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Zwei Motive statt eines Vorwortes

Zart und edel entsprossen, wuchs die königliche Blume unter den unmittelbaren Einflüssen der Majestät hervor; der Begriff des Rechts und der fürstlichen Würde, das Gefühl des Guten und Anständigen mit dem Bewußtsein der Höhe seiner Geburt entwickelten sich zugleich in ihm. Er war ein Fürst, ein geborner Fürst, und wünschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut sein möchte.

(Wilhelm Meisters Lehrjahre IV, 3.)

 

– – Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten.

In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist. – –

Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das Unmögliche an sich, sondern das, was ihm unmöglich ist. Wie er sich windet, dreht, ängstigt, vor- und zurücktritt, immer erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne verliert, ohne doch jemals wieder froh zu werden!

(Wilhelm Meisters Lehrjahre IV, 13.)

[Der König]

Dünn, als ein nässender Nebel sprüht der Regen durch das Grau der vormittägigen Stunde. Er macht die Dinge in einem Frösteln erschauern, verschleiert die Ferne und läßt den vom Kriege verbrauchten Bahnhof der kleinen nordfranzösischen Provinzstadt doppelt nüchtern, dürftig und kahl erscheinen.

Die Gleise sind leer, erst weiter draußen stehen ein paar Lastzüge auf den Seitensträngen. Riesige, vom ruhelosen Gebrauch zerschundene Kastenwagen, randvoll mit rostenden Maschinentrümmern, mit tausendfachen unentwirrbaren Eisenteilen. Und offene Lowren, auf denen, dreckbespritzt über dem Klexwerk ihres bunten Narrenkleides, zerbrochene Geschütze gleich grauenvoll im Todeskampf erstarrten Ungeheuern hocken – und wüst zerschossene Scheinwerfer – von einer Riesenfaust zu sinnlosen Klumpen zermalmte Lokomobile – 

Still ist es. Still – denn dieses leise dumpfe Schüttern, das irgendwoher aus der Weite kommt und, bald aufpulsend, bald wieder beinah versinkend, auf dem Grunde dieser Stille liegt, hört keiner mehr.

Nur aus dem Telegraphenzimmer sickert dünn, gleich eilig fallenden Tropfen das Tacken der Apparate in die offene Vorhalle heraus. Und hier, auf dem langgestreckten Streifen seines Reiches, geht der Herr Bahnhofskommandant in seinem besten grauen Rock, die lange Spange aus bunten Ordensbändchen über der linken Brust, im Helm und umgeschnallt unruhvoll wartend auf und nieder. Äußerst kriegerisch sieht er aus. Über dem unteren Teil des Rückens hält er die in die neuen rotbraunen Handschuhe gezwängten Hände würdig ineinandergelegt, hat den Oberkörper ein wenig vorgeneigt und ärgert sich über den dicken Häuptling, der sich da eben breit und behäbig, gleichfalls in voller Kriegsbemalung, einen halben Schritt rechts vor seinem Adjutanten, mitten im Vorbau und gerade vor dem Einlaß aufbaut.

Gemessen holt der Herr Bahnhofskommandant im Näherschreiten die Rechte vor und hebt sie in gefälliger Wölbung zu verbindlichem Gruß an den Helmrand. Ortskomödiant, Streber! – denkt er dabei – muß natürlich auch hier sein, sich überflüssig machen und in Erinnerung bringen! Anderen Leuten im Wege stehen – 

Und der Ortskommandant grüßt freundlich lächelnd wieder und blinzelt dabei über seinen Adjutanten, den kleinen Leutnant mit dem Lungenschusse, hin, als wollte er sagen: Nu sehn Se sich das mal an – so'n Etappenhengst – passen Se auf: nächstens nimmt der seine Züge noch in Stahlhelm und Gasmaske ab –!

Dann, wie die beiden Herren einander nahe sind, schütteln sie sich voll Herzlichkeit die Hände.

»Muß wohl gleich kommen?«

»In fünf Minuten –«

»Stehen wir also wieder sozusagen am Vorabend gewaltiger Ereignisse –?«

Der Herr Bahnhofskommandant hebt bedenklich und bedeutungsvoll die Brauen: »Gott – man hört so mancherlei – und man hat doch Einblick in die durchgehenden Transporte und kann sich da sein Bild machen – tja – aber nicht wahr –?«

Er schweigt – sieht über den Hauptmann weg in die Ferne und genießt die Vorstellung, daß der andere jetzt vor Neid und Neugier vergehe –. Dann plötzlich reißt er sich zusammen: »Tja – aber ich muß sehr um Entschuldigung bitten – ich habe da noch allerlei – und Dienst ist Dienst – –«

Ein paar feldgraue Landser, die müde und hohlwangig beiderseits des Ausganges Gewehr bei Fuß erwartend stehen, herrscht er an: »Na – ihr wollt wohl die Knochen gar nicht mehr zusammennehmen?« – einen Zigarettenstummel, den sein Falkenauge noch irgendwo auf dem Asphalt entdeckt, schleudert er mit dem Fuße schwungvoll über die Rampe hinaus – einem Feldjägerleutnant mit großer schwarzer Aktentasche und dem Kommissär der Geheimen Feldpolizei, der bisher draußen die Absperrung geleitet hat, dankt er mit flüchtigem Gruß. Und wieder denkt er: Ist eigentlich doch eine rechte Taktlosigkeit, wie der Mann sich hier betut – soll er doch lieber auf seiner Kommandantur – – 

Aber da steht auch schon, wie aus dem Boden aufgeschossen, einer seiner Beamten vor ihm stramm und meldet – und durch die Stille draußen dringt gedämpft und aus der Ferne ein langgezogener Pfiff – 

Im Augenblick geht ein aufgeregt hastendes Rücken und Straffen durch die Männer. Absätze klappen aneinander, Schultern werden zurückgenommen, Hälse recken sich lang. Sogar der sonst so ungenierte Bauch des Ortskommandanten ist plötzlich in sich selbst verkrampft. In den Fenstern des Telegraphenzimmers, des Sanitätsraumes und der Frachthalle erscheinen spähend neugierige Gesichter. Scheu an die Pfeiler gedrückt lugen sie aus. Nur einen Blick – 

Langsam, wie verschnaufend nach dem langen eiligen Laufe, schiebt sich die riesige öltriefende und dampf- und regennasse Maschine heran –. Jetzt fährt sie ein – 

Grüßend fliegen die Hände an die Helme. Unbewegt, wie gemeißelt, die Augen starr geradeaus, stehen die Herren in der Halle.

Langgestreckte dunkelgrüne Wagen gleiten sachte, federnd vorüber – der Packwagen – der Telegraphenwagen – 

Dann er – 

Hinter der Spiegelscheibe der Türe steht er fertig zum Aufbruch gerüstet, den mit der grauen Leinenhülle bezogenen Helm auf dem Haupte, den grauen Umhang mit dem Pelzkragen um die Schultern.

Sachte erstirbt das Gleiten – 

Da sind auch schon die Schaffner aus den Wagen, klappen die Antrittsstufen nieder, stehen stramm neben den offenen Türen.

Und während er gelassen ruhig niedersteigt, quillt es aus all den anderen Wagen hinter seinem eilig und drängend vor, ein Ineinander von grauen, jägergrünen Uniformen, ein Zirpen, Klirren, Klappern von Sporen, Koppeln, Säbeln, ledernen Gamaschen –. Sechs – acht –  zehn Offiziere, Generale, Adjutanten, die nun zu ihm nach vorne hasten – –. Anschluß – Anschluß – –. Und ein halbdutzend Leibjäger und Ordonnanzen mit Mänteln, Mützen, Akten, Kartenmappen – 

Einen Augenblick steht er still, die vorgestreckte Rechte auf den Fokosch gestützt: eine Erinnerung an die Befreiungskämpfe um Ungarn und Galizien ist die kleine stählerne Streitaxt am schwarzen Stocke.

Über den Bahnhof weg geht sein Blick hinauf zu der nebelverhangenen Höhe, in der sich hoch über riesigem, halb verwittertem Mauerwerk und über breiten, baumbestandenen Basteien das eng gedrängte Häusergehocke der alten, einstmals festen Stadt trotzig zusammenballt.

So oft er bisher hier gewesen war, hat sein Kommen dem Losbruch eines neuen vernichtenden Schlages auf den Gegner gegolten – hat Waffenglück und einen Schritt zu dem ersehnten Sieg bedeutet. Damals, am ersten Frühlingstage, vor dem gewaltigen Vorstoß der Riesenfront von Arras bis La Fère – und später vor dem neuen Stoße über die Aisne an die Marne. Jetzt steht die größte der Entscheidungen bevor – 

Grau und verschwommen ragt der dicke viereckige Turm der Kirche von St. Nicolas aus dem milchigen Dunste.

Die größte der Entscheidungen – 

Da drängt sich wieder einen Herzschlag lang – wie jetzt so oft, so oft in dieser letzten Zeit – das dunkle Ahnen all des Ungeheueren, das nun in diesem Endkampf auf dem Spiele steht, an ihn heran. Und wenn – und wenn – es – dieses – Mal – versagt?! Nicht klar, nicht faßbar, nicht in fest umrissenen Bildern und Gedanken wälzt sich das Drohende da an – nur als eine malmende und undurchdringliche Welle, als eine dumpfe, grausame Masse, die sich näher schieben, die alles vor sich niederstampfen und überfluten will – – 

Die Kehle wird ihm eng – ein Zucken seiner Hand – er schüttelt jäh den Kopf. Mit aufbrausendem Willen wehrt er es von sich. Nicht jetzt kleinmütig sein und derlei denken! Er spürt, daß er in dieser Stunde den Glauben fest und unerschütterlich in seinem Herzen halten muß. Den Glauben, der heute noch Tausenden die Kraft verleihen soll, ihr Leben einzusetzen – hinzugeben – 

Er denkt erschüttert – und sein Blick sucht wieder jene Ferne, in der der alte Turm sich aus den grauen Schwaden hebt: Möge es diesmal ganz gelingen! Möge es dieses Mal zu dem ersehnten Ende führen!

Die schürfenden Schritte des anhaftenden Gefolges, das leise Klirren einer Säbelscheide hört er neben sich.

Wie überrascht und aufgestöbert fühlt er sich durch diese Nähe – 

Da nimmt er mit tiefem Atemzuge die feuchte Luft: Gott wird es geben!

Sein Blut ist wieder ruhig, seine Stirne klar. Und hoch aufgerichtet, mit raschem Entschlusse schreitet er vor den anderen die wenigen Schritte über den Bahnsteig auf die gedeckte Halle zu.

Starke, gläubige Zuversicht liegt auf den männlichen Zügen des reifen, sonnengebräunten Angesichtes.

Grüßend, die Hand am Helmrande passiert er die wartenden Herren, die immer noch in starrer Unbewegtheit verharren: den Ortsallmächtigen, den kleinen Leutnant mit dem Lungenschuß, den Herrn Bahnhofskommandanten, den Feldjäger. Den beiden Landsern vor dem Ausgang nickt er freundlich zu – 

Dann ist er fort.

Und hinter ihm drein drängt es wieder: Generale und Adjutanten, der Leibarzt und der Fürst, Leibjäger, Ordonnanzen –. Anschluß – Anschluß – – 

Draußen auf dem Bahnhofsplatze stehen die grauen Autos bereit. In weitem Bogen um sie, neugierig wartend, die Menschen: Ordonnanzen, Landser, Kraftfahrer und Leichtverwundete in ihren Verbänden, dazwischen Franzosen, Frauen und Kinder. Ein paar kurze Worte fliegen hin und her. Wie am Schnürchen geht alles. Schon sitzt der König; den jungen, schlanken Generalstabshauptmann mit dem glatten, rotbackigen Jungensgesicht hat er zu seiner Linken befohlen. Eilig sucht jeder sein Unterkommen – werden die Mappen, Mäntel, Taschen verstaut. Die Schläge klappen zu, die Hupen quarren, die Wagen ziehen an und sausen los.

Stärker scheint jetzt der dünne Sprühregen im Zugwinde der Fahrt zu nässen.

Den Oberstabsarzt fröstelt, und er wickelt den zierlichen Leib fester in seinen langen silbergrauen Radmantel ein. Und der Fürst streckt sein Humpelbein zurecht, denkt an das weiche empfindliche Opossumfell seiner Pelzmütze und meint: »Also ein Sauwetter is' – richtig ein Sauwetter – wie eine gebad'te Katz' schaut ma nachher wieder aus!«

An dem von Strauchwerk umwachsenen Denkmale des kleinen Tambours Stroh geht es vorüber, die Rue de Mons entlang, den Berg hinauf. – –

Unten auf dem Bahnhofe haben die Herren sich aus ihrer Erstarrung gelöst. Eine große Spannung ist von ihnen genommen. Das befreiende Gefühl, eine höchst bedeutungsvolle Sache vorzüglich gelöst zu haben, liegt auf ihren Zügen.

Der Herr Bahnhofskommandant zieht befriedigt die rotbraunen Handschuhe ab.

Der Ortshäuptling, der sich nach und nach wieder entfaltet und dessen Bauch bald auch den alten Raum zurückgewinnt, sagt glücklich: »Gut und frisch sieht Seine Majestät aus – wenn man bedenkt, daß er doch fast sechzig ist – ja sechzig. Aber grau geworden – richtig grau geworden –« Und dann zum Adjutanten: »Nützt nichts – wir müssen weiter; wer weiß, was oben schon wieder alles vorliegt – schließlich trägt man doch die Verantwortung –«

Auf dem Bahnsteig gehen ein paar Herren aus dem Zuge, die zurückgeblieben sind, mit gleichmäßigen Schritten auf und nieder, vertreten sich die Füße: Der Hofmarschall – der vollblütige Kopf eines feinen, reifen Genießers, die Uniform eines Generals – der Chef des Zivilkabinetts, mittelgroß, hager, das von alten Mensurnarben gezeichnete Angesicht eines klugen, arbeitsbeladenen Beamten.

Ein wenig gönnerhaft drückt ein kleiner, blutjunger, semmelblonder Jägerhauptmann – fabelhaft schnieke in dem knappen Rocke mit dem aufgenähten Johanniterkreuze und den viel zu engen, viel zu kurzen Ärmeln – dem Feldjäger die Hand, weist ihn mit seiner Mappe nach einem der Wagen: »Jawohl, der Legationsrat ist im Zuge, aber Sie müssen fix machen – in drei Minuten geht es weiter!«

Und drei Minuten später rollt der dunkelgrüne Zug wieder federnd dahin, der Front entgegen.

 

Durch das eiserne Gittertor, zu dessen Seiten die beiden Wachen stehen, fahren die Wagen. Rauschend malmen die Gummireifen über den nassen Kies des langgestreckten Gartens. Dann halten sie vor dem kleinen Hause aus rotem Ziegelwerk und gelbem Sandstein.

Auf den Stufen der Freitreppe erwartet der Generalfeldmarschall seinen königlichen Herren. Grau, prunklos steht er in dem jetzt dünner, spärlicher gewordenen Regen. Den Stern der höchsten Kriegsauszeichnung, die seit einem Jahrhundert keinem anderen als ihm verliehen wurde, trägt er auf seiner Brust. Hinter ihm, im Halbdunkel der Diele – drei, vier Offiziere. Aber die sind beinahe ausgewischt und weggenommen von seiner überragenden Wucht.

Barhaupt, geruhsam, ohne Hast tritt der Siebzigjährige dem König entgegen, beugt sich vor ihm in ehrerbietigem Gruß und steht dann wieder breit und groß, hoch aufgerichtet –. Das ist, als spräche dieser Sieger weltgeschichtlicher Schlachten in stolzer Demut: Ich diene dir in treu getragener Pflicht. Farblos, beinahe fahl ist das schlicht und primitiv, gleichsam nur aus dem Gröbsten der Urkraft geschnittene Gesicht unter dem eisengrauen Bürstenhaar. Breitflächig – kubisch –. Wille, Größe und unbeugsame Rechtlichkeit sind in diese derben Züge gebannt – liegen umgriffen von einer unerschütterlichen Gehaltenheit aus gütigem Verstehen und schicksalerfahrener Ruhe – 

Der König hält die feste kleine Hand des Riesen. Voll drängender Ungeduld ist er. In all den endlos langen Stunden im Zuge und dann auf der wortlosen Fahrt im Wagen hat er diesen Augenblick erwartet und mit heißer Sehnsucht gerufen. Klarheit finden! Denn nichts wissen die anderen alle – nichts! – und nur die beiden hier sehen das Ganze und kennen das Letzte: dieser – und der andere. Seine Wangen zucken. Mit Mühe nur zwingt er die anstürmenden Fragen nieder, die ihm auf die Lippen wollen. Aber er weiß: jetzt starren all die Augen auf dich ein, rätseln an dir herum –. Und er denkt voll stolzer Abwehr: Sie nicht in deine Seele sehen lassen! Ihnen ein Vorbild starken, gläubigen Vertrauens sein! – So hält er an sich, spricht lebhaft, sprühend, mit betonter Heiterkeit ein paar helle, sorglose Sätze der Begrüßung. Nur seine Augen brechen dabei immer wieder unstimmig aus der Freiheit seiner Worte, gleiten hastig tastend und bohrend über die geschlossene Gehaltenheit des anderen hin, suchen durch diesen Mantel seines Wesens in Tiefen einzudringen – 

Aber sie finden keinen Einlaß, stoßen – nun, da die Vielen noch alle wartend, schauend, horchend ringsum stehen – überall auf den Panzer dieser gleichen, prunklos sicheren Ruhe –

Nur einmal dann, während der greise Riese sacht selbst zugreift, um ihm den Pelzumhang von den Schultern zu nehmen, hat er für seinen König ein verschwiegenes, warmherziges Nicken und einen stillen, guten Blick. Der sagt dem qualvoll Dürstenden: Wir dürfen zuversichtlich hoffen – so Gott will, wird alles gut –!

Lasten fühlt da der König von seiner Brust genommen. Eine getreue Hilfe im rechten Augenblick – eine Stärkung und Ausrichtung seiner königlichen Würde ist ihm dieses gute Wissen. Heiße Dankbarkeit springt in ihm auf und wird zum Wunsch, wird zum Gelöbnis, den Mann mit Ehren und mit Gnaden zu überschütten – wenn erst das Ziel errungen ist – – 

Sein Schritt ist stark und frei, wie er, dem anderen voran, in das Beratungszimmer tritt. – 

Jetzt ist man unter sich.

Von allgemeinen Fragen spricht der Generalfeldmarschall. Ruhig, bedachtsam und gemessen fließen seine Worte. Kurze, fest gefügte Sätze reiht er aneinander. Väterlich und ein wenig brummig klingt die Stimme dabei, hat einen Unterton von gütlichem Zureden: Das Wichtigste: Stimmung und Kampfkraft der Truppe! Nein – so wie einstmals ist sie nicht – kann sie am Ende des vierten Kriegsjahres auch nicht sein. Immerhin ist der altgediente Mann auch heute noch ein Muster treuer Pflichterfüllung. Nur über das, was da an Nachschub kommt, wird viel geklagt – –. Aber auch damit wird man fertig werden – und wenn es bei uns einmal regnet, müssen wir nicht glauben, daß die dort drüben immer nur Sonnenschein haben – 

Der König nickt ein paarmal rasch und zustimmend. Die drüben haben sicher nicht zu lachen. Man hat ihm Protokolle von Gefangenenvernehmungen gezeigt und aufgefundene Briefe vorgelegt –. Er scheint bei alledem auf etwas zu warten. Jetzt unterbricht er das Gespräch: Der Erste Generalquartiermeister?

Der bittet untertänigst, erst zum Vortrage zur Lage befohlen zu werden. Er ist natürlich ganz außerordentlich in Anspruch genommen. Hängt nun seit Stunden an den Strippen der Armeen und – wo das nötig wird – der Divisionen – bespricht noch einmal allerlei Einzelheiten mit den Chefs – holt sich die letzten Nachrichten und gibt die letzten Befehle – 

Der König hat die Brauen hochgezogen, seine weit offenen blauen Augen sehen an dem Generalfeldmarschall vorbei.

»Natürlich – ja. Gewiß, das ist das Wichtigste. Und ganz in meinem Sinne – –«

Aber während er redet, kämpft er vergebens gegen eine aufsteigende Enttäuschung und Verstimmung in sich an. Die fragt: Und wenn er sich für die wenigen Minuten freigemacht hätte, mich zu begrüßen – seinen Obersten Kriegsherren?! Ob das nicht möglich war? Er sieht den General vor sich – den überragenden, den unermüdlichen und rücksichtslosen Führer – sieht ihn mit beinahe körperlichem Eindruck in seiner unzugänglichen verstockten Dienstlichkeit, die er gerade vor ihm so gerne wie eine kalte Rüstung um sich legt, und weiß: Er hat nicht kommen wollen! Will es mir zu verstehen geben, daß ihm der letzte Mann aus einem Stoßtrupp vorne heute als Kampfwert für sein Ziel mehr ist als ich – 

Der Generalfeldmarschall sagt gütig: »Euer Majestät, mein Kamerad ist wirklich bis zum letzten überlastet. Gestern ging der Betrieb bis gegen zwei Uhr nachts. Und heute morgen war der General schon um sieben wieder an der Arbeit.«

Der König steht am offenen Fenster, hört die Worte wie aus einer Ferne. Er ist noch tief in seinem bitteren Sinnen: – Und durch kein Werben, keine Auszeichnung habe ich ihn gewinnen können – –. Gerade diesen! Der doch im Umgang mit den anderen – mit jedem seiner Mitarbeiter bis zum jüngsten Generalstabshauptmann voll kameradschaftlicher Freiheit ist – 

Über den Garten geht sein Blick, haftet an dem Gewächshause, in dessen offener Glastüre ein kleiner Franzosenjunge von fünf Jahren auf der Erde hockt. Abgerissen, zurückgeblieben, bleich. Spielt mit ein paar Topfscherben, die er aufbaut und die ihm unter seinen Händen doch immer wieder ineinanderfallen. Und singt dazu eintönig vor sich hin –. Eines von den verzweifelten Kinderliedern, die in diesen Jahren – weiß keiner wieso – überall in dem Lande im Mund der Armen sind:

Malheur la guerre
papa la guerre
maman malade
nix pommes de terre
toujours militair
malheur la guerre – –

Eine jähe, unentrinnbare Traurigkeit fällt über ihn herein. Malheure la guerre – –. Die Heimat sieht er: diese hungermatten, abgemagerten Gesichter – das besetzte Land in seiner letzten hinsterbenden Kraft – das ganze arme, auf den Tod geschundene Europa – und hört von überall, aus jungen, reifen, alten Stimmen, die sich zu einem Chor der Hoffnungslosigkeit zusammenfinden, den gleichen grauenvollen Elendsreim: malheur la guerre – 

Die Kehle wird ihm eng, und heiß drängt ihm das Blut in die Schläfen. Er rückt den Kopf, reißt sich herum, daß die Goldquästchen der Fangschnüre gegen die Ordenssterne klirren. Seine Stimme ist rauh, gepreßt und trocken, stößt kurze Sätze hervor. Wie harte, beschwörende Schläge stäuben sie von seinem Munde in die Stille: »Wir müssen diesmal zu Ende kommen! Lieber Generalfeldmarschall – wir müssen –! Denken Sie an die Heimat – an die Herrschaften in Wien – in Sofia –. Die Herren vom Auswärtigen Amt liegen mir täglich in den Ohren – sehen Zusammenbruch und Umsturz – und weiß Gott was alles –!«

Der große vierschrötige Mann nickt sachte, sieht aus den tief gebetteten Augen ruhig auf seinen König. Ein paar gute warmherzige Worte brummt er gelassen vor sich hin: »Gewiß – das ist dann immer eine bitter harte Zeit – diese Pausen zwischen den großen Schlägen. Da sollen die Menschen, die nicht mit in die Karten sehen dürfen, Geduld haben – und sollen warten, während hier alles bis zur Schwelle der Entscheidung wächst. Aber jetzt ist es ja doch so weit. Und was in unseren Menschenkräften steht, das ist in treuer Pflichterfüllung getan –. Wir müssen Vertrauen setzen in unsere gute Sache – und unsere Kraft und Treue – in den Allmächtigen, in dessen Hand wir ruhen –«

Beinahe behaglich klingt das alles in dieser schlichten Wärme, in dieser ehrlichen und überlegenen Bedächtigkeit.

Und der König findet die Ruhe des Gemütes wieder unter den zuredenden Worten.

 

Es hat aufgehört zu regnen.

Durch den Garten schreiten sie dem schmiedeeisernen Tore zu. Voran der König, der Generalfeldmarschall zu seiner Linken. Dahinter, aufgelöst in kleine Gruppen, die Herren des Gefolges und ein paar Generalstabsoffiziere. Die Schritte schürfen auf dem feuchten Kies, das Leder der Gamaschen knirscht, die Säbel klirren leise an.

Der wohlgepflegte Oberstabsarzt, der sich schon während des Wartens im Hause in längerem Versuche am ungeeigneten Objekt bemüht hat, dem baumhohen, knochigen Flügeladjutanten und Gardedukorps die Unzulänglichkeit einer atomistischen Metaphysik gegenüber einem pantheistischen Monismus klarzumachen, beeifert sich, den Faden seiner Deduktionen im Gehen weiterzuspinnen. Aber das ist schwierig, denn der Major nimmt Riesenschritte, und so hat der Leibarzt, der zierlich und mit gefällig leichtem Hüftenschwung Bein vor Bein setzt, die größte Mühe mitzukommen.

»Sie werden mir jedenfalls zugeben, daß die materialistische Metaphysik, wenn sie das Atom als absolutes Weltprinzip auffaßt, uns auch eine restlose Analyse seiner Wesenheit schuldet –?«

Der Gardedukorps nickt überaus zuvorkommend. An ihm soll es nicht liegen. »Zugeben –? Aber gewiß, lieber Professor – machen wir – gerne –.« An den komischen Zivilpauker, den sie damals, vor fünfundzwanzig Jahren, als Primaner in der Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde gehabt haben, muß er denken. War irgend ein berühmtes Tier – hat aber auch immer so Zeug geredet, wo nachher keiner wußte – –. Dann jäh verhält er den Schritt und stiert sekundenlang erschreckt ins Weite. Tastet mit eilig klopfenden Griffen seine Taschen ab. Nein – nichts. – – »Donnerschlag – nu hab' ich doch mit der Lausephilosophie die Zigaretten für Seine Majestät im Wagen liegen lassen –!«

Knapp hinter ihnen humpelt der Fürst neben einem jungen Generalstabshauptmann. Unscheinbar, abgerackert und verbraucht bis auf Haut und Knochen ist der Offizier.

Der Fürst fragt gnädig: »Wie is' denn eigentlich mit 'm Wildstand hier in der Gegend?«

»Ich kann's nicht sagen, Euer Durchlaucht – wir finden hier zu derlei nicht die Zeit.«

»Schad' – is' eine sehr eine gute Erholung. Wann ich überarbeit' bin – no ja, ma hat doch so Zeiten –. Ja – also: und gegessen wird nachher im Kasino bei die Herrn?«

»Zu Befehl, Euer Durchlaucht.«

Quer über die Straße zieht die langgedehnte Gruppe.

Hinter Fenstern und Zäunen spähen graue Soldaten mit gereckten Hälsen.

»Forsch sieht er schon aus –« sagte der eine.

»Och – – Mensch! Is doch ooch nischt anderes als unsereener!«

Der König grüßt – grüßt – grüßt – – 

Mit klar erhobenem Haupte schreitet er. Das bronzebraune herrische Gesicht mit den tiefblauen Augen ist vor dem Blick der Menschen wie die starkmütige Sicherheit selbst. Auf den Generalfeldmarschall redet er ein. Erzählt irgend etwas. Ja –: ein paar schlagende Einzelheiten aus den letzten Agentenberichten über den wachsenden Tonnagemangel drüben in England –. Kraft und Vertrauen sollen die Leute aus seinem Anblick schöpfen, sollen wissen, daß ihr König voll sicheren Glaubens ist –.

Und wie er so redet, stärkt er sich selbst an seinen farbig malenden Worten. Sieht die blasse Verzweiflung bei Lloyds und in den anderen Versicherungsbureaus von London-City, in denen immer wieder neue Hiobsnachrichten von torpedierten Schiffen einlaufen – täglich – stündlich – ja: stündlich! Sieht die Ladedocks der einst blühenden, rastlosen Hafenstädte: verlassen, leer – zu Kinderspielplätzen geworden – Gras zwischen den alten Quadern – –.

Das Haus der Operationsabteilung. Nüchtern und unscheinbar. Eine Gartenvilla wie die andere – nur übersponnen von einem dichten Netz von Drähten. Und wieder Posten vor dem Tore.

Aber hier ist die Treppe leer, und in der Halle huscht nur eilig ein Offizier aus einer Seitentüre – schlägt, wie er seinen König sieht, die Hacken klappend aneinander, steht einen Augenblick gleichsam erstarrt – und hastet weiter. Der König legt den Mantel ab, das Schwert, den Helm. Stimmen, die hell und scharf in eine Ferne reden oder Gehörtes seltsam deutlich wiederholen – schnurrende Telephonsignale – dringen aus allen Räumen ringsumher.

Die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Zimmer an Zimmer wie unten. Eines mit gepolsterter Türe. Oben ein kleines Schildchen: die Nummer sieben.

Dem Grafen, der als letzter hinter dem Generaloberst und hinter seinem Kameraden vom Dienst, dem Gardedukorps, und dem jungen Generalstabshauptmann folgt, zieht der Gedanke durch den Kopf: Ob das ein Aberglauben ist? Immer hat er die Nummer sieben: in Pleß, in Kreuznach und in Spa und hier! – Immer: sieben. – An den Wallenstein muß der Graf denken.

Aber da hat der Generalfeldmarschall schon geöffnet und läßt den König vor sich eintreten.

Licht flutet ihnen entgegen – Licht, ungedämpft, mitleidlos, hart – 

Und eine Stimme redet. Scharf, kehlig, im Kommandoton schneidet sie in das Telephon: »– also von Michel ist nichts mehr zu melden? – Und er reist pünktlich um x plus drei plus zehn – na, dann schön, lieber Klewitz, und kommen Sie gut über!«

Im Sprechen hat der General beim Eintreten des Königs und der anderen Herren die von der vielen Stubenarbeit ein wenig schwer gewordene Gestalt aus dem Armstuhle gehoben. Jetzt legt er den Hörer auf, tritt auf den König zu und neigt sich leicht, während er die entgegengestreckte Hand ergreift. Korrekt, ehrerbietig. Kaum ein klein wenig militärisch-sachlicher, als sonst ein Weltmann einen hohen Gast begrüßt – 

»Euer Majestät –«

»Mein lieber General – Sie stecken natürlich wie immer, wenn ich komme, tief in Arbeit –.« Er lächelt, erst ein wenig unfrei und beklommen, dann sicherer und wärmer. »Der Generalfeldmarschall hat Sie schon bei mir verpetzt: Sie muten sich an Arbeitslast wieder das Letzte zu – –«

Der General steht aufgerichtet, Aug in Auge mit seinem König: »Euer Majestät, jeder muß das Seine bis zur äußersten Möglichkeit geben – das ist nur Pflicht. Nur so werden wir's schaffen können –«

Und der König nickt energisch. Irgend etwas stört ihn – das scharfe zersetzende Licht – der schneidende Ton der Stimme –. Sein Blick irrt ab, streift den Generalfeldmarschall, als suche er dort einen Halt, zieht über die vielen riesigen Frontkarten hin, die, an Rollzügen laufend, in deckenhohen Gestellen hängen, über Tische gebreitet sind. Dunkel hat er das Empfinden einer inneren Verstimmung –. Denkt: Wie als Junge, wenn der gute Hinzpeter mir mit seinen pädagogischen Sentenzen kam – 

Der General reicht jedem von den anderen Herren die Hand in festem Druck.

Dazwischen surrt das Telephon aufs neue.

Er hält den Hörer, redet: »Ja gewiß, ich lasse Sie dann bitten. Und sagen Sie in die Zentrale, daß alle Verbindungen bis auf weiteres in Zimmer fünf gelegt werden –.«

Er wendet sich an den König: »So – nun ist Ruhe. Befehlen Euer Majestät jetzt eine kurze Orientierung über die bevorstehenden Operationen? Ich nehme an, daß der Herr Generalfeldmarschall die allgemeinen Linien – –?«

Der König nickt ernst, zustimmend: »Gewiß – gewiß. Ich bitte sehr –«

Gewaltsam macht er sich von allen ablenkenden kleinen Wirrungen los. Voll Lebhaftigkeit ist er wieder, erwartungsvoll, aufnahmebereit: von der kommenden Schlacht soll er hören – – 

An den großen Kartentisch tritt er heran, über den hin sich das Licht der Mittagsstunde durch das große Viereck des seitlichen, vorhanglosen Fensters scharf, kahl und nüchtern niedergießt. Die silbergrauen Wellen seines vollen, gepflegten Haupthaares macht es aufglänzen, umzeichnet das Profil der hohen noblen Stirne, der edel geschwungenen Nase, des zu willensstarker Wirkung geschürzten Mundes und Kinns. Auf die Karte mit all dem Gewirr der blauen und roten Linien der Front, mit den Armee- und Divisionsabschnitten, den Formationsbezeichnungen von hüben und drüben sieht er nieder, bringt sich mit gefurchten Brauen und gespannter Kraft noch einmal dieses Ungeheure gegenwärtig, das draußen lebt und grausam blutiges Ereignis ist und hier auf diesem winzigen Raume sein Spiegelbild in bunten Strichen, Zeichen, Zahlen findet.

Zu seiner Rechten, mit dem Rücken dem Fenster zugewendet und so in seinem eigenen Schatten, steht der Generalfeldmarschall. Nur der Umriß seiner hohen, wuchtig-kantigen Gestalt, des viereckigen Hauptes ist dunkel vor der hellen einfallenden Flut erkenntlich. Ruhig und sicher steht er, unbewegt, bereit zu hören und Rede zu stehen, wenn sein König und Herr ihn fragen sollte.

Jenseits des Tisches, dem König gegenüber, wartet der Erste Generalquartiermeister. Sachlich und zusammengenommen wartet er, das Einglas im rechten Auge. Soldat – nur Soldat –. Die Augen des von der ungeheuren Arbeitslast ungezählter Tage und Nächte durchgeistigten, vollblütigen Gesichtes sind unter dem Schutz der Lider gesenkt, folgen den blauen Pfeilen der Marschlinien auf der Karte. Verkehrt liegt sie vor ihm, daß er sich, wie er so gegen die rote Front hinblickt, selbst wie ein deutscher Stürmer fühlt, der gegen diese Mauern rennt –. Hinter der zerarbeiteten Stirne sprüht, drängt und pulst es leidenschaftlich auf, und einmal streicht die volle Hand in einem kurzen Griffe über den fest geschlossenen Mund, den Schnurrbart hin – 

Er denkt: Dabei sein können! Sein Leben selber für das Große – Letzte – Beste einsetzen dürfen –!

Im Abstand von den Dreien hat sich die Gruppe der anderen aufgebaut. Links einen Schritt hinter dem König, scharfäugig mit gerecktem Halse über die Schulter seines königlichen Herren auf die Karte niederspähend, der junge, schlanke Generalstabshauptmann, der ihm zum Dienste beigegeben ist. Und an der Schmalseite des langgestreckten Tisches, dem Generalfeldmarschall gegenüber, aber in gemessener Distanz, abwartend, dienstbereit, die soldatischen Gestalten in Gardemaß: der greise Generaloberst – ein wenig knickbeinig, die beiden Hände auf dem aufgestemmten Säbel, den weißen Falkenkopf scharf horchend vorgehoben – die beiden Flügeladjutanten – 

Kein Laut im ganzen Raum.

Dann hebt der König sekundenlang den Blick.

Und da ein kurzes Räuspern, und die Stimme des Ersten Generalquartiermeisters bricht in die Stille ein.

Vortrag – 

Hart und trocken setzt diese Stimme ein. Kennt kein Zögern. Ist Wort und Kraft und Tat in einem. Schlägt ein paar kurze Sätze wie Axthiebe in das bisherige Bild der Karte – 

»Der neue Angriff bezweckt zunächst die Abschneidung von Reims und des gewaltigen Reimser Bergwaldes. Diese Gebiete sind vom Gegner mit ungeheuren Mitteln gefestigt und ausgebaut. Sie werden von uns direkt nicht angegriffen. Die neue Schlachtlinie hat eine Frontbreite von rund einhundertundzehn Kilometern und zeigt dieses Gebiet von Reims als eine Lücke in ihrem Verlauf –«

Seine Hand flattert vor, wirft sich bald hier, bald dort mit offenen Fingern auf die Karte.

»Es stehen im Kampfe die Südfront und die Südostfront der Armee von Böhn, also etwa die Linien von Château-Thierry bis Dormans und von Dormans bis Bétheny nördlich Reims – die Armee von Below von Bétheny bis an den Lauf der Suippes – der rechte Flügel der Armee von Einem von der Suippes bis Massiges. – Die Südfront der Armee von Böhn geht mit Teilen bei Château-Thierry und bei Dormans über die Marne und stößt beiderseits des Flusses in der Richtung auf Epernay. Der rechte Flügel strebt in der Richtung nach Südosten und bildet in der Linie nach Condé die Flankensicherung des Unternehmens gegen Westen.«

Geballter Wille ist sein Gesicht. Gleich vordrängenden Angriffsmassen stößt, während er so spricht, die Hand, die frei auf den Kuppen der gekrümmten Finger ruht, besitzergreifend in der Richtung der blauen Pfeile los. Kein Zögern kennt der Angriff dieser Hand, kein Zagen –. Jetzt schlägt sie sich an einer anderen Stelle fest – 

»Die Armee von Below drückt nach Süden, schwenkt dann nach Westen ein und reicht, im Zug der Marne hinunterdrückend, den ihr entgegenkommenden Truppen der Armee von Böhn die Hand. Die Armee von Einem drängt nach Süden und gewährt in ihrer Ausrichtung gegen Osten die östliche Sicherung der Operationen im Zentrum des Kampffeldes. –«

Weiter kollern die Worte des Vortrages, nennen Truppenkörper, Zahlen, Zeiten. Hammerschläge sind es, die den rohen Umriß der kommenden Schlacht zum stählernen Bilde formen.

Stumm steht der König, die beiden Hände als Fäuste auf die Karte aufgestemmt. Die Zähne zerren an der Unterlippe. Manchmal hebt er den Blick, läßt ihn sekundenlang aus dem Generale ruhen – auf dem geröteten Gesicht, dessen zur Tat gestraffte Züge im Leben der schicksalschweren Sätze zucken –. Die Kraft des anderen dringt auf ihn ein, ist über ihm, reißt ihn mit fort – 

Jedem Worte folgt er – nimmt es mit durstiger Gier – gliedert es an – zieht Folgerungen – steht mit der jähen Fassungskraft, die seiner Phantasie gegeben ist, vorauseilend im Bilde der erstrebten Ziele – 

Und wird bei alledem das dunkle Suchen um das Menschliche, das trennend zwischen seinem Wesen und der Art des Generals steht, nicht los. Er weiß es selbst nicht klar zu greifen. Aber eine unsichere Abwehr gegen eine letzte Hingabe unter diesen erdrückend starken Willen empfindet er; als ob er sich damit in seiner Würde etwas vergebe –. Und zugleich eine beinahe neidvolle Bewunderung, die sehnsüchtige Anerkennung einer Überlegenheit – – 

Die Stimme des Generals schweigt.

