den Genuß anderer wiederherstellen lassen. Für mich selbst wird vieles, was mir besonders lieb war, nie wiederkommen, weil ich nicht hoffen kann, die Zeit zu erleben, da dies möglich wäre.

Eigentlichen Schmerz bereitet mir der Verlust kleiner Einzelheiten, die mir besonders ans Herz gewachsen waren.

So vermisse ich das sehr gute Marmorbild des ehrwürdigen Kunstfreundes Winckler, des Mannes, dem ich fast alles verdanke, was ich an Werken der bildenden Kunst besitze. Selbst das große, schwere Steinpostament ist tief aus dem Grunde herausgewühlt, umgestürzt und in Stücke zerschlagen worden. Erst später hat man die Büste in einem dichten Gebüsch wiedergefunden.

In der kleinen Grotte, wo ich an der Seite meiner Henriette zum ersten Male bemerkt hatte, daß ich ihr mehr werden könne, als irgend ein andrer Freund, hatte ich, nachdem sie meine Gattin geworden war, eine Tafel mit den folgenden, aus voller Seele gedichteten Worten aufgestellt:

»So schön ist's nirgends, wie am heimischen Herde,
Wo mit den Seinen man vertraulich lacht;
Wo, frei von Kummer, lächelnd der Beschwerde,
Des Lebens Blütenmond man zugebracht.

O misse gern die laute, bunte Erde
Um solches Plätzchens stille Schattennacht:
Was du dir suchst in tausend Labyrinthen,
Dort wirst du's endlich oder nirgends finden.«

Ich hatte die Tafel mit eisernen Klammern tief in den Stein befestigen lassen. Dennoch war sie mit größter Anstrengung und Beharrlichkeit herausgearbeitet worden. Der Platz war mit Unrat ekelhaft beschmutzt worden. Nie soll jene Tafel wieder aufgestellt werden.

Nicht durch Widerstand erhitzte Feinde haben das getan, sondern Menschen, die sich Freunde und Bundesgenossen nannten, für die Land und Fürst, Stadt und Dorf, jeder einzelne, auch ich, alles getan, was irgend möglich war.

Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen.

Möge mein Herz nie in Bitterkeit und Verachtung sich zusammenziehen, da gleichgiltige, kalte Gerechtigkeit nun einmal so wenig in meiner Natur liegt, als Talent und Neigung für streng gemessenes Herrschen!

»Ich kann einmal das Ganze nur im Einzelnen fassen, nicht das Einzelne im Ganzen. So erhalte denn, Gott, der du mich kennst, – da ich des Einzelnen, das widrig wirken muß, so vieles sehen und erfahren soll, auch solches, das ich recht von Herzen und immerdar achten und lieben kann, damit mein Inneres ausgesöhnt, gemildert, belebt, erhöhet werde, nicht um des Genusses, sondern um des Würdigen und Guten willen! Sonst nimm lieber noch in dieser Nacht den Geist von mir, den ich soeben dir und dem Schlafe empfehle.«


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