Lautlose Stille. Nur das Papier der Karte knistert unter den Händen des Königs, der sich höher aufrichtet. Eine durchgeistigte Erregung liegt aus dem im Eifer bleich gewordenen Gesichte. Vollkommen eingesponnen von dem militärischen Bilde der Schlacht ist er jetzt. Ein paar kurze Fragen stellt er. Treffend – sachlich – aus sicherer Erkenntnis für den Brennpunkt des Problems.

Die Auskünfte des Generals, des Generalfeldmarschalls schließen Zug um Zug daran.

Endlich ein Nicken und wieder Schweigen. Über die Karte sieht er noch einmal hin, faßt alles eindringlich zum Bilde zusammen, prägt es sich fest in das untrügliche Gedächtnis ein, daß es jetzt da mit allen Namen, Truppenkörpern, Ausgangsstellungen und Zielen haftet. Seine Rechte, an deren Ringfinger der Brillant mit dem in winzigen Rubinen eingelegten Signum Christi im Lichte flimmert, umgreift flatternd die Wege, längs derer vorher die Hand des Generals mit gewalttätig besitzergreifender Kraft hinstieß –. Sieg – ja, das ist der Sieg – muß Sieg und Frieden werden –! Gott wird es geben – kann es nicht versagen –!

Seine Gedanken treiben ab unter der Gewalt der Empfindungen, die ihn bedrängen, der Sehnsucht, die ihn erfüllen will. Stark, ungekränkt und in Ehren aus diesem grauenvollen, von Neid und Gier aufgezwungenen Schicksal des Krieges wieder in den Frieden schreiten –. Diesen tückischen Halunken in London und Paris zum Trotz –! In einen starken deutschen Frieden, in dem das Reich dann unter seiner Hand die Wunden heilt und neues, nie gesehenes Blühen findet –! Ganz nah sieht er in diesem Rausch des Hoffens die Erfüllung – 

Voll heißer Bewegung ist er.

Er hebt den Blick, streckt über die Karte weg dem General die Hand in starkem Druck entgegen. Zugehörig fühlt er sich ihm, will er sich ihm fühlen –. Und er drückt schweigend dem Generalfeldmarschall die Hand. Er denkt in dem Impulse einer dankbaren Erschütterung – und doch zugleich der Größe dieses Augenblickes klar bewußt: Wie man der Namen seiner prachtvollen Helfer gedenkt, wenn man den Namen des großen, siegreichen Königs nennt, so soll man dieser beiden einst mit meinem Namen gedenken – 

Der Generalfeldmarschall gießt als erster ein wenig Wasser in den Wein der Stimmung. Er sagt bedachtsam, sachte in die Stille: »Ja – und dann haben wir für dieses große Feuerwerk heute nacht einen guten Beobachtungsstand ausgemacht und Euer Majestät vorzuschlagen –«

Der König winkt dem jungen Generalstabshauptmann. Raschelndes Knistern der Karten – Einzeichnen der Stelle. Nordöstlich Reims, bei Ménil-Lépinois liegt der Punkt. Auch der Generaloberst ist jetzt herangetreten, merkt sich das Waldstück vor.

Drüben, der General hat sich das Einglas aus dem Auge genommen, poliert es sachlich und schielt verstohlen nach der Uhr.

Der Generalfeldmarschall wieder: »Wenn Euer Majestät befehlen: es ist für ein Uhr unser kleines Frühstück im Kasino bereit –. Wer von unseren Herren ein wenig abkommen kann, ist drüben –«

Aufbruch. Händedruck mit dem General. Wenn irgend möglich, wird er sich auch noch gehorsamst gestatten, drüben bei Tische vorzusprechen. Nur jetzt ist erst noch allerlei zu tun –. Wieder seine Verbeugung: korrekt und ehrerbietig, kaum ein klein wenig militärisch-sachlicher, als sonst ein mit Geschäften und Pflichten beladener Weltmann sich von einem hohen Gast verabschiedet.

Der Generalfeldmarschall geleitet seinen König.

Unten schließen die Herren des Gefolges an.

 

Das kurze Frühstück ist zu Ende. Bei der Zigarette geht das Gespräch noch durch zehn Minuten hin.

Zwischen dem Generalfeldmarschall und dem Ersten Generalquartiermeister, der, knapp ehe man sich zur Tafel setzte, doch noch erschien, hat der König seinen Platz. Und zu den Seiten reihen sich die Abteilungschefs des Generalstabes, die Herren der Operationsabteilung: Generale, Obristen, Oberstleutnants, Majore und Hauptleute –. Auswahl der Besten: Köpfe! Hager und dürr die einen, stämmig und untersetzt die anderen, klein, unscheinbar die dritten. Dabei diese Gesichter beinahe alle gezeichnet von den Malen unnachsichtig harten Dienstes und schwerster Verantwortlichkeiten. Und jetzt doch froh gestrafft, die Gestalten stolz zusammengenommen durch die Nähe des Einen, dem sie ihren Soldateneid geschworen haben, der ihnen das hohe Sinnbild der deutschen Waffenehre ist.

Den Blick aller weiß der König auf sich ruhen, und tief durchdrungen ist er von dem Bewußtsein einer unverbrüchlichen Zugehörigkeit zu ihnen durch die Gemeinsamkeit einer in Jahrhunderten geballten Gedankenwelt und ihrer Ziele: Preußen und Hohenzollern – die Kraft und Herrlichkeit des Reiches! Preußische, deutsche Offiziere – er der erste unter ihnen – ihr Oberster Kriegsherr und von Gottes Gnaden angestammter König. Wie emporgehoben und getragen fühlt er sich. Glauben und Zuversicht kommen ihm von all diesen soldatisch ruhigen Männern entgegen und machen ihn stark – 

Der Wunsch und Drang, ihnen in dieser Stunde, die keiner von ihnen allen jemals vergessen wird, ein Wort mit auf den Weg zu geben, springt in ihm auf und treibt zur Tat. Zu seiner Rechten der kleine silberne Löffel auf dem Tischtuche blinkt im Lichte – nur seine Hand braucht er ein wenig vorzustrecken – leise an den Teller anzuschlagen – Ihm ist beinahe, als hörte er schon den hell aufklingenden Ton –. Ein paar starke hämmernde Sätze drängen ihm zu, lenken ihn ab, während er eben noch zu den Ausführungen des langen Generals und Chefs der politischen Abteilung zustimmend nickt. Seine blauen Augen stechen ins Weite, die Lider schlagen, die Gedanken tasten modelnd und formend um die Erinnerung an eine Handvoll Worte seines großen Ahnen, des alten Fritz: »Kameraden – zwischen heute und morgen liegt, soweit wir das ermessen können, der Spruch der Weltgeschichte. Soll sich jeder von Meinen Offiziers in diesen Schicksalsstunden als ein tapferer Mann emportieren, der es meritieret, in Meiner Armee zu fechten. Menagiert mir den Feind nicht – –«

Aber da spürt er plötzlich mit Unruhe, mit Unbehagen, wie der Blick des Ersten Generalquartiermeisters zu seiner Linken durch das blitzende Einglas zu ihm hinstreift und sich dann wieder senkt: abwartend, sachlich, kühl –. Und er weiß ohne hinzusehen, jetzt liegt wieder der Zug von dünner und nur lässig verhaltener Spannung um seinen Mund, als dächte er: nun bin ich doch begierig, ob er als erster davon reden wird – –. Wie ertappt fühlt sich der König. Abwehr ist in ihm – Abwehr gegen diesen niemals Unklugen, allzeit Korrekten – und Zorn gegen den eigenen Impuls. Er schüttelt den Kopf – schiebt alles das von sich – weiß es, mit leisem Ärger über die eigene rasch verführte Art: Ja – ja – der Mann hat Recht!

Die ausgegangene Zigarette legt er hin, greift eine andere aus dem Etui und nimmt das Feuer, das der General ihm aufmerksam hinreicht. Zugleich ist er auch wieder bei dem unterbrochenen Gespräche, zwingt sich in seinen Rahmen, erzählt und läßt sich erzählen: von der Leistungsfähigkeit der Heimatindustrie, von Vorgängen an den asiatischen Fronten. Kein Wort mehr dabei von dem, was ihm und was den anderen allen auf der Seele liegt, und was keiner auch nur einen Herzschlag lang vergißt: Heute nacht – – 

Dann, unvermittelt, rasch, erhebt er sich.

Im gleichen Augenblick ist alles rings verändert in einem Rücken, Rühren, Scharren und Sich-Lösen.

Die Hände seiner Führer hält er in festem Druck. Blicke finden sich, tauchen tief ineinander. Eisern ernst sind seine Züge – er weiß: Bei diesen hier bleibt jetzt die Tat – er aber kann nur warten, bis die Dinge sich erfüllen. Warten und vertrauen, daß Gott der Herr den Beistand leihe – 

Eine jähe Einsamkeit spürt er mit einem Male – ein Beiseitegeschobensein der eigenen opferwilligen Kraft, hier an der Schwelle der letzten Entscheidung –.

Die Sehnsucht nach einem Menschen ruft in seiner Brust –. Nach einem warmherzigen Menschen, der das alles ohne viel Worte müßte verstehen können –. Über die Offiziere des Gefolges zieht sein Blick hin, während eifrig beflissene Hände ihm den Pelzumhang auf die Schultern legen, den Säbel einhaken, den Helm zureichen –. Irrt von einem zum anderen, rastet auf keinem.

Nein –.

Auf der Freitreppe zwischen den kargen Oleanderbäumchen stehen die Herren des Generalstabes in breitem Halbrund, wie der König scheidet.

Fahrtbereit warten die offenen Wagen. Eine Standarte: den schwarzen Adler im orangegelben Grunde, führt der erste. Und sehnsüchtig und ängstlich-zaghaft stehen da – gleichsam im wohlwollenden Schutz des dicken allgewaltigen Chauffeurs – zwei junge abgearbeitete Krankenschwestern in ihrer glatten Tracht und halten Blumensträuße in den roten Händen: was ihnen der armselige Lazarettgarten nur eben geben wollte. Nur dieser eine Wunsch, dem Könige in dieser harten Zeit zeigen zu dürfen, wie tief und treu man ihn verehrt, liegt auf den blassen, übermüdeten Gesichtern –. Einen Hofknix wollten sie machen – jetzt ist das, wie er sie mit seinen Augen hält, vergessen. Er reicht ihnen die Hand, er nimmt die Blumen, fragt –. Aus Ostpreußen sind die beiden. Ostpreußen! Er dankt, und seine Züge werden frei: da grüßt die Heimat! – Vor sich hin, an die Windschutzscheibe läßt er die Sträuße stecken, und wie er, schon im Fahren, noch einmal zurückwinkt, da trifft sein Blick auf diese beiden Mädchen. – 

Dann versinkt Avesnes in der jagenden Fahrt nach Süden. Und die wirre Welt des Krieges mit all ihrer Zerrissenheit und all ihren Widersprüchen hastet, sich überstürzend, taumelnd, einen Eindruck in den anderen stoßend, in stundenlangem Hinfegen zu beiden Seiten der Straße vorüber – 

Prachtvoll bestellte, saatenschwere Felder – und braches, von wildem Mohne blutigrot überwuchertes Land. Dunkle Baracken, Lager und Magazine. Trupps von Gefangenen in khakigelben, horizontblauen Uniformen – am Wegbau – bei der Arbeit an Bahndämmen und in Steinbrüchen. Zerfallende, ausgebrannte Mauern: Wohnstätten von einst – jetzt wild von Unkraut überwuchert – die letzten Zeugen lang vergangener Kämpfe, die hier vor Jahren, Jahren auf dem Vormarsche entbrannten. Kreuze auf Hügeln im Wiesengrund – an Waldsäumen – am Straßenrand –. »Hier ruht – –« Vorbei – vorbei! Weidende Pferde – Flugplätze mit ihren scheckig angemalten Zelten – rastende, hinziehende Kolonnen. Dazwischen die Städte, Flecken und Dörfer: La Capelle – Etréaupont – Vervins – Burelles –. Geduckt, bedrückt, wie heimatlos auf ihrem eigenen Boden die Einwohner: vier Jahre jetzt, daß sie an ihrem niedergetretenen Stolz, an ihrer Unfreiheit, an ihrem Elend fressen – daß sie sich, ohne Gegenwart, allein vom Funken ihrer immer noch gehüteten Hoffnung erhalten –. Ein Wort aus dem »Hamlet« zieht dem König durch den Kopf: I eat the air, promisecrammed: you cannot feed capons so.

Er schüttelt es von sich, er blickt wieder hinaus in diese hinjagende wechselvolle Umwelt, denkt: Und über all das hingesät, wohin das Auge sehen mag: Soldaten – und Soldaten – und Soldaten –. Grau gekleidete Männer aus allen Teilen des Reiches: aus Brandenburg und Bayern, vom Rhein und von der Wasserkante –

Äußerlich einer beinahe dem anderen gleich – 

Stramm stehen sie – reißen die Köpfe herum – oder werfen die Rechte grüßend an den Rand des Helmes – genau wie immer, wenn er sie besichtigt, wenn er von Mann zu Mann geht, Hände drückt, nach Herkunft, nach Beruf, Anteil am Kampfe fragt, Kreuze verteilt – 

Und er nickt ihnen zu im Vorüberjagen, grüßt – grüßt.

Er denkt gequält: Hinter den Gleichschnitt ihrer Kleider, hinter die Maske ihres Dienstes sehen – das Herz der Menschen erkennen –! Wissen, was an all dem umschwirrenden Gerede von Umtrieben, von Abfall und Zersetzung Wahres ist –!

Es wissen? Ein unsicheres Stocken ist in ihm – eine in dunkle Tiefen verdrängte Abwehr gegen eine letzte Klarheit, die vielleicht alles, was besteht, erschüttern könnte –.

Vor Wochen erst hat er den alten Generaloberst auf eine Art Erkundungsfahrt geschickt: von Armee zu Armee, von Korps zu Korps. Er sollte bei den Stäben hören und dann berichten. Er ist am Ende mit den besten Eindrücken und den beruhigendsten Versicherungen zurückgekommen. – Der König sinnt: – aber wann je in diesen dreißig Jahren seines Dienstes hat sein alter Generaladjutant denn nicht beruhigende Versicherungen für ihn gehabt?!

Und seine Gedanken treiben, während wiederum Felder, Fermen, Flughäfen, Dörfer und Barackenlager draußen vorüberziehen, hinaus zu der Schlacht, die zwischen heute und dem anderen Tage entbrennen wird. Ihr Ausgang wird die Antwort auch auf diese Fragen sein.

 

Bosmont.

Es geht auf fünf Uhr nachmittags, und vor Stunden schon ist der Wohnzug des Königs und seines Gefolges in der kleinen abseitigen Bahnstation eingelaufen.

Auf einem Nebenstrange, der an einem alten, von einem Bache durchschnittenen, übel verwahrlosten Obstgarten hinzieht, stehen die langgestreckten, dunkelgrünen Wagen hingereiht. Ein Trupp Pioniere ist eben damit beschäftigt, die Dächer zum Schutz gegen feindliche Fliegersicht mit frisch geschlagenen Weidenästen zu überdecken – eine Art Holzrampe aus Lattenwerk als trockenen bequemen Zugang zu den einzelnen Wagen über den kleinen Ablaufgraben hin zu zimmern.

Ein kleiner, graubärtiger Herr, der in der zu weit gewordenen Pelle seiner verbrauchten Hauptmannsuniform ein wenig vertrocknet und verschrumpelt wirkt, gibt Ratschläge – zaghaft, freundlich, ohne viel Anspruch auf Berücksichtigung. Die Pioniere hören zu – oder auch nicht – und tun sachlich, geruhsam und sicher ihre Arbeit. Gymnasialoberlehrer in Aschaffenburg ist der Herr Hauptmann im Frieden – und sitzt nun seit vier Jahren als Ortskommandant in diesem stillen Dorf. Aber arg viel war bisher hier nicht zu kommandieren – nur daß eben ein Vertreter der Autorität vorrätig war –. Bis dann heute plötzlich der Befehl kam, daß der königliche Wohnzug hier abgestellt werden würde und alles weitere veranlaßt werden solle. – 

Er rückt an seiner goldenen Brille, sagt lächelnd zu dem schnieken, semmelblonden Jägerhauptmann, der, die grüne Mütze schief im Genick, die Hände auf dem Rücken, die Zigarette lässig im Mundwinkel, ein bißchen ironisch und gelangweilt den Arbeiten zusieht: »Richtig wie bei Julius Cäsar im liber sextus: ›His constitutis rebus paulum supra eum locum facere pontem instituit.‹«

Und der nickt, lächelt ein wenig gönnerhaft über das glatte Jungengesicht und sieht an ihm vorbei. Irgend etwas von Paulus und Lokus haftet ihm; über die Mattscheibe am nächsten Wagen streift sein Blick: vielleicht so eine Art Schulmeisterwitz des alten Herren? – Aber er hat doch ein Gefühl von Unbehagen: Immer dieser griechische Quatsch, den kein Schwein versteht – 

Nach ein paar Augenblicken wendet er sich grüßend ab, schlägt sich zu den anderen im Zuge zurückgebliebenen Herren, die in Gruppen plaudernd unter den verkommenen Bäumen stehen: Soll doch der gute Pauker seinen Kram alleine machen! – 

Aus der Richtung der Straße, die kaum zweihundert Schritt weiter, längs des alten Schloßparkes zwischen Bäumen und Hecken quer auf den Schienenstrang zuläuft, knurrt heiseres Autoquarren auf. Gleich darauf rollt der erste von den grauen staubbedeckten Wagen an, steht still – die anderen schließen sich daran, wie atemlos vom Wettlauf hinter ihrem Führer drein. Und schon sind die Begleitmänner aus ihren Sitzen, die Schläge offen.

Der König –. Er steht noch nicht auf festem Boden, da sind gleich wieder Trubel und Bewegung um ihn her. Schlanke, grün gekleidete Leibjäger, die aus dem Zuge quellen, herbeilaufen und geschäftig Decke, Pelzumhang, Säbel an sich nehmen – Ordonnanzen, die an die Autos zu ihren Herren drängen und sich mit Kartentaschen, Mappen, Helmen, Säbeln, Mänteln bepacken –

Von der baumbestandenen Wiese gehen einige von den Herren dem Könige entgegen: der Hofmarschall, dessen blanke, dunkle Beerenaugen dabei aus dem vollblütigen Gesichte eilig, nach allen Seiten flitzend mustern, ob auch überall alles in guter Ordnung sei – der bedachtsame, hagere Chef des Zivilkabinettes – der zierliche, gewandte und immer mit blanken Zähnen lächelnde Legationsrat. Eigentlich, und schon seiner Jugend wegen, steht der ein wenig unstimmig zwischen den beiden – 

Die übrigen Herren bleiben, machen Front, rücken sich zu ehrerbietigem Gruß zurecht – und verkrümeln sich dann nach und nach in den Zug: vielleicht hört man da doch noch etwas Genaueres von den Zurückgekehrten – und vielleicht kommt man nun auch bald zu einer Tasse Tee – 

Nur der König steht jetzt mit seinen Vertrauten noch eine Weile im prallen Sonnenlichte in lebhaftem, eindringlichem Gespräch. Als eine befreiende Wohltat empfindet er die Erlösung aus der qualvoll grübelnden Einsamkeit der stundenlangen Fahrt – den Wiedereintritt zwischen diese Menschen, die ihm in oftbewährter Treue zugehören: der Hofmarschall – der alte Studienkamerad und Freund aus diesen lang versunkenen Bonner Semestern –. Er spürt dunkel, ohne sich selbst die volle Klarheit darüber zu geben: Die in Avesnes – der Generalfeldmarschall und der General – die wollen mich jetzt nicht um sich; mit diesen hier werde ich dieses Größte teilen, was vor uns liegt –.

Eine jähe Herzlichkeit des Wesens, eine warme Neigung kommt damit über ihn. Staubbedeckt, gleichsam gepudert mit dem seinen graubraunen Pulver der Chaussee sind ihm das Gesicht, das Schläfenhaar, der Helm – er achtet es nicht. Ein starker Drang, sich mitzuteilen, erfüllt ihn – ein Trieb, all das, was er an guten Zeichen sah, an erfolgverheißenden Mitteilungen hörte, sich selbst, vor diesen hier zu wiederholen, sich, über all diese zurückgedrängten Zweifel weg, an den eigenen Worten stark zu machen! Dazu spürt er die Freude, den anderen, die sicherlich gleich ihm sich mit den Sorgen schlugen, der Bringer starker und beruhigender Nachrichten zu sein – spenden, schenken zu können – 

Lebhafter, als er sonst redet, steigert sich seine Darstellung im Eifer, die Bilder der Erinnerung lebendig weiterzugeben – Hoffnungen werden ihm zwischen den Lippen zu Sicherheiten – Mögliches sieht er erfüllt vor Augen. An seinen eigenen Worten wird sein Glauben wieder stark, während seine Hände sich in energisch malenden Gesten bewegen: »Ganz sicher sind die Herren in Avesnes – bis in die letzte Kleinigkeit ist alles vorbereitet. Und der Gegner weiß nichts von unserem kommenden Schlag – rein nichts!«

Aus den Fenstern des Telegraphenwagens sickert das tackende Klappern der Hughes-Apparate. Die junge, forsche Stimme des Generalstabshauptmanns klingt irgendwoher auf: »Alle Einläufe, bitte, sogleich in mein Abteil –!«

Der Hofmarschall läßt den Blick eilig über den Zug hin gleiten, hebt dann, gleichsam untertänigst zur Vorsicht mahnend, ein wenig die Hand.

Da tritt die kleine Gruppe ein paar Schritte weiter weg und tiefer in die Bäume. Die Augen des Königs leuchten tiefblau aus dem staubfarbenen Gesicht. Das durch die leise wippenden, vermorschten Zweige einfallende Licht zeichnet helle Flecken und zitternde Schattenstriche über die Männer. Nach dem Arme des Zivilchefs faßt der König vor: »Weißt du, was sie glauben? Die Franzosen tippen nach unseren Agentenberichten auf einen Angriff gegen die Linie Amiens – Noyon mit Stoß auf Paris. Und die Engländer starren auf den Kemmel! Die Front war bisher ziemlich ruhig – und dieses Bisher ist jetzt für den Gegner ein Zu-spät!«

Die Exzellenz, die ein Blatt von einem der Apfelbäume gerissen hat, sieht mit kurzsichtigen Augen darauf nieder und zerzupft es zwischen den Fingern.

»Gebe Gott, daß es so komme –« sagt er still.

Und der König nickt dem jungen Legationsrat zuversichtlich und des guten Ausgangs sicher zu: »Ja – lieber Baron, was Ihr Auswärtiges Amt nicht fertig gebracht hat, das werden wir nun doch hier schaffen: wir kriegen die Herrschaften noch friedensbereit!«

Der Legationsrat lächelt nur, daß die zwei Reihen gleichmäßiger, tadelloser Zähne fletschen.

Zustimmung? Zweifel? Skepsis? Verlegenheit?

Vielleicht weiß er es selbst nicht. – 

 

Eine halbe Stunde später.

Der König hat gebadet – hat einen Schluck Tee genommen – hat den Leibarzt bei sich gesehen.

Gewiß, der Oberstabsarzt hat ganz Recht: der Tag war übervoll an Eindrücken, und die kommende Nacht draußen auf dem Beobachtungsstande wird Kräfte und Frische verlangen. Also jetzt Ruhe – eine Stunde Schlaf als Vorrat – 

Auf das kühle Ledersofa liegt der König hingestreckt. Zu seinen Füßen, auf dem Teppiche zusammengerollt, die kleine schwarze, verwöhnte Teckelhündin.

Der Duft des parfümierten Wassers ruht noch in der Luft, mengt sich mit einem bitteren Hauch von Juchten. Die dunkelgrünen Vorhänge sind vor die Fenster des Schlafabteils gezogen – nur als ein matter, müder Schein erfüllt ein Nest von Dämmerung den kleinen Raum. Ein paar dünne Lichtpunkte läßt er aus den geschliffenen Schalen und Fläschchen des Waschtisches, längs der Stäbe der schmalen Messingbettstelle aufglimmen.

Still ist es – nur das Schürfen von Schritten, die da draußen über den groben Schotter des Bahndammes gehen, knirscht hin und wieder wie von ganz ferne herein –. Oder der halbverwischte Hall von Stimmen – Worten –. Beinahe angenehm empfindet er diese Geräusche: Wissen um Menschennähe – 

Mit tiefem Atemzug nimmt er die Luft in sich: Schlafen – – 

Ja – wenn das so ginge!

Ohne Bewegung liegt er und starrt mit offenen Augen blicklos in das Dämmerlicht. Er spürt die Spannung und Erregung seiner Nerven – die Auflehnung des aufgerührten Blutes gegen den Zwang, zu warten – untätig zu warten.

An die Männer, die jetzt überall längs der Angriffsfront und bei den Stäben in fiebernder Arbeit die letzten Vorbereitungen zum Losbruch treffen, muß er denken – an die Kämpfer in den Bereitschaftslagern und Sturmausgangsstellungen –. Sprunghaft und einander drängend, überstürzend, gleiten die Bilder dieses hinsinkenden Tages an ihm vorüber – 

Seine Lider schlagen – die Kehle ist ihm trocken – 

Den kleinen Franzosenjungen sieht er wieder – abgerissen, zurückgeblieben und verhungert – sieht ihn mit den Topfscherben spielen und hört die farblos müde Kinderstimme: » Malheur la guerre – papa la guerre – maman malade – –«

Und auf den gleichen Bahnen ausgefahrener Zusammenhänge wie am Vormittage, da neben ihm der Generalfeldmarschall gestanden, gleiten seine Gedanken von dem aufrührenden Elend dieses Bildes wieder der Heimat zu – 

Als ob sich da aus einer Ferne – einer geliebten und wie unter dem Drucke einer unbeglichenen Schuld gemiedenen Ferne – Hunderttausende von verhärmten, in Leid und in Entbehrungen klaglos erstarrten Gesichtern zu ihm höben – Hunderttausende von hungrigen, sehnsuchtskranken Augen unentrinnbar auf ihn wendeten – auf ihn hefteten – an ihm festsaugten –. Als ob sich da ein Meer von Hunderttausenden dürrer, bleicher, in Not und überschwerer Arbeit entkräfteter Arme bittend, flehend, fordernd, heischend nach ihm streckte: Bring uns den Frieden!

Und zwischen diesen Menschen, hingesät in ihre unabsehbar weite Menge, einzelne mit fanatisch flammenden Blicken, mit aufreizenden Worten, mit drohend zum Himmel und drohend zu ihm erhobenen Fäusten: Genug dieses wahnsinnigen Mordens an unserem Bruderblute! Genug der Sklaverei unter dem Willen dieser Führer! Schluß! Schluß!! Und wenn er und die Seinen den nicht machen können – dann Schluß über ihn und die ganze Sippe seiner Macht hinweg!

Das blasse und schwammige Gesicht des Vetters Nicky mit dem schüchtern starren Ausdruck der bleischweren Augen sieht er mit einem Male vor sich – die gute, arme Alix und die Kinder –. Ahnt das rote Entsetzen dieser grauenvollen, blutigen Welle, die den belogenen, betrogenen Mann samt seinem Zarenthron hinweggefegt hat – weiß keiner, wo die Bestien ihn am Ende erschlagen haben – 

Unruhig rührt er sich – eine fiebernde Hitze steigt in ihm an. Gewaltsam will er all das von sich schieben. Mörder! denkt er in zornig bebender Wallung, Verbrecher und Elende!

Und, wie nach einem Ausweg suchend, flieht er vor diesem Grauen, das da nach ihm greifen, sich an ihn heften will, in die sachlichen, beruhigenden Worte des Generalfeldmarschalls: »– immerhin ist der altgediente Mann auch heute noch ein Muster treuer Pflichterfüllung –«

Ein Lauschen ist in ihm: dem bedächtigen Rinnen, dem rauhen, brummenden Tonfall der Stimme horcht er nach – hält sich daran – stärkt sich an dieser Sicherheit – 

Gewiß, das Heer – so lang das Heer in treuer Pflichterfüllung steht – – 

Sein Sinnen zieht starr hinter dem Gedanken drein – und zuckt dann jäh aus diesem Grübeln in aufflammender Leidenschaft: Wenn er es mir schafft – er und der andere – wie ich es ihnen lohnen will! Wie ich sie in dem neuen Friedensreiche hoch über alle anderen stellen und mit Gnaden überschütten werde –!

Seine Gedanken gleiten weiter – werden bildhaft und plastisch – spielen um Fragen von Würden und Titeln, von Rängen und Dekorationen – um prunkende Szenen der Ehrung beim siegreichen Einzuge – beim großen Ordensfeste und der feierlichen Akkolade – bei der Fügung des neuen Friedensbaues –.

Doch dann mit einem Male sind all diese hell gaukelnden Phantasien wieder weggewischt, ist jeder Rest von Licht aus seinem Denken fortgenommen.

Da schiebt sich dunkel schattend ein Erinnern in sein Sinnen, das ihn aufs neue an die Heimat mahnt –. Das an alte unvernarbte Wunden rührt und alte Leiden wiederum lebendig werden läßt. Bitterkeiten erwachen und schwellen – der harte Trotz eines in seinem Stolz gekränkten Herzens reckt sich auf – –: Wie ich es ihnen dann zeigen will, diesen Nörglern und Besserwissern, die immer wieder ausstreuen, daß ich große Männer und anderer Menschen Ruhm niemals um mich vertragen hätte –! Die mit ihren Lügen, mit ihrer Niedertracht und Verhetzung hinter mir her sind – seit ich mich damals von dem Einen trennen mußte –! Mußte – ja mußte! Weil der in seiner Anmaßung, weil er in seiner unbändigen Überhebung und herausfordernd zur Schau getragenen Mißachtung für meine Würde als sein König – für meine einfache Menschenwürde – unerträglich geworden war – –.

Eine heiße Erregung ist in der Brust des Königs. Die Finger seiner Rechten trommeln unruhvoll gegen das Leder des Sofas. Unten die kleine Hündin hebt den Kopf, richtet sich auf, stößt mit der kühlen spitzen Schnauze gegen diese fiebernde Hand.

Mechanisch streichelt der König ihr das glatte Fell: »Ruhig, Senta – ruhig –«

Und das Tier streckt sich gehorsam wieder auf den Teppich hin, während die Gedanken des Königs weiter drängen und kreisen – 

Schlaf? Ruhe? Er wirft das Kissen jäh herum, drückt das Gesicht in das jetzt kühle Leinen. Die Augen schließt er – will nur an das eine denken: Schlaf und Ruhe – – 

Aber das grübelnde Suchen läßt sich nicht scheuchen und ist stärker: Große Männer?! Wo waren sie denn in diesen fünfundzwanzig Jahren? Nur her damit – und in Gold hätte ich sie gefaßt! – Jetzt – wenn es glückt – die beiden! Und dann sollen all diese Verleumder sehen, ob ich Größe und Ruhm um mich vertrage! Und sollen sehen, wie ich diese Großen ehre und belohne –!

An die Stunden denkt er – drei Tage nach dem großen Frühlingsstoße gegen die Front von Arras bis La Fère ist es gewesen – am vierundzwanzigsten März – mein Gott: noch nicht vier Monate ist das jetzt her – –! Das Blücherkreuz mit dem goldenen Strahlenkranze hat er dem Generalfeldmarschall damals selbst auf die Brust geheftet – und hat sich dann von ihm als Gunst erbeten, daß er die erste Fahrt über das siegreich zurückgewonnene Schlachtfeld an seiner Seite mache –.

Ganz deutlich sieht, erlebt der König jetzt den Augenblick, wie der Generalfeldmarschall damals zu ihm in den Wagen stieg. In Avesnes – vor dem gleichen roten Hause – am Fuße dieser gleichen kleinen Treppe –. Und ringsumher die Herren des Generalstabes und des Gefolges und Soldaten –. Und er, der König, hat nicht geruht, bis nicht der Generalfeldmarschall als erster in dem Fond des Wagens saß, und hat ihm selbst die Staubdecke über die Knie gebreitet und zurechtgelegt – hat ihm mit Willen und vor allen, daß ihre Augen es mit ansehen und ihre Worte es dann weitergeben sollten, gedient! Der König – seinem besten Manne und Soldaten – –!

Und dann die Fahrt durch das bezwungene Land –: Erst hinrasend aus Cambrai zu, dann gleichsam sich durchringend durch diese arme, in den Feuern des Gegners und in der deutschen Abwehr zerschundene Stadt, durch zerstampfte, verlassene Riegelstellungen und Drahtfelder, durch grausam zerrissene Dörfer – –. Stunden und Stunden! Und dabei überall, wo immer der Wagen mit der knatternden Standarte vorüberglitt oder sich durchzwang, dieses gleiche Stauen, Jubeln, Hurrarufen der vom Siegesrausch dieser Erlösungstage getragenen Soldaten: »Der König!« – »Der Generalfeldmarschall!«

Und wie oft nur das eine: »Der Generalfeldmarschall!«

Denn auf ihn, aus den schwerblütigen, von all der Huldigung gleichsam beengten eisengrauen Mann an seiner Seite hat er sie immer wieder hingewiesen – mit wissender Demut und stolzer Genugtuung hingewiesen – wenn diese Grauen sich auf den schlingernden, schütternden Lastautos hochreckten – wenn sie auf den im Staube mahlenden, durch Erdlöcher und über Steintrümmer hinschwankenden Kolonnenwagen die Köpfe hoben – wenn die zerrackerten, gebückten Kerls, die in den Arbeitskolonnen auf den zerfetzten und zerwühlten Wegen schufteten, einhielten, sich mühsam, als wäre das ein schweres und ungewohntes Tun, aufrecht bogen und aus den roten, schweißtriefenden Gesichtern nach ihnen starrten wie nach Erscheinungen aus einer anderen Welt – 

Das ganze aufrührende Wunder dieser Fahrt hinter dem Siege drein springt vor dem König in lebendigen Bildern wieder auf, wie er sich der Erinnerung an jene Stunden gibt –. Wie ein Rausch ist das, macht seine Pulse beben, stellt Vergangenheiten zu neuer Gegenwart, zu neuem Miterleiden, Mitgenießen vor seine mitschwingende Seele – 

Erwartungen und zitternde Spannungen der letzten Kräfte so wie heute –. Nach Monaten der Vorbereitung, der Hinarbeit auf dieses eine Ziel die Tage der Entscheidung. Wird es gelingen?! Alles, alles auf dieser einen Karte –! Und so wie heute viele tausend Augen forschend und bohrend fest auf ihn als auf den Stützpunkt ihrer eigenen Kraft gerichtet – viele tausend Augen, die alle Siegessicherheit und überlegene Zuversicht und felsenfesten Glauben von seinen Zügen lesen, von seinen Lippen trinken wollen –. Und dieses Durchschleppen der heiteren Maske und der unbesorgten Worte – das Vorkehren der unerschütterlichen Königswürde, während im Herzen diese dunkle Angst nicht schweigen und nicht ruhen will –. Während in dieser grauenhaften Einsamkeit der schwarzen Stunden, wenn aller Prunk und aller Zwang mit Waffenrock und Fangschnüren und Sternen über der Sessellehne hängt, des Nichts durchbohrendes Gefühl sich in verzweifelnden Erschütterungen betend an dieses Eine klammert: Du hast mich über sie alle begnadet, Herr – vor dir kniee ich im Staube, verlaß mich nicht – denn du bist meine Zuversicht – –!

Drei Tage so, während die Truppe ringt und blutet, während die Lüfte nicht wieder schweigen in dem kaum noch erträglichen Halle der Feuer. Drei Tage und drei Nächte in Bangen, Hoffen, Sorgen und Zweifeln umhergeschleudert. Teilerfolge werden gemeldet – aber bleibt es bei denen, so ist im Grunde nichts erreicht. Endlose Züge mit roten Kreuzen, mit weißbezogenen Bahren hinter den Scheiben kriechen über die Schienen zurück – dreckstarrende Autos speien blutige Lasten von Verwundeten, die sie aus dieser Feuerhölle bargen. Und bei all dem nur dieses grausam harte Warten – und wieder Warten –. Und es nicht zeigen, wie die Nerven unter dieser Qual zerreißen wollen!

Die Nerven, von denen diese anderen nichts wissen –. Nicht der General, der mit abwärtsgekniffenem trotzigen Munde, den vollblütigen Kopf tief in die Schultern eingedrückt, durch Tag und Nacht vor seinen Karten sitzt, an seinen Drähten hängt – und nicht der Generalfeldmarschall mit seinen unbewegten Zügen, mit seiner unerschütterlich geruhigen, gleichsam über die Stunden und die Tage weg, in eine Ferne ausschauenden Abwehr alles Drängens, alles Fragens: »Die Dinge kommen sacht in Fluß – wir müssen uns in Ruhe fassen – alles will seine Zeit – auch der Erfolg will redlich reifen –«

Dann aber dieser vierte Tag, an dem es offenkundig liegt, an dem die blutigen Schleier klaffend auseinanderfetzen, an dem aus diesen grauenvollen Schauern von Rauch und Gift und Tod und Feuer der Sieg sein Angesicht enthüllt. Und das erlösende Bekenntnis des Alten mit diesem genialen altpreußischen Kasernenhofgesichte: »Jetzt ist die ganze Sache drüben ins Rutschen gekommen –«

Mit weit offenen Augen starrt der König blicklos in das Dämmerdunkel. Seine Zähne zerren an den Lippen, das Blut pulst in seinen Schläfen.

Bilder sieht er – ist wieder auf der Fahrt – ist in dem über alles Grauen und über alle mitleidvollen Erschütterungen hinflammenden Siegesjubel jener Stunden – 

Sieht die wild-zackig, wie versteint in aufkreischendem Entsetzen in den Himmel gereckten Skelettrippen und Ruinensparren von Masnières – spürt, wie das Auto schwankend, schlingernd über die von den mitstürmenden Pionieren eilig im Feuer geschlagene Bockbrücke weg den Scheldekanal übertaumelt – und starrt hinunter in das von unnennbarem Trümmerwerk, von toten Menschen und zerrissenen Pferden erfüllte träge Wasser – merkt, daß diese Brückenböcke auf närrisch bunten englischen Tanks ruhen, die in sturem Angriff über die Böschung stießen, in diese Tiefe stürzten –. – Die bis zum letzten Bild des Wahnsinns gesteigerte Wüste von La Pavé sieht er mit erschütterten Augen – die über alle Fassungskraft entsetzenvolle Hölle aus Drahtfeldern, zermalmten Gräben, Stützpunkten und Riegeln, aus der der deutsche Sturm und Sieg nach vorne brach – 

Dann oben Gouzeaucourt – die Höhe mit dem kleinen englischen Friedhof, dessen Grabhügel ihnen noch zuletzt als Verbandtische gedient hatten – mit dem weit ausflutenden Blick auf das Schlachtfeld hin – –. Auf dieses hingegossene, in Wellenbergen erstarrte Land, über das, unter einem strahlend blauen Frühlingshimmel, im Hauche eines leisen, linden Wehens, auf all den zermalmten Straßen zwischen zerstampften, wundgerissenen Tanks und zersetzten Geschützen, Protzen und Gespannen, zwischen der blutigen Saat von unbewegten, seltsam verrenkt gelagerten gelbbraunen und grauen Gestalten, von weggeworfenen Kleidern, Waffen und Geräten die Heerwürmer des deutschen Nachschubes nach Westen kriechen: Marschtruppen und Munitionskolonnen, Batterien und Brückentrains – und wieder Truppen – – 

Sein Glauben und Vertrauen entzünden sich an den heiß aufrührenden Bildern dieses Siegeszuges. Ein übervolles Gefäß der Hochgefühle ist seine Brust, und aus der Fülle dieses Glückes, das er damals da oben auf der sturmgenommenen Höhe des Schlachtfeldes neben dem Generalfeldmarschall genoß, ranken seine Gedanken und Träume jetzt in die Zukunft hinaus – 

Sieg ist das gewesen und wieder Sieg vielleicht, daß schon die nächsten Tage die letzte siegreiche Entscheidung bringen –. An die Auswirkung des Stoßes aus den letzten Maitagen streifen seine Gedanken: die Höhen des Chemin des dames sollte er uns wieder gewinnen – und trug uns dann im Schwung des ungeheuren Sieges über die Höhen weg – über die Aisne – und über Vesle und Ourcq – durch diese ganze Herrlichkeit der Isle de France bis an die Marne! Und jetzt? Warum soll dieses erste Ziel, die Festsetzung dort unten an dem Flusse zu beiden Seiten dieses Prellbockes von Reims – von Epernay bis nach Châlons und weiter – nicht wieder nur der Anlauf eines neuen – eines in seinen Auswirkungen noch ungeahnten letzten Sieges sein?! Ein Anlauf, der die stürmende Armee wieder unter der Wucht des eigenen Anpralles über den Fluß hinweg weiter nach Westen trägt, den großen Bogen um das Herz von Frankreich enger schnürt – und es bezwingt – – 

In der Brust des Königs hämmert das Blut, daß er sein Rauschen hört – 

Paris –!

Die Hand des Generals sieht er vor sich – diese feste, unerbittliche Hand – wie er sie mittags erst in dem hellen kahlen Zimmer beim Vortrag in Avesnes gesehen –. Diese Hand, die, während die Sätze hart und karg gleich kurzen Axthieben fallen und Linien und Riegel aus den erstarrten Zügen der Front splittern, bald hier, bald dort hinschlägt – dann wie ein sprungbereites Tier für einen Herzschlag auf den Kuppen der gekrümmten Finger ruht – und vorwärtsstößt und nimmt – 

Paris –!

Eine Flut von wünschender Sehnsucht und vorgenießender Genugtuung drängt in ihm auf – umströmt das Wort – findet Gestalten, Formen – kreist als ein Wirbel von Vorstellungen und Bildern, die sich zu einer Einheit schließen und festsetzen wollen – 

Aber zugleich ist eine dunkle, unklare Abwehr in ihm, sich diesen Lockungen zu geben. Ein beinahe angstvolles Zögern und Widerstreben, dessen letzte Gründe und Tiefen sich seinem Bewußtsein verschließen. Aberglaube – es nicht berufen! Als ob er durch dieses Nennen, Denken und Bedenken widrig wirksame Mächte, die schlummernd ruhten, wecken und gegen sich ausreizen könnte – 

Den Kopf bewegt er schüttelnd in kurzen, abwehrenden Rucken – will das alles von sich schieben –

Aber die Gedanken und Bilder kommen immer wieder – sind wie singend anschwirrende Mücken – sind wie unabweisbare Versucher, die sich heimlich anpirschen und in sein Gehirn stehlen – 

Paris!

Wenn das gelang! Nach diesem von einer Welt von Feinden ihm tückisch aufgezwungenen und lügnerisch zur Last gelegten Kriege ein Sieg mit dem geschichtlichen Symbol der Niederringung dieses oftbesiegten, rachsüchtigsten Gegners –. Ein Gottesurteil über all die Schurken und Verbrecher, die dieses ungeheuerliche Elend über die Welt gebracht –. Ein von der Vorsehung gefällter Freispruch der makellosen Reinheit seines Wollens – seines Handelns – – 

Dort wieder stehen, wo damals vor achtundvierzig Jahren der große, heiß verehrte Ahn gestanden und die Einheit des Reiches geschaffen – und sich Unsterblichkeit errungen hat. Ihm ist's, als ob er damit erst aus diesem breiten ruhigen Schatten des übernommenen Erbes, der sich über den unruhvollen Umtrieb dieser hingegangenen dreißig Jahre spannte, hinaustreten würde in eigenes Licht – – 

Wenn dieser Traum Erfüllung würde! – Wie das vor aller Welt ein Pflaster auf die tausend Wunden seines von einer verführten Menge verkannten und verlästerten Wollens – eine Genugtuung für tausend Demütigungen und Erniedrigungen seines Stolzes sein würde! Und wie er großmütig und königlich verzeihen und vergessen wollte –. Verzeihen den Widersachern in der Heimat – den niedergezwungenen Gegnern jenseits der Grenzen – –.

Als ob sein Leben dann im Zeichen einer glücklichen Versöhnung mit allen Vergangenheiten, über versunkene Qualen und über noch nachwirkende Bitterkeiten, Zwiespälte, Mißverständnisse und Kämpfe weg neu einsetzen und einen neuen, reinen Frieden finden könnte – – 

Stiller wird sein Sinnen, treibt aus diesen Wegen – 

Einmal klingt das Geräusch von leis scharrenden Schritten, die draußen vorsichtig über den Schotter des Bahnsteiges gehen, an ihn heran: Jemand, der sich behutsam dem Wagen nähert – 

Einen Augenblick hebt er aufhorchend den Kopf. Unklar kann er die gedämpften Stimmen des Leibarztes und des alten Kammerdieners unterscheiden.

Er weiß, jetzt fragt der Philosoph und Oberstabsarzt, ob Seine Majestät auch wirklich schlafe – und der alte Schulz sagt ihm: Jawohl – seit beinahe einer Stunde – 

Dann ist es wieder still – 

Ins Dämmern starrt der König – sieht durch Raum und Zeit in die Vergangenheit – 

Sieht seine durch die Härte einer lieblos kühlen Mutter vergiftete Jugend – sieht die Fremdheit, den mit dem Fortschritt der Krankheit ansteigenden Haß des Vaters –. Und sieht den Schatten des Riesen, der erstickend, erdrückend über seine Mannheit fällt – 

An der Türe des Schlafraumes wird leise geklopft –. Noch einmal – 

Unten, zu Füßen des Ledersofas rührt sich der Hund.

Da ist der König mit einem Ruck aus seinem rückschauenden Sinnen wieder in der Gegenwart und sitzt gerade auf. Als eine glückliche Erlösung empfindet er das Mahnen. Er denkt mit festgestrafftem Willen: Glauben – die Zuversicht des Herzens halten – nicht wieder in ein Grübeln über hundertfach Durchdachtes, in Zweifel und in Qualen sinken!

»Ja, Schulz!« Hell und unbelastet klingt seine Stimme.

Und der große, bärenschwere alte Mann, der seinem königlichen Herren seit einem Menschenalter dient, schiebt sich in das Gemach und schlägt die dicken, grünen Vorhänge der Fenster zur Seite.

Mildes, helles Abendlicht liegt vor den Scheiben.

 

Der König sitzt in seinem Arbeitsraume vor dem großen, mit dunkelgrünem Saffianleder bespannten Tische und überfliegt die Blätter in den Aktenmappen. Zu gesammelter Aufmerksamkeit zwingt er sich, will sich allen ablenkenden Gedanken an die näherkommenden Stunden und ihre Entscheidungen verschließen. Den Stift hält er in der Rechten, stellt da und dort in margine eine Bemerkung zu dem Texte der Berichte – bald zustimmend, bald bedenklich oder kritisch derb – setzt dann wieder das steile Initial seines Namens mit dem energisch geschwungenen Schlußstrich auf das Papier.

Wenn er aufblickt, über das Tintenzeug weg, und an der blumengefüllten Vase neben dem mattschimmernden Silberrahmen vorbei, kann er draußen unter den Obstbäumen einzelne von den Herren des Gefolges sehen: den Major und den Fürsten, die eben mit gespannter Aufmerksamkeit irgend ein Maulwurfsloch auf dem Boden untersuchen – den Generaloberst, der, eine Karte in Händen, dringlich und bohrend auf den Automobiloffizier einredet. Dienstlich und wie gespießt steht der zur Fülle neigende Hauptmann mit rotem Kopf vor seinem hohen Vorgesetzten –.

Der König denkt: Jetzt wird der gute Kerl wieder für jeden Reifen verantwortlich gemacht, der bei der Nachtfahrt etwa platzen könnte! – Einen Augenblick ist er drauf und dran aufzustehen, zum Fenster hinzugehen, die Scheibe niederzulassen und dem braven »Pannemann« ein beruhigendes Scherzwort zuzurufen –.

Er läßt es. Über das Gras der Wiese, über die Blätter der Weiden und des Buschwerks längs des Baches geht sein Blick. Sie schimmern silberig und feucht – es muß während der hingegangenen Stunde ein dünner Regen gefallen sein.

Er sinnt: Wie gut – das nimmt den Staub der Straßen fort – 

Wieder ein leises Klopfen – und der alte Schulz ist unhörbar im Raume, zieht Vorhänge hernieder – macht Lampen aufglühen – nimmt die erledigten Akten an sich – 

Und ist wieder fort.

Halb acht weisen die Zeiger auf der kleinen, goldenen Schreibtischuhr.

Wie langsam dieser Tag versinkt –. Über fünf Stunden noch – 

Auf dem schmalen Bilde in dem Silberrahmen ruht der Blick des Königs: In engem, schwarzem Kleide steht die Königin vor einem kleinen Tisch mit Blumen. Mütterlich gütig sind die Augen – silbergrau schimmert das volle Haar – die Arme sinken nieder, und die Hände sind leicht gefaltet – 

Irgend ein unklares Suchen hält seinen Blick auf das Bild gebannt –. Durch die Retouchen und Verschleierungen des Photographen sieht er den Menschen. Sieht die dünnen Fältchen und Sorgenmale in dem schlichten Matronengesichte der früh an ihm Vorbeigealterten – hört die warme Stimme, die, was auch je in diesen vier Jahrzehnten über ihn gekommen, stets Verstehen und Verzeihen für ihn hatte. Wie eine Geliebte einst – wie eine Freundin – eine mütterliche Freundin später – – 

Immer noch sieht er aus das Bild.

Ihm ist's, als ob die Augen – diese guten, vielerfahrenen Frauenaugen auf ihm ruhten – 

Eine Sehnsucht nach Heimat, Ruhe und Geborgenheit steigt in ihm auf – nach dem einen Menschen, vor dem er sich ganz ohne Zwang und mit gelöstem Willen geben kann – der alle seine tiefsten verschwiegenen Nöte kennt – nach dem einen Herzen, von dem allein er weiß, daß es ihn nie verlassen könnte –. Nach dem prunklosen Frauenherzen, das ihm damals nach einer harten, kalten Jugend als erstes Liebe und Wärme gab – 

An die Potsdamer Jahre der jungen Ehe muß er, wie sein Sinnen jetzt auf den Wellen dieses Suchens treibt, mit einemmal denken. Als ob diese Vergangenheit zu einem neuen Leben auferstünde, so klar, so gegenwärtig sieht er sie vor sich – muß er sie wiederum durchleiden – 

Major ist er – und ist dann Oberst und Kommandeur seiner Gardehusaren –. Ist Soldat und macht Dienst – ist mit den Leuten draußen auf dem Bornstedter Felde und im Gelände – sitzt im Kasino mit seinen Offizieren –. Ideenkreis der Konversation: Felddienst, Manöver, Pferde, Jagd und Anekdoten –. Das geht eine Weile – und wird dann unerträglich! Und er will mehr – will aus der rein militärischen Einordnung heraus – will auf allen Gebieten sehen und verstehen lernen. Denn immer wieder rührt ihn der Gedanke auf: Du wirst doch eines Tages König sein und sollst dann vor Gott und den Menschen Verantwortlichkeiten tragen! – Er drängt mit Leidenschaft heraus aus dieser Enge und Umschlossenheit – und findet die Türen in die Weite immer wieder mißtrauisch gesichert und hart verwahrt –: Nicht durch den Großvater, der doch noch in den Greisenjahren dieses verehrungswürdige gütige Verstehen für den gerechten Drang der Jugend hat und gerne helfen will – – 

Aber durch den feindlichen kalten Widerstand der Eltern, die sich in ihrem kommenden, durch fünfundzwanzig, dreißig Jahre mit banger Ungeduld ersehnten Königtume nicht durch einen Kronprinzen beeinträchtigt sehen wollen, der etwa allzu unterrichtet und allzu volkstümlich geworden hinter ihrem Throne stünde –. Für die ist sein Drang nach weitergreifender Betätigung, nach Anteilnahme an der inneren Verwaltung und Einführung auch in die Fragen der großen Politik nur wiederum ein Zeichen von Unbeständigkeit und Ungenügsamkeit, von mangelnder Gründlichkeit und gieriger Hast!

Bleib du in Potsdam und bei deinen Pflichten im Regiment!

Also Dienst und Kasino – und nach jedem neuen abgeschlagenen Versuche, auszubrechen, nur dieser heiße Zorn, diese machtlose Bitterkeit über den unerträglichen Zwang, über die demütigende Niederhaltung. Und dazu ein einziger Mensch, vor dem man alles Leid seiner Brust ausschütten kann, der selbstlos und mit guten Worten Frieden geben will – Sie – 

Leise bewegt er den Kopf, langt, ohne seinen Blick von ihrem Bilde fortzunehmen, nach dem Briefständer zu seiner Rechten, holt Briefpapier heraus und legt es vor sich hin. Sie soll es wissen, daß er auch in dieser Stunde vor der Entscheidung mit seinem Denken bei ihr ist.

Aber er greift nicht nach der Feder.

Aus lange hingegangenen Jahren dringen Erinnerungen aufgestöbert auf ihn ein – quellen die eine aus der anderen – reihen sich, werden zum Wandelbilde der Vergangenheit und geben ihn nicht frei – 

Jugend – –.

Und da schiebt sich – daß er es selbst mit Bitterkeit empfindet – zunächst nicht eigene Kindheit, sondern Kindheit seiner Kinder vor ihn hin – 

Neben der Frau, die jung und mütterlich geschäftig ist in ihrem Glücke, steht er in der Kinderstube bei all den lieben schlanken kleinen Bengels –. Radau und Fröhlichkeit – ein Selbst-jung-sein mit diesem ungehemmt lostobenden Gelichter – –

Und – Jahre später – Abend ist es, und die kleine Sissy soll nun schlafen! Aber das verwöhnte Gör hat es sich nun einmal in ihr Köpfchen gesetzt, daß der Papa dazu erst mit ihr »turnen« – daß er sie dann zudecken – und daß er am Ende ihre Hand halten muß, bis sie eingeschlafen ist –. Und so wird der Papa an jedem Abend vom Arbeitstische weg zu dieser Wichtigkeit geholt – und freut sich jeden Abend auf die Viertelstunde, als könnte er in ihr ein Stück der eigenen nie genossenen Jugend finden – 

Nein – alles das ist fort, wenn er an seine eigenen Kindheitsjahre denkt – 

Mama – denkt er, horcht gleichsam in die Stille der eigenen Brust hinein –. Und bewegt dann den Kopf in einem bitter sinnenden Verneinen. Das bleibt ein Wort, und ist nicht mehr. Ruft nur das Bild der kühlen, klugen Frau, die immer Arm in Arm mit dem Papa geht und die, wenn die vielen Interessen ihres scharfen Verstandes ihr dazu Zeit lassen, ihn und die Geschwister gouvernantenhaft überwacht. Die puritanisch kalt und herbe erscheint, deren Hände heimlich politische Denkschriften und viele Briefe nach England schreiben, aber keine Wärme und Zärtlichkeit in sich bergen. Die über Politik und Philosophie, über soziale Probleme und über Kunstfragen zersetzend und eindringlich zu reden weiß, aber niemals ein kosend-törichtes Mutterwort zu ihm oder den jüngeren Geschwistern spricht – 

Und dann vom siebenten Jahre ab: der Mentor, der Erzieher –. Ein braver Mann voll guten Willens und ehrlich erfüllt von der Tragweite seiner Aufgabe und Pflicht: einem Thronfolger und künftigen König das zu geben, was die Grundlagen des großen und gerechten Herrschers sind –. Also Charakterbildung: Erziehung zur Selbstzucht und zur Selbsterkenntnis. Aber der Weg, den er in guter Absicht wählt, ist doch ein Weg der Qual und der Freudlosigkeit für das Kind, das seinen Händen anvertraut ist: Wenn die anderen Jungens genießen – verzichten und darben; wenn die anderen spielen – Selbstbetrachtungen exerzieren! Die Vettern sind zum Geburtstage geladen und stopfen sich mit Kuchen zum Platzen voll – er aber soll den Wirt spielen, soll anbieten und nötigen – und soll zugleich zum Zeichen seiner willensstarken Enthaltsamkeit für sich kein Stückchen von dem Teller nehmen –. Großartig hält er sich bei diesen Proben – und heult, wenn er nachher allein ist, aus kindlichem Zorn und Leid. Und wie mit dem Kuchen und mit dem Brot, das er auf des Erziehers Wunsch nur trocken, ohne Butter, zum Frühstück bekommt, ist's mit dem Theater, mit Reisen und mit Kleidern –. Alles soll ihm versagt sein, damit er Verzicht und Enthaltsamkeit üben lerne, damit er nicht anspruchsvoll und unbescheiden werde –.

»Altpreußische Einfachheit!« Immer wieder wird das Wort ihm vorgesetzt.

Ihm ist es jetzt, wie er dieser überspannten Erziehung zum »Spartaner« gedenkt, als ob sich damals während Jahren ein unbändiger Drang, die Fesseln, die ihn fernhielten und niederdrückten, zu zerbrechen, das Ungelebte und Vorenthaltene zu durchleben und nachzuholen, in ihm aufgespeichert hätte – ein ungestillter Lebenshunger, der sich später doppelt und dreifach nehmen mußte, was ihm so lange versagt worden war – 

Die Gymnasiastenjahre in Kassel sieht er – die kurze freie Zeit in Bonn –. Und ist wieder in Potsdam und beim Regiment – 

Das Licht der Schreibtischlampe sticht den König plötzlich scharf und blendend in die Augen – er dreht es aus – sitzt dann in seinen Sessel zurückgelehnt, den Kopf nach hinten tief in das Genick gebogen. Die Hände greifen fest um die Armstützen. Der harte Druck der Rückenlehne dringt kühl durch sein Haar gegen sein Hinterhaupt, ist ihm ein wohlig empfundener Schmerz – 

Was war es doch? Ja: Potsdam – 

Damals die Zeit, in der er dieses Reifen seiner Kräfte, das drängende Aufstreben des Willens und die ruhelose Sehnsucht nach Anerkennung, nach einer gerechten Wertung seines Wesens mit jedem Jahr – mit jedem Tage stärker spürt – in der er dieses Ausgeschlossensein, dieses demütigende Beiseitegeschobenwerden mit jeder Stunde schwerer und widerwilliger erträgt – 

Sein Gesicht ist jetzt hart und bitter, die gleichmäßigen weißen Zähne zerren an den schmal gewordenen Lippen.

Er denkt erregt und tief erfüllt von diesem Gleichnis: Friedrich Wilhelm der Erste und der Kronprinz! Der Kronprinz, den der Vater auch nicht sehen kann, weil er sich ihm nicht »konformiert« – – und der dann seine eigenen Wege geht – und heute berghoch über seinem Vater ragt! Die ewig wiederkehrende Tragödie bei uns Hohenzollern! Das alte, immer neue Unverstehen des Vertreters einer absinkenden Zeit für den aufrückenden Agnaten – der verbitterte Groll des im welkenden Lorbeer einhergehenden Alters gegen das junge, frische Blut, das seinen eigenen Pulsschlag hat und um sein Recht auf seine Zukunft kämpft – 

Den Vater sieht er wieder – fühlt unvernarbt, wie eingebrannt in sein Erinnern die trennende Fremdheit, die zwischen ihnen ist. Nichts kann er ihm recht machen – an alles und jedes, was er tut oder läßt, hängt sich diese ablehnende, geringschätzige Kritik. Wenn er sich dienstlich meldet, liest er aus den prüfend über ihn hingleitenden Augen die kalte, verletzende Frage: Was ist denn das für ein Aufzug? – Wenn er geht oder reitet, wenn er spricht oder schweigt, glaubt er das überlegen mißbilligende Lächeln auf sich zu spüren. Unsicher wird er vor dieser unfaßbaren Abwehr – und flieht aus dieser Erschütterung seines gerechten Selbstbewußtseins, seines jugendlichen Stolzes in Trotz und Widerstand –. Wehren will er sich – das heilige Besitztum seiner angestammten Hoheitswürde, von dem ihm doch der Erzieher und die anderen alle von Jugend auf so viel sprachen, will er sich nicht verkümmern und besudeln lassen –! Aber der Wille ist stärker als die Kraft – und der Zwiespalt will nicht mehr weichen. Zaghaftigkeiten im Verkehr mit neuen Menschen, Unschlüssigkeiten vor Entscheidungen fallen ihn an – krankhaft beinahe ist das: Immer sieht er diese kalten, ironisch schweigenden Augen auf sich ruhen –. Augen, die seinen Willen zersetzen, die ihn vor sich selbst beschämen und degradieren –. Er grübelt, sucht in sich, vergleicht sich mit den anderen – mit den wenigen anderen, die er kennt: den jungen Offizieren seines Regimentes. Er fragt knabenhaft hilflos: bin ich denn wirklich schlechter als sie – unreifer – unklarer? Und findet keine Antwort – spürt nur, wohin er bohrend stößt, Unsicherheiten –. Aber wenn diese anderen wirklich besser sind als er, dann will er so wie sie erscheinen! Enger noch schließt er sich in ihrem Kreise ein – nimmt ihren schnellen forschen Reiterton an und kriecht mit seiner Schüchternheit, seiner Unentschlossenheit unter den bergenden Mantel einer lauten Ungezwungenheit, eines schnellfertigen Urteils –

Aber auch in dem neuen Kleide findet er keine Gnade vor dem Vater – nur weiter noch führt diese Wandlung die beiden auseinander.

Nichts tut die Mutter, um diese Entfremdung zu überbrücken. Arm in Arm geht sie mit dem Vater – ist das willige Echo seiner Mäkeleien und oft genug ihr Souffleur – 

Immer tiefer gräbt sich die Kluft.

Scheel und unverhüllt mißgünstig auch vor den anderen wird der Blick des Vaters in diesen Jahren, in denen die tückisch fressende Krankheit nach seinem Körper greift und an dem ehrgeizigen, unerfüllten Leben rüttelt. Wie eine Herausforderung empfindet der Hinwelkende die junge Mannheit des Sohnes, verbirgt oft kaum noch ein scharfes Aufblitzen von giftigem Haß: Du bist gesund und blühst mit deinen siebenundzwanzig Jahren mit jedem Tage mehr – und mein Weg geht zu Ende – ich bin siech. – Und, vielleicht unbewußt und dennoch aufstachelnd zu bösen Bitterkeiten: Du stehst da hinter mir und wartest nur auf meinen Tod – so wie ich selbst – – das liegt ja so in dem Metier! Du wirst ein Menschenalter lang regieren – wirst, wie die Dinge sich erfüllen wollen, jung und voll Schaffenskraft den Thron besteigen, den ich seit Jahrzehnten ersehne und den ich alternd und vom Tode gezeichnet, vielleicht sterbend erst, auf Wochen oder Monate erreiche –. Zeit wird dir bleiben, deinen eigenen Ruhm zu gründen – ich aber mußte mit allen meinen Hoffnungen und Wünschen im Schatten des Greises verkümmern und verdorren – 

Als ein Albdruck, von dem er sich niemals ganz befreien kann, liegt der kalte Haß des Vaters auf dem jungen Menschen – –

Die Gedanken des Königs starren bitter in diese Vergangenheit, die seine ersten Mannesjahre vergiftet hat – 

Als ein Albdruck – –. Das Wort läßt ihn nicht los.

Und plötzlich zuckt es jäh über die hohe Stirne, auf deren herrisch-edle Wölbung der Widerschein einer Glühlampe der Decke ein Licht aufsetzt. Er denkt: Und gestern – gestern nacht erst wieder habe ich qualvoll und mit beklemmendem Herzdruck von diesen Augen geträumt und diese demütigende Angst durchlitten –. Wie ein Schuljunge, der mit ängstenden Examensträumen ringt – wie ein Mann, den die Examensträume seiner Schuljungenzeit durch sein ganzes Leben weiterquälen –! Und er sinnt suchend: Der Traum – wie war das doch? Wie war es doch? Und weiß es dann: Jawohl – bei allen Menschen, vor denen ich Geltung haben will, die ich schätze, mit denen ich arbeiten muß, hat er mich hinter meinem Rücken madig gemacht –! Beim Generalfeldmarschall – beim Generalquartiermeister – –. Und wie ich dann komme, da stoßen sie sich heimlich mit den Ellbogen an und blicken auf mich aus schiefgelegten Köpfen –. Briefe hat er über mich geschrieben – richtige Steckbriefe – genau wie damals, als er durch gehässig böse Worte und durch diesen entwürdigenden Brief das erste Gift in mein Verhältnis zum alten Kanzler goß – – 

Mit einem Ruck setzt sich der König aufrecht. Der Kragen ist ihm plötzlich eng im jähen Andrange des Blutes: Daran nicht wieder denken jetzt – daran nicht denken –!

Gewaltsam sucht er sich davon zu lösen – sieht das Papier vor sich, dreht rasch die Schreibtischlampe an, greift nach der Feder –

An sie, an Dona will er schreiben.

Und sitzt dann doch minutenlang noch still vor dem leeren Blatte, bis er die Sammlung und die Ruhe findet, um ihr vom Inhalt dieses hingegangenen Tages zu berichten, um ihr von der Bedeutung dieser nächsten Stunden, von seinem Hoffen und Glauben auf den großen Sieg zu reden. Gewaltsam und unsicher zugleich stolpern die ersten Sätze – dann finden seine Worte den freien Fluß, werfen kühne Gleichnisse und starke Bilder aus, führen ihn mit sich fort. Wie von Wogen läßt er sich von ihnen tragen – 

Fortgeschoben ist jetzt die Unrast seines Grübelns. Seite auf Seite füllt er mit seiner klaren, aufrecht stehenden deutschen Schrift. Und er ist nun selbst wieder allein von dem einen großen Ziel erfüllt, dem ihn die Zeit entgegenführt.

 

Schon während die Zeilen der letzten Seite trocknen, hat er den Knopf des Läutwerkes berührt.

»Der Generalstabsoffizier –«

Er schreibt die Anschrift auf den Umschlag, schließt den Brief.

Die Tür ihm zur Seite bewegt sich wieder leise – Schritte – das Klappen von zusammengenommenen Absätzen, das Zirpen von Sporen – 

Der König wendet sich mit einem guten raschen Nicken dem jungen Generalstabshauptmann zu, der Karten und Skripturen unter dem Arme trägt. Seine Stimme ist belegt vom langen Schweigen und von einer mühsam gehaltenen Erregung: »Nun –?« Nur mit seinem Kinn weist er dabei vor.

»Die Gesamtlage ist seit heute morgen nicht verändert, Euer Majestät.«

»Und Einzelheiten –?«

»Auch nichts von Bedeutung, Euer Majestät. Die Angriffsabschnitte melden mäßiges Störungsfeuer in den üblichen Grenzen. Die Vorbereitungen für ›Michael‹ werden überall planmäßig durchgeführt. Befehlen Euer Majestät die einzelnen Armeemeldungen?«

»Danke –«

»Dann darf ich melden, daß die Leitungen nach der für heute nacht für Euer Majestät bestimmten Beobachtungswarte fertig sind und daß die Oberste Heeresleitung alle Armeemeldungen bis auf Widerruf direkt dorthin geben wird. Euer Majestät werden also die ersten Nachrichten über den Beginn des ›Michael‹-Unternehmens noch im Laufe der Nacht erhalten.«

Der König nickt. Auf die kleine Standuhr sieht er wieder: Es geht auf neun. Über eine halbe Stunde noch bis zur Abendtafel –. Die Finger seiner Linken trommeln unruhvoll aus der Schreibtischplatte. Eine Abwehr gegen den Gedanken, jetzt, wenn der andere ging, wiederum allein hier zurückzubleiben, ist in ihm.

Er schiebt den Sessel zurück, erhebt sich, tritt zum Fenster. Den Vorhang greift er zur Seite, blickt in das Abenddunkel hinaus.

»Wie ist das Wetter?«

»Mild und angenehm, Euer Majestät.«

»Dann holen Sie sich Mütze und Stock. Wir wollen vor dem Abendessen noch ein paar Schritte gehen. Am Wasser hin – den Wiesenweg –. Der Graf kann auch mitkommen.«

»Jawohl, Euer Majestät.« – –

Minuten später nimmt der König mit tiefem Atemzuge die noch vom Abendtau getränkte Luft der sachte niedersinkenden Sommernacht.

Dunkel, gleich ernsten, schweigenden Wächtern stehen die Weidensträucher jetzt vor dem Bache, dessen Wasser leise gluckst und sprudelt. Im letzten Tagesscheine glimmt der Himmel – irgendwo von da oben aus der fahl schimmernden Höhe gurgelt es bald tiefer und bald heller summend nieder. Ein Flieger, der von vorne kommt und seinem Hafen zustrebt.

Unter den Obstbäumen da und dort richten sich Gestalten, die plaudernd beieinander standen, straff aus – fliegen Hände an den Mützenrand. Der König nickt und grüßt – geht weiter – 

Vorne am Küchenwagen klingen lachende Stimmen. Einer singt –. Ein paar Augenblicke stehen die drei Männer und lauschen: Ein sentimentales Lied von Heimat – Schätzelein und Wiedersehen –

Zwischen dem Generalstabshauptmann und dem Grafen geht der König. Der verwilderte Obstgarten liegt jetzt hinter den Dreien, Wiesenland und Buschwerk, soweit das Auge in das Dämmern dringt. Und nur das geheimnisvoll kollernde Gluckern des Wassers jetzt – und manchmal, wie vom leisen Wehen des Abendwindes getragen, ein dumpfes Rollen in den Lüften: Ferne Feuer – 

Der Graf sagt und weist mit dem Kopf nach oben und in die Weite: »Wenn das nicht wäre – man könnte sich beinahe einbilden: man geht da spät, nach letztem Büchsenlicht, zu Hause über seinen Grund und Boden –«

Still bleibt es. Bis der Generalstabshauptmann dann hell in das Schweigen bricht: »Ja – die Herrschaften in der Heimat können sich das sicher nicht vorstellen, daß hier wenige Stunden vor dem Losbruch ein solcher Frieden herrscht –«

Der König bewegt kaum merklich den Kopf – nein, er folgt nicht auf diesen Weg, und irgend etwas an der immer frischen Stimme, die er sonst so gerne hört, stört ihn in diesem Augenblick.

Einem dünnen Vogelzwitschern, das schlaftrunken aus dem Dunkel des Buschwerkes zirpt, horcht er nach – verhält dann einen Herzschlag lang den Schritt und redet.

»Denken Sie, Graf, an etwas ganz Fernes muß ich jetzt denken – an meine erste Liebe –. Seltsam ist das, alles mögliche aus meiner Jugend ist mir heute durch den Kopf gezogen – es war nicht allzuviel Schönes darunter. Aber gerade jetzt, mit einem Male fällt mir das wieder ein. So ein Erinnern fliegt einen ja manchmal ganz plötzlich an – man weiß nicht wieso und woher – in einer Stunde, in der man es vielleicht am wenigsten erwartet –«

Er schweigt – aber er weiß, daß keine Antwort kommen wird. Die Blicke seiner Begleiter spürt er im Dämmern aus sich ruhen, stößt mit dem Stock ein Zweiglein beiseite, das aus dem Wege liegt, und spricht weiter.

»Im Jahre dreiundsiebzig war das – vierzehn Fahre war ich damals gerade alt geworden – ein richtiger Junge noch –. Und wissen Sie, wer es war? Die Kaiserin Elisabeth! Merkwürdig: Wie wenn es gestern erst gewesen wäre, so klar erinnere ich mich an jede Einzelheit. Mein Examen in Untersekunda hatte ich gut bestanden und sollte zur Belohnung die Eltern aus der Reise zur Wiener Weltausstellung begleiten dürfen. Eigentlich war mein Großvater der Anreger und Fürsprecher – Hinzpeter war unglücklich und tobte: Vergnügungen waren gegen seine Erziehungsgrundsätze; aber am Ende mußte er nachgeben. – Die Dinge lagen damals noch sehr anders als heute: Um das Jahr sechsundsechzig ging man in Wien im weiten Bogen herum – das war das Gespenst im Hause, von dem man nicht sprach. Und aus die Zwiespältigkeit von achtzehnhundertsiebzig konnte man sich nicht mehr besinnen –. Im übrigen hatte man sich damit abgefunden, daß wir vorhanden waren, daß man mit uns würde rechnen müssen: der Parvenu Preußen-Deutschland mußte also nett ausgenommen werden – die ersten Keime des Bündnisgedankens wollten werden. Dabei sah das alte, stolze Österreich-Ungarn im geheimen noch sehr überlegen und herablassend auf das junge Reich – man kriegte diese Auffassung gelegentlich wohl auch in aller Liebenswürdigkeit aufs Butterbrot. Und im Grunde war ja die ganze Ausstellung nichts anderes als ein Manifest, eine Glorifikation des österreichischen Gedankens – –. Ich war zu jung, um viel von diesen Dingen zu bemerken oder zu verstehen – aber ich sehe das jetzt so –. Für mich waren es einfach wunderschöne Tage im Wiener Wald, in Hetzendorf, im Prater mit dem Kronprinzen Rudolf, mit dem ich damals eine Jungensfreundschaft geschlossen habe, die dann bis zu seinem Ende geblieben ist – –«

Der König hält ein, sinnt Sekunden vor sich hin, horcht in die Weite.

Über den dunklen Wiesen der Niederung schwingt es jetzt als ein langgezogenes, melancholisch müdes Tönen. Ein Läuten von verhüllten Glocken: Die vielen tausend Unken, die in den Sommerabend hinein singen – die Nacht mit ihrem bald anschwellenden, bald absinkenden Glockenchor erfüllen – 

Der König hebt den Stock, weist in das Dunkel, aus dem dieses Klingen steigt: »Das soll auf gutes Wetter deuten –«. Und spricht dann, während er sich gerade ausrichtet und wieder in das tiefe Dämmern schreitet, mit anderer Stimme weiter: »Alles war neu und groß für mich – die Sinne sind mir richtig aufgewacht und ausgeblüht in der milden Wiener Luft und unter ihren Menschen. Dazu der Blick in diesen mir bisher ungeahnten feierlichen Prunk der spanischen Hofetikette, die einen Abglanz aus der Mystik der römisch-katholischen Kirche um die Träger der habsburgischen Krone wirft. – 

»Und da war die Kaiserin – eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe. Die erste Frau, bei der ich begriffen habe, was angeborene Hoheit ist. Undenkbar wäre sie in jeder anderen Umwelt gewesen – alles war königlich an ihr, war schlicht und selbstverständlich und doch hinausgehoben über alle, die sonst um sie waren. Wenn sie mit meiner Mutter im Schönbrunner Schloßpark oder im Kaisergarten spazieren ging, durfte ich ihr die Mantille tragen – man trug damals Mantillen –. Wie ein Page kam ich mir dann vor – – und war stolz aus den kleinen ritterlichen Dienst. Wenn ich ihr etwas ausheben – bringen durfte, war ich glücklich. Ich weiß, daß ich mich damals in diese Pagenrolle leidenschaftlich und phantastisch hineingeträumt habe. Und dabei war ich doch ein richtiger Junge, der zum ersten Male ein wenig aus der Schulstube gucken darf – und sie eine Frau von etwa fünfunddreißig Fahren –. Aber das ist schließlich nur eine Feststellung meines nachrechnenden Verstandes – denn wenn ich zurückdenke, habe ich sie doch nur als eine wunderbar edle Erscheinung von einer zeitlosen Romantik in der Erinnerung. Romantik – ja! Und vielleicht, hat gerade dieses Geheimnisvolle ihres Wesens mich nach der Kargheit und der Nüchternheit meiner Erziehungsjahre so sehr bezaubert –. Als ob unsere Erziehungsmethoden nicht oft genug zum Gegenteile ihres Zieles führten! Bei mir hat man gewaltsam alles auf einen freudlosen, verstandesmäßigen Puritanismus stellen wollen, auf einen Realismus der täglichen Pflichterfüllung – und hat damit erreicht, daß ich damals ein völlig offenes und unverbrauchtes Erdreich für alle Wunder der Romantik war – –«.

Leise nickt der Graf; sein Blick streift sachte unter den schweren Lidern zu seinem königlichen Herren. Er denkt: Und das ist er geblieben, so viele Jahre lang – und ist es vielleicht heute noch wie je –

Da nimmt die Stimme neben ihm die Rückschau in das lang vergangene Erleben wieder aus.

»Eine Reiterin, von deren einsamen, halsbrecherischen Hindernisritten man sich Unglaubliches erzählte, ist sie gewesen – für Dichter hat sie geschwärmt – hat einen wahren Kult mit dem mir damals natürlich verbotenen Heinrich Heine getrieben – soll mit dem Rapiere gefochten haben wie der beste Fechter – – und sah dabei aus wie die Heilige Elisabeth –. Schlank war sie – gertenschlank – hatte ein schmales, mädchenhaftes, manchmal ein wenig traurig lächelndes Gesicht und überreiches Haar. In der damaligen Tracht mit langem hellen Schleppkleid ist sie mir wie eine herrliche Edelfrau aus den deutschen Rittersagen erschienen –«

Der König schweigt. Er sagt nach ein paar Schritten jäh: »Zu seltsam ist das doch: ganz plötzlich steht solch eine lang versunkene Vergangenheit manchmal vor einem auf. Wie lange ist das her, daß ich mich daran nicht erinnert habe! Ich glaube, auf Korfu, das sie auch so geliebt hat, habe ich zuletzt an sie gedacht –«

Korfu – da treiben seine Gedanken ab und gehen neue Wege. An glückliche Frühlingstage in diesem Duft- und Blütenmeer der Insel muß er denken, sieht sein Achilleion – den Park – die Stätten seiner archäologischen Grabungen – Götz' riesigen Achill. Und seine Stirne wird hart. Versunken sind diese lichten Vergangenheiten. Auch dort hausen jetzt Engländer oder Franzosen – auch dort hat der Krieg den Frieden gemordet. Wer weiß, was da noch übrig ist von seinem herrlich schönen Sonnensitz in Griechenland.

»Wir wollen umkehren –«

Durch das tiefer einfallende Dunkel geht er zwischen den beiden schlanken Männern zu seiner Seite den Wiesenweg zurück.

In den Höhen über ihnen grollt hin und wieder der Hall von fernen Feuern. Die Glockenchöre der Unken klingen ferner und versinken.

Die dünnen Lichter des Zuges tauchen auf.

Von der kommenden Schlacht und seinem hoffenden Glauben redet der König.

 

Inmitten seiner Herren sitzt der König an der langgestreckten Abendtafel des Speisewagens. Das Licht der Decke gießt sich hell über die Doppelreihe der Männer, blinkt wider im Silber und Kristall des Tafelgerätes, auf Achselstücken, Fangschnüren und Orden der grauen und graugrünen Röcke.

Das leichte und prunklose Mahl wird rasch genommen. Der König ist ein schwacher Esser, und sein Bedarf ist rasch gedeckt. Wer nicht in Rückstand kommen will, muß sich beeilen. Anschluß – Anschluß auch hier. Die Gabeln und die Messer klingen leise an – die Kinnbacken arbeiten –. Der Generaloberst nimmt ein Stück Braten und nickt dem Generalstabshauptmann, der zu seiner Rechten als Letzter an dieser Seite des Tisches sitzt, wohlwollend aufmunternd zu: Gehörig vorsorgen – solch eine Nacht im Freien braucht vor allem eine gute Unterlage. Und wie lange Seine Majestät da draußen bleiben will, das steht bei Gott. Wer weiß, wann's wieder etwas gibt! – Hinter den Rücken der Herren gleiten in ihrer knappen dunkelgrünen Uniform die Leibjäger geräuschlos über den Teppich, nehmen die silbernen Teller fort, schieben andere an ihre Stelle.

Das Gespräch liegt in die zusammenhanglose Unterhaltung kleiner Gruppen aufgesplittert, geht in verhaltenem Flüsterton und sinkt ganz ab, wenn die Stimme des Königs, der in der Mitte der Tafel zwischen dem ganz unmilitärisch fettsüchtigen Chef seines Militärkabinetts und dem Chef seines Zivilkabinetts sitzt, hörbar wird. Aber er spricht zunächst nur hin und wieder ein paar Sätze zu der hageren, sorgenschweren Exzellenz zu seiner Rechten, zu dem Hofmarschall oder zu dem Admiral ihm gegenüber. Belanglose Bemerkungen über den wohltuenden Abendgang längs des Wassers – über Eindrücke, die er aus der Fahrt von Avesnes hierher vom Lande und den Einwohnern gewonnen hat. Und das alles klingt seltsam wurzellos, vorgeschoben und hingebaut, als würde es nur gesagt, um als Fassade vor anderem Ungesprochenen, das sich auf seine Lippen drängen will, zu stehen.

Dann ist die Tafel beendet, das Tischtuch abgenommen. Die Aschbecher aus schwerer Bronze, die Kerzenlichte sind aufgestellt, der große silberne Zigarrenkasten wird herumgereicht.

Die Leibjäger bringen Zeitungen – die letzten Nachrichten, die hierher kamen: die »Kölnische« – die »Kölnische Volkszeitung« – die »Frankfurter« – die »Rheinisch-Westfälische« –. Dann sind sie fort; der König ist allein mit seinen Herren.

Die schwarz umrandete Hornbrille setzt er auf, sieht in die Blätter – überfliegt die fremden Heeresberichte, die Depeschen – 

Um ihn die Herren lesen, rauchen, plaudern leise.

Vom jenseitigen Ende der Tafel, wo sich an den Hofmarschall der Fürst, der Legationsrat und der kleine Jägerhauptmann reihen, klingt verhaltenes Wispern und Lachen herüber. Ohne aufzusehen hört der König einen Augenblick lang hin. Der Semmelblonde erzählt: »Also, wie ich dann meinen Maschinengewehrzug aufgebaut und den Laden richtiggehend aufgezogen habe – – das kann ich Ihn'n sagen, Baron – meine Kerls: da ist aber auch keen Auje trocken jeblieben – –!«

Der Chef des Zivilkabinetts blinzelt kurzsichtig hinüber. Der feine ironische Mund lächelt verkniffen: Ein wenig viel redet der Liebe, Gute immer noch von den sechs Wochen, die er vor vier Jahren an der Front gewesen ist –.

Der König hat einen Leitartikel durchgesehen, liest einen zweiten. Der gleiche abgrundtiefe Zwiespalt, der die Massen in der Heimat scheidet und der sie auch in diesen Tagen wichtigster Entscheidungen nicht zur Geschlossenheit und nationalen Einheit kommen läßt, schreit ihm daraus entgegen.

Das Volk – der Reichstag – und die Presse: alles zerklüftet von der gleichen selbstmörderischen Zerrissenheit.

Er denkt: All diesen inneren Zwiespalt durch den Sieg überbrücken! All den verblendeten Parteimenschen als höchsten Stolz das Ziel und den Gedanken geben, Deutsche zu sein! Deutsche, die einer Welt von Feinden siegreich widerstanden und die als Sieger dieser Welt in Großmut die Hand zu einem neuen Aufbau reichen – 

Die Zeitungen schiebt er jäh von sich, legt die Brille darüber hin. Gezänk und Gekläff – unwürdig dieser Stunde –! Morgen vielleicht schon weggewischt von weltgeschichtlichen Tatsachen.

Nervös reibt er mit seiner rechten Hand die linke.

Drüben der Hofmarschall räuspert sich leise und diskret, läßt die dunklen Augen, aus denen das alte französische Emigrantenblut flackert, anregend nach beiden Seiten flitzen.

Und der Admiral neben ihm zieht mit pedantischer Gelassenheit einen Funkspruch aus der Tasche. Er hat die ganze Zeit schon auf den passenden Augenblick gelauert. Sein grämliches Eulengesicht ist unbewegt, nur die Lider klappen langsam auf und nieder, und der strichschmale, lippenlose Mund redet. Ob's etwas Bedrückendes, ob's etwas Erhebendes ist, was er zu berichten hat, man würde es aus dem ungestuften Tonfall der grauen, leblosen Stimme nie entnehmen: »Die U-Flottille Flandern meldet wieder vierundzwanzigtausend Tons als versenkt. Zwei tiefgehende Dampfer – wahrscheinlich mit Munition – sind aus ihrem Geleitzuge herausgeholt worden –. Wenn es so weiter geht, wird die Statistik für diesen Monat – –«

Der König nickt. Täglich hört er das so mit kleinen Varianten: heute also vierundzwanzigtausend Tons –. Sein Blick geht nach der Uhr an der Schmalwand des Wagens: noch eine gute Stunde Zeit, bis man in die Autos steigt – 

Auf dem Fürsten und dem Legationsrate, die aus ihren leisen Reden in eine nur mühsam gedämpfte Heiterkeit geraten sind, haften jetzt seine Augen mit freundlicher Nachsicht. Er fragt zerstreut: »Was ist denn so amüsant da drüben?«

Der Baron zeigt strahlend die blanken Zähne: »Durchlaucht erzählt allerlei Einzelheiten von seinen Toilettenvorbereitungen, die er jedenfalls schon für den Einzug in Paris getroffen hat –«

Und der Fürst zerrt an dem dünnen, staubblonden Reiterschnurrbart, der ihm an den Mundwinkeln niederrinnt, lacht beglückt aus den flachen, glasigen Kalmückenaugen und meint: »No ja – Eier Majestät – also, rein alles plauscht der Baron aus –. Ein' Bädeker ›Paris‹ hab' ich mir eingepackt – und halt iberhaupt allerhand und so – –«

Der König nickt mit einem nervösen Lächeln. Er greift eine Zigarette aus der Schale und wendet sich der anderen Seite der Tafel zu – 

Dort geht die leise Diskussion mit Leidenschaft um das Problem, »was für eine Geborene« die Frau irgend eines Dragonerrittmeisters ist – 

Von dem gutmütig-fettsüchtigen Militärkabinette nimmt er Feuer und denkt: Paris – Paris –. Nicht daran rühren und es nicht berufen! – Er sucht: Was ist es nur, das mich jetzt bei dem Worte stört, verstimmt –? Ich habe doch nachmittags selbst daran gedacht – mir diese Möglichkeiten ausgeträumt –«

Doch Aberglauben? – Unsinn!

Das dreist und zugleich alleruntertänigst, mit der Selbsterniedrigung eines Clowns um Beifall werbende Lächeln des Fürsten sieht er wieder vor sich – fühlt sich erfaßt von einer jähen, ekelvollen Abwehr: Hanswurst! Er wirft den Kopf zurück und stößt den Rauch der Zigarette in stäubendem Kegel nach oben: Quod licet Jovi – – 

Und mit dem Worte hat sein jederzeit von inneren Assoziationen und von äußeren Zusammenhängen durchzucktes Gehirn auch schon den Trieb, die Kraft, um diese Zeit des Wartens, über alle in seiner Brust drängende Unruhe und Ungeduld hinweg, mit Würde zu erfüllen. Fort mit den aufgeputzten Kriegserinnerungen des kleinen Jägerhauptmanns, fort mit den armseligen Moskowiterscherzen des schlesischen Magnaten und mit dem stumpfsinnigen Ahnen-Pedigree des Majors –! An ihm ist es, Besseres zu geben. Das Bewußtsein seiner höheren Sendung erfüllt ihn –. Als eine stolze Pflicht empfindet er es, sich den Männern um ihn jetzt, in dieser letzten Stunde, die bei keinem von ihnen jemals in Vergessenheit versinken kann, mitzuteilen – ihnen Einblicke zu geben in sein Hoffen, Suchen und Wollen – 

Auf die Zeitungen weist sein Blick, und seine Stimme wird voller, faßt die Aufmerksamkeit aller zusammen, wie er jetzt, zum Zivilchef und zum Hofmarschall gewendet, redet: »Auch über unsere Kriegsziele wissen die Neunmalweisen in den Redaktionen von rechts und von links wieder einmal viel besser Bescheid als der Generalfeldmarschall und als der Reichskanzler –. Hie Annexion bis an die Maaslinie – hie Hingabe von Elsaß-Lothringen! – Wir führen einen Verteidigungskrieg! Wir wollen ungekränkt und unbeengt unserer Zukunft leben können – das ist alles! Unser bestes Kriegsziel darüber hinaus aber muß es sein, uns mit den anderen verstehen zu lernen – so verstehen zu lernen, daß nie wieder eine Katastrophe wie das furchtbare Unglück dieses Krieges über Europa kommen kann –«

Der Hofmarschall drüben nickert heftig. Die dunklen Augen eilen umher, das kluge, vollblütige Bourbonengesicht ist Zustimmung, Bereitschaft, sofort auf dieser Basis abzuschließen. Du lieber Gott, man hat ja auch wahrhaftig genug davon – und wie die Sache schließlich sich noch wendet, weiß kein Mensch – – 

Der Graf sieht unter schweren Lidern auf seine Tabatière nieder, streicht mit den Fingern immer wieder über das glatte Silber hin. Er denkt: Sich mit denen drüben verstehen –! Zum ewigen Frieden finden –! Das ist nun wieder der Romantiker – der ewige Romantiker der Kaiserin Elisabeth – –

Die Gedanken des Königs drängen weiter. Über das ungelöste Grauen der Gegenwart ranken sie in die Zukunft und um ihre Probleme –. Den Sieg setzen seine Worte voraus, wie er dann wieder redet – keiner an diesem Tische soll zweifeln – keiner an diesem Tische soll glauben, daß er den Zweifel kenne –:

»An uns Deutschen wird es sein, den bezwungenen Gegnern den neuen Frieden nicht sinnlos zu erschweren. Wir werden die für sie und uns gemeinsamen Kulturwege in die Zukunft Europas zu bereiten haben –. Und das heißt für den Sieger nicht: am siechen Leib und Geist des Unterlegenen die Übermacht des Augenblickes sinnlos züchtigend ausbeuten. – Kulturwege bereiten heißt für den Sieger in diesem Kriege: mit den stärkeren Möglichkeiten seiner Form ehrlich nach der letzten Erkenntnis des Zwiespaltes schürfen, verstehen wollen und Brücken bauen –«

Er schweigt. Seine Worte klingen noch vor ihm – sind ihm wie ein Gelöbnis, das er willentlich hier an der Schwelle der Entscheidung gibt. Vor einer höheren ewigen Macht, die seine Stimme hört und in deren Händen alles irdische Geschehen ruht – vor diesen Menschen um ihn, die er zu Zeugen seines Willens macht – 

Der alte Generaloberst hat sich auf seinem Platze neben dem Chef des Zivilkabinettes ein wenig vorgebeugt und dem Könige zugewendet.

Wie aus einer Ferne hört der die behutsame, etwas gepreßte Stimme, die vorsichtig Wort an Wort reiht, als prüfe der tausendfach erfahrene Hofmann vor jedem erst den Boden, auf den es fallen mag: »Glauben Euer Majestät, daß unsere Gegner – sagen wir die Franzosen –  wenn sie etwa als Sieger hervorgingen, an unsere Zukunft den gleichen Maßstab legen würden –?«

Der König wendet sich der greisen Exzellenz mit kurzem Rucke zu. Seine Stimme klingt jetzt überlegen, beinahe ein wenig lehrhaft: »Lieber Freund – wir sind eben Deutsche!«

Schweigen.

Der Generaloberst ist wieder zurückgenommen in die Reihe der anderen. Nur sein Gesicht ist ein wenig röter als sonst, wie er sachte nach einer neuen Zigarre greift, die Spitze abschneidet und den Leuchter heranzieht.

Der Legationsrat ihm gegenüber lächelt ganz unverhohlen. Seine Zähne blecken. Er denkt gutmütig feststellend: Ei wai – Abfuhr! Lernt auch nicht aus – – 

Und der Zivilchef sieht nachdenklich-skeptisch auf die Nägel seiner dünnen, behutsamen Finger nieder und sinnt dem Worte, das sich hier als Argument auftut und das doch nur ein leerer Schall ist, nach: Wir sind eben Deutsche! – »Ich kenne keine Parteien –«. Als ob wir noch im Juli und August von neunzehnhundertvierzehn stünden –. Du lieber Gott, was alles hat man da nicht erlebt in dieser letzten Zeit! Sieht er es denn nicht selbst? Will er's nicht sehen? – Was alles nennt sich jetzt nicht Deutscher und ist doch nur schäbiger Parasit und Aussauger an dem im Kampfe um sein Dasein ringenden Vaterlande –. Er sagt besorgt – und jeder seiner Sätze will dabei dem Freund und König ein Trittpunkt für den Fuß und eine Hilfe sein: »Wir werden auch im Innern vor ungeheuer schweren Aufgaben stehen. Die Menschen sind anders geworden in diesen vier unerhörten Jahren. Ein jeder Einzelne, der die lange Zeit draußen war und wieder in die Heimat kommt, wird im Kreise der Seinen eine neue Umwelt finden und wird durch diesen Wandel vor neue Entscheidungen gestellt sein. Das Gleiche werden die regierenden Kräfte im größten Ausmaße erleben. Und jeder – der Heimkehrende so wie der Zuhausegebliebene – wird seiner durch Leiden und Erfahrungen gesteiften Auffassung zum Siege verhelfen wollen –. Ich kann mir denken, daß wir dabei rechts und links Leidenschaften von kaum zu zügelnder Gewalt entfesselt sehen werden: Fanatische Führer – fanatisierte Massen –. Alle ungeheuren Schwierigkeiten der Demobilmachung, auch der seit so viel Jahren auf Krieg, auf freiwillige und erzwungene Opfer eingestellten Seele des ganzen Volkes, liegen vor uns. Es werden vielleicht Jahre hingehen, ehe sich diese Kräfte wieder zur vollen gemeinsamen Arbeit ausbalancieren –«

Der König nickt – aber der Einwurf stört ihn, dringt wie eine Flut von Unbehagen auf ihn ein, will ihn vom Wege seiner beschwingten, nach Wort und Geste lechzenden Gedanken drängen. So sagt er rasch, ein wenig ungeduldig abtuend: »Wenn es so kommt – ich glaube nicht daran – dann werdet ihr eben auch zu tun haben und zeigen müssen, was ihr könnt!« Und dann, nach ein paar Augenblicken der Sammlung, in anderem, wieder von ausblickender Zuversicht getragenen Ton: »Der Sieg wird uns die innere Balance mit sich bringen. Jeder wird stolz auf seinen Anteil daran sein – der Kämpfer so, wie der Mann in der Heimat. Deutsche werden sie sein wollen vor allem anderen –! Die Parteizerklüftungen werden in den Hintergrund gedrängt werden von der Übermacht des nationalen Gedankens. Die neue Einigung der Geister zu einer stärkeren Geschlossenheit liegt im siegreichen Ausgang dieses Krieges –«

Gegenüber der Fürst ist ganz Zustimmung. Seine flachen, wässerigen Augen suchen den König.

Der Graf, der als letzter links drüben neben dem Oberstabsarzt sitzt, zeichnet mit goldenem Crayon zarte, sehnsüchtige Frauenprofile mit tiefen Botticellischeiteln auf den Rand einer Zeitung: Wenn aber alles das ganz anders kommt –? Wenn uns der Sieg entgleitet – morgen und übermorgen – und überhaupt –? Was wird's dann mit der nationalen Einigung? Gilt dann von allem dem das Gegenteil – –?

Und der lange Major und Gardedukorps hat die dünnen Brauen hochgezogen und dreht seinen Wappenring am Finger: 'rausschmeißen dieses ganze Lausepack im Reichstage! Stinkiers und Schieber! – Nationaler Gedanke? Einfach selbstverständlich! – Er bläst den Rauch durch die schmale Hakennase und denkt: Wenn ich dann erst Kommandeur des Regiments Gardedukorps bin – den Schweinehund möchte ich sehen, dem ich dann nicht 'n nationalen Gedanken beibringe –! – Und er neigt sich in einem plötzlichen Bedürfnis nach Beziehung und Anschluß zu dem behaglich ruhenden Militärkabinett an seiner Rechten und fragt leise, tief interessiert: »Fahren Herr General nachher mit auf die Beobachtungsstelle?«

Nur ein Kopfschütteln und – da der König sich zur anderen Seite der Tafel hingewendet hat – ein kaum merkliches, vielberedtes Lächeln: Mitfahren? Fehlte gerade noch! Nein – nur keine Übertriebenheiten. Hält nur auf! Wozu denn auch? Wird's besser dadurch, daß ich zugucke? I wo! Ich schlafe aus. Und morgen früh, beim Rasieren, bringt mir die Ordonnanz den Funkspruch ins Abteil – und ich bin so klug wie ihr – 

Der König redet weiter. Straffer aufgerichtet sitzt er jetzt auf seinem Stuhl. Die tiefblauen Augen strahlen, und manchmal flattert seine Rechte hoch und unterstreicht mit kühner, beredter Geste die starken, bildhaften Sätze. Wie getrieben von einem unklaren Drang, die Stille zu erfüllen und Widerstände, die er in sich selbst und um sich in der Nähe und in der Weite ahnt, abzukämpfen, redet er. Spricht zu den anderen und spricht dabei vielleicht doch mehr noch für den Bedarf der eigenen unruhvollen Brust. Eine starke, siegessichere Stimme will er hören, will sich umstellen mit einem Horizonte von Ausblicken in eine bessere, über alle zermürbenden Qualen und Erschütterungen der Unsicherheit hinausgehobene Zukunft –. Will diese dumpfe Furcht vor drohenden Gespenstern, die irgendwo in einer von seinem Bewußtsein willentlich gemiedenen Tiefe seines Wesens mühsam gebändigt und niedergehalten lauert, übertönen durch kraftvolle Worte, die seinen starken, unerschütterlichen Glauben verkünden – 

Nein – ein goldenes Zeitalter für alle fruchtbaren Gedanken, für alle schaffenden Kräfte wird erblühen. Aufgaben von ungeahnter Weite warten auf jeden Deutschen! Unvergleichliches haben unsere Techniker und Ingenieure, hat unsere Wissenschaft in diesen Jahren im Dienst des Krieges geleistet. Jetzt werden Konstrukteure, Baumeister und Erfinder all ihre freiwerdenden Kräfte und all ihr Können dem Wiederaufbau widmen. Die Zweiundvierzig-Zentimeter-Mörser – die großen U-Boote – die Zeppeline – die Paris-Kanonen – – alle Gehirnarbeit und alles Muskelschaffen, die jetzt an diese Werke der Zerstörung gebunden sind, werden mit unerhörtem Auftrieb auf den Gebieten der Befreiung des Reiches von allen Nachwirkungen dieser harten Zeit Neuland gewinnen. Kein Arbeitsfeld, das davon nicht ergriffen werden wird – 

Beschwingt und gehoben fühlt er sich von den Bildern der Zukunft, die er da vor sich sieht. Weit über alle Gegenwart hinaus trägt ihn die Phantasie. Aus allen Gebieten menschlichen Schaffens drängen die Möglichkeiten kommender Entwickelungen auf ihn ein, und sein Gehirn, dem tausend Einzelheiten aus jedem Felde jederzeit rasch und untrüglich gegenwärtig sind, sammelt die Strahlen in sich auf und gibt sie in der Brechung seines Wesens wieder. Baut da aus ihnen in blendendem Dilettantismus, den immer wieder die Schimmer einer echten Genialität durchsprühen, eine neue Welt, an deren Werden er jetzt ehrlich glaubt.

Seine Augen leuchten, und seine Worte drängen auf die Hörer ein. Eine hinreißende Beredsamkeit geht von ihm aus und läßt das Ferne nah und das Erwünschte erreichbar erscheinen. Der kühne, edle Kopf ist hell durchgeistigt, sieht in die Traumbilder der Zukunft wie in eine lichte Gegenwart – 

Still ist es um ihn, alle, auch die Kritischen und Zurückhaltenden folgen mitfortgenommen diesem leuchtend sprudelnden Strom, in dem sich Mögliches und Unwahrscheinliches, Erwiesenes und Anfechtbares zusammenfinden: Was wir zum Dasein unseres Volkes brauchen, das werden wir im Lande produzieren. In unserer Heimat und in den aufblühenden Kolonien. Die Schaffung einer unbedingten Unabhängigkeit vom Auslande wird Ziel des nationalen Selbstbewußtseins in unserem neuen wirtschaftlichen Leben sein. Das Vielfache der alten Ernten werden uns die Zukunftsernten bringen. Künstlichen Stickstoff werden wir in ungeahnten Mengen schaffen: kein Zentner Salpeter mehr wird uns über die Grenzen kommen. Milliarden werden wir der Landwirtschaft erhalten! – Unsere Fabriken, unsere Eisenwerke werden inmitten von stark kultivierten Feldern liegen, und die entgifteten Abwässer werden diese Kulturen zu einem gesteigerten Ertrage befruchten. So wird die Industrie sich selbst das Brot reifen – das Fabrikland wird beitragen zur Ernährung seines Arbeiters! – Gasmotoren von einer alles bisher Dagewesene überbietenden Leistungsfähigkeit werden wir schaffen – Physik, Chemie, Naturwissenschaft werden die Ärzte sein, mit deren Hilfe unsere Kriegswunden vernarben. Probleme werden sie erfassen, vor deren Tragweite die alte Zeit erschauernd stillestand: die ungenutzten Kräfte von Ebbe und Flut werden sie in den Dienst der Menschen führen – die ungehobenen Schätze des Seewassers werden sie uns fruchtbar machen – dem Sonnenlichte und der Sonnenwärme werden sie neue Quellen gebändigter Kräfte zum Nutzen der Menschheit entringen.

Er schweigt, sieht froh und stark um sich. Ihm ist zumute wie einem Reiter, der nach heißem Jagen jäh einhält und jetzt mit gehobenem Pulse alle Kräfte seines Pferdes restlos in seiner Faust versammelt fühlt –. Den Widerschein des eigenen Glaubens sieht er in den Augen der anderen.

Er nickt: »Auch das werden wir schaffen!«

Und sieht nun nach der Uhr hinüber, steht mit kurzem, entschlossenem Rucke auf.

Den Generaloberst trifft sein Blick: »Sind wir soweit?«

Die greise Exzellenz steht dienstlich vor dem König: »Die Wagen sind soeben vorgefahren, Euer Majestät.«

Eilig hat sich der kleine, füllige Automobil-Verantwortliche hinausgedrückt. Sein rotes, gutmütiges Kindergesicht unter dem blonden, kurzen Igelhaar ist voll Sorge. Für ihn birgt die kommende Schlacht Gefahren um Gefahren, an die die anderen kaum denken: verstopfte Zulaufrohre, geplatzte Schläuche, Zündungspannen –.

Dem Hofmarschall, den Kabinettschefs, die zurückbleiben, drückt der König die Hand: »Wenn wir uns wiedersehen, sind wir mit Gottes Hilfe dem Ziele näher!«

Ernst und durchdrungen von der Bedeutung dieses Scheidens sind seine Züge. Wortlos verbeugen sich die Männer, zu denen er spricht.

Dann schreitet er, gefolgt von den beiden diensttuenden Adjutanten, aus dem Speisewagen und die langen Seitengänge des Wohnzuges hinunter nach seinem Wagen – 

Aufbruch ist hinter ihm her: Der Generaloberst – der Generalstabsoffizier – der Oberstabsarzt – 

Der Legationsrat greift eine Zigarette aus dem goldenen Etui. Er klopft sie zwei-, dreimal gegen die Dose und lächelt. Anerkennend – befangen – überlegen? Weiß Gott! Vielleicht auch nur aus Angewohnheit. Er meint: »Na, der König war heute ja wieder einmal recht gut im Zug –«

Und der kleine schnieke Jäger nickt ihm verständnisinnig zu und grient: »möchte man wohl flüstern –«

An den Fürsten, der eben einen flachen, geschliffenen Taschenflakon aus dem grauen Schnürenrocke produziert und sich topasgelben Cognak in ein Wasserglas eingießt, pirscht er sich heran: »Durchlaucht, wie ist es denn mit einem kleinen Whist en trois –? Der Baron macht sicher mit?«

Ohne das Glas vom Munde zu setzen, nickt der Fürst.

Und der Legationsrat brennt seine Zigarette an und lacht: »Denn los – was kann das schlechte Leben nützen!« – 

Draußen auf der Straße rücken die grauen Wagen an – 

 

Der Schlacht entgegen – 

Die Wagen fahren durch die milde, regenfeuchte Nacht.

Ohne Lichter, geheimnisvoll und schwarz, eilige Tiere, die nach vorne hasten, gleiten sie in Abständen auf den dunklen wie von dichten Schleiern verhangenen Wegen.

Vorne, der erste, führt wieder die Standarte. Aber jetzt hat die Nacht die Farben aus dem knatternden Viereck fortgenommen und aufgesogen. Der König. Allein sitzt er vor seinen beiden Adjutanten, sieht ernst und schweigsam in das Dunkel, ist mit seinen Gedanken bei der Schlacht, die nun in kaum zwei Stunden diese lastende Stille furchtbar zerschlagen wird.

Treibhauswärme liegt über dem Lande. Sternlos, nur aus sich selbst heraus dünn wie Zinn und Silber leuchtend, machtlos, der dunklen Erde Teil an diesem Schein von Licht zu geben, spannt sich der Himmel über der verschlossenen Weite. Ein riesiger, geheimnisdunkler Rachen ist die Nacht in dieser Ferne und schlingt die hinjagenden Wagen in sich ein. Häuser gleiten vorüber – stumme, klotzige Gebilde, schwärzer noch als die Nacht. Bäume in phantastischen Formen stehen am Wege. Kein Blatt an ihnen redet. Dunkle kataleptische Gestalten sind sie, die so viel schon über diese Zeit gesonnen haben, und die am Ende ratlos beieinanderstehen und sich entsetzt anschweigen.

Einmal, ganz heimlich stößt der lange Gardedukorps den Grafen an das Knie, weist mit dem Kinn nach vorne. Aber der Graf bewegt nur leise verneinend den Kopf.

Unbewegt, wie erstarrt in Sinnen sitzt der König.

Kein Wort noch, seit die Wagen fahren – 

An Kolonnen, die gleichfalls nach vorne ziehen, geht es vorüber. Breite hinwuchtende Massen tauchen auf. Nachtschwarz sind sie im Schwarz der Nacht – gewinnen sachte Umrisse und Form und werden hochbepackte Wagen. Auf schweißnassen Flanken und Lenden riesiger Tiere liegt dünner Perlenglanz. Räder ächzen mahlend unter den Lasten, Ketten klirren leise, und Pferde schnauben. Wie lang diese Kolonnen sind – und nirgends, nirgends ein Fünkchen Licht. Rollende Berge und Ballen – schütternd hinzitternde Eisenkasten voll Granaten – verhüllte Menschen, die antreibend die Arme in die Nacht aufrecken –. Und dazu kein Wort – nur dieser starre Wille: Vor –!

Da jetzt ein Licht –! Dort, ganz weit draußen in der Ferne. Ein kleines grünlichweißes Licht, ein hell stehender Ball, der plötzlich aus dem Himmel springt und schwebt – schwebt – langsam, einen Schirm von schwachem Leuchten um sich niedergießend, sinkt und stirbt –. Eine Leuchtkugel über einer Franzosenstellung.

Der Generaloberst beugt sich zu dem jungen Generalstabshauptmann, fragt ins Dunkel: »Hat Seine Majestät sich vielleicht ausgesprochen, wie lange Sie auf der Beobachtungsstelle zu bleiben gedenkt?«

»Nein, Euer Exzellenz – aber nach meinem Eindruck wird Seine Majestät das Eintreffen der ersten Nachrichten von den Armeen abwarten wollen. Die können kaum vor morgen früh da sein –«

»Hm –.« Schweigen. Und nach einer Weile: »Ich habe für alle Fälle nicht nur Frühstück, sondern auch Brote und eine Suppe mitnehmen lassen.« – 

Um zwölf Uhr nachts stirnt sich der Himmel aus – und läßt die Erde unten doch tief dunkel. Voll von verschwiegen vorkeuchendem Leben ist die Straße. Unerkennbare Ungeheuer wälzen sich vor; riesige hüllende Tücher haben sie um die eckigen drohenden Formen gezogen. Bepackte Männer marschieren – vorgebeugt gehen sie mit schweren Schritten unter den Lasten auf ihren Rücken. Vor ihnen wartet der Tod – 

Näher ist jetzt die Front. Über den Horizont geht hin und wieder ein rasch aufblinkendes Zucken – drüben der Franzose schießt unruhvoll los – gleichsam, als müsse er das Schweigen dieser Nacht in Ungeduld zerbrechen – als könne er die dumpfe, atemklemmend schwüle Stille nicht länger tragen. Und immer wieder steigen seine weißen Lichter empor, hellen minutenlang das Fleckchen armen, grauenvoll zerrissenen Bodens unter ihrem Auge auf und suchen, forschen, fragen – – 

Aber hier hüben bleibt es leidlich still und ist, als ob die Nacht wie jede andere begönne und wie jede andere enden wollte.

Zwischen Feldern, aus deren brachem Boden ein herbes Duften strömt, geht es hin und taucht in die dunkle Tiefe eines Waldes ein. Das Schießen des Franzosen ist jetzt lebhafter geworden –. Als ob er wüßte, was die Nacht ihm bringen soll, und seine Nerven nicht mehr zügeln könnte. So brüllt er da und dort im Übermaß der Spannung los – 

Vor einem Querschlage des Waldweges halten die Wagen – am Ziel.

Nacht – Nacht. Nur ein paar winzige Fünkchen stechen in das Schwarz – tanzen schwankend in den Händen dunkler, kaum in ihren Umrissen erkennbarer Gestalten. Taschenlampen – Offiziere: Führer, vom Stabe der Armee hierher befohlen, den König zu erwarten, den Herren aus dem Großen Hauptquartiere an die Hand zu gehen.

Meldung und Vorstellung. Dienstlich schnarrende Worte über verhaltener, feierlicher Erregung – klappende Hacken vermummter, unsichtiger Schemen. Ein großartiges groteskes Zeremoniell von Schatten zu Schatten.

Jetzt ist man abmarschfertig.

Durch dunkle, schmale Steige geht es hin.

»Achtung: Draht!« – und einer gibt das Wort dem anderen weiter.

Zweige werden behutsam beiseite gebogen, gleiten von einer Hand in die nächste – der Fuß tastet suchend über Moos und Moder. Nach jungen Föhren riecht es hier, nach Birken und Erdbeeren.

Dann, mitten aus dem Walde, ragt schmal und steil das Holzgerüst des Turmes.

Aufstieg. Stufe um Stufe – Absatz um Absatz in enger und enger werdender Windung.

Neben dem neu hinzugetretenen Offizier und Führer als Erster geht der König. Nur das vorsorglich gelenkte Lichtlein der kleinen Laterne tanzt vor ihm her, ist wie ein flackernd wandelnder, dürftiger Teppich, den dienstwillige Hände vor seinen Füßen breiten, erhellt mühsam den Raum seiner nächsten Schritte. Hinter ihm drein die anderen – 

Ein paarmal hält er ein. Schon ist die schwarze Mauer des Waldes zu seinen Füßen versunken, und ein leiser Lufthauch streicht durch das jetzt frei aufsteigende Gerüste.

Weiter –. An fünfundzwanzig Meter mißt der Turm, trägt oben eine überdeckte Plattform von kaum drei Metern im Geviert. In Armhöhe läuft ringsum schützend ein Geländer. Ein kleiner, roh gezimmerter Tisch steht auf der etwa nach Süden gerichteten Seite, ein Sessel – 

Wenn das Wehen von draußen sich stärker aus der Ferne löst, dann schwingt der Turm mit ihm in einem leisen Wiegen und Pendeln, gleichwie als lebe er mit im Atemziehen der geheimnisschweren Stunde.

Weit, weithin geht der Blick von hier – umspannt von Westen nach Osten die Linie der Front von westlich Reims über die Stadt und über die Champagnehöhen hin bis zu dem Hügelland von Perthes und von Tahure. Aber all diese Weite ist von Nacht verhangen und von Finsternis verdeckt – zeichnet sich als ein riesiger Halbkreis jenseits des undurchdringlichen Dunkels der nahen Tiefe nur durch das magische, geheimnisvolle Pulsen in den Lüften. Durch das Hin und Her ferner Feuer, deren aufflackernde Widerscheine über den Horizont hinzucken, durch das reger sich drängende Spiel der suchenden, fragenden, forschenden Lichter, die aus dem schweigenden Himmel springen und minutenlang aus grünlichweißen Augen spähen.

Wortlos blickt der König in diese fiebernde Weite. Er weiß, daß neben ihm, an diesem kleinen Tischchen, der Generalstabshauptmann seine Karte breitet – rückt – wieder rückt – daß er in leisem, sachlichem Gespräche mit dem fremden Offizier im Stahlhelm ein paar Punkte im Dunkel draußen anschneidet und visiert. Als eine Störung und beinahe schmerzlich empfindet er dabei das kleine weiße Licht des Lämpchens, das immer wieder über das Papier der jetzt mit Reißnägeln ein wenig schief auf das Brett des Tisches gehefteten Karte irrt –. Wie ein lebendiges Tier, das da erregt und angstvoll, gefangen, auf dem dünn raschelnden Blatte hin und wider hastet, ist dieses Licht – 

Immer noch reden, prüfen und deuten die beiden Männer – 

Jetzt tritt der Fremde ein wenig zurück. Und da steht schon der Hauptmann dienstlich aufgerichtet: »Darf ich Euer Majestät jetzt eine kurze Orientierung über das Gelände vortragen?«

Der König nickt und wendet sich dem Tische zu.

»Bitte – lieber – –.« Aber das ist mehr ein Bewegen der Lippen als ein Sprechen. Die Kehle ist ihm eng und trocken, gibt kaum den Ton.

Und die junge, militärisch helle Stimme des anderen dringt sachlich auf ihn ein: »Die Karte ist so orientiert, daß Euer Majestät jetzt Süden genau vor sich haben. Hier, diese Stelle im Südwesten, um die das Aufleuchten manchmal besonders stark erscheint – der auf die Karte gelegte Säbel Euer Majestät schneidet das Ziel genau an – ist der Bogen von Reims. Von hier zieht dann die Front südöstlich bis etwa Prunay, das wir uns scharf südlich von hier – also in dieser Richtung! – zu denken haben – – Wahrscheinlich der Punkt, an dem eben der ferne Leuchtball sichtbar ist. Von dort biegt die Linie östlich ab und muß später im Feuer oder bei Tag von hier aus längs der ganzen Champagne bis Tahure sichtbar sein. – Nordwestlich Reims – –«

Der König nickt manchmal, läßt einen kurzen Blick in den kleinen weißen, schwankenden Kreis auf der Karte fallen – sieht in die Ferne. Gewaltsam beinahe zwingt er sich zur Sammlung, prägt er sich jeden Satz und jeden Hinweis ein. Aber das meiste kennt er ja, das steht wie festgemeißelt in seinem Gedächtnis und löst dazu die Einzelheiten von Truppenkörpern, von Geschützaufmärschen, Linienzügen aus. Gewiß – gewiß – er ist im Bilde – 

Eine kaum noch erträgliche Spannung steigt in ihm an. Er hört jetzt neben sich nur Worte – Worte und sagt nur: »Danke –«, wie die plötzlich fortgenommen sind – 

Jetzt steht er wieder vorne, beide Hände auf dem Lattenwerke des Geländers.

Still ist es immer noch – nur als ein Zittern in den milden Lüften rollt das unzusammenhängende Schießen.

Ein Uhr. – Wie langsam die Zeit vergeht! Die Zähne preßt er aneinander – spürt jeden Muskel an den Schläfen, an den Wangen –. Noch zehn Minuten.

Hinter ihm im Dunkel sprechen sie leise – deutlich unterscheidet er das Garde-Näseln des Majors – die pedantische Bedächtigkeit des Oberstabsarztes –

Er bewegt hastig den Kopf, als ob er Fliegen scheuchte – 

Auf der Karte neben dem Lämpchen liegt jetzt die Uhr des Generalstabsoffiziers.

Sein Blick schneidet hinunter: Ewigkeiten – – 

Das Holz des Geländers preßt er in seinen Fingern, starrt in den Himmel, bohrt sein Denken, Hoffen, Bitten, Flehen mit inbrünstiger Demut in die Nacht: Herr – Herr – laß es gelingen! –

Ein Uhr neun – –. Am dünnen Glühpünktchen der Taschenlampe läuft der Sekundenzeiger – 

Das Herz hört er aus seiner Brust – spürt seine heißen Pulse in den Händen springen – 

Herr – Herr – laß es gelingen!

Und plötzlich rumpelt es dumpf zornig aus dem Dunkel los – und wieder – wieder –. Und Sekunden später zuckt es dort drüben an dem verschlossenen Riesenzelt des Himmels auf, als hätte einer ihn mit wütenden Fäusten angepackt und schüttelte das verborgene, verhängte Licht aus den schwarzen Schleiern seiner nächtigen Wolken – 

Erlösung –!

Hände flattern, stoßen weisend vor –. Rufe – Schreie – Worte brechen ihre Ketten, springen von den Lippen, werfen sich hinaus – 

Die ganze Weite ist mit einem Male zu einem einzigen Aufruhr wachgeschlagen – 

Tausendfach springt es los, soweit das Auge sehen kann – stürzt sich auf die aus ihrem Schlaf gerissene, in wirrem, trunkenem Entsetzen hintaumelnde Nacht, – wirft sich mit roten Feuern in einem wilden Rausch und Rasen über sie –. Schlunde tun sich brüllend auf und speien Flammenzungen – purpurn wie glühender Stahl sind diese Brände – und sind von gelbem, grünem, violettem Schein durchleuchtet. Als brennende Garben werfen sie sich aus den Mäulern der Geschütze – als spritzende Geiser und springende Kugeln – als dicke, rot aufstrahlende, Funken sprühende Klumpen –. In den Höhen unter den jäh verlöschenden Sternen platzen sie und sprengen ihre grausame Eisensaat in die Tiefe, und furchtbare Krater reißen sie mit blind wütenden Prankenhieben auf und peitschen ihren Auswurf glühender, mordender Messer über das in zuckenden Todesschauern stöhnende Land – – 

Oben auf der kleinen, wie eine Insel hoch über dem Dunkel der Wipfel schwebenden Plattform des Turmes kein Wort – kein Laut –

In starrem Schauen stehen die Männer: der eine vorne an der Rampe, der wie versteint und einsam zwischen den Begleitern in dieses beispiellose Wüten blickt – die anderen um ihn und hinter ihm – 

Weiß jeder: Das Schicksal schreitet.

Einmal, da eine ungeheure Sprengung sich aufdröhnend über das tausendfältige Gebrüll hinwirft und schneidend-blaue, weiße Flammenzungen blendend aus fernen Tiefen stechen, würgt der alte Generaloberst ein paar Laute vor. Einen Ruf – eine Frage – 

Aber keine Antwort kommt. Kein Rühren – nichts.

Als ob die Menschenworte nie gewesen wären. – 

Und draußen bebt der Himmel im Entsetzen!

Riesen sind aus den speienden Kratern, den blutigen Schlünden und Wunden der Erde gestiegen, haben die Nacht gefaßt und sind über sie her. Sie schütteln ihr das Herz aus dem Leibe und schlagen unersättlich hämmernd auf sie ein, daß ihr die Brust im keuchenden Fieber fliegt, daß ihre Weichen zucken und beben – 

Flatternde Feuerschauer taumeln über den Horizont, hetzen fliehend, gepeitscht von nachjagenden Feuerwellen bis zu den Sternen auf – und vergehen als hingefetzte Opfer neuer Schauer, die sich wie Wogenkämme einer zur Raserei entfesselten Flut überstürmen und überstürzen – – 

In all das unmenschliche Grauen dieser Herrlichkeit aber stechen immer wieder – weiß, rot und grün – die kleinen, klar aufleuchtenden Bälle. Sind wie Kinder – stehen hilflos, tastend, suchend, sekundenlang gleichwie erstarrt vor Angst in dieser Hölle – und sinken dann sachte erlöschend nieder – 

Und vor den strahlend hell aufspringenden und dann so bald unhaltsam hinsterbenden Lichtern ergreift den König inmitten des starren, hingerissenen Schauens ein Erleben, das ihm die Glieder schüttelt.

Menschen –! muß er denken – Menschen –! Menschen von Fleisch und Blut, die darin stehen, das ertragen –!

Als ob das Wort ihm an die Kehle spränge und ihn würgte –. Eine auffahrende Bewegung macht er – so, als griffe er in einer jähen Qual nach einem Halt –. Spürt ahnend, daß sich hinter ihm auch schon einer von diesen stets bereiten Schatten dienstwillig vorschiebt – regt –. Und schüttelt hastvoll abwehrend den Kopf! Nein – nichts – – 

Triebmäßig will er zugleich von dem Worte los – von diesem Worte, hinter dem hervor sich die Verantwortungen für Millionen Leben im Angesichte dieser Todeshölle erdrückend auf ihn stürzen wollen – und taumelt in der Flucht davor einem anderen Worte zu: Materialschlacht – Materialschlacht –. Er bohrt seine fiebernden Gedanken hinter dem neuen Worte her – er grübelt wirr: Da war doch irgendeiner – irgendeiner – der hat in diesen hingegangenen Tagen immer von der bevorstehenden Materialschlacht gesprochen –. Die den Auftakt bilden – die dem eigentlichen Stoß und Sturm und Kampf vorangehen würde –. Und das hatte so unpersönlich, so sachlich geklungen, als brüllten da allein die Rohre, die Maschinen in einem ungeheuren Wettkampf aufeinander ein – – 

Wieder springt eine Feuerpinie da draußen berghoch aus der Tiefe – schlägt ihre glutsprühenden Pranken krallend in den Himmel ein – fetzt die vor ihren grellen Feuern erlöschenden Sterne aus dem Firmamente – und wogt tief purpurn glastend zurück über das Todesland – 

Menschen – Menschen –!

Als ein Schwindel und Taumel kommt es über den König. Seine Pulse jagen, mengen ihm Wirklichkeit und Wahngesicht. Mit beiden Händen hält er die schmale Stange, die ihn von dem Abgrunde zu seinen Füßen trennt – 

Leise, im Wehen des Nachtwindes wiegt sich die schlanke, schwingende Warte. Brandgeruch dringt aus der Weite herüber – beizender Pulverrauch – 

Als ob ich auf dem Kommandoturme eines Panzers stünde – als ob die See da unter mir schlingerte –! denkt der König in einer wirren, tastenden Benommenheit. Und starrt hinaus in dieses endlos weiterlodernde Morden – 

Sieht vor seinen Augen, die blicklos in die Bilder der Ferne und über sie hinaus bohren, unter dem weißen, roten, grünen Glaste dieser Feuerhölle die armen wundgerissenen Menschen, die sich, während um sie her dieser letzte Wahnsinn des Weltenunterganges rast, qualvoll und blutend aus zersplitterten Unterständen, aus zerdrückten Gräben und verschütteten Stollen herausarbeiten – –. Die ihre grauenvoll zerrissenen Leiber in Todesängsten von der Last ihrer zermalmten, still gewordenen Kameraden lösen und schreiend – schreiend! – irrsinnige Schrecken in den Augen, fort, fort aus diesem unerbittlich weiterrasenden Entsetzen jagen – 

Hin und wieder kommt der Klang leiser Worte wie etwas Fremdes, Losgelöstes an den König heran. Der Offizier im Stahlhelm und der Generalstabshauptmann suchen die Punkte der größten Feuerherde auf der Karte festzustellen – der Generaloberst redet flüsternd erregt und eifrig zu dem Major, erzählt ihm irgend eine Episode aus der Beschießung von Paris, die er als junger Leutnant mitgemacht hat. Und der Major sagt immer wieder anteillos, aber dienstlich und beflissen: »Gewiß Exz'llenz«, – »jawoll, Exz'llenz –«

Fern, unwirklich erscheint dem König alles das. Einsam, ohne Zusammenhänge mit den Menschen fühlt er sich. Ohne Zusammenhänge mit diesen hier, die mit ihm leben – ohne Zusammenhänge mit jenen dort, die für ihn sterben – 

Der Augenblick vormittags nach der Kasinotafel im Generalstabe, knapp vor dem Aufbruche, steht wieder einen Herzschlag lang vor ihm. Da war das ebenso an ihn herangekommen – dieses Gefühl der Losgelöstheit – dieses dunkle Wissen des Beiseitegeschobenwerdens –. Seine Zähne zerren an den Lippen: Dieses mit aller Ehrfurcht verhüllte Bekennen: Du bist uns bei dem, was sich nun vollziehen will, am Ende nur im Wege – 

Die Stimme des Generalfeldmarschalls hört er plötzlich, bedachtsam, sachte: »Ja – und dann haben wir für dieses große Feuerwerk heute nacht einen guten Beobachtungsstand ausgemacht und Euer Majestät vorzuschlagen –«

Eine jähe Abwehr ist in ihm. Verschickt haben sie ihn! In eine Loge haben sie ihn gesetzt, damit er ausgeschaltet sei! Und jetzt, während die ungeheure Entscheidung fällt, denken sie kaum an ihn –. Als einen Stachel in seiner Würde als ihr König, als ihr Oberster Kriegsherr empfindet er die Ausgeschlossenheit – 

Das flüsternde Schildern des greisen Generalobersts, der immer noch bei der Erinnerung an achtzehnhundertsiebzig ist, kommt wieder an ihn heran – 

Da fällt ihm ein – und er klammert sich an das Bild: Sedan – die Höhe von Frénois – war's da nicht auch so, daß sein Großvater, der große König, das Ringen um den Sieg vor seinen Füßen sah –?!

Das Ringen um den Sieg –. Den Sieg wie damals – den Sieg, der den Zusammenbruch der anderen entscheidet – 

Brennende Ungeduld springt in ihm auf, sprüht über diese Qualen aus Einsamkeit und aus gekränktem Selbstbewußtsein hin –. Nur im Grunde glimmen die schwelend weiter.

In die Ferne schaut er wieder aus, in der die Schlacht brüllend und sengend durch die mit Flammen gepeitschte Finsternis rast.

Wie lange noch – wie lange noch –!?

Breite, rötliche Leuchtfelder stellen sich da und dort in das Schwarz des Himmels – Widerschein riesiger Brände. An einer Stelle glutet ein solches Feld in breitem Zuge, steht als ein purpurrotes Fanal über der Nacht. Dort in jener verhüllten Tiefe, auf die das Feuer von drei Seiten rastlos hämmernd niederschlägt, liegt Reims – – 

 

Gegen drei Uhr ist es, da wendet sich der König zu dem Generalstabsoffizier an seiner Seite. Sein kaum bewußtes Suchen hat jetzt einen Weg gefunden. Nicht länger ausgeschaltet abseits stehen! Er fühlt den Drang, die Pflicht, das, was er in die Wagschale zu werfen hat, mit hinzugeben. Tausendmal hat man es ihm doch gesagt, und tausendmal hat er es mit eigenen Augen gesehen und erkannt: anders sind die Truppen, wenn sie allein sind – anders, wenn sie sein Auge, wenn sie den Blick ihres Obersten Kriegsherren auf sich wissen!

Seine Stimme ist gepreßt und heiser in der Erregung des ungeheuren Erlebens, durch das er schreitet. Er weiß: der Augenblick wird, wenn der Sieg da draußen erst errungen ist, mit ihm fortleben und auf künftige Geschlechter kommen. Er sagt ins Dunkel: »Die Truppe soll wissen, daß ich ihr in den harten Stunden nahe bin und daß meine Wünsche mit ihr sind!«

Und im Dunkel richtet sich eine Gestalt gerade, zirpen Sporen aneinander: »Jawoll, Euer Majestät.«

Stehend, vornübergebeugt zu dem matt beschienenen kleinen Blatte schreibt der Hauptmann.

Minuten gehen – 

Innere Befreiung und Gehobenheit erfüllt den König.

Dann liest die junge, forsche Soldatenstimme; unbeengt, fest und hell dringt sie in dieses Schweigen.

»Seine Majestät läßt den Truppen mitteilen, daß Seine Majestät hinter der Angriffsfront eingetroffen ist und von der Ménilwarte die Schlacht beobachten wird. Alle guten Wünsche Seiner Majestät begleiten die Truppen. Seine Majestät ruft den Truppen zu: Mit Gott für König und Reich!«

Der König nickt. Gewiß, das ist gut so. Auf dem kleinen wackeligen Tischchen, im sterbenden Lichte der Taschenlampe unterzeichnet er den Fernspruch.

Kühn wie je ist der Schnörkel unter dem steilen Namenszuge.

Und da ist auch schon einer von den Leibjägern zur Stelle und übernimmt das Blatt, hastet im Dunkel tastend die Treppen nieder zum Ferndrucker unten am Fuß des Turmes. Die schweren Stiefel klappern über das Holz der Stufen – dann verhallen die Tritte in der unsichtigen Tiefe. – 

Nur Augenblicke, und der Gruß des Königs wird durch die Offiziere vom Dienst an alle Truppen gehen, die im Angriff stehn.

 

Ohne Erbarmen rast die Hölle.

Die Leuchtfelder am Himmel rinnen zu grotesken Formen aus, sind breite Lachen aus frischem Blute.

Ein beizender Dunst aus Pulverdampf und abgedrängten giftigen Gasen liegt in der Luft, legt sich auf Kehlen und Lungen und brennt in den Augen, die ins Weite starren, die Undurchdringlichkeiten zu durchbohren suchen.

Bewegungslos steht der König an der Rampe. Kein Wort –

Seine Gedanken sind wieder vorne bei den Männern unter den entfesselten Feuern – bei den zerschlagenen Leben – bei den Todwunden –. Verantwortungen für das furchtbare Geschehen? Nein – nichts davon kann vor dem ewigen Richter auf ihn fallen! Was nur in seiner Macht lag, dem zu wehren, hat er getan. Damals die Sommertage vor vier Jahren – –. Bis an die Grenze der Entwürdigung hat er gezaudert – kein Mittel hat er unversucht gelassen: in Wien – bei Nicky – und bei Georg –. An keinem Weg, der vielleicht zu einer Verständigung noch führen konnte, ist er vorbeigegangen – –. Die unerhörte, aufreibende Spannung jener Tage fühlt er wieder – sieht die erregten Szenen, die zwischen Hoffnungen und Aussichtslosigkeiten umherwankenden Besprechungen draußen im Neuen Palais: den Kriegsminister – den Chef des Generalstabes – den Groß-Admiral – den Kanzler, der vor ihm steht und Berichte und Depeschen in den stets unschlüssigen Händen hält – –. Nein – sein Angesicht kann sich frei erheben – er ist rein von Schuld. Die dort drüben sind es, auf denen die Last des Urteils ruhen wird – – 

Leise räuspert sich einer neben ihm. Der Generaloberst ist vorsichtig herangetreten, rührt an dem Stuhle, der da unbenutzt neben dem Tische steht!

»Wollen Euer Majestät nicht vielleicht –?«

»Nein – danke –«

Und er ist wieder in Schauen und in Suchen eingesponnen.

Dann sachte – sachte geht etwas wie ein Matterwerden durch dieses mauerstarre Dunkel – ein erstes Ahnen von Dämmern und Verblassen. Die Sterne oben bleichen und versinken. Die Gegensätze aus roter Glut und Finsternis verfallen, hüllen sich in Schleier ein.

Ein dünner Schein gießt sich in die Nacht, und eine feuchte, durchdringende Kälte ist jäh über allem.

Fester zieht er den Pelzumhang um die Schultern. Und da sieht er, wie der Hauptmann, dessen Gestalt sich jetzt auch wie in Nebel gehüllt aus dem sterbenden Dunkel löst, einer Ordonnanz Blätter aus den Händen nimmt und die im Schein des matt gewordenen Lichtleins überfliegt.

Gleich darauf steht er straff: »Die ersten Funksprüche von den Armeen. Die Armeeoberkommandos melden, daß die Feuerschlacht an allen Stellen befehlsgemäß aufgenommen ist und ihren ordnungsmäßigen Verlauf nimmt. Die Gegenwirkung wird stellenweise – so im ganzen Zuge der Champagne – als nicht sehr stark bezeichnet. Hier scheint der Gegner also völlig überrascht worden zu sein. Einzelne nähere Nachrichten fehlen noch – können auch noch nicht eingelaufen sein.«

Der König nickt heftig. Ein paar Worte aus dem Berichte haften ihm, sind ihm Erlösungen: – ordnungsmäßiger Verlauf – Gegenwirkung gering – überrascht – 

Dank, Hoffnung, Glauben sind in seiner Brust.

Dem Offizier im Stahlhelm, der sich im ersten Dämmergrau bemüht, ein Scherenfernrohr einzustellen, lächelt er zu: »Nun werde ich doch bald auch sehen, wie der Panoramakenner aussieht, den mir die Armee geschickt hat –.« Streut eine Handvoll guter Worte aufmunternd und aus gehobenem Herzen zwischen die anderen. – – 

Halb fünf. Jetzt ist die Helligkeit soweit gewachsen, daß dieses wilde Feuerspiel in ihr verblaßt, daß sich, von Rauch, Qualm, dickem Dunst und Nebel halb verhüllt, hier und da Einzelheiten aus der Landschaft in der Tiefe unterscheiden lassen. Zu Füßen da unten Baumwipfel der Wälder. Nach Süden hin, von dem entfesselten Feuer immer noch gefaßt und furchtbar überspielt, die Höhenzüge der Champagne: Pöhlberg, Keilberg, Hochberg und Cornilett. Nach Südwesten hin Reims, nach Westen, beinahe völlig noch verhangen, der Bergrücken des Chemin des dames.

Und dann kommt in das immer noch durch Nebelgrau, durch Gasschwaden und Qualmwände hinzuckende Feuer mit einem Male ein neuer Takt. Zu einer einzigen Linie längs der Front richtet es sich aus und sammelt diese vielen tausend Schläge und Prankenhiebe zum Marsch.

»Die Feuerwalze – – Euer Majestät – –«

An das Scherenfernrohr ist der König getreten, sieht ein paar Augenblicke in dieses von grellen Blitzen durchzitterte Gischtmeer aus wogenden Rauchfetzen, sprühenden Geisern, unerkennbaren, wild aufgewirbelten Massen – und läßt den kleinen Ausschnitt aus dem ungeheuerlichen Bilde wieder – steht an der Rampe – 

Die Feuerwalze – 

Ein Rollen, Bersten, Donnern, Tosen, als ob das Ungeheure, das sich nun aus den Schlünden losreißt und über das zermarterte Land und seine letzten Menschen hinwirft, alles Gewesene noch vielfach überschreien wollte –. Mit unberührbarer Unbarmherzigkeit nimmt das Grauen Schritt für Schritt unter seine Hämmer aus berstendem, glühendem Stahl: Ihr lebt noch –? Ihr habt lang genug gelebt! – Ihr seid schon wundgerissen –? Hier der Gnadenhieb! – Ihr seid schon tot –? Ich schlage euch noch einmal tot! – Schritt für Schritt nimmt es noch einmal vor – keiner soll übergangen sein! – sät letzte Vernichtung, reißt die letzten Opfer – 

Und hinter ihm – knapp hinter ihm – unter dem feurig hinrasenden Dache seiner Hagel, unter dem Schirme des mähenden Todes – kriechen durch Gift und Blut und Grauen die deutschen Männer über den neu gewonnenen Höllenboden – die Sieger – 

Frierend in atemloser Hingenommenheit, ein Steinbild, starrt der König in diese schmutziggraue, wild wallende See aus Qualm und giftigen Schwaden, aus stickigen Massen und aufgerührter Verwesung, durch die das Funken und Sprühen unzähliger Sprengpunkte zuckt und flirrt –

Ein Orkan ist dieses Feuer – ist der wandernde Tod – und wälzt sich unaufhaltsam tieferrollend weiter – Schritt für Schritt – Meter für Meter –. Aus den tausendfach zerfetzten Drahtdornen des Niemandlandes sprang es auf – geht über den ersten Graben – über den zweiten – über den dritten –. Überspielt als ein berstendes Niederstampfen und Zermalmen Stellung um Stellung –. Wankt blutrünstig weiter, ein brüllender Mörder – ein unirdischer Amokläufer –. Ein – zwei – drei – vier – fünf Kilometer tief – 

Und das heiße, erderschütternde Brüllen seines Losbruches wird ein dumpf donnerndes Rollen, da es sich den fernen Zielen seines Marsches nähert.

Doch plötzlich fällt ein neuer Takt in dieses Dröhnen: klopft – klopft – klopft – klopft – –. Maschinengewehre. Mit einem Male sind sie da und hämmern los. Hart, dringend, unablässig, atemlos. Gleichsam als schlüge einer rasend eilig in Todesangst und Hast kleine Nägel in hartes Holz – –

Hinter dem König der Generalstabshauptmann sagt, und seine junge Stimme ist belegt von der Erregung dieses Miterlebens: »Jetzt müssen unsere Leute in den fremden Gräben sein –.« Er macht eine Bewegung mit der Hand, verbessert sich: »Eben in den Trichterfeldern, die da sind – –«

Der König hört die Worte, rührt sich nicht. Er denkt erschüttert: Nahkampf? Was blieb da noch zu Kampf und Abwehr übrig –?

Ferner und schwächer wird das Feuer der Geschütze. Als ob es vor dem heller aufsteigenden Tage, vor dem Erwachen der Natur sich zurückzöge. Aus dem furchtbaren Chor seines Zusammenhanges fallen Stimmen aus, lösen sich andere zu erbitterten Sonderkämpfen: Batterien, die aufeinander einschlagen, sich ringend ineinander verbeißen. Mehr und mehr splittert die Feuerwalze auf, zerfällt, gleichsam ermattet von der eigenen Raserei und bis zum Niederbrechen ausgepumpt in einzelnes, wirr weiter schlagendes Geschieße –

Drüben der Gegner scheint jetzt reger zu sein. Namentlich unten, längs der Linie im Süden – 

Und immer noch hämmern die Maschinengewehre. Sind überall und nirgends. Bald hier – bald da klopfen die Nester rasend wie in Todesängsten los – stecken sich panikartig aneinander an – keifen wie aufgeschreckte Dorfköter zornwütig-bissig aufeinander ein.

Und plötzlich weiß der König, wie ihm der Sinn des Abflauens der Feuerschlacht und die Bedeutung dieses Nahkampfes zum Bewußtsein kommt: Jetzt ist da rings in diesem Riesenbogen um das heilige Reims, von Château-Thierry bis an die Argonnen die Entscheidung schon gefallen – – 

Jetzt ist die erste Staffel zu dem Sieg errungen, und die große, stark vorbrandende Welle ist im Marsch – oder – oder – – 

Wie ein Hammer schlägt ihm das Herz, und seine Zähne drückt er krampfhaft aneinander. Morgenfrost steigt ihm jäh bis in die Schultern auf, und das beizende Gift der abgewehten Gase und Rauchmassen macht ihm die Augen wund, brennt ihn scharf ätzend in Nase und Kehle – 

Nicht ausdenken die andere Möglichkeit –!

Und in einer Flucht vor ihr weist er beinahe heftig mit dem Kinn nach vorne in die Linie der Champagnefront, aus der das Schießen kommt: »Vielleicht ein Gegenangriff –?«

Der Offizier im Stahlhelm steht in Front – jetzt sieht der König sein Gesicht. Seltsam dürr ist es – wie allein aus gelber Haut, die sich über die Knochen strafft, erscheint es in dem fahlen Lichte –: »Vielleicht auch nur die Abdampfung von letzten Stützpunkten, die unser Feuer überdauert haben, Euer Majestät –«

Keine Antwort.

Die Zeit rinnt weiter. Roter Schein glimmt glühend aus dem Osten auf und steigt empor. Die Sonne – der neue Tag – – 

Der König steht wie festgewurzelt an der Rampe, das Angesicht dem Schlachtfeld zugewendet. Seine Rechte greift schmerzhaft fest um das Geländer. Er ringt mit einer Frage seiner heißen Ungeduld: Wann wird er endlich Klarheit haben? Wann – wann werden die ersten Meldungen über den Erfolg des Feuers, über den Ausgang des Sturmes hier sein können?! – Jede Minute, die so hingeht, ist ihm Qual und Folter. Bis zur Unerträglichkeit gespannt sind seine Nerven. Aber er ringt den Ansturm nieder, er schweigt und stellt die Frage nicht. Keiner soll merken, wie er unter dieser Ungewißheit leidet, wie er sich mit den Sorgen schlägt. Soldatisch ruhig, sicher, zuversichtlich sollen sie ihn alle sehen. Aber nicht in leerer Mache und Schauspielerei greift er so nach der Maske dieses Scheinen-Wollens – aus Pflicht gegen die Königswürde, wie er sie erkennt, trägt und erträgt er sie. Denn unantastbar von Erschütterungen und erhaben über Menschenfurcht und Zweifel soll sie als eine von dem Höchsten eingesetzte Kraft allein im Schutz von Gottes Gnade ruhen. Lasten bürdet sie auf die Schultern ihres Trägers: ein Beispiel soll er allen Lauen, ein Halt allen Schwächlichen sein. Nicht an die Sohlen seiner Königswürde dürfen vor ihren Augen Angst und Kleinmut spülen – – 

Er sieht blicklos in die Weite, denkt: Und wer von ihnen später je von diesen weltgeschichtlich schwerwiegenden Stunden spricht, der soll es dann den anderen sagen: In keinem Augenblick hat er gezweifelt – er hat auf Gott und hat auf die Armee vertraut und hat gewußt, daß wir es schaffen werden!

Und im Impulse dieser drängenden Gedanken wendet er sich für Augenblicke zu den Herren des Gefolges um. – Da sieht er, wie der Generaloberst, ein wenig knickstiefelig und vornübergebeugt vom langen Stehen, eben an einem Sandwich kaut und malmt, das er nun, während er sich, ertappt, gerade richtet, eilig in der Tasche seines Mantels zu bergen sucht. Der König lächelt ein wenig gezwungen: »Guten Appetit, Exzellenz!« Und schüttelt mit gemachtem, übertriebenem Entsetzen den Kopf, wie er die grünen, übernächtigen, durchfrorenen Gesichter der Herren sieht, die sich vor seinem Blick zurechtrücken.

Aber nur durch Minuten bleibt er im Gespräch mit ihnen, dann lenkt ihn irgendeine Sprengung weit draußen im Gelände wieder ab. Ein Munitionsdepot, das hochging – 

Sechs Uhr –. Ein fahles Licht liegt jetzt über dem aufstöhnenden, von Dunst und gelbem Rauche überhangenen Lande. Aus der Tiefe klingt Leben auf. Marschschritt und Stimmen, Ächzen von Wagenrädern, Wiehern von Pferden: Truppen und Kolonnen, die nach vorne ziehen. Dort drüben, wo der Wald aufhört und sich die Straße in die Wiese schlängelt, taucht gleichwie hinter Schleiern dieser Heerwurm grauer Pünktchen im Grau des Weges auf. Nachschub – 

Wie frisch und unbesorgt das aussieht. Den Feldstecher am Auge zieht er der vortrekkenden Truppe nach, nimmt ihre gute Form als Zeichen, daß alles sich nach Plan und Wunsch erfülle.

Der Generalstabsoffizier – rotwangig, frei und munter, als wüßte er von keiner im Dienst durchwachten Nacht – drückt sich sachte. Er will selbst hinunter zum Fernsprecher und sich Verbindung mit der Obersten Heeresleitung geben lassen. Irgend etwas werden die doch inzwischen wissen – 

Im Vorbeigehen trifft sein Blick den Major, der an der Nordseite der Plattform an dem Geländer lehnt und jetzt die Augen in beschwörender Verzweiflung nach oben dreht. Das sagt: Kinder, nu' hätten wir's doch eigentlich – und nu' ist da draußen doch, weiß Gott, nicht mehr viel zu hören und zu sehen –! Und man steht sich da reineweg für nischt die Beine in den Leib –!

Der Hauptmann lächelt nur. Und vorsichtig klemmt er sich dann an dem Oberstabsarzt vorbei, der, fest in seinen schönen silbergrauen Radmantel gewickelt und verpuppt, seltsam verrenkt auf einer von den Treppenstufen hockt und schläft. Ganz gelb und klein und wie im Frost verschrumpelt ist sein sonst so gepflegtes und kluges Gelehrtengesicht, und durch den halboffenen Mund flattert ab und zu ein dünnes, röchelndes Schnarchen. – 

Der König steht am Scherenfernrohr, sieht in der Richtung nach Reims hinaus. Aber wie er auch an dem Stellwerk schraubt, um sich das Bild dieses Geländes nahe zu bringen – das alles ist noch zugenebelt und bleibt undurchdringlich ferne. Nur Umrisse lassen sich ahnen –. Dabei tut er, als merke er das Fehlen des Hauptmanns kaum. Aber seine Gedanken sind hinter ihm her, und seine Ungeduld möchte ihn antreiben und kann die Rückkehr kaum erwarten. In die Tiefe lauscht er, in der ein dunkles Wipfelmeer sachte im Morgenwehen wogt –. Aber das sind nur unklare und wirre Geräusche, die von da unten hierher dringen –

Wie eine Ewigkeit erscheint ihm diese Viertelstunde.

Endlich – endlich –! Schritte, die sporenzirpend eilig je zwei Stufen nehmen und näher kommen. Das muß er sein – 

Und da ist er auch schon an dem Oberstabsarzt, den er sachte anstößt, und an den anderen vorüber, steht, noch ein wenig atemlos von diesem raschen Anstiege, vor seinem König, hält einen Zettel mit Notizen in den Händen.

Hinter ihm sind die Herren des Gefolges herangetreten, um mit zu hören.

»Ja –?!« Drängend, in heißer Erregung vorgestoßen, kommt die Frage.

»Euer Majestät, ich habe soeben bei der Operationsabteilung angerufen. Ich konnte den Eins-A sprechen: Das Unternehmen scheint sich, soweit man das bisher übersehen kann, durchaus planmäßig zu entwickeln. Die Nachrichten von den Armeen laufen nur langsam ein, und die Armeen selbst können die Lage bei den einzelnen Stoßdivisionen noch nicht überall übersehen. Das Gesamtbild hat also Lücken: von einzelnen Abschnitten fehlt noch jeder Bericht. Das ist durchaus in der Natur der Lage begründet: die Drähte sind zerschossen, die Meldegänger kommen nicht überall durch, die Luftbeobachtung ist durch die Rauchentwicklung und den Morgennebel gehemmt. Die Verbindung zwischen der vorgestoßenen Kampftruppe und den Stäben ist also vielfach noch nicht wieder hergestellt –«

Der König bewegt hastig mehrmals nickend den Kopf: Natürlich – ja – gewiß –. Seine Augen hängen dabei an dem Munde des Hauptmanns, können die weiteren Worte kaum erwarten.

Der Hauptmann wirft einen Blick auf die Notizblätter in seiner Hand.

»Verhältnismäßig weitgehend sind die Angaben der siebten Armee. Sie meldet, daß ihr Schießen unter mittleren bis günstigen Bedingungen durchgeführt werden konnte. Die feindliche Gegenwirkung gegen die Artillerie und Verkehrswege ging nicht über das Maß der letzten Tage hinaus. Stärker richtete sie sich gegen das Marnetal und unsere dortigen Brückenschläge. Nach den bisherigen Meldungen ist der Übergang über die Marne geglückt, die Infanterie in weiterem Vorwärtsschreiten. Nördlich der Marne folgt sie planmäßig dem Laufe der Feuerwalze –«

Der Hauptmann will sich nach dem Tischchen mit der dort aufgehefteten Karte wenden, um auf ihr die eben geschilderte Bewegung der Truppen im Raume westlich von Reims zu zeigen.

Aber der König winkt ab – er ist im Bilde. Er sieht die Karte vor sich, so wie er sie in der Mittagstunde des vergangenen Tages auf dem großen Tische im Zimmer des Generalquartiermeisters sah: jeden Linienzug – jeden Stoßpfeil – jeden Truppenkörper –. Sieht eine feste Hand, die sprunghaft aufflattert und sich mit offenen Fingern auf das leis raschelnde Papier hinwirft, hört eine harte, kurz hämmernde Stimme, die Worte in die Stille schleudert: Die Südfront der Armee von Böhn geht mit Teilen bei Château-Thierry und bei Dormans über die Marne und stößt beiderseits des Flusses in der Richtung auf Epernay –.

Das waren gestern Pläne und Entschlüsse – das sind in dieser Stunde Tatsachen und Geschehnisse!

Der Sieg ist auf dem Marsche!

Seine Augen leuchten, seine Brust nimmt die Morgenluft in tiefen, durstigen Zügen.

Versunken ist jeder Zweifel – fortgewischt aller Kleinmut. Weit über das Bild des Berichtes hinaus trägt ihn seine schwellende Zuversicht. Der erste, schwerste Schritt erscheint ihm als geglückt – Gott wird auch weiter helfen. Der Übergang über die Marne ist gelungen – die Truppen sind im Weiterschreiten – das Rad des Schicksals rollt über die anderen hinweg –!

Jahre sind wie durch einen Zauberschlag von ihm gefallen. Keine Spur von Ermüdung nach dem durchsorgten Tag, nach der durchwachten Nacht ist jetzt in ihm. Dank und Glück wogen in seiner Brust, während der Hauptmann, wiederum nach einem Blick auf seinen Zettel, weiter berichtet: »Die erste Armee hat gestern abend lebhaftes und zum Teil mit Gas untermischtes Störungsfeuer auf Stellungen und Hintergelände aller Abschnitte bekommen. Trotzdem ist die Bereitstellung der Gruppen Lindequist, Gontard und Langer ohne Störung verlaufen. Artillerievorbereitung und Infanterieangriff setzten planmäßig ein – die bisher vorliegenden Meldungen sprechen von einem guten Vorwärtskommen der Infanterie –«

Der König hebt den Kopf: »Hören Sie, meine Herren? Das klingt doch alles sehr schön –!«

In eng gedrängter Gruppe stehen die Offiziere. Ihr Ausdruck ist Zustimmung. Nur unter den schweren Lidern des Grafen liegt ein bedächtiges Abwarten, und der zum Dienst befohlene fremde Offizier im Stahlhelm sieht aus dem knochenhageren Gesicht seltsam unberührt ins Weite. Kühl, sachlich sinnt er den Meldungen nach – er kann die Quellen dieses Überschwanges nicht entdecken –. Aber der Generaloberst ist voll Eifer: »Gewiß, Euer Majestät – mehr läßt sich von den ersten Meldungen nicht erwarten!«

Der junge Hauptmann ist wieder bei dem Berichte. Er sagt: »Am wenigsten geklärt ist nach den Angaben der Operationsabteilung das Bild der Vorgänge bei der dritten Armee – in der Champagne – obwohl gerade hier von einzelnen Abschnitten ganz augenfällige Anfangserfolge gemeldet werden und unsere durch Panzerwagen unterstützte Infanterie auf der ganzen Front Fortschritte macht. An Einzelheiten liegt hier bisher das folgende vor: Das zwölfte Armeekorps hat die Givethöhe überschritten. Das erste bayrische Armeekorps hat die erste feindliche Stellung genommen. Das sechzehnte Armeekorps hat die Klitzinghöhe – ein Kilometer südlich von Tahure – und den Eisenberg – zwei Kilometer südöstlich von Tahure, genommen –«

»Nun also, das ist doch prächtig!«

»Zu Befehl, Euer Majestät. Aber eine Unstimmigkeit bleibt hier noch: Das Armeeoberkommando hat anfangs infolge der schwachen artilleristischen Gegenwirkung – wie schon gemeldet – eine volle Überraschung des Gegners angenommen. Jetzt meldet es, daß nach Gefangenenaussagen – es handelt sich um frisch eingebrachte Leute der dreizehnten und dreiundvierzigsten französischen Division – der Angriff seit drei Tagen erwartet worden sei –. Diese Gefangenen sagen weiter, daß in den rückwärtigen Stellungen Amerikaner stünden –«

Der Hauptmann senkt die Hand mit dem Notizblatte, klappt die Hacken aneinander.

Der König nickt ihm dankend zu. Er sagt aus der Gehobenheit seiner Stimmung, abtuend, überlegen: »Na – wenn die Herren Franzosen den Angriff wirklich seit drei Tagen erwartet haben – und wenn sie jetzt dennoch nicht standhalten können, dann zeigt das, wie es mit ihrer Widerstandskraft und ihren Reserven steht –! Und was die Amerikaner leisten, das muß sich ja erst erweisen: ich glaube, unsere Leute werden auch mit ihnen fertig –!«

Dem Tische mit der Karte wendet er sich jetzt zu, ergreift einen der Buntstifte, um die gewonnenen Punkte selbst hier zu markieren: Die Höhe 170 – der Eisenberg –. Auf die Karte blickt er dann zwischen seinen aus den Tisch gestemmten Händen nieder. Und während aus der Ferne das dumpfe Dröhnen der Geschütze weiterrollt, sieht er im Geist Erfolg sich an Erfolg schließen –. Die Auswirkung des gegen Osten hin drückenden linken Flügels der Armee von Böhn wird so vor ihm lebendig, die Truppen der Armee von Einem sieht er sich wie tausend Gießbäche im Zuge der Champagne unhemmbar vorwärtsbahnen –. Und er sieht Reims umschnürt – erstickt in der Umklammerung und Überflügelung von beiden Seiten – – 

Dann steht er, immer noch getragen und durchpulst von Zuversicht und Glauben, am Scherenfernrohr, sucht den fernen Raum im Osten zwischen Tahure und Perthes und Le Mesnil zu durchdringen. Aber da lastet nur Nebelgrau – da drücken schmutziggelbe Qualmschwaden und Rauchfahnen – – 

Hinter ihm gibt der Generaloberst mit verhaltener Stimme Weisungen an die Leibjäger.

Auf den Treppenstufen wird der mitgebrachte Korb geöffnet: Aus der Thermophorkanne dampft der Tee. Gläser und Schalen werden gefüllt, gekochte Eier und belegte Brote werden ausgeteilt – 

Sichtlich beleben sich die Geister.

Der Leibjäger zieht ein recht zweifelhaftes Steckmesser aus der rückwärtigen Hosentasche, wischt proper mit der Klinge zweimal über seine Hose, schält einen Apfel für den König.

Frühstück. – 

 

Eine Stunde später.

Voller Tag liegt über der Weite, die sich da unten tief zu Füßen breitet. Aber es bleibt kühl hier oben, denn die Sonne will nicht recht aus ihren Wolken vor. Alle Nähe, Wälder, Wiesen und Heideland sind offen und erschlossen – nur die Fernen hüllen sich weiter in Dunst und Nebel. Aus den Tiefen des Hinterlandes kommen Flieger auf, ziehen nach vorne – kehren wieder. Beobachter und Erkunder. Von allen Seiten klingt das bald helle und bald brummend tiefe Orgeln und Summen ihrer Maschinen.

Jetzt sind die Morgenmeldungen von den Armeen eingelaufen. – Im Grunde nicht viel mehr als das, was der Eins-A der Obersten Heeresleitung schon durchgegeben hat.

Aber so schwarz auf weiß und jenseit dieser ersten ungeheuren Spannung und Erwartung sieht sich das alles eigentlich ein wenig dürftig und ernüchternd an. Beinahe enttäuschend. Es zeigt sich nun, da man nur wieder warten kann, klarer als vorher: man ist im Auftakte der Schlacht und weiß im Grunde nichts. Entscheidend wird es sein, ob die in Bewegung gekommenen Frontabschnitte jetzt flüssig bleiben – oder ob es dem Gegner gelingt, die andrängende Flut zu dämmen, zum Stehen zu bringen –. Bis man das völlig übersieht, kann dieser und der nächste Tag vergehen.

Eine gewisse Abgespanntheit ist über den meisten von den Herren. So fern und friedlich wirkt jetzt alles, gemessen an dem ungeheuren Eindruck der hingegangenen Stunden – so, als ob die Hauptsache, um die man hergekommen ist und sich die Nacht um die Ohren geschlagen hat, vorüber sei: das große Schauspiel – der Klamauk – der Feuerzauber – –. Natürlich schießt und ballert es da vorne noch unverändert weiter, aber das wirkt im kalten, hellen Tageslichte nur halb so aufregend – und das Gedröhne ist umspült und überströmt von einer Welle von Geräuschen, die überallher aufgestöbert aus der Tiefe dringen: von Menschenstimmen, Wagenknirschen, von Hufschlag, Vogelzwitschern, Blätterrauschen – 

Man fühlt sich überfällig, unbehaglich – kommt sich als Soldat hier, gut und gerne fünfzehn Kilometer hinter der Kampflinie, ein wenig albern und nicht eben ruhmbekleckert vor – und ist im Dienst, als Adjutant und Hofbeamter, auch wieder überflüssig, ausgeschaltet. Denn hier hat Seine Majestät doch nur Sinn für die himbeerrote Weisheit seines Generalstreblers – –. Wenn man sich wenigstens für eine Weile verflüchtigen könnte – aber da glubscht der gute knickbeinige Mümmelmann doch alle Augenblick herüber – – 

Der lange Major mustert den Autohauptmann mit gekniffenem Auge, näselt gelangweilt: »Pannemann, nehmen Sie mir's nicht übel – aber wenn Sie rasiert sind, gefallen Sie mir noch besser! Wenn Ihr verehrtes Fräulein Braut Sie so zu sehen kriegt – –.« Er schüttelt bedauernd den Kopf und wendet sich zu seinem Kameraden vom Dienst: »Also verraten Sie uns das schon, Graf, worauf wird hier eigentlich noch gewartet?«

Und der Graf, der sich eben eine Zigarette anbrennt, meint sachlich und behutsam: »Unser hoher Herr hat heute wieder seinen unermüdlichen Tag. Denken Sie nur: acht Stunden steht er nun da vorne – und keinen Augenblick noch hat er sich gesetzt –«

An der Südrampe der König ist ferne jeder Abgespanntheit, jeder Flauheit. Mit fieberhaft regem Interesse verfolgt er am Scherenfernrohr jeden kleinsten Vorgang im Gelände – sucht er jede neue Einzelheit zu bestimmen, die sich mit dem aufsteigenden Lichte aus den Schleiern des nach und nach in Lösung kommenden Morgennebels befreit. Der Generalstabshauptmann und der fremde Offizier haben zu tun, um seinem leidenschaftlichen Tempo zu folgen. Dabei spürt er, während er so den ganzen Riesenbogen dieses Panoramas von den kalkig weißen Türmen von Berry-au Bac über den Brimont, über Reims, den Py-Grund bis Tahure durchsucht, daß irgendwo in einer letzten Tiefe seiner Brust aus erst gar nicht beachteten Eindrücken oder Worten ein Bodensatz geblieben ist, aus dem Unklarheiten steigen wollen. Dunkle Fragen, die seine Zuversicht bedrohen und die Gehobenheit seines Glaubens trübend durchdringen wollen –. Zweifel und Bedenken, die er nicht hören mag – denen er sich durch die Hingabe all seiner Sinne an diese Umwelt hier entzieht – vor denen er sich in Wissensdrang und in Geschäftigkeit verpuppt – an die er mit keinem aufstöbernden Gedanken rühren mag – 

Manchmal, in allem Eifer des Geländestudiums, durchbricht das dennoch diese Abwehr, kommt jäh für einen hinhuschenden Augenblick an ihn heran: Wenn er dieses stahlharte, fatale Elendsgesicht des kommandierten Offiziers sieht – wenn die Worte des Generalstabshauptmannes vor ihm stehen: »Aber eine Unstimmigkeit bleibt hier noch –«

Dann denkt er rasch: Ach was – das goldene Verwundetenabzeichen trägt der Mann – fünfmal hat er das durchgemacht und sieht nun zum Erbarmen mitgenommen aus – das ist's! Und als besondere Auszeichnung für ihn haben sie ihn mir hierher geschickt. Der Hauptmann aber – die Gefangenenaussagen – was ist darauf zu geben!

Und er redet mit fortdrängender Eile von anderen Dingen, sucht aus der Rauchentwicklung zu schließen, ob dort im Süden, im Raum von Prunay, wo er die Gruppe Lindequist im Kampfe weiß und wo die zweihundertunddritte Infanteriedivision eingesetzt ist, ein Vorwärtskommen der Stürmer angenommen werden kann – –

Und klammert sich dabei, zäh und verschlossen, gegen jeden Einwurf seiner Sorge, an diesen einen mit Gewalt zur Überzeugung aufgesteiften Gedanken: Nur vielleicht eine Stunde noch – oder auch zwei – dann haben wir die weiteren Meldungen und jede Sicherheit –!

Ist das alles erst klar – dann Aufbruch hier und in die Wagen: und zunächst nach Avesnes – zum Generalfeldmarschall, zum General – – 

Wieder zerrt diese Ungeduld, die keiner merken soll, an ihm. Wieder ringt er unter der Maske scharf aufmerksamer Arbeit diese verzehrende, qualvolle Spannung nieder. – – 

Von unten, von der Straße, aus dem Walde zu Füßen des Turmes kommt helles Hupenfauchen auf. Ein langgestreckter Wagen flitzt unsinnig schnell –. Vermummte Männer auf dem Steuersitze – im Fond –. Als ob ein böses Tier, heiser und zornig kläffend vorwärts jagte – –. Und ist dann still.

Jetzt Stimmen, die in Frage und Antwort ineinander gehen. – Unverständlich die Worte, aber ungeniert, hell, knabenhaft frei beinahe die eine – dienstlich gehalten die andere. Eine lehmgelbe Lederjacke auf der kleinen Lichtung zwischen den Baumkronen leuchtend – im Blicke von hier oben seltsam verkürzte und verschobene Gestalten, die sich aus Mänteln, Hüllen schälen – 

Alles hört, sieht der König, nimmt es mit drängender Erwartung auf – und scheint doch unberührt davon inmitten seiner gesammelten Einstellung auf die Vorgänge des Kampffeldes.

Ein Leibjäger kommt eilig aufgestiegen, meldet ein wenig atemlos den Gast: Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz.

Der Generaloberst gibt die Meldung weiter.

Der König hebt die Brauen an: »Der Kronprinz? Gewiß. Jawohl. Soll nur gleich kommen – hier ist gerade allerlei Interessantes zu sehen! Nicht wahr, lieber –?«

Voll Lebhaftigkeit ist er – spürt in der Nähe seines Sohnes, seines Blutes etwas wie Stärkung seiner eigenen Kraft – sieht in dem Kommen seines Jungen nahe Möglichkeiten der Lösung seiner Unruhe und Unsicherheit. Er denkt: Wenn einer von den Vorgängen in der Champagne Neues wissen kann, so muß doch er es sein, als Oberkommandierender der Heeresgruppe, der die östlich der Suippes fechtende Armee von Einem untersteht – 

Über die Karte beugt er sich – lauscht in die Tiefe. Schritte auf knarrenden Brettern hört er, hört wieder Stimmen, halbverwehte Worte – 

Wie langsam sie ansteigen – 

Dann endlich!

Schlank – überschlank in dem grauen Schnürenrock – schnittig, die schwarze Husarenmütze mit dem Totenkopfe über dem bronzebraun gebrannten jungen Gesichte mit den tiefblauen Augen, steht er vor dem König.

Händeschütteln, Kuß und Begrüßung. Freude, Herzlichkeit, Zugehörigkeit in Blick und Wesen. Als eine Wohltat nimmt der König dabei die unbeengte Frische seines Jungen auf – die er doch sonst so oft als lässig, unsoldatisch, der Würde seiner Stellung unziemlich empfindet –.

Die beiden Adjutanten des Kronprinzen – der sachliche Major und der kleine Rennreiter mit dem melancholischen Spöttergesicht – verkrümeln sich im Hintergrunde, tauchen zwischen den Herren des königlichen Gefolges ein. Man kennt sich natürlich, nickt sich gegenseitig zu, die Augen blinkern – ein bißchen Abwechslung – mal etwas anderes. Zusammenhanglos inmitten der Gruppe der hagere fremde Offizier im Stahlhelm – bis der Graf sich seiner annimmt –

Vorne an der Südrampe bleibt nur der Generalstabshauptmann auf dem Posten bei der Karte.

Sonst sind Vater und Sohn allein – 

Von allgemeinem spricht der König. Nein – auch der Sohn, der dereinst hinter ihm die Krone tragen wird, soll nichts von diesen Zweifeln wissen! Und sind es denn Zweifel? Ist es denn Kleinmut? Ist es nicht nur die selbstverständliche Erschütterung des Einen, der nach dem Willen Gottes auf seinen Schultern die letzten ungeheuren Verantwortlichkeiten trägt vor einer Welt – vor der Geschichte? Mag es dem unsterblichen Fridericus Rex anders ums Herz gewesen sein bei seinen Schlachten, bei denen es um Sein oder um Nichtsein Preußens ging – oder dem hochseligen großen König und Schöpfer des Reiches –?

Er sagt lebhaft, mit sprudelnder Lebendigkeit: »Famos, daß du auch hierher gekommen bist. Die ganze Nacht waren wir hier: ein ungeheurer Eindruck – unvergeßlich – –. Und ein besserer Punkt, das ganze Feld zu überblicken, kann wirklich nicht gefunden werden –«

Der Kronprinz nickt, schiebt sich die Mütze mit kurzem Ruck in das Genick, daß das hellblonde, von frühen weißen Sprenkeln blitzende Haar an den Schläfen sichtbar wird. Als ob ihm schwül geworden wäre – –: »Ich war die Nacht in Maison rouge und in Rethel bei den Armeen und auf ein paar Beobachtungsstellen der Divisionen. Vor einer Stunde habe ich den Generalquartiermeister am Telephon gesprochen. Er hat mir gesagt, daß du hier auf der Warte bist. Na – nützen kann ich drüben auch nicht viel – da bin ich rasch mal 'rübergerutscht –«

»Und wie steht es bei den Armeen?« Beiläufig kommt die Frage, während der Blick ein wenig unsicher über den Sohn hinstreift und, scheinbar jäh gefesselt, auf irgend einem Vorgang draußen im Gelände haftet.

Der Kronprinz hat die schlanken Hände ausgespreizt in die Hüften eingesetzt. Die junge, helle Stimme steht ein wenig unter Druck: »Ja – das ist mit ein Grund, Papa, warum ich losgegondelt bin. Sie wollen's ja noch nicht so recht wahr haben – aber ich habe den Eindruck, wir sind in der Champagne festgefahren!«

Eine rasche Wendung macht der König, und mit kaum verhülltem Schrecken treffen seine Augen in den Blick des anderen.

»Was heißt das – festgefahren –?!«

»Lieber Gott – –.« Der Kronprinz hebt die Schultern an und läßt sie wieder sinken. Die Worte wollen ihm nicht recht heraus vor diesem plötzlich wie von grauen Schatten übergossenen Gesicht, das eben noch so unbelastet schien.

Der König schluckt und sagt: »Die dritte Armee hat doch vor ein paar Stunden erst gemeldet, daß die Infanterie auf der ganzen Front im Vorwärtsschreiten ist – –?«

»Ja – war sie auch. Und hat die erste Feindstellung auch überall glatt übernommen und besetzt. Aber im Kampfe um die zweite Stellung ist sie auf außerordentlichen Widerstand gestoßen und beinahe überall abgeschmiert worden. Sie hat bisher trotz großer Opfer nichts – so gut wie nichts erreicht. Dazu liegt auf der alten ersten Stellung jetzt seit heute morgen schweres Feuer –«

Der König fingert an den goldenen Quästchen seiner Fangschnüre – fühlt das Zittern seiner Hand und sucht es zu verbergen. Ganz wirr ist ihm – kaum, daß er es vermag, sich auf die üblen Nachrichten, die da wie ein Kübel voll Mißgeschick jäh vor ihn hingegossen werden, einzustellen –. Da läuft alles so tadellos und gut – im besten Zuge zum Erfolg – und plötzlich kommt da einer, redet von Stockungen – von überstarken Widerständen – von abgeschlagenen Sturmangriffen – 

Der Helmrand drückt ihn plötzlich um die Stirne wie ein Reifen, und er fühlt, wie sich die Kehle ihm belegt. Als ob mit einem Male all diese dunklen feindlichen Ahnungen, die er in seinen Tiefen spürte und kämpfend niederhielt, die abwehrende Kraft durchbrächen. Sich aufrichteten, zu Gefahren und Bedrohungen würden und über ihn herfielen – –.

Eine kurz auffahrende Bewegung macht er, gleichwie als müsse er ein Netz, das ihn umstricken will, zerreißen, und schüttelt heftig den Kopf – sprüht damit diese Unglücksbotschaften und ihre Sorgenlast von sich: »Ach – ist ja Unsinn! Ich meine – das ist doch im Anfang immer so – darin haben wir ja nachgerade Erfahrung –. Denke an den einundzwanzigsten März: wie sah das damals am ersten Tage aus – und wie ist's dann geworden –!« Der König redet – hört dabei die eigene Stimme, wie sie fremd und trocken Worte vorstößt und Gründe häuft – und weiß es doch: er kann damit die eigene Erschütterung nicht übertünchen, kann sich das innere Gleichgewicht damit nicht wieder schaffen.

Der Kronprinz spürt die eifervolle Qual des Vaters aus jedem seiner Worte, liest sie aus jedem Zuge des jetzt so hager, straff und unsicher gewordenen Gesichtes. An den letzten Satz hält er sich, blickt an dem Könige vorbei in die dunkle Tiefe der Baumwipfel nieder und sagt: »Ja – bei der Frühlingsschlacht – da haben wir sie überrascht. Damals, und noch gründlicher später mit dem Stoße am Chemin des dames –«

»Und diesmal nicht?!«

»Nein. – Meiner Meinung nach haben sie ganz genau Bescheid gewußt und heute nacht vor unserem Feuer die erste Stellung ziemlich planmäßig geräumt –. Und ihren Hauptwiderstand mit großer Verstärkung in das stark ausgebaute zweite Feld gelegt –. Die gleiche Ansicht hat mein Chef, und wir haben sie an die Oberste Heeresleitung gemeldet.«

»Was sagt Avesnes?«

»Der General hat befohlen, die Feuervorbereitung auf die zweite Stellung mit allen verfügbaren Geschützen aufzunehmen. Das ist im Gange. Wenn es gewirkt hat, soll noch einmal gestürmt werden.«

Der König nickt, seine Gedanken sind aufgestöbert und erregt um diese Mitteilungen her. Die gleichmäßigen Zähne zerren an den Lippen. Er denkt: Und kein Wort davon haben sie hierher gemeldet, der Generalfeldmarschall – der General! Bin ich den Herren denn schon ganz quantité négligeable?! Verletzt und übergangen fühlt er sich – gekränkt an seiner Würde. Er spürt, wie ihm das Blut zum Kopfe drängt, und ist drauf und dran, den Hauptmann heranzuwinken, ihm zu sagen, daß er anfrage, was es mit den Vorgängen in der Champagne auf sich habe –. Er läßt es – kämpft den Drang zurück – empfindet mehr noch Abwehr gegen diese Auskunft, die ihm vielleicht auf seine Frage werden mag – 

Starr blickt er so im Sinnen vor sich hin. – Auf Reichweite vor ihm, auf dem weißen, frischen Kiefernholze des Geländes, von dem jetzt, in der ersten Sonnenwärme, ein herbes, harzigbitteres Duften kommt, hat sich ein kleiner, weißgelber Falter niedergelassen. Wie ermattet von seinem überhohen Fluge bis hierher sitzt er ruhend da, wippt pulsend mit den Flügeln, gleichsam als atme er so in der Erschöpfung seiner Kräfte.

Der König denkt – und klammert sich an diese Möglichkeit: Oder vielleicht halten sie die Dinge gar nicht für so ernst? Legen ihnen so großen Wert nicht bei und wollen mir damit erst gar nicht kommen? Melden dann erst, wenn alles wieder in der Reihe ist –?

Still ist es – 

Als eine Last und Beengung empfindet der Kronprinz dieses Schweigen, das wie so oft, wenn er mit dem Vater allein ist, sich zwischen sie schiebt, letzte Aussprachen und Offenheiten hindert. Er sagt, und seine helle Stimme schlägt dabei ein wenig krähend um: »Es wird natürlich alles eingesetzt – Reserven sind aus den Bereitschaftslagern vorgeschafft – was möglich ist, geschieht – –«

»Aber –? Ja – bitte, sprich –«

»Papa, du hast vorhin von Erfahrungen gesprochen. Es gibt Erfahrungen des Verstandes – und Erfahrungen des Empfindens. Die magst du unsoldatisch nennen – gut. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache. Aber auch über dieses rein Gefühlsmäßige hinaus – du weißt: ich bin ein wenig kritisch – seit Verdun –«

Da reißt der König sich zusammen. Abwehr und Widerstand springen auf in ihm bei diesem Worte, dieser Erinnerung. Die schlimmste Zeit in diesen schweren Jahren ist das gewesen. Nein – nicht daran denken und nicht daran rühren! Er schüttelt sich: »Verdun – liebster Junge! Du hast wohl auch schon Nerven bekommen – –?«

Aber das rasche, bellende Lachen, die Art, wie er dem Sohne jetzt den Arm, die Schulter klopft, sind unfrei, stellen wiederum Masken vor den Aufruhr in seiner Brust.

Still steht der Kronprinz, den Kopf ein wenig vorgestreckt, sieht an dem Vater vorbei ins Weite – in das jetzt mehr und mehr von hellem Sonnenlicht umspielte Rauchmeer da draußen, über das Geschützfeuer dröhnt, aus dem Gewehrhämmern klopft und peitscht –. Und rückt sich dann ganz jäh gerade: »Am Ende: man kann ja nichts tun, als abwarten, wie die Dinge sich entwickeln –«

In die Seitentasche des grauen Schnürrockes langt er, holt die silberne Zigarettendose hervor, hält sie dem Vater hin, reicht und nimmt Feuer.

»Ja: abwarten und ruhig Blut behalten!« Und der König beginnt dem Sohne die festgestellten Punkte des Geländes zu weisen, sucht, während die Unruhe, die Sorge und die dunkle Angst ihn heimlich quälen, den Sicheren und Ruhigen zu zeigen, der aus der Fülle seiner Zuversicht auch anderen noch geben kann. – –

 

In diskreter Entfernung von dem Könige, am Nordrande der kleinen Plattform haben sich die Herren des Gefolges inzwischen doch ein wenig eingerichtet.

Irgendwo hat eine Ordonnanz unten eine Art Bank gefunden und heraufgeschleppt. Darauf sitzen die Herren, wie die Hühner auf der Stange, stehen davor, rauchen, plaudern lässig, um die Zeit hinzubringen.

Zwischen den beiden Gruppen, bereit, dem Könige auf jeden Wink zur Hand zu sein, und zugleich mit seiner Aufmerksamkeit immer ein wenig überwachend auch bei den anderen, der greise Generaloberst und Kommandant des Hauptquartieres. Müde – gleichsam in sich selbst versunken, steht er, döst, schläft mit offenen Augen – bereit, sich auf ein jedes leise Wort sogleich in den gewohnten Dienst zu stellen – 

Gedämpft und nur mit halben Stimmen geht das Gespräch – 

Der sachliche Flügeladjutant meint feststellend: »Also, das muß man euch lassen: Ausdauer habt ihr! Seit gestern um Mitternacht seid ihr hier?«

Der lange Major bläst den Rauch geradeaus und nickt: »Ja – so sind wir nu' mal: nur keine jüdische Hast. Sagen Sie uns lieber, wann unser Hoher Herr endlich genug haben wird von dem Film –?«

Und der Oberstabsarzt, der sich nach und nach wieder erholt und seinen silbergrauen Radmantel vor den Sonnenstrahlen öffnet, wie eine mattgewordene Blume, die sich wiederum erschließt, philosophiert: »Im Grunde ist es ganz unerklärlich, wie Seine Majestät das aushält – und sein Organismus, rein als Kraftquelle betrachtet, ist einfach gar nicht in der Lage –. Aber er macht es. Unsereiner klappt beinahe zusammen – er schafft's und merkt kaum die Ermüdung. Bitte, sehen Sie selbst –!« Und er hebt seinen Blick nach vorne zu dem König, der eben seinem Sohn den Arm, die Schulter klopft und lachend redet.

Der Graf, der vor der Bank steht, wendet sich für einen Augenblick herum, meint dann: »Ihn hält eben der innere Anteil aufrecht –«

Und der Oberstabsarzt fragt ein wenig rasch: »Erlauben Sie, Graf, haben wir den nicht?«

Ein kurzes Zögern, dann ein freundlich-verbindliches Lächeln: »Lieber Professor – Sie sind Arzt von Beruf und – Philosoph aus Neigung. Wenn die Sache schief geht, werden Sie sich als Philosoph zu trösten wissen – und als Medizinmann werden Sie sich vielleicht zu einer Stellung als Kurarzt in einem der schlesischen Bäder des Fürsten entschließen –. Unser Allerhöchster Herr – –«

Der Generaloberst, der ein Wort aus dem Gespräche aufgefangen hat, hat sich aus seinem Dämmern aufgerappelt, ist näher herangetreten. Er lächelt dünn und süß, daß man die Reihe der ein wenig zu gleichmäßig gemachten Zähne sieht; die spitzen blauen Augen sind voll Leben, bohren, fragen: »– schief geht? Sagen Sie, lieber Graf, ich höre da etwas von ›schief gehen‹ –?«

Der Graf denkt wissend: Schutzmann –! Und daß nur ja um Gottes Willen nicht im Umkreise von zwanzig Metern um Seine Majestät ein Wort gesprochen werde, das etwa gar nach flauer Stimmung riecht. Und das den Optimismus Seiner Majestät am Ende trüben könnte – –. Er sagt: »Ach so –! Wir sprechen da von ganz allgemeinen Problemen, Euer Exzellenz –«

Und der lange Major kommt ihm zu Hilfe, fragt den kleinen Rennreiter mit dem melancholischen, erfahrenen Spöttergesicht, der neben ihm auf der Bank sitzt, forsch: »Sagen Sie mal, Malte, bei Ihnen erfährt man doch mehr – wie steht denn nu' die Kiste eigentlich?«

Der Ulan hebt langsam den rassigen, schmalen Kopf. Er ist sofort im Bilde und spielt gerne mit. Ein wenig verschlafen und unstimmig zu der sehnigen, trainierten Reiterfigur klingt die weiche Stimme: »Meinen Sie die Schlacht?«

»Ja – immer noch –«

»Wie soll das schon stehen?« Die dunklen Schuljungenaugen fragen. »Wir siegen. Ich bitte Sie, Jochem: in dieser großen Zeit! Immerzu siegen wir – immerzu – bis wir hin sind –«

Pause.

Der Generaloberst zuckt, als ob ihm einer auf seine besten Hühneraugen aus dem Jahre achtzehnhundertsiebzig getreten hätte, und blickt in einem jähen Schreck zurück nach dem König – – 

Nein – Gott sei Dank – der ist im Gespräch.

Jetzt spießen seine blauen Greisenaugen den Ulanen. Ganz wässerig sind sie, zeigen dünne, rote Äderchen um die Pupillen. Und langsam, übertrieben deutlich redet er, kaut jedes Wort, ehe er es entläßt. Beinahe dienstlich klingt das, gibt peinliche Ausblicke und Folgerungen frei: »Sagen Sie, Herr Rittmeister – reden Sie so auch zu Seiner Königlichen Hoheit?!«

Der Reiter scheint nichts von all der grollenden Mißbilligung zu merken. Ganz unberührt bleibt er bei seinem sorglosen Kasinoton: »Aber nicht zu knapp, Euer Exzellenz. Der Kronprinz versteht Scherz – und Ernst. Der hat nämlich nur das Pech, so auszusehen, als ob er keinen Ernst verstände. Und wenn man schon wie ich 'ne Stellung als Hofnarr hat, dann will man doch ehrenhalber das Vorrecht mitnehmen, gelegentlich die Wahrheit zu sagen.«

Der Generaloberst schnappt mit leerem Munde – fassungslos maikäfert er nach einem Worte – 

»Kleiner Schäker –!« meint der lange Gardedukorps vermittelnd.

Außer sich ist der alte Herr. Er denkt kollernd: – vollkommen ungeeignete Persönlichkeit! – unmöglich in verantwortlicher Stellung in der hohen Umgebung – Ablösen! – Ablösen! – Zu dem sachlichen Major flitzen seine Augen: Und der als Vorgesetzter und Dienstältester steht und sieht überlegen ruhig, beinahe freundlich zustimmend auf seinen Kameraden –! – Dienstlich werden?! Was geht ihn das Gefolge des Kronprinzen an? Mag er sich doch zu Adjutanten nehmen, wen er lustig ist! Ein Unsinn, wenn man sich mit diesen jungen Leuten einläßt –!

Und er gibt es auf, schüttelt nur ablehnend das puterrot gewordene, greise Falkenhaupt und tritt zurück auf seinen alten Platz.

Nur ein paar Blicke wechseln verständnisvoll hinter ihm drein.

Fremd, ohne Fühlung und beengt, beklommen, steht der hagere Offizier im Stahlhelm an der Rampe. In eine unbekannte Welt, mit der ihn nichts verbindet, ist er verschlagen –

»Übrigens nett – sehr nett –.« Der Gardedukorps weist jetzt mit vortippenden Fingern auf die Ordensspange des Rittmeisters. Ganz schmal, gerade bleistiftbreit zieht sich das weiche, aufgenähte Bändchen, auf dem sich alle Farben in buntem Wechsel reihen, über die linke Brustseite der Ulanka. »Seh' ich zum ersten Male. Wo kriegt man das?«

»Godet – Charlottenstraße. Müssen sich aber auf mich berufen. Von mir kreiertes Modell. Wissen Se, diese Dinger mit der Weißblechunterlage – nee! – kam man sich immer vor wie Lehmann mit dem gußeisernen Schlips. Nicht zu machen. – Also – man hat schon auch seine Verdienste um die hehre Sache –«

»Muß ich mir auch bestellen.«

Man ist wieder im sachten Plätschern nichtiger Dinge, ironisiert sich gegenseitig, ohne sich weh zu tun, fühlt sich einander zugehörig, kameradschaftlich verbunden.

Einmal reckt der Offizier im Stahlhelm den dürren Schädel, daß ihm die schlecht verheilte Halsnarbe zum Zerreißen straff und brandrot glänzend über den Kragen steigt: Da draußen im Süden und Südosten hämmern wieder die Maschinengewehre wirr hastend ineinander, peitschen Gewehrschüsse und schlagen Handgranaten durch das dumpfe, schwingende Dröhnen. Und sein in hundertfach miterlebtem Grauen erfahrenes Ohr hört mehr aus diesem aufgerührten Chaos von Getösen –. Bilder voll letzter Steigerung alles vorstellbaren Entsetzens lösen sich ihm aus der Erinnerung und halten ihn fest. Bilder, wie sie von diesen Männern hier um ihn keiner jemals gesehen hat –

Dort unten in der Ferne geht die Schlacht um Sein oder um Nichtsein weiter – 

Sie stürmen wieder – stürmen – sterben – – 

Über den König streift sein Blick. Vorne an der Rampe steht er und redet mit andrängendem Eifer zu dem Sohne –. Aber die innere Unrast fiebert unverbergbar aus jeder von den flatternden Gesten seiner Hände, die dunkle Angst, die Qualen der Unsicherheit flimmern in seinen Augen – – 

An die Nacht muß der Hagere denken – das ist doch erst wenige Stunden her! – an diesen starken aufrufenden Funkspruch, der an die vor dem Kampfe stehenden Verbände ging –. Wie war das doch? Wie war das doch?!

Ja –! »– – alle guten Wünsche Seiner Majestät begleiten die Truppe. Seine Majestät ruft den Truppen zu: Mit Gott für König und Reich!«

Und jetzt stürmen sie wieder – stürmen – sterben – –. Mit guten Wünschen – und für das – woran sie glauben – – 

Ganz wirr ist ihm mit einem Male –. Er sieht um sich, er denkt: Auch ich habe doch an alles das bisher geglaubt – an Kraft und Größe der Persönlichkeit – an Sicherheit und unerschütterlichen Willen – 

Er sucht in sich – die Gedanken jagen: Und an seinem Geburtstag oder so – wenn man sich dieses Bild vor Augen stellte: Soldatenideal. Herrisch – mit gepanzerter Faust. Wer sich mir in den Weg stellt, den zerschmettere ich – – 

In Angriffsstößen, wie er sie so viele, viele Male geführt hat, sieht er sich: Wenn ich da mit den Leuten losging im ›Sprung –. Auf, marsch, marsch!‹ Das Ziel erreichen – oder fallen. Kein Drittes – keine anderen Möglichkeiten – keine Hemmungen und Sorgen –. Flügel am Herzen. Erfüllt von Einem!

So etwa – so hatte er ihn sich vorgestellt –. Den Obersten Kriegsherren – den König – 

Und wie in einem unsinnigen, hinfiebernden Traum klingt dabei eine lässig näselnde Stimme auf ihn ein: »– ne, Malte. ›Hofnarr‹ ist natürlich Kaff! Aber Sie wissen ja, wie unser Mümmelmann immer sagt: ›'n richtig gehender Adjutant muß wie 'n Prellbock sein. Üble Eindrücke dürfen an Majestät erst gar nicht 'ran. Majestät soll guter Stimmung gehalten werden‹ –«

Dem Offizier im Stahlhelm ist es, als stiegen Wellen um ihn an – 

– ich habe doch für alles das gekämpft – bin doch dafür gestorben – –. Bin doch fünfmal für tot da draußen aufgelesen worden –? Vor Ypern – und in den Karpathen – am Douaumont – im Rotenturmpaß – und an der Somme – 

Nach dem Geländer tastet er, schließt einen Herzschlag lang die Augen. – 

»Ist Ihnen etwas? Fühlen Sie sich nicht wohl?« Der Graf steht neben ihm, sieht ihn unter den schweren Lidern vor mit guten, hilfsbereiten Augen an.

Da hat er sich schon völlig wieder.

»Nein, danke – nein. Das kommt so manchmal – ein dummer alter Kopfschuß, der gelegentlich noch spukt – nichts sonst –«. In die Weite weist er mit dem Blick und hat ein zerrendes Lächeln um die dünnen, blutlosen Lippen: »Wenn ich das so höre – wie ein alter Kavalleristengaul beim Trompetensignal ist man geworden! – dabei sein möchte ich –«

Er schluckt mit leerer Kehle. Er denkt: – und nicht mehr wieder aufgelesen werden – – 

 

Höher rückt die Sonne. Sie übergießt die Weiten jetzt mit hellem Vormittagslicht, schließt Fernen, die sich bisher bargen, auf, läßt hinter aufgesogenem Dunst- und Nebelweben kahle, zerwühlte Berglehnen, kreidig graue Trichterfelder und wüste Ruinenhalden erkennen. Schmutziggelbe Rauchballen quellen da und dort als scheußliche Blasen aus der Öde auf, und schwarze Dreckgeiser sprühen aus ihr empor, werfen spritzend ihre Saat und sinken wiederum in sich zusammen. Und hier und da, am Scherenfernrohr, wenn man Glück hat, sieht man in dieser Elendwüste winzige schwarze Pünktchen auf hellem Grunde. Wie kriechende Insekten, die aus Rillen aufgestöbert eilig nach anderen Rillen streben und dort unterkriechen – oder auch plötzlich stille werden. Gedröhn, Gehämmer und Gegurgel rollt über all das hin – 

Und die steil aufgerückte Sonne erschließt auch Reims. Das nach der ersten Marneschlacht wiederum aufgegebene heilige Reims – die zweite Ecksäule der gegnerischen Stellung, die immer noch dem Ansturm widersteht, nachdem die andere, Soissons, beim letzten großen Stoß schon fiel. Um die jetzt dieses neue Ringen geht.

Zweimal schon hat der Kronprinz mit bescheidenen Bemerkungen versucht, sich von dem Vater zu verabschieden. Ihn drängt es, zu der Heeresgruppe, zu den kämpfenden Armeen zurückzukommen. Er ist kein Mann des langen Wartens und Abwartens auf einem Fleck. Was hier zu sehen ist, hat er gesehen, was hier zu tun ist, das scheint ihm getan. Also Schluß. Den Ereignissen entgegengehen, wie sie auch fallen mögen – und nicht die Ohren hängen lassen. Sie nehmen als moderner Mensch, der nicht mehr tun kann als sich, so gut es gehen will, abfinden mit Schicksalswendungen, gegen deren Lauf man schließlich machtlos ist – 

Aber der König hat die Versuche des Sohnes, zu Ende zu kommen, überhört. Eine Abwehr gegen das neue Alleinsein ist in ihm – eine unklare, fast zwangsläufig gesteigerte Flucht vor dem wieder drohenden einsamen Suchen, Zerren und Grübeln. Nein, nein – erst wissen, daß man draußen in den Kampfabschnitten wieder in Ordnung ist, daß alle diese Schreckgespenster, die sich der andere da eingebildet hat, weil's nicht gleich wie auf Schienen ging, in nichts zerstieben –

Jetzt wendet er sich an den Generalstabshauptmann, sagt ganz beiläufig mit gesuchter Leichtigkeit: »Elf Uhr? – Eigentlich könnten Sie wieder einmal bei Ihrem Freunde, dem Eins-A, anrufen. Wenn man den Herren in der Operationsabteilung nicht immer auf der Pelle sitzt, dann schweigen sie sich aus –«

Er lacht kurz, trocken auf: »Es ist doch so? Das habt ihr Generalstabsleute doch alle weg: schweigen, geheimnisvolle Gesichter machen und sich bitten lassen. Wirkt immer gut. Oder –?«

Jeder Laut, jedes Wort, das er spricht, klingt ihm dabei seltsam fremd in den Ohren. Als ob ein anderer – ein schlechter Schauspieler – da lachte, als ob alles, was absichtslos erscheinen will, sich ins Gezwungene verkehrte und aller Scherz zur Derbheit würde.

Der junge, frische Hauptmann scheint das nicht zu merken. Er lächelt so wie sonst: »Jawoll, Euer Majestät – das gehört schon so zum Gewerbe –«

»Nun also! Der ist wenigstens ehrlich –!« Er nickt dem Offiziere zu und bleibt, wie der gegangen ist, am Tische stehen, blickt in gespanntem Sinnen auf die Karte nieder. Der unbewußte Drang, mit Worten über dieses neue Warten hinwegzukommen, sich selbst über die Schwierigkeiten der Lage zu beruhigen und sich dem Sohne in der unerschütterten Fassade soldatischer Sicherheit und königlicher Ruhe zu zeigen, treibt seine suchenden Gedanken. Dem operativen Bilde spürt er nach – zieht mit den gespreizt ruhenden Fingern seiner Rechten in einer Geste, die wie der vage Schatten einer versunkenen Bewegung des Generals wirkt, unsicher über die vorgesehenen Bahnen der stoßenden Armeen hin. Und sagt sachlich, beinahe ein wenig dozierend: »Sieh mal, mein Junge – nehmen wir schon an, es bleibt bei der dritten Armee zunächst zurück – schließlich ist das im schlimmsten Falle ein Nachhängen des äußersten linken Flügels –. Im Rahmen der ganzen Operation also doch – vorausgesetzt, daß alles andere klappt – kaum von wesentlicher Bedeutung! Und wenn erst Böhn und Below beiderseits von Reims herunterdrücken, dann wird die feindliche Stellung östlich der Suippes von uns flankiert, und die Franzosen müssen doch zurück –«

Vorausgesetzt – wenn – wenn –! Der Kronprinz schweigt, steht ein wenig nach vorn gebeugt hinter dem Vater, sieht mit auf dieses Kartenblatt. Worte hört er – Worte: – ›flankiert‹ – ›müssen zurück‹ – Wie oft hat man mit solchen abgegriffenen Ideen schon operiert – und es kam dann ganz anders. Damals bei Verdun, an der Maas: da stand man sich doch gegenseitig in den Flanken – und keiner wich – –. Ihm ist nicht wohl bei diesen Deduktionen, die nicht von der gegebenen harten Lage sprechen, sondern auf Möglichkeiten weisen.

Aber der König achtet nicht auf dieses Schweigen, verspinnt sich mehr und mehr in seine Theorie. Ganz bildhaft deutlich – wie schon einmal an diesem Morgen, als er die ersten blauen Linien und Pfeile auf die Karte setzte, – sieht er jetzt wieder im Geiste das südwärts Niederfluten der östlich von Reims stehenden Gruppen der ersten Armee: Lindequist, Gontard, Langer –. Sieht, wie sie sich mit unaufhaltsamer Gewalt über die beiden Mourmelons ergießen, den Weg über die Vesle bahnen, sich Hand in Hand mit den im Zug der Marne gegen Osten andrängenden Divisionen der Armee von Böhn bis Châlons hinunterwälzen –. Châlons – der ungeheure Waffenplatz Châlons in deutscher Hand! Und er spürt greifbar nahe, wie den Franzosen östlich dieses Vorbruches im Doppelfeuer, das sich dann von Norden und von Westen her über sie wirft, im Doppeldruck, der dann von den zwei Seiten auf sie wirkt, der bisher zäh gehaltene Boden unter den Füßen brennt: Abbau – –!

Mut und Gehobenheit schöpft er aus diesem Bilde. Nichts ist bisher verloren – nichts vertan –. Nur Ruhe muß man haben, sich nicht gleich von jedem kleinen Zwischenfall werfen lassen.

Er redet weiter: »Eine Hauptsache scheint mir zu sein, daß all diese Bewegungen sich möglichst rasch entwickeln. Die drüben dürfen nicht erst Zeit finden, neue Reserven heranzubringen –«

Ein Schulterheben. Und der Kronprinz denkt an Fliegermeldungen, die schon vor Stunden kamen und die Beobachtungen der ersten Tagessicht brachten: Der Feind zieht seit dem Morgen über St. Menehould Kräfte aller Waffen heran –.

Darüber reden? Es dem Vater sagen? – Er sieht dieses von übernächtigem Erleben, von Spannung und verhaltener Erregung gestraffte, hagerer als sonst erscheinende Gesicht des Königs vor sich – diese Augen, deren voller Blick so stark und mitreißend mit allen Worten seines Mundes geht und jeden, den er trifft, gefangen nimmt. – Er schwankt, wägt, überlegt: Und vielleicht behält er Recht, und es wird alles gut? – Aber das ist ein Augenblick. – Und wenn ich's sage – was ist dadurch gebessert?! Das Wichtigste weiß er ja nun – wenn er es wissen will – 

Wie er dann spricht, wendet er das Gespräch auf Unbeträchtlichkeiten, erfüllt damit die Zeit und wartet zugleich ungeduldig auf die Wiederkehr des Hauptmannes. Wenn der seinen Bericht gegeben hat, will er jedenfalls fort. – 

Dann ist dieser Bericht da: ein kurzer Vorläufer der Mittagsmeldungen, die ihm bald folgen sollen. Forsch, sachlich klingt die junge, helltönende Stimme wieder, wie sie ihn vor dem Könige erstattet. Mit allem Willen zur unparteiischen Feststellung der Lage, wie einem das auf Kriegsschule und im Generalstabskursus eingehämmert worden ist, wie man das bei so vielen Kritiken vorgesetzter hoher Herren vorbildlich erlebt hat –. Aber das rotbackige Jungensgesicht ist jetzt ungewöhnlich ernst.

Die kurzen Angaben sprechen von schweren andauernden Kämpfen, von unnachgiebig an das Gelände geklammerten Widerständen des Gegners. Sie zeigen, daß sich die ersehnte befreiende Bewegung gegen Süden und Südosten noch immer nicht aus dem erbittert zähen Ringen lösen will. Westlich der Stadt, wo der Stoß trotz des besonders schwierigen Berggeländes scheinbar noch am besten vorwärts dringt, erweist sich die feindliche Gegenwirkung doch als überaus stark und kampftüchtig – bei Below geht es nur sehr hart und langsam vorwärts, und bei der dritten Armee spürt man jetzt durchweg klarer als vorher, daß der Gegner in Kenntnis und Erwartung des Angriffes ein breites Vorfeld freigegeben hat und daß sein Hauptwiderstand immer noch ungebrochen in der zweiten Stellung liegt. – Und dann kommen noch Einzelheiten – fallen die Bezeichnungen von Kampfgruppen und Divisionen, die Namen von Ortschaften, Waldstücken und Berghängen, die da und dort genommen sind oder um die das Ringen weitergeht – 

Härter, gestraffter wird das Gesicht des Königs, während die Worte des Berichtes vor ihm hingestellt werden. Die Lider schlagen nervös, und die Zähne zerren an den Lippen: Es steht also im ganzen wie vorher, und man ist nirgends viel weiter gekommen –. Schwere Kämpfe und zähe Widerstände –. Und was der Kronprinz gesagt hat, scheint in mancher Hinsicht richtig: sie haben von dem Plan des Angriffes in der Champagne Wind bekommen und sind unserem ersten Stoße ausgewichen –. Aber deswegen: festgefahren? Er reckt sich auf und schüttelt sich: Nein – man liegt eben noch im Kampfe, und man muß sehen – – 

»Danke –« sagt er, da es jetzt still geworden ist, und sagt noch einmal: »Danke –!« Denn kaum, daß er selbst seine Stimme hörte beim ersten Male.

Minuten gehen hin –. Er denkt und klammert sich an diese Formel: Der Anfang ist doch jedesmal das Härteste und Schwerste. Wenn der überwunden und diese ersten Widerstände gebrochen sind – dann geht's mit einemmal in anderem Tempo. So war es doch auch damals in der Frühlingsschlacht – das hat er selbst ja vorhin erst dem Kronprinzen erklärt – gewiß: so wird es wieder werden!

Er hebt den Blick; der Kronprinz steht vor ihm: »Wenn du erlaubst, Papa, werde ich mich jetzt verabschieden – der Chef erwartet mich –«

Wie abgespannt das Gesicht des Vaters ist. Und seltsam gelb – als ob das Blut unter der sonngebräunten Haut gewichen wäre und deren Bronzebraun damit verblaßte.

»Gewiß – gewiß. Du hast zu tun, mein Junge. Dienst geht vor. Nun sieh mal zu, daß ihr die Sache rasch wiederum flott kriegt – was? Und sage nur den Herren der Armee in Maison rouge, daß ich die Dinge von hier aus vor Augen habe und den Verlauf verfolge –.« Er zerrt an seinen Handschuhen, sieht an dem Sohn vorbei.

»Danke, Papa. Du bleibst also noch länger? Du warst die ganze Nacht hier – wird das nicht zu viel?«

Nur ein wortloses, eiliges Verneinen.

Und Händedruck und Nicken, Sporenzirpen – 

Ein paar Worte mit den Herren des Gefolges, dann geht der Kronprinz, seine Adjutanten hinter ihm. Der Graf gibt ihm nach unten das Geleite. –

An der Rampe steht der König. Beide Hände läßt er auf dem Geländer ruhen und sieht mit ernster Stirne blicklos aus ins Weite – 

Die Namen der Dörfer, Waldstücke und Hänge, die der Hauptmann vorhin nannte, ziehen ihm durch den Kopf – das war doch eine ganze Menge! Da muß man auf dem Südufer der Marne schon gut fünf, sechs oder auch sieben Kilometer Boden haben –. Das ist doch etwas – in den Bergen – mit dem Fluß im Rücken –! Die Truppe, die das schafft, die schafft auch mehr. Gewiß, man muß nur Ruhe haben und sich in Geduld fassen. – Den Generalfeldmarschall sieht er im Geiste vor sich – groß, vierschrötig, geruhsam und beruhigend – wie der damals im März, da es nicht anders stand und so gar nicht in Fluß geraten wollte, nur immer mahnte: ›Alles will reifen – alles will sich aus sich heraus entwickeln. Eine Schlacht ist ein lebendiger Organismus, der sich im Triebe seiner inneren Kraft erst nach und nach entfaltet –.‹

Und doch – und doch: Als ob damals bei dem ersten großen Stoße nach diesem Winter ungeheurer Vorbereitung in jedem Einzelnen etwas gewesen wäre, was nun nicht mehr so vollsaftig vorhanden ist –. In seiner eigenen Brust – und in den Führern – den Kommandierenden – den Leuten –. Und in der Heimat –. Frühlingsglauben –?

Er sucht und sinnt. Ein Trüppchen mitgenommener Leute fällt ihm ein, das er in jenen Tagen gleich nach dem Stoß aus Cambrai am Rande des von Gift und Gas zerfressenen, von Eisenhageln geschundenen Bourlomvaldes traf. Aus den Kämpfen bei Boursies und bei Havrincourt kamen die Leute – und waren ein Rest –. Aber in allen Augen dabei, trotz des Fieberglanzes der Erregung und der Entbehrung, das gläubige Leuchten. Und auf seine Fragen in jedem Munde das sichere Wort: Wir werden's schaffen! – Das sind vier Monate kaum her! – Und jetzt? Oft genug harte und verbissen-trotzige Gesichter – Gesichter, die mit einem grausamen Schicksale hadern – undurchdringliche Augen, und auf die gleiche Frage, schroff beinahe, etwa die gleichen Worte –. Nein, andere Worte: Wir müssen's schaffen, Majestät – Müssen – weil es für alle, die wir Deutsche sind, keinen anderen Weg aus diesem Kriege geben kann als den nach vorne, der zum Siege führt – oder müssen, weil stärker als der zersetzende Einfluß vaterlandsloser Hetzer der Zwang des Dienstes über ihnen ist – –?

Köpfe – Gestalten sieht er – Köpfe – Gestalten von grauen Männern, deren Hände er in diesen letzten Wochen hielt, mit denen er sprach –. Als ob aus vielen die innere Freiheit fortgenommen wäre, die früher doch beinahe jeder zeigte –.

Er schüttelt leis den Kopf, schaut in das Wesenlose.

Sieht dabei, ohne hinzublicken und gleichsam als ein fernes Nebenbei, tief unten irgendwo zwischen den breiten, schwarzgrünen Baumkronen die kleinen, seltsam verkürzten und verschobenen Gestalten, die sich in Mäntel, Schals und Hüllen mummen, Helme hinreichen, Mützen nehmen. Einer in leuchtend gelber Lederjacke zieht eine Art von Fliegerhaube über. Und dann sitzen sie in dem Wagen – der Ledergelbe am Steuer – 

Ein Anrücken – ein heiseres Hupenfauchen, bösartig, keifend –. Dahin – – 

Wir müssen's schaffen! denkt der König – wir müssen's schaffen! Aber das ist seltsam leer, als wären es nur Worte und nicht mehr – 

Eine jähe Müdigkeit kommt dabei mit einem Male über ihn.

 

Schleichend langsam rinnt die Zeit weiter dahin.

Der Oberstabsarzt flüstert bedenklich und überaus pflichtgemäß auf den Generaloberst ein, und der ist ganz der gleichen Meinung und wagt den Vorschlag vor seinem königlichen Herren.

Aber gewiß – natürlich – selbstverständlich!

Also um zwölf ein Teller Suppe, ein Glas Wein unten am Fuße der Warte unter den Bäumen. Ein Beieinandersitzen auf Bretterlagen, alten Munitionskisten und leeren Fässern – in einem warmen Dunst von moderigem Moos, von trockenem Heu, das irgendwo auf Wiesengründen dörrt, von frisch geschlagenem Holz und Unrat. Und Gespräche, die Leichtigkeit und Losgelöstheit, die Entspannung, Laune suchen und doch nicht recht in Fluß geraten wollen. Darüberhin das dünne Tacken des Apparates, der in der kleinen Zelle die Mittagsmeldungen der Obersten Heeresleitung herunterklopft. Kaum eine halbe Stunde währt das alles – 

Dann ist man wieder oben, und ein Ende scheint nicht abzusehen. Sogar der Generaloberst riskiert jetzt leutselig einen Blick voll dünner, diskreter Verzweiflung über die Gruppe der Herren hin.

Vorne der König arbeitet mit dem Generalstabshauptmann und dem fremden Offiziere die ausführlichen Meldungen durch. Sein Blaustift zeichnet wieder Striche und Pfeile auf die Karte: Korps Kathen, dessen Angriffstruppen unter starkem feindlichen Feuer den Marneübergang erzwangen, steht mit der zehnten Infanteriedivision nördlich Fossoy und bei Mézy in hartem Kampf. Der linke Divisionsflügel hat Crezancy erreicht, aber wieder verloren. Die Höhen südlich Courtemont werden von der dritten amerikanischen und hundertfünfundzwanzigsten französischen Division zäh verteidigt und sind von der sechsunddreißigsten Infanteriedivision, die die Ränder erstiegen hat, noch nicht genommen. – Beim Korps Wichura erreichten die dreiundzwanzigste und zweihundertste Division die Berghänge nördlich von St. Agnan und La Chapelle. Die erste Gardedivision – – 

So geht das weiter, Division um Division, den ganzen ungeheuren Zug der Angriffsfront entlang.

Tief spinnt er sich in diese Arbeit ein, hilft sich mit ihr über das Grübeln um die Nachricht hin, daß nun auch bei den Kämpfen im Berggelände an der Marne das Wissen durchgedrungen ist: der Gegner ist auch hier nicht überrumpelt worden, er hat den Angriff kampfbereit erwartet – er ist vor unserem Stoße kämpfend in sein zweites Feld gegangen, in dem er seinen Widerstand stark vorbereitet hat. Hier wehrt er sich entschlossen bis zum letzten – 

Dann ist auch diese Arbeit an der Karte getan.

Gewiß, gewiß, was sich da jetzt an neuen blauen Linienzügen, an Pfeilen, die nach Süden und Südosten weisen, bei den Korps Kathen und Wichura, Conta und Schmettow zeigt, ist ein Erfolg und eine Plattform, die Ausblicke in weitere Erfolge gibt. Und ebenso tut die Armee von Below ihre Pflicht: wie sich die Gruppen Lindequist, Gontard und Langer auf die große Römerstraße vorarbeiten, engt sich der Ring um Reims zusehends mehr und mehr – 

Der König richtet sich gerade auf. Er scheint zufrieden, sagt: »Das ist der erste halbe Tag – was will man mehr? Die drüben wissen ebensogut wie wir, worum es geht –.«

Der Hauptmann schweigt.

»Eine Schlacht will sich entwickeln – will sich aus sich selbst heraus entfalten –.« Ihm ist's, er spräche da mechanisch fremde Worte nach. Da schüttelt er den Kopf, fragt jäh: »Hat man in Avesnes etwas darüber gesagt, wieso der Gegner unser Vorhaben erfahren hat?«

»Jawoll, Euer Majestät. Die Oberste Heeresleitung nimmt an, daß eine Anzahl von Leuten, die in den letzten Nächten an verschiedenen Stellen zum Feinde übergelaufen sind, oder einzelne Posten, die von Feindpatrouillen ausgehoben worden sind, drüben Mitteilungen gemacht haben. Natürlich kennen solche Leute nur Einzelheiten und Stückwerk – aber wir wissen ja, wie wir selbst aus solchem Stückwerk kombinieren –«

Der König zerrt den Handschuh wieder über die Rechte.

»Schweinehunde –!« sagt er zwischen den Zähnen. Weist ins Gelände: »Und da draußen müssen jetzt Tausende guter Männer um solche Lumpen bluten!« – 

Er ist wieder am Scherenfernrohr und vor dem brusthohen Geländer in Anschauung des weiten Schlachtfeldes versunken. Drückend heiß strahlt die Nachmittagssonne nieder, lehmgelb und kreidig, wie in einen Dunst des Widerscheines ihres trockenen, zerfetzten und gedörrten Bodens eingehüllt, glasten die Hügelwellen. Hier und da dröhnt es zwischen all dem dumpfen, forthallenden Rollen hell polternd auf – als ob dort in der Ferne irgendwo ein Riese eine Ladung Bretter mit einem Wurf zu Boden schmetterte – und dicke Rauchpilze blähen sich langsam, träge aus diesem Braun und Gelb und Grau empor, mästen sich an der eigenen mißfarbigen Scheußlichkeit und fließen breit und quallig wieder aus. Tod – Elend – Grauen decken sie mit ein.

Eine trostlose Traurigkeit liegt jetzt über all diesem Spiel, das keine Menschen unterscheiden, kein Ziel, kein Hin und Her des Ringens und keinen Sinn des mörderischen Hinstampfens über das wüste Land erkennen läßt.

Als eine tiefe Qual empfindet der König den Blick über die im Lichte blendende nachmittägige Weite – und fühlt sich doch von ihr gehalten. Die Augen schmerzen ihn – er schließt sie für Sekunden. Nicht nachgeben! Mit beiden Händen greift er um die Geländerstange, spürt dunkel einen Trieb, noch nicht zu gehen, noch hier zu verweilen, der Müdigkeit, der Abgespanntheit, die auch von den still gewordenen Herren des Gefolges auf ihn zukommt, ihn greifen und umfangen will, Herr zu bleiben – 

Und ohne es sich zu gestehen, weiß er: Er wartet noch. Wartet auf irgendeine Nachricht, die von irgendwoher kommen und ihm sagen soll, daß jetzt die Krise überwunden und alles stark ausflutend und in Bewegung sei – 

Einmal blickt er um: Der Gardedukorps sitzt auf der Bank in der Ecke der Plattform. Die langen Beine hat er weit von sich gestreckt, der Kopf ist ihm nach hinten zurückgesunken, er schläft mit offenem Munde. Reichlich töricht sieht das schmale Gesicht so aus. – Der Graf und der Professor fehlen – und Pannemann sitzt auf der Treppe und treibt mit tiefsinnigem Ernste Manicure. – Der Generaloberst dämmert dienstlich im Stehen. Gleichsam notdürftig aufrecht gehalten von dem Futterale seiner hohen Stiefel, der dicken, ausdrucksvoll gebeulten Reithosen, des steifen Waffenrockes mit seinen Fangschnüren, Orden und goldenen Stickereien, steht er, ein wenig in sich selbst versunken, mit geschlossenen Augen da. Und hier und da heben sich seine Lider langsam, verloren ein klein wenig und klappen wieder zu.

Nur die beiden am Kartentische: der fremde Offizier, der junge Hauptmann – – 

Über die Taschenuhr, die da neben der Karte und den Stiften liegt, streift der Blick des Königs.

Drei Uhr – 

Eine halbe Stunde noch! denkt er. Eine halbe Stunde noch – das soll ein Ultimatum sein. Wenn bis dahin nichts eingetroffen ist – dann fort – 

Und er wartet. Ist scheinbar interessiert bei diesem oder jenem hundertmal an diesem Tage schon gesehenen Vorgang draußen im Gelände – und hofft und wartet.

Langsam geht der Zeiger – immer kürzer wird die Frist. Nichts – 

Er denkt: Noch einmal nach Avesnes telephonieren? Sich die Verbindung mit dem General selbst geben lassen? – Und verwirft den Gedanken in rascher Abwehr: Damit der das als unsoldatische Unsicherheit, als Zaghaftigkeit und Schwäche auffasse?! – Ihm ist's, er sähe das Gesicht des Generals, wenn er den Apparat aufnimmt und hört: ›Hier Hauptquartier Seiner Majestät des Königs, Ménil Warte – –.‹ ›Bitte –?‹ – und auf den vollen, willensstarken Zügen als Widerschein eines kühlen Erstaunens in diesem von hundert sachlichen Erwägungen erfüllten Kopfe einen dünnen Zug von Ungeduld –. Nein – nein!

Und die Zeit rinnt weiter – rinnt über den Termin, den er sich stellte, hin – und bleibt leer.

Vier Uhr nachmittags ist es, da der König sich mit einer beinahe heftigen Gebärde von dem Bilde des Schlachtfeldes löst und die Heimfahrt befiehlt.

 

Beinahe wie am Nachmittage vorher ist diese Ankunft vor dem Zuge, vor dem alten, verwahrlosten Obstgarten in Bosmont.

Sechs Uhr – und neunzehn Stunden war man unterwegs.

Ein wenig unsicher und bekniffen, mit Gesichtern, deren Züge bereit sind, sich, ohne vorzugreifen, auf die Stimmung des Allerhöchsten Herren einzustellen, stehen die wartenden Exzellenzen. Auch sie haben die vorliegenden Meldungen begierig eingesehen, und ihr Laienurteil sagt ihnen immerhin, daß danach bisher nicht Ursache zu großem Jubel gegeben ist. Zum mindesten geht's eben doch viel schwerer, als man hoffte.

Aber der König, der den Hofmarschall, den Admiral, das dicke Militärkabinett und seinen jetzt auch herankommenden Zivilchef mit Händedruck begrüßt, scheint mit dem Laufe der Dinge durchaus zufrieden zu sein. Die Fahrt hat ihn erfrischt, die Fülle der wechselnden Bilder neu belebt. Auf den Abend hofft er jetzt, der wird mit seinen letzten Meldungen über den Tag den Ausblick in den Umschwung bringen. Und staubbedeckt, wie er da ist, sprudelt er los, gibt er der hageren, sorgenvollen Exzellenz mit ein paar aufflammenden Sätzen, mit ein paar großen, weitgreifenden Gesten ein Bild des ungeheuren Eindruckes der Feuerschlacht.

Nichts von der Unrast seines Herzens, die unter der Decke dieser scheinbaren Befriedigung zäh weiterbohrt, ist in diesem Augenblicke zu merken. Impuls und kühn schilderndes Fabulieren sind glanzvoll, farbenprächtig über allem.

Nur der Hofmarschall läßt sich davon nicht einfangen und täuschen – geht über dieses Blinken hin, weiß: das ist Form und muß für ihn so sein – damit macht er sich selber wieder stark. Seine dunklen Augen, die wie reife Brombeeren glänzen, läßt er voll Sorge und Bedenklichkeit über die nach und nach anschließenden Herren aus den anderen Wagen flitzen. Über den Generaloberst, den Oberstabsarzt –: Wie kann man nur – wie kann man nur?! Neunzehn Stunden –! Ohne Schlaf – ohne rechte Verpflegung –! – Verantwortlichkeiten fühlt er, sieht die Möglichkeit übler Nachwirkungen – ist eine unglückliche Henne, deren Küken zu weit aus dem Bereiche ihres Schutzes fortgelaufen sind. Voll Vorwurf ist das volle, rote Genießergesicht, der saftige Kopf nickert und wackelt erregt in kleinen Rucken: Nein – derlei dürfte Majestät nicht machen – das muß seiner Gesundheit schaden – da müßte man doch allen Einfluß aufwenden – 

Der Generaloberst, der in den zwei Stunden der Rückfahrt trotz Schleuderns und Stoßens wie ein Stein geschlafen hat und sich wieder leidlich auf der Höhe fühlt, hebt, dem Himmel klagend, den Blick empor und lächelt gottergeben: – Einfluß aufwenden? – wenn Majestät nicht von der Stelle rückt! – Da helf' er sich –!

Und der Hofmarschall gibt sich seufzend und verständnisvoll nickernd zufrieden: Ja – ja –. A qui le dites-vous? Aber immerhin –.

Und da der König in seiner Schilderung für Augenblicke innehält, wagt er eine Bemerkung: Seine Majestät werde sicher gleich baden wollen – und wenn Seine Majestät so befehlen, dann könne schon in einer Stunde zu Abend gegessen werden?

So geht man auseinander, und die zurückgekehrten Herren eilen in ihre Wagen.

Vorhänge werden hinter Fenstern niedergezogen. Burschen zerren an hohen Stiefeln und verstaubten Hosenröhren. Flache, graue Gummitubs stehen voll Wasser. Das große Schrubbern und Umkleiden in allen Abteilen. Die Schlacht? »Witte – zum Deubel! – nu haben Se mir doch wieder die falschen Knöppe in das Hemd gepolkt! Was? Ne – eben nich! Die mit dem Monogramm vom Sultan!«

Und um sieben wartet man wiederum, rasiert und sauber, wie aus dem Ei gepellt, im Speisewagen auf den König und erzählt dabei den Hiergebliebenen mit halber Stimme von dem Erlebten, von den Eindrücken, den Aussichten.

Der Generalstabshauptmann fehlt: Strebt natürlich schon wieder – hängt in der schalldichten Zelle an der Strippe nach Avesnes – oder zieht den Postschweden und Hughesindianern im Telegraphenwagen die weißen Bandwürmer aus dem Leibe – 

Dann kommt der König – ruhig, scheinbar heiter.

Den kleinen, dicken Autooffizier, der rosig-rot, wie überbrüht, und ganz bescheiden in seiner nichtigen Bürgerlichkeit an der Türe steht, stößt er aufmunternd, freundlich lächelnd an: »Gut haben Sie Ihre Sache gemacht, mein lieber Pannemann – ganz famos!« Und dem jungen, einarmigen Feldjägerleutnant, der mit der Kuriermappe aus Berlin ankam und sich jetzt meldet, gibt er die Hand: »Sohn von dem Landrat in Westpreußen?« – »Der Landrat ist mein Onkel, Euer Majestät.« – »Na schön, dann grüßen Sie von mir, wenn Sie ihm schreiben.«

Man sitzt wieder bei Tische, alles ist beinahe so wie sonst.

Nur dieser leise Druck, dies dünne Unbehagen. Halb Abspannung und Müdigkeit – halb Ausweichen und um die Dinge Hingehen und Warten. Als ob da irgendwo ein Kranker läge – 

Der König will dagegen an und redet. Erzählt von Erlebnissen und Vorgängen der hingegangenen Nacht, des absinkenden Tages. Kleine Episoden malt er lebhaft, lebendig schildernd aus: einen Fliegerkampf, hoch über Nauroy, den er mit dem Glase am Auge in allen Einzelheiten beobachten konnte – das Wunder des Marneüberganges bei Dormans unter den rasenden feindlichen Feuern –. Ein unvergängliches Ruhmeswerk der Truppe – beispiellos in der Kriegsgeschichte –!

Voll Interesse hörten die Exzellenzen.

Der Fürst rückt jäh den Kopf. Seine wässerigen Augen glänzen matt, er sagt inspiriert: »Ja – also das mit der Marne, bitte, das wird die Herren in Paris ja ganz besonders giften –«

»Bitte?«

»I mein', Eier Majestät: giften werd'n sie sich, die Franzosen – weil's doch akkurat die Marne is' – no ja?!«

Sachte senkt der Zivilchef seinen kurzsichtigen Blick auf den kleinen Obstteller. Das goldene Meanderornament des Rändchens scheint ihn mit einem Male besonders zu fesseln. Aber er lächelt dabei tief erheitert in sich hinein. Denkt: Und das gibt es wirklich! – 

Manchmal zwischen seinen Worten wirft der König einen Blick nach dem Platze des Generalstabsoffiziers hin. Der Stuhl ist leer. Der Hauptmann nimmt die Abendmeldungen entgegen, ergänzt wohl gleich das Bild der Karte für den Vortrag – 

»Ja – und was alles jetzt drüben schon mit vorgeworfen werden muß! Bei Böhn sind Gefangene aus der dritten amerikanischen und der achten italienischen Division eingebracht. Und auch bei der Armee von Einem sind Amerikaner festgestellt!«

Der Generaloberst, der heute auf der anderen Seite der Tafel neben dem Fürsten sitzt, hascht nach der Stimmung, meint gefällig, während er langsam an den Worten kaut: »Die berühmten Fochschen Reserven werden eben doch nicht so unerschöpflich sein, wie uns die französische Presse glauben machen möchte –«

Der König streift die Asche von der Zigarette: »Bei Below haben die Franzosen schon angefangen, ihre Reserven heranzubringen. Zwei Eingreifdivisionen, die fünfundvierzigste im Reimser Bergwald und die siebenundzwanzigste im Raum von Mourmelon le Grand sind festgestellt – werden wohl auch bald eingesetzt werden. Unsere Leute warten nur darauf – werden es ihnen schon zeigen –!«

Pause. Ein wenig unbehaglich ist ihnen doch allen vor dieser unbedingten Zuversicht. Aber keiner fühlt sich zu einem Einwurfe berufen.

Rauchwolken stäuben. Draußen auf dem anderen Gleise schiebt sich langsam ein Lazarettzug vorbei. Endlos – 

Der König trommelt auf den Tisch, sieht über alle Umwelt fort, geradeaus ins Weite.

Der Admiral klappt mit den Augendeckeln. Wie ein grauer Uhl sieht er aus. Netzt langsam den lippenlosen Mund und rückt unruhig auf seinem Stuhl. Die Papiere zwischen dem Sitze und seiner Körperlichkeit rascheln. Erwägungen wollen Entschlüsse werden und Ausdruck finden. Ob er jetzt Seiner Majestät die neuen U-Boot-Meldungen – –? Seine Rechte tastet vorsichtig in die Tiefe, greift nach den Blättern – ein wenig lüftet er sich – macht sich leicht – 

Aber da tritt soeben der Generalstabsoffizier durch die nach dem Verbindungsgange offene Tür, die mit den Zeilenstreifen der Telegraphenapparate vollgeklebten Bogen, Notizen, Karten in den Händen – 

Steht auch schon dienstlich neben dem Stuhle des Königs.

»Befehlen Euer Majestät die Abendmeldungen von der Kampffront?«

»Bitte –.« Die Züge des Gesichtes sind mit einem Schlage verändert. Gespannt, beinahe durstig –. Und die Hand auf dem Tische zittert ein wenig: Jetzt muß es kommen – muß es sich zeigen – 

Köpfe recken sich vor – starren und horchen. Kaum ein Laut an dem ganzen langen Tische – 

Und die helle Stimme liest: Wieder Armeen um Armeen, Abschnitt um Abschnitt –. Divisionen – Ortschaften – Waldstücke – Höhenzüge – 

Manchmal nickt der König hastig – wirft ein kurz vorgestoßenes Wort dazwischen. Atemlos – rauh – 

Gewiß, man ist unten an der Marne und westlich von Reims da und dort in harten Kämpfen ein wenig weitergekommen – hat die neugewonnene Linie ausgeglichen und verbessert – aber am Ende steht das eine fest: Man liegt jetzt auch in diesen Kampfabschnitten im Ringen um die zweite gegnerische Stellung, in der der Feind in tiefer Gliederung sich wehrt –. Und hier muß die Entscheidung fallen – 

Schweigen. Hart, fahl und knochig wirkt das Angesicht des Königs. Als ob er in Minuten gealtert, abgemagert wäre.

Der Hauptmann sagt: »Die Meldungen der anderen Fronten laufen noch –«

Der König hört es kaum. Er sieht das Bild: Was unser Sturm an Schwung und Stoßkraft in sich trägt, prallt nach dem ersten Vorwärtsfluten gegen einen ungeheuren Wall. Muß sich hier brechen, stumpfreiben, zersplittern, muß seine beste Kraft verlieren, wenn es nicht rasch gelingt, den Widerstand zu überwinden –.

Der letzte Satz aus dem Berichte mit dem »allgemeinen Eindruck« steht wieder vor ihm: Und hier muß die Entscheidung fallen –. Blicklos sieht er ins Weite aus. Auf des Messers Schneide steht alles! Seine Lider schlagen – störend drängt sich das Bild der Menschen, der Köpfe um ihn her in sein Gesicht – und ganz verzerrt, verschoben und gewandelt sehen sie mit einem Male aus: der Uhl – der Hofmarschall, der plötzlich wie ein roter Papagei erscheint – der weiße, greise Falke –. Eine Abwehr gegen ihre Nähe empfindet er – nicht Augen auf sich ruhen fühlen jetzt – alleine sein – 

Er rückt den Kopf, scheucht die Gedanken, will zurück zum Stand der Schlacht.

Er denkt: Und gestern glaubte ich: morgen ist es entschieden. Gestern – vor noch nicht vierundzwanzig Stunden, hier an der gleichen Tafel, vor diesen gleichen Menschen – 

»Die Lagekarte?« Der Hauptmann ist bereit, sie zu entfalten.

»Nein, danke – nachher drüben.«

»Befehlen Euer Majestät noch den Heeresbericht?«

Heeresbericht? Ach ja – den konnte man ja hören.

Er nickt.

Wieder die Stimme: Ein paar geringfügige Vorgänge oben bei Rupprecht, südwestlich von Ypern und an der Lys. Örtliche Schießereien an der Aisne. Ein Leutnant schoß den fünfunddreißigsten Gegner ab. – Schluß.

Und das werden die Menschen in der Heimat heute um diese gleiche Stunde in ihren Abendblättern mehr oder weniger gewohnheitsmäßig, mehr oder weniger gelangweilt lesen – und wissen nichts – nichts – nichts! Und im »Berliner Tageblatt« wird der Name des Leutnants Löwenhaupt fett gedruckt stehen, weil der Herr Redakteur ihn unterstrichen hat: Wer kann sagen – vielleicht ist er doch ein Jude? – Wissen nicht, daß, während sie dann ihr Blatt beiseite schieben, hier – sieben, achthundert Kilometer fern von ihnen, Entscheidungen zum letzten Spruche drängen –. Daß die Würfel über Sein oder Nichtsein vielleicht bereits gefallen sind – daß wieder Tausende und Tausende von ihren Brüdern zerfetzt, zerschmettert im Gelände liegen –

Ein Ahnen von der ungeheuren Kluft, die über alle Räumlichkeit hinaus zwischen dem Schlachtfeld und der Heimat liegt, will an ihn heran, erfüllt ihn mit tiefer Unruhe – 

Nach der Uhr geht sein Blick: Halb neun!

Halb neun – da bin ich gestern mit dem hier und mit dem Grafen über die Wiesen draußen gegangen, und die Unken haben gesungen, und ich habe erzählt –. Was war das nur? Ja – Jugend – aus der Jugend – 

Eng ist es ihm. Als ob die Dinge von allen Seiten drückend, feindlich auf ihn eindrängen – 

»Ja – die Karte – –!« Das ist, als ob er sich besönne. Und zugleich steht er auf, nickt seinen Herren grüßend zu, greift nach der Mütze.

Rücken und Scharren rings.

Dem Hauptmann winkt er, ihm zu folgen, und schreitet durch die Gasse, die sie ehrerbietig vor seinem Wege freigeben, zur Türe und dann die langen, schmalen Seitengänge der vier, fünf Wohnwagen entlang. Durch die großen Scheiben fällt das sinkende Licht, liegt auf den zahllosen gerahmten Photographien und Gedenkbildern, mit denen die Gänge geschmückt sind. Liebhaberaufnahmen – Erinnerungen an glücklichere Tage: an Nordlandreisen auf der ›Hohenzollern‹ – an die Kieler Woche und an die große Regatta in Cowes – an Zusammenkünfte in Donaueschingen und Wilhelmshöhe und Konopischt – an die Saalburg und die Hohkönigsburg – 

Fern, fern liegt alles das – die Dinge und die Menschen –

Auf den Bahndamm gleitet der abirrende Blick des Königs: Ein paar Hofräte aus den Kabinetten – alte, brave, würdige Arbeitstiere, die tagsüber kaum sichtbar in den Zellen sitzen, Akten wälzen, Depeschen dechiffrieren oder in Chiffren setzen, stehen da draußen beieinander, schnappen ein wenig Luft – schütten einander wohl ihr Herz aus über ihre Chefs – oder machen gleichfalls Geschichte nach ihrer Art.

Der König grüßt – 

Wie hell es draußen doch noch ist –. Wie lang die Tage sind –.

Und die Nächte.

 

An seinem Arbeitstische vor der Karte mit den letzten Einzeichnungen sitzt der König.

Der Hauptmann, der inzwischen die weiteren Meldungen erhielt, steht wartend neben dem Sessel.

Die Lampe glüht, das Licht fällt scharf auf die in das bisherige Feindgebiet gemachten blauen Linienzüge, Kurven, Pfeile –

Gewiß, man hat sich unten an der Marne und im Waldgebiet verbessert – in der Champagne aber ist die Mittagslinie nahezu unverändert – 

Auf diesen Abschnitt weist der König hin: »Haben Sie Nachrichten, was hier geschehen soll?«

»Zu Befehl, Euer Majestät: Es wird noch ein Versuch gemacht. Das zwölfte, das erste bayrische und das sechzehnte Armeekorps greifen heute abend noch einmal an. Man wird sehen –.« Nicht sehr hoffnungsvoll klingt das.

Der König nickt: Ja – man wird sehen –. Eine große Abspannung und Mutlosigkeit greift nach ihm. Den Kopf lehnt er zurück und starrt ins Licht – 

Der Hauptmann liest die anderen Meldungen der Westfront: Daß oben bei der achtzehnten Armee nur ein vorübergehendes Artillerieduell aufgesprungen ist – daß wir bei der vierten, südöstlich Loker, Patrouillen abgewiesen haben, daß im Gebiet des Kemmel und im Abschnitt von Bailleul das Feindfeuer besonders heftig war –. So geht das weiter: die sechste, zweite, neunte, siebzehnte Armee, die fünfte, neunzehnte, dazwischen die Armeeabteilungen: von der Seefront oben bis zur Schweizer Grenze – 

Der König hört das – so wie er es täglich hört, an jedem Abend seit so viel Jahren. – Seine Gedanken sind bei dem Raume zwischen der Marne und den Argonnen, der, gemessen an dem Zuge der ganzen Riesenlinie, ein kleiner Abschnitt ist – und der doch jetzt das Herz des Ganzen wurde – 

Worte klappern über ihn hin – Worte –. Ihm ist's, als schlüge einer mit einem stumpfen Hammer auf ihn ein –

Der Hauptmann hat ein neues Blatt in Händen. Die vorlesende Stimme geht weiter über das schmerzhaft müde Sinnen des Königs hin. Soldatisch-sachlich meldend – feststellend – unberührt – 

»Südwestfront: Weitere Angriffe östlich der Brenta scheiterten unter starken Feindverlusten. Östlich des Pertica wird noch gekämpft. In Albanien nichts Neues.«

Über die Stirne tastet die Hand des Königs: Albanien! Hekuba –!

»Obost: Bei Soßnitza sind –«

Er schließt sekundenlang die Augen.

»Mazedonien: keine besonderen Ereignisse. – Scholtz: Östlich des Dobropolje und in Gegend Zborsko feindliche Streifabteilungen abgewiesen. Südlich Gjevgjeli Patrouillengeplänkel. Lebhaftes Artilleriefeuer in der Moglenagegend und östlich des Vardar.«

Feinde, denkt er, Feinde ringsum – daß uns nicht Luft zum Atemholen bleibt! Und zugleich würgt ihn eine Bitterkeit, als ob das alles gegen ihn persönlich ginge, eine böswillige Verschwörung wäre, die mehr noch als das Reich, das Volk ihn treffen sollte, ihn – sein Werk – das Erbe, das ihm anvertraut ist und dafür er seinen Ahnen so wie denen, die nach ihm einst kommen werden, haftet –

Die junge, unbeschwerte Stimme redet weiter: »Türkischer Kriegschauplatz: Bei Heeresgruppe Ost sind etwa dreihundert Armenier an der Front der fünften Infanteriedivision abgewiesen. In Gegend westlich Aßni –«

Der König schüttelt leis den Kopf und hebt die Hand, winkt ab. Nein – das ist unerträglich –! Schluß damit!

Papiere knistern. Einer nimmt die Karte fort, faltet sie ein. Die Stimme fragt: »Haben Euer Majestät noch Befehle?«

Ein wortloses Verneinen.

»Für morgen –?«

»Wir wollen die ersten Meldungen abwarten –. Die Nacht kann manches klären –. Und vielleicht hören Sie dann morgen gleich die Herren in Avesnes.«

»Jawoll, Euer Majestät.«

Eine Sekunde noch. Dann das kurze Klappen, Klingen –. Verbeugung – ab –.

Der König ist allein. Sitzt still, ganz unbewegt, horcht müde diesem Takt der Schritte nach, der in der Ferne absinkt – schweigt – 

Eine schwere Mattigkeit hält ihn nieder. Er denkt: Ist ja kein Wunder nach der durchwachten Nacht – nach dieser Anspannung – diesem Erleben – 

Zu der kleinen Standuhr geht sein Blick: Kaum neun vorüber –. Und jetzt rücken drüben die Herren zu einem Bridge zusammen – oder sie lassen sich einen Schlummerpunsch bringen – 

Sich zwingen – draußen noch ein wenig gehen? Mit wem? Vielleicht mit dem Zivilchef –?

Nur die Hand braucht er nach dem Knopf des Läutwerkes zu strecken, um den alten Schulz zu rufen. Nein –.

Die Akten? Auf dem Stapel gelber Mappen, deren Inhalt wiederum auf sein Visum, seine Namenszeichnung wartet, ruhen seine Augen – und lassen ihn – 

Sich zur Ruhe legen? Schlafen – versuchen einzuschlafen?

Und wieder, wie vorhin im Speisewagen, wird es ihm eng schon bei der Vorstellung, nun wieder eine lange Nacht still in dem kleinen Raum zu liegen – machtlos – verdammt zu einem unsinnigen Warten – während da draußen die Entscheidung schreitet –.

Als eine Abwehr, eine Furcht und Angst vor all den engen, abgeschlossenen Räumen und ihrer Einsamkeit rückt das an ihn heran – 

Feinde, die ihn umgreifen, auf ihn eindringen, ihn fesseln, würgen, sind diese Wände, Engen und Umschlossenheiten.

Zellen und Kerker, in denen man sich wundreibt an den unentrinnbar aufklirrenden Ketten qualvoller Vergangenheiten – in denen man sich zermürbt durch ein unstillbares Bohren und Suchen in eine verhangene Zukunft hinein – 

Man – man –? Nein – er allein!

Wieder sind seine Gedanken bei den anderen drüben – 

Was die auch Hartes tragen mögen, sie haben irgend einen in dem Kreise, der ihnen auf der gleichen Stufe nahesteht – den sie in ihren Nöten suchen können, vor dem sie sich und ihrer Würde nichts vergeben, wenn sie vor ihm das letzte Kleid abwerfen und ihm ihre Wunden zeigen.

Der König starrt über den engen Kreis der Umwelt weg ins Wesenlose, denkt: Ich habe keinen. Und darf keinen haben – 

Denn vor der Schwelle aller letzten Nähe zu den anderen steht für mich eine Schranke aufgerichtet: Ich, der König über dir durch des Allmächtigen Gnade –. Der Eine von Ihm auserwählte, dem Er mit diesem hohen und von Verantwortungen überschweren Amte auch die Kraft verleiht, den rechten Weg zu finden – und zu gehen – und zu führen. Der nichts – der nur ein eitler Narr, ein anmaßender und gewissenloser Abenteurer wäre, wenn er nicht diesen Glauben an Gottes Gnade und das heilige Wissen von seiner Sendung hätte –. Das Wissen, daß der Herr, der über allem in letzter Weisheit lenkend webt und waltet, ihn auserlesen, um durch ihn diese Millionen eines Volkes nach Seinem hohen Willen zu bewegen – 

Das Wort der Schrift aus der Epistel Pauli an die Römer steht als ein Hort und Halt und eine Offenbarung vor dem König: »Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.«

Zu dem Faden seines Sinnens tasten seine Gedanken zurück: – Die Schranken vor den anderen – –. Ich, dem darum kein Recht gegeben ist, vor anderen Menschen meine Leiden, meine Qualen auszubreiten – der in den schwarzen Stunden nur allein in einsamem Gebete, wie Christus im Garten von Gethsemane, vor Ihm in Unterwerfung flehen kann, während die anderen um ihn schlafen: »Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.« – 

Mit einem tiefen Atemzuge hebt der König sich aus dem Sessel. Müde und schwer – 

Gewiß – was auch geschieht: es ist der Finger Gottes und Sein Wille.

Wie er die Tür öffnet, um nach dem Schlafabteile hinüber zu gehen, steht auch der alte Kammerdiener schon bereit.

Wortlos hilft der große, schwere Mann dem König aus den Kleidern. Behutsam, lautlos ist jede Bewegung. Ein stummer, treuer Diener, der nur eines kennt: das Wohl des Herren – 

Dann ist der König wieder allein.

Ein kleines abgegriffenes Buch liegt auf dem Tischchen neben seinem Bette. Das reist mit ihm, wo er auch ist. Vergilbt, zerlesen sind die Blätter – als Junge schon hat er darin gelesen. Am Tage der Konfirmation hat es der hochselige Großvater in seine Hand gelegt: Das halte heilig – daraus hole dir die rechte Demut in frohen und in schweren Tagen –. Darin steht alles, was das Menschenherz an Trost und an Erhebung braucht.

Er greift nach diesem Büchlein, schlägt es auf, wie es gerade klafft, und liest.

Minuten nur. Aber ein jedes Wort, ein jeder Satz grüßt ihn dabei als Freund. Eine entrückte Ruhe gießt sich aus dieser milden Dulderweisheit in seine Müdigkeit.

Kaum daß er noch die Augen offen halten kann.

Er legt das kleine Buch beiseite, löscht das Licht und läßt die Lider sinken.

Der Schlaf fällt bleischwer über ihn herein, nimmt ihn für Stunden fort.

 

Einmal, ganz plötzlich, fährt er schreckhaft auf.

Da steht er vor ihm, grinst ihn aus den alten, wässerig-glotzigen Fischaugen mit bösartig verquollenem Lächeln an. Den Kugelbauch über den kurzen Beinen reckt er lässig vor – ist dabei jugendlich stutzerhaft in den silbergrauen Cut gezwängt – unstimmig zu der aufgeschwemmten, untersetzten Gestalt des bald Siebzigjährigen –

Onkel Bertie – 

Wie ein Hammer schlägt das Herz des Königs. Und ein paar Augenblicke muß er sich auf seine Umwelt erst besinnen – sich zurechtfinden – 

Nacht ist es – dunkel rings: Ein Traum – 

Halb aufgerichtet, auf den Ellbogen aufgestützt, lauscht er um sich, in sich hinein – tastet er über die leichte Decke hin –

Onkel Bertie – und genau so, wie er ihn bei den letzten Zusammentreffen immer sah – in Wilhelmshöhe und in Homburg – – 

Und dann mit einem Male fällt ihm ein: Ja – dieses Bild – die Aufnahme, die in einem von den zahllosen kleinen Rähmchen im Laufgange der Wagen hängt –. Das hatte er doch gestern abend noch, als er von drüben, von der Tafel kam, so im Durchgehen angesehen – nein: darüber hinweggesehen hatte er – und das war nun in seinen Traum verflochten –.

Ganz deutlich sieht er es jetzt: In Kronberg damals, im Sommer neunzehnhundertacht war es aufgenommen – und schmatzend, satt von überlegen höhnender Freude und gleißnerischer Freundlichkeit war der alte, hinterhältig glatte Lügner – und hatte zwei Monate vorher in aller Heimlichkeit mit Hilfe seines Hardinge und dieses Schuftes Iswolski den Nicky in Reval zum Abschlusse der Triple-Entente herumgekriegt und breitgeschlagen –. Den armen Nicky, der ihn doch bis dahin stets als den Erzintriganten und Unheilstifter von Europa richtig erkannt hatte – und der damit seinen Verführerkünsten verfallen war – 

Immer noch in dem heißen Pulsen der Erregung muß er denken: Ihm, ihm, der schuld an allem Elend, an allem Unglück ist –! Der mich mit seinem Haß verfolgt, der mir, wo er nur konnte, Übles nachgeredet und Steine in den Weg geworfen hat – durch über zwanzig Jahre lang –!

Als eine rote Welle steigt es ihm in der Brust empor. Eine jähe Hitze fühlt er – würgt an Zorn, Scham und Bitterkeit, wie sich all dieses heimliche, verdeckte Ringen mit dem Onkel wieder vor ihn hinschiebt, daß er es sehen muß, es nicht verdrängen und nicht von sich schieben kann. Dabei stellt sich seinem betonten Selbstgefühle aller Kern dieser Gegnerschaft als rein persönlicher Konflikt vor Augen.

Englische Politik –? Der standen wir niemals im Lichte! – Wirtschaftskampf –? Machtbalance –? Alles Unsinn! Und über derlei hätte man sich leicht verständigt – 

Gehaßt hat er mich! Und hat sich darin gesielt, mir seine Widerstände überall zu zeigen – 

Und so war er, solange er noch Prince of Wales gewesen ist – und so war er später als King –. Nie, nie hat er vergessen. Nie hat er mir verzeihen können, daß ich mit frischer Kraft an meinem Werke, an meinem Ruhme schaffen konnte, daß ich mein Reich auf eine stolze Weltmachtshöhe führte – während er, als der so viel Ältere, hinter der greisen Queen beiseite stehen mußte – während er seinen Ruf in den Pariser Kabaretts und in den Brüsseler Kasinos und Bars vermehrte –!

Zurück auf das Kissen läßt der König sich sinken und sieht die bitteren Jahre vorüberziehen, in denen der fette alte Mann in geschäftig-betriebsamem Bemühen – als wäre dieses böse Spiel der beste Inhalt seines späten giftigen Lebens – Masche um Masche an dem Netz der Einkreisung und Isolierung knüpft. Wie er lockt, schmeichelt, droht – bis er sie zu sich zieht – einen nach dem anderen – alle. Alle gegen Deutschland – gegen ihn und sein Werk – 

Still liegt er, starrt, während er von diesen Bildern der Vergangenheit gehalten wird, über sich hin in das Dunkel – 

Er denkt: Und das der Bruder meiner Mutter – Blut von meinem Blute –!

Ein Wort fällt ihm ein – ein Wort, das er vorzeiten selbst gerne gebrauchte: Blood is thicker than water! Er schüttelt hastig den Kopf: Nein – das gilt nicht für den! Bei ihm war der Haß stärker als das Blut! – 

Und da spürt er – spürt er beinahe körperlich – wie eine Gedankenbahn, der er vor Tagen erst – erst gestern, nein vorgestern abend! – nachgegangen, sich durchbricht, in den Weg seines bitteren Grübelns und Erinnerns gießt – und eines mit dem Zuge dieses Sinnens wird – 

Heißer pocht ihm wieder das Blut – er muß mit leerer Kehle schlucken in der Erregung der Erkenntnis: Ist es denn nicht dasselbe wie bei meiner Mutter, seiner Schwester, – wie bei meinem Vater?! Mißgünstiger Neid und Haß der Mutter hier, die warten, warten, warten muß – die den Thron gierig und in ungestilltem Ehrgeiz durch fünfundzwanzig Jahre ersehnt – und alternd für drei Monate erreicht. Und Neid und Haß ihres Bruders dort, der als Fünfzig- und Sechzigjähriger noch Prince of Wales ist und mir, seinem Neffen, nicht verzeihen kann, daß ich so jung und mit noch unverbrauchtem Schaffensmut erreiche, was für seine Ungeduld so lang verschlossen ist –! Was er am Ende nur für wenig Jahre als ein verbrauchter, alter Mann gewinnt – als ein bösartiger Greis – der schaffend nicht mehr wirken kann und seine letzten Kräfte so in hämischem Verneinen, in mephistophelischem Zerstören und Zugrunderichten einsetzt –!

Unbewegt liegt der König, ringt nach Ruhe, will fort von diesen fiebrig aufrührenden Gedanken, fort von der Qual all dieser wirr in ihm aufgestöberten Vergangenheiten.

Schlafen – noch ein paar Stunden schlafen! Der neue Tag morgen wird Kräfte brauchen – – 

Die Augen schließt er, will sich zwingen, all diese Bilder abzuweisen, an nichts zu denken!

Und hört dann, wie er so liegt, mit einem Male durch die schwere, dumpf lastende Stille ein dünnes Ticken – Pochen – Hämmern. Wie von ganz ferne –.

Gleich Tropfen, die hart niederfallen – einer zum anderen – einer zum anderen.

Und er weiß: aus dem Telegraphenwagen da nebenan kommt das – von den Fernschreibapparaten rinnt es – die weißen Tasten, die Spulen mit den unendlichen Papierbändern sind es, zu denen durch die Drähte die Stimmen der Schlacht reden. Tropfen, die zu Buchstaben, zu Worten, zu Sätzen werden. Zu Hoffnungen, zu Zweifeln – zur Entscheidung.

Lang horcht er diesem fernen dünnen Takte nach, kämpft mit dem Drang, sich zu erheben, hinzugehen und zu lesen – und weiß zugleich, daß dieser Kampf doch nur ein Spiel der aufgeregten Nerven ist – daß er jetzt diese Ungewißheit halten und nicht hingeben möchte gegen jenes Wissen, das vielleicht gut – und vielleicht böse ist – 

Müder wird sein Sinnen, ferner das Ticken – Pochen – Hämmern – 

Bis der Schlaf sich dann wieder auf ihn senkt.

 

Gleich morgens vor dem Frühstück, wie er den ersten Blick des in das Arbeitsabteil befohlenen Generalstabsoffiziers auffängt und noch ehe der seine Papiere vorgenommen oder ein Wort gesprochen hat, weiß der König, daß der Hauptmann nichts Gutes bringt.

Ernst, wortlos auf die Karte niederstarrend, hört er die Meldungen.

Die großen Angriffe, die unter starkem Einsatz noch gestern abend und bis in die Nacht hinein dem Druck des linken Flügels neuen Vortrieb geben und den Frontabschnitt in der Champagne wiederum in Bewegung bringen sollten, sind gescheitert. Man hat schwere Verluste erlitten und sitzt vor dieser starken zweiten Stellung fest – erreicht ist nichts. – Südlich der Marne und südwestlich Reims hat sich der Gegner in starkem Feuerkampfe und in Bombenangriffen namentlich gegen unsere Marnebrücken ausgetobt. Neue Erfolge von Bedeutung sind auch hier nicht zu verzeichnen.

Nur das dünne Ticken der kleinen goldenen Schreibtischuhr lebt durch Sekunden in dem Raume.

Der König rückt den Kopf: »Na – schön ist anders –!« Gepreßt, wie unter Lasten vorgestoßen, klingt die Stimme.

»Jawoll, Euer Majestät.«

Er denkt: Also wie mir der Kronprinz gestern sagte: Festgefahren –! Das junge, bedrückt in die Ferne ausschauende Gesicht des Sohnes sieht er wieder, dem doch so lange schon der rechte Glaube an den Waffensieg verloren ging, hört wieder dieses eine Wort: Verdun –. Festgefahren –! Und nun –? Und nun?!

Ihm ist's, als täte sich da jäh ein bodenloser Abgrund vor ihm auf – als wollten finstere Kräfte nach ihm greifen –. Mit Gewalt macht er sich frei – 

»Sie haben in Avesnes angerufen?«

»Zu Befehl, Euer Majestät. Vor einer halben Stunde –. Der Herr Generalquartiermeister will erst noch einmal den Chef der Heeresgruppe und die Chefs der kämpfenden Armeen sprechen und ihre Meinung hören. Dann will er noch heute vormittag mit dem Generalfeldmarschall beraten, ob auf Grund der gegebenen Lage der Angriffsplan in seiner ursprünglichen Gestalt aufrecht erhalten werden kann, oder ob eine Anpassung an die Umstände geboten erscheint –«

Der König rührt sich nicht. Nur die Lippen zieht er ein wenig hoch zu einem dünnen, bitteren Lächeln. Sagt dann nach einer Weile mit einer ihm sonst fremden, trockenen Gereiztheit: »– Anpassung an die Umstände – klingt ja harmlos genug! Ich renne mit dem Schädel gegen eine Wand – und überlege dann, ob ich mich den Umständen anpassen soll –! Oder ist es nicht so –?«

Schweigen.

Peinlich berührt, beengt, beklommen steht der junge Offizier – als ob sich der König da etwas vergäbe. Seine soldatische Disziplin, seine Verehrung für die beiden großen Führer in Avesnes recken sich auf – er möchte etwas sagen und weiß doch, daß ihm hier kein Recht zu einem Einwande gegeben ist. Aber so, wie Seine Majestät die Dinge da vergleicht – so einfach liegen sie doch nicht – 

Der König überlegt indessen: Hinüberfahren? Die Herren hören? Sich klipp und klar Bescheid erbitten?

Abwehr spürt er wieder: Aus seinem Stolz – aus seiner Würde – aus einer dunklen Angst, an die er gar nicht rühren will – 

Er fragt: »Was schlägt mir der General für heute vor?«

Der Hauptmann rückt sich wieder dienstlich auf: »Ich habe den Eins-A gesprochen – der ist ja voll im Bilde – der General selbst hing soeben an der Verbindung mit Charleville. Er meint, die Herren hätten angenommen, daß Euer Majestät noch einmal auf die Ménilwarte fahren würden. Sie würden jedenfalls die Meldungen dorthin geben – falls Euer Majestät nicht anderes befehlen. Die Warte sei der Punkt, von dem aus man im Bereiche des feuersicheren Gebietes immerhin den besten Blick –«

Ein jähes Aufflattern der Hand – der Hauptmann schweigt.

Und der König quält sich indessen in innerem Kampfe – lehnt sich verletzt und zornig auf gegen die Ausgeschlossenheit, gegen das Fortgeschobenwerden –. Dünkel spürt er dort drüben – Vernachlässigung der pflichtschuldigen Form – Mangel an Takt gegen ihn, den König, den Obersten Kriegsherren –. Als ob er ein Statist wäre – ein Figurant – oder ein Zuschauer –!

Also wieder Loge –! Proszeniumsloge im feuersicheren Gebiete. Als ob er je nach Gefahr oder Feuersicherheit gefragt hätte! Die Herren mögen doch die Sorge ganz beiseite lassen. Nein – auf gut deutsch heißt das: Bleib du uns nur jetzt aus dem Wege! Zelle in deinem Zuge in Bosmont oder Freiluftzelle im Wald bei Ménil-Lépinois, drei Meter im Geviert und fünfundzwanzig Meter hoch über der Erde! Da bist du sicher und da störst du nicht. Auch gut – 

»Schön –!« Wie einen kurzen heiseren Schrei stößt er das vor. »Wir fahren also nach dem Frühstück.« – – 


Eine Stunde später sausen die grauen Wagen wieder los.

 

Endlos erscheint dem König heute diese Fahrt.

Die Sonne glüht dumpf lastend nieder, die Straßen sind in dicke Staubwolken gehüllt. Als fader Brei klebt sich der Kreidekalk in Mund und Nase fest, verpudert die Gesichter zu toten, starren Larven.

Braungrau verkrustet schmachten die starren Bäume an den Wegen. Als ob sie längst erstickt, erstorben wären unter dieser Decke. Elend, in letzter willenlos gewordener Ermattung – hinsterbend unter dem Fußtritt der unerbittlich harten Zeit – die langgezogenen Dörfer und die Menschen – 

Kein Trost, kein Lichtpunkt, keine Aussicht, die sich seiner tief bedrückten Seele öffnen mag. Und uferlos, wie in den guten Stunden der Ausblick in die Möglichkeiten des Erfolges, jetzt diese dunklen Sorgen, Ängste, Qualen – 

Ein einziger Gedanke schwelt und bohrt in ihm: Was wird? Was soll nun werden –?!

Und keine Antwort findet er – spürt mit verbissenen Zähnen seine Ohnmacht, hervorzutreten, einzugreifen, aus eigener Kraft das Schicksal zu zwingen – 

König –! Er starrt ins Grau, er denkt: Wenn sie doch wüßten –! Diese Millionen draußen in den Gräben und die Millionen in der Heimat, denen das Wort als Inbegriff und Summe aller Macht erscheint – –. Und er hebt, während er in Bedrängnis schier versinkt, mechanisch seine Rechte immer wieder – nickt – und grüßt – und winkt –: Sanitätswagen – wie aus grauem Dreck gezogen – Bahren, auf denen unter Mänteln, unter Decken unförmige Gestalten ruhen – Ärzte und Krankenschwestern. Ein Lazarett – 

Kaum daß das Bild durch dieses bleischwer lastende Grübeln und Suchen ihm voll zum Bewußtsein kommt.

Was wird? Was soll nun werden?!

Aber nach außen dabei immer, als ein Kleid, das er, ohne es mehr zu spüren, ganz selbstverständlich über seinem Elend vor fremden Augen um die Schultern trägt: die zusammengenommene, soldatisch-kühne Haltung, die Maske der Sicherheit und Zuversicht. Das eherne Gesicht, die Hand, die königlich bis an den grau bezogenen Helm aufflattert, grüßt – grüßt – grüßt –. – 

Dann endlich – gegen elf Uhr ist es – wieder der Wald, aus dem das Gerüste des Turmes spindeldünn in den Himmel sticht.

Hemmungen muß er überwinden, wie er aus dem Wagen steigt, den Dunst von eingeschlossener Luft, von Moder, Harz und Unrat wieder atmet: Was werden diese Stunden bringen?! Und in der vorvergangenen Nacht, wie anders war das da, als ich hier ankam –

Ein Rittmeister – Landwehrkavallerist – meldet sich alleruntertänigst: stinkfein und wie aus dem Friseurladen – die glatte käsige Visage reichlich verbraucht – dafür Lackstiebel und eingesticktes Johanniterkreuz über dem Herzen. Herr von Sowieso –. Zum Dienste für Seine Majestät vom Stabe der Armee befohlen.

Na, schön –. Er hört kaum hin, hat nur den Eindruck: Seltsames Gewächs – 

Anstieg und wieder oben. Abneigung, Widerwillen hemmend vor jedem Schritt.

Alles so wie gestern – nur schwüler, dunstiger, verhangener.

Da liegt die Karte wieder auf dem kleinen Tische – da steht das Scherenfernrohr – und da rückwärts um die Lattenbank richten sich auch die Herren wieder ein –.

Bis in den Hals steht ihm die Bitterkeit: Jetzt sitzen sie wohl in Avesnes bei ihrer hochweisen Beratung – zerbrechen sich die Köpfe, wie man die Karre wieder aus dem Drecke kriegen könnte –. Oder sie haben sich schon wieder zu einem neuen unfehlbar wirkenden Rezept und Wundermittel entschlossen.

Er beißt die Zähne aufeinander: Und so – so! – sieht der Anteil aus, den ich, der König, der Oberste Kriegsherr an diesen Dingen habe – den sie mir daran lassen!

Man hat die Freundlichkeit, mich von diesen Entschließungen gelegentlich zu verständigen – oder auch nicht – 

Seine Rechte umspannt krampfhaft die Stange des Geländers, daß sie sich knirschend biegt.

Er starrt hinaus –. Da schießt es wieder – ballert bald hier, bald dort ohne rechten Zusammenhang – mit halben Kräften – lustlos – aus einer sich bedrückt bescheidenden Ermattung – Wozu auch? Zu machen ist die Sache nicht – – 

Jeden kleinsten Fleck der Sicht kennt er – kennt er auswendig – zum Überdruß – zum Ekel!

Ringt dabei in dem Starren auf das durch alle Schauer letzter Höllengrauen gezerrte Land gegen dieses entsetzliche Erkennen an, das immer wieder an ihn herandrängt, sich unentfliehbar an ihn heftet: Und da – da liegen sie jetzt in dem Schutt und Schlamm, in diesen aufgefetzten Trichtern, Gräben, Schrunden – liegen mit aufgerissenen Leibern und zermalmten Gliedern – glotzen mit glasigen, gebrochenen Augen in die Sonnenglut – Tausende – Tausende – für nichts! Für nichts – 

Und sind in meinem Namen und auf meinen Ruf in ihren Tod gegangen – 

Fort – fort aus diesen marternden Bildern will er. Tastet nach Auswegen auf andere Felder – und wird immer wieder umstrickt und festgehalten. Zugleich empfindet er in dieser unerträglich schweren Last der Stunde die Nähe all der Menschen um ihn als eine neue Qual. Als ob er ihren neugierigen Blicken nackt preisgegeben wäre – 

Den feinen Landwehrkavalleristen spürt er mit beinahe körperlichem Unbehagen ganz nahe hinter sich.

Er zuckt die Schultern, fragt ungnädig, nur mit einer halben Wendung seines Kopfes: »Wo ist denn der Herr, der mir gestern – –? Der Hauptmann –?«

Die tadellos behandschuhte Hand fliegt an den Helmrand: »Der Kamerad hat sich noch gestern abend zu seinem Truppenteil gemeldet, der als Stoßdivision eingesetzt ist –. Er ist heute früh an die Front abgegangen, Euer Majestät.«

»So –. Tüchtiger Mann!«

Der Höchst-Patente steht noch eine Weile, den Ellbogen eckig ausgerichtet, die Hand erhoben – wartet.

Läßt dann den Arm wiederum sinken: Majestät scheint zurzeit keine weiteren Befehle für ihn zu haben.

Drückend wird dieses Schweigen.

Ganz unvermittelt fragt der König den Generalstabsoffizier: »Wollten eigentlich die Herren hier anrufen – oder sollten Sie unsere Ankunft melden?« Trocken klingt diese Frage, aber alle Verletztheit seiner Würde liegt in dem kühlen, zurückhaltenden Klang der Stimme.

Da geht der junge Offizier hinunter.

Jetzt also wird man hören – 

Bleich, angespannt, nervös in jedem Blick, in jeder Bewegung ist der König. Von einer inneren Unruhe, die er mit allem Willen kaum niederhalten und verbergen kann.

Draußen im Osten, fern am Horizont, der von gelb flimmernden Dunstwolken überbrütet ist, geht eine große Mine schwarz und qualmig hoch.

Der König sagt, und weist mit seinem Kinn hinaus: »Dort in der Gegend von Tahure scheint doch wieder etwas im Gange zu sein –«

Der Johanniter steht mit vorgebeugtem Haupt, die Hand am Helme: »Zu Befehl, Euer Majestät –«

»Oder ist es nicht eher der Py-Grund? Vielleicht Somme-Py –?«

»Zu Befehl, Euer Majestät. Es wird wohl Somme-Py sein.«

»Oder St. Marie-Py?«

»Gewiß, Euer Majestät – ich habe auch den Eindruck jetzt – es muß St. Marie-Py sein!«

Langsam sieht sich der König über die Schulter um, hält den anderen für Sekunden fest mit fremden, ablehnenden Augen. Rührt dann den Kopf ein wenig, fragt: » Do you see yonder cloud that's almost in shape of a camel?« Und da der Rittmeister ihn unverstehend und mit törichtem Fragen in den Zügen anblickt, frostig verabschiedend: »Ich danke – ich brauche Sie nicht mehr.«

Schritte, die unsicher von ihm gehen, hört er. Jetzt holt sich dieser Herr wohl Rat beim Generaloberst – 

Er starrt ins Weite, denkt: Wie einen Narren, dem man nicht widersprechen darf, dem man zu Willen redet –! Zorn ist in ihm, Erbitterung. Und das Gespräch zwischen dem Prinzen Hamlet und dem Polonius steht wieder vor ihm:

»Seht Ihr die Wolke dort, beinahe wie ein Kamel sieht sie aus?«
»Bei Gott, sie sieht wahrhaftig aus wie ein Kamel!«
»Nein – eigentlich doch mehr wie ein Wiesel.«
»Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel –«
»Oder wie ein Walfisch –?«
»Ganz wie ein Walfisch!«

Strichschmal sind seine aufeinander gepreßten Lippen: Und das wagen sie mit mir –!

Den vorsichtigen Schritt des Generalobersten hört er hinter sich näherkommen. Dann Stille – und nach einer Weile ein leises, behutsam erinnerndes Säbelklirren – 

Er sieht nicht um. Er schüttelt nur brüsk ablehnend den Kopf. Verächtlich sind sie ihm in diesem Augenblicke alle. Ruhe – Ruhe vor ihnen!

Und vorsichtig, von einem Bein aufs andere knickend, zieht sich der greise Generaladjutant wieder zurück, hebt, wie die Blicke der anderen Herren ihn jetzt treffen, nur beschwichtigend und bedrückt die Schultern an. Das sagt: Nein – da ist nichts zu wollen jetzt –. Den Rittmeister, der immer noch ganz ratlos und bekniffen über den englischen Satz hingrübelt, von dessen Sinn er keine Ahnung hat, schickt er mit ein paar allgemeinen Worten und mit kalt bohrenden Augen nach Hause. Und der hatte doch schon von einer hohen Kriegsauszeichnung für seine Dienste geträumt. Vielleicht den ›Hohenzollern‹ –?

Als eine graue, unsichtbare Last liegt es drückend auf all den Männern. Für sie sind das Gesicht, das Wort, die Geste ihres königlichen Herren der Zeiger für den Stand und Bestand ihrer Welt. Und so wie heute war er in den schwersten Tagen dieser Jahre kaum –. Jetzt ist das Ahnen dunklen Mißgeschickes, das Wittern schicksalsharter Wendungen um sie. Ein Fehlschlag nur wie irgend einer? Nein – das alles stinkt nach Niedergang und nach dem bitteren Ende – 

Der lange Gardedukorps ist einfach wütend. Denkt schlicht: Gottlose Schweinerei – die ganze Chose!

Der Graf nickt still und sinnend zu den zierlichen Betrachtungen über buddhistische Weltanschauung, die der Oberstabsarzt leise und feinschmeckerisch in geschliffenen Sätzen gibt: Der beste Kern, das tiefste Wesen alles dessen, was besteht, ist das Nichts. Aus Nichts und durch Nichts ist das Sein geworden, und zu Nichts muß es wieder werden, so wie es Nichts gewesen ist von Anbeginn –

Trocken-glühend flimmert die Luft, träge und dumpf verdröhnt das ferne Schießen.

Wie lange der Hauptmann bleibt – 

Die Rechte des Königs trommelt auf dem Geländer.

Natürlich, ja: die Herren in Avesnes haben es nicht so eilig. Warum denn auch? Er hat ja Zeit – er kann ja warten!

Und mehr und mehr würgt ihn die Bitterkeit gegen die beiden. An den langen ersten Kriegskanzler muß er denken, an den verflossenen Chef des Militärkabinettes – den Vorgänger des Dicken – an den früheren Zivilchef – an den Admiral –. Alle haben sie immer davor gewarnt, den beiden allzu große Macht zu geben –. Alle haben sie sich immer gegen diese allzu weit greifenden Pläne gestellt, die alles aufs Spiel setzten – die das Maß der eigenen Kräfte und Möglichkeiten in allzu kühnem Glauben an den Sieg der guten Sache überschätzten –. Und er war zwischen diese gegnerischen Gruppen gestellt gewesen – von den Parteigängern hüben und drüben immer wieder beredet und umworben – und hatte nach hartem inneren Widerstreit am Ende denen vertraut, bei denen damals der Glaube, das Vertrauen des ganzen Reiches war: dem Generalfeldmarschall – dem General – – 

Ein Scharren, Rühren neben ihm – da schreckt er auf: der Hauptmann – 

Ernst, bleich von innerer Erschütterung das junge Gesicht, aus dem die Augen fiebernd flimmern. Ein Klappen, als ob ihm die Zähne aneinander schlügen – und die Papiere mit den eiligen Notizen rascheln in den erregt hinfingernden Händen.

Nur das Kinn hebt der König auffordernd vor.

Und mit auf die weißen Blätter gesenkten Augen berichtet der Hauptmann. Verhalten, leise kommen seine Worte, würgt seine Stimme – nichts von der Meldung darf über den König weg zu den anderen dringen – 

»Ich habe den Herrn Generalquartiermeister selbst gesprochen, Euer Majestät. Er teilt über die soeben beendigte Beratung das folgende mit: Die Oberste Heeresleitung steht vor der Tatsache, daß die Versuche, in der Champagne wieder in Bewegung zu kommen, keinen Erfolg gefunden haben. So ergibt sich die Frage, ob sie mit den ohnehin nicht tief gegliederten und stark ermüdeten Truppen noch einmal eine Entscheidung suchen soll – was zweifellos und unter allen Umständen weitere sehr große Opfer kosten würde – oder ob sie den Angriffskampf hier abbrechen und zur Verteidigung der bisher erreichten Stellungsverbesserung übergehen soll. Da sie für den ersten Fall den leider schon schwer mitgenommenen Kampfdivisionen kaum mehr die Kraft beimessen kann, einen etwaigen Erfolg auch voll auszunützen, entscheidet sie sich dahin, noch heute mittag den Angriff bei der ersten und dritten Armee einzustellen, die ermüdeten Angriffsdivisionen herauszuziehen und die beiden Armeen von Einem und von Below für den Abwehrkampf zu gliedern –«

Der Hauptmann schweigt sekundenlang.

Der König nickt. Als ob ein Krampf ihm das Haupt schüttelte –. Die Muskeln seiner Schläfen, seiner Wangen zucken, flattern. Die Lippen klaffen auf – aber das gibt nur einen rauhen Laut – 

Vorbei! denkt er, gescheitert und vorbei! Denn was nach diesem Ausfall von dem ganzen Unternehmen noch verbleibt, ist Stückwerk, sinnlos, und ein Nichts, gemessen an dem Ziel, um das es ging – 

Die von der Schwere dieser Stunde durchzitterte Stimme des jungen Offiziers redet wieder: »– – hiergegen soll der Angriff südlich der Marne und im Reimser Berggelände weiter durchgeführt werden –«

Durch die Luft hin flattert die Hand des Königs in einer abtuenden Geste.

Wozu? Wozu?! Um gegen noch einmal zehntausend Tote wiederum ein paar Kilometer dieses verfluchten Bodens zu gewinnen? Und sich dann auch hier zur Verteidigung der Stellungsverbesserung zu gliedern? – Ist alles das nicht ein Wahnsinn?! Zu Ende wollte man doch kommen! Den Frieden wollte man erzwingen mit allen letzten Kräften –!

Ins Weite starrt er, in den bräunlich-rot geballten Dunst der Ferne – hört das dumpfe, donnernde Rollen – das Gurgeln der Flieger da oben irgendwo – das Hämmern der Maschinengewehre –

Worte stürmen auf ihn ein: ›Die Oberste Heeresleitung steht vor der Tatsache – – und es ergibt sich so die Frage – –.‹ Unpersönlich, kalt, anteillos erscheint ihm alles das: als ob die Männer, in deren Händen sein und des Reiches Schicksal liegt, ihn jetzt, da alles wankt und stürzen will, im Stiche ließen und sich hinter den steinernen Masken dieser Formeln verschanzten – 

Er stößt hervor: »Der General – hat er denn nicht gesagt, daß er mir auf Grund dieser neuen Lage Vortrag halten will –?!«

Ein Knistern von Papierblättern in unruhvollen Händen – und dann die Antwort: »N – ein, Euer Majestät –. Der Herr Generalquartiermeister hat nur befohlen, Euer Majestät zu melden, daß er im Laufe des Abends noch einmal einen Bericht über die Lage südlich der Marne, die sich sehr hart zu gestalten droht, geben werde –«

»Auch das noch –!«

Mit beiden Händen faßt der König die Stange des Geländers an, starrt, grau vor innerem Aufruhr, steinern, unbewegt ins Wesenlose!

Auch das noch –! Und vor jetzt zwei vollen Tagen – vor achtundvierzig Stunden – hat er den Mann zuletzt gesprochen –. Mit Hoffnungen und Sicherheiten hat der ihn dabei beladen –. Als ob er diese harte, trockene Stimme wieder hörte: ›Die Armee von Below drückt nach Süden, schwenkt dann nach Westen ein und reicht, im Zug der Marne hinunterdrückend, den ihr entgegenkommenden Truppen der Armee von Böhn die Hand. Die Armee von Einem drängt nach Süden – –‹. Und jetzt?! Vorbei –! Eine Welt ist umgeschwungen in diesen beiden Tagen – was man schon fest zu halten glaubte, liegt zerstampft in Trümmern –. Und dabei hält der Mann in seinem starren Dünkel es nicht für nötig, nicht der Mühe wert, zu mir zu kommen – mich zu sich zu bitten!

Die Zähne beißt er aufeinander: Jetzt freie Hand haben – und es ihnen allen zeigen können! Dunkle phantastische Bilder schieben sich vor ihn hin – wollen ihn mit sich führen –. Er schüttelt sie von sich – 

Eine Stimme irgendwo an seiner Seite fragt: »Haben Euer Majestät Befehle für mich?«

Nur den Kopf rührt er kaum merklich: Nein. Löst seinen starren Blick nicht aus der wesenlosen Ferne, kann sich nicht aus der wirren Mühle seiner fiebernden Gedanken reißen.

Als ob das gar nicht Wahrheit und ein wirkliches Erleben wäre – 

Denn hier – hier an der gleichen Stelle hat er doch voll von Glauben und von Zuversicht inmitten dieses ungeheuren Feuerschauers der Schlacht gestanden. Hat er, erschüttert, aufgerührt bis in die letzten Tiefen wie noch nie, in demütiger Inbrunst alle Kräfte seiner Brust flehend zu Ihm emporgehoben: Herr – Herr – laß es gelingen!

Wie lange er so steht – er weiß es nicht – 

Der Generalstabsoffizier ist längst schon zu den anderen zurückgetreten.

Verlassen liegt der kleine Kartentisch, leer, tot glotzen die zwei spinnendürr ausgereckten Stielaugen des Scherenfernrohrs ins Ziellos-Weite. Unsinnig ist das alles – ohne Zweck. Steht nur noch da auf Abbruch als ein Rest aus Stunden, deren Inhalt versunken und hinweggewischt ist – 

Still ist es auf der kleinen Plattform, deren Holzwerk in der mitleidlos aufprallenden Sonnenglut dörrt und knistert. Keiner der Herren redet. Scheu und behutsam jede Bewegung. Nur die Blicke treffen sich in verhaltener, sorgenschwerer Zwiesprache. Das graue, drohende Gespenst hockt zwischen ihnen, rührt an die Ewig-Forschen, Hochmütigen, Siegessicheren, faßt nach den anderen, die immer schon im Schatten ahnender Befürchtungen durch diese Tage gingen, weckt Fragen nach den letzten Folgen dieses nur in seinen großen Umrissen erfaßten Unheils auf: Was wird denn jetzt –? Wie soll das enden?!

Wie ein Bild aus Stein, unbewegt steht der König vorne an der Rampe. Würgt an dem Unbegreiflichen des Schicksalsschlages – tastet suchend nach Erlösungen und Wegen – und streicht wie ein gefangenes Tier doch immer nur am Gitterwerk der Eisenstäbe hin –. Durch Stunden – 

 

Und wie ein Schlafwandler durch einen wüsten Traum, so taumelt er durch den Rest des Tages.

Fort – fort von hier!

Eine Flucht ist dieser Aufbruch.

Nach Rethel sausen die Wagen durch den grauen Staub.

Ganz plötzlich hat er den Entschluß gefunden. Einen Menschen braucht er – einen Menschen, mit dem er reden, von dem er hören kann. Nicht diese beiden in Avesnes, die ihn in dieser Stunde einsam lassen. Einen, vor dem er sich's vom Herzen stoßen will, der ihn verstehen muß – 

Und dieser eine steht im Geiste jäh vor ihm: der alte, immer wieder in Treue bewährte Soldat – der Führer der ersten Armee –. Nach Rethel!

Sein Kommen ist ein Überfall – bringt Unruhe und Wirbel.

Und dann geht er ganz allein neben dem kleinen, dürren General mit dem breitbackigen, verknautschten Altweibergesicht in dem wildverwitterten Garten hinter dem Hause auf und nieder – auf und nieder – 

Eine Befreiung –! Seine Hände flattern im drängenden Fieber der vorgestoßenen Sätze, die Worte überstürzen sich, werfen Bitterkeiten aus – ratlose Sorgen – stoßen zornige Anklagen von sich – Vorwürfe –

Der andere hört und schweigt. Die von Alter, Luft und Sonne rotbraun gegerbten Züge bleiben unbewegt. Nur der zahnlose, verschrumpfte Mund öffnet sich manchmal ein wenig, schnappt gleichsam Luft, klappt wieder ineinander. Die Arme auf dem unter unsichtbaren Lasten rund gewordenen Rücken, stapft der General ein wenig vorgebeugt und schlingernd neben seinem königlichen Herrn über das wuchernde Unkraut der Wege. Wirkt alt, von Dienst und Pflicht verbraucht und mitgenommen neben ihm, und ist ihm doch nur um etwa ein Halbjahrzehnt voraus in seinen Jahren.

Kaum daß er erst auch nur hier und da ein paar Worte in den leidenschaftlichen Losbruch dieses entfesselten Ergusses streut. Er kennt den König, kennt die Reinheit seines Wesens, seines Wollens, seiner Ziele. Und kennt seine Begrenztheiten. Sieht die Unzulänglichkeit der Kraft, aus eigenem Auftrieb mit dem Rückschläge fertig zu werden, die Unklarheiten, Hemmungslosigkeiten: krampfhaft und mißtrauisch zur Schau gestellte äußere Form einer starken und unverrückbaren Persönlichkeit – ohne den Inhalt, die Erfüllungen –. Spürt über allem jetzt: Ein Mensch in seiner Not! Und weiß, daß sich all diese angestaute Qual erst lösen muß, ehe dann Gegengründe bis zur freigewordenen Tiefe dringen und vielleicht in ihr wurzeln können.

Erst als der Redestrom des Königs sich erschöpft, spricht er. Mit ruhig gleichmäßiger Stimme, manchmal beinahe ein wenig greinend. Soldatisch, sachlich, ohne von seiner Bahn zu weichen – ohne den Einwürfen des Königs, die da und dort aufbrausend, fragend, zubilligend, stiller werdend in seine Ausführungen sprühen, allzuviel Raum zu geben: Gewiß, es ist ein ungeheures und verhängnisvolles Mißgeschick – aber daß derlei einmal auch so kommen kann, das liegt eben im Wesen des Krieges, und keiner, nicht die Größten – auch nicht der alte Fritz – waren von solchen Nackenschlägen verschont. Wie oft hat der nicht aus einer verunglückten Offensive zum Verteidigungskampf übergehen müssen! Sich nur nicht um die Nerven, um die sichere Ruhe der notwendigen Entschließung bringen lassen, das bleibt in solchen finsteren Stunden die erste Führerpflicht. Und daß sie diese Pflicht erfüllen können, das haben die zwei Männer in Avesnes – die als Soldaten eben doch weitaus die besten sind, über die unser Zeitalter verfügt – mit ihren sicher nicht aus leichtem Herzen geborenen Entscheidungen bewiesen. Dabei ist ihnen in dem Zwang der ungeheuren Aufgabe, die jetzt auf ihnen lastet, natürlich jede Minute dreifach und vierfach mit Verantwortungen und Pflichten erfüllt – mit Verantwortungen und Pflichten, die sie in hingebender Treue für ihren Obersten Kriegsherren und König tragen –. Denn nicht nur für die Abwicklung der Schlacht, die da geschlagen wird und die jetzt auf dem größten Teile ihres Feldes aus dem Angriff in die Abwehr schwingen soll, haben sie zu sorgen und für die Chancen, die sich ihrem Fehlschlage an einzelnen Abschnitten vielleicht doch noch abgewinnen lassen – auch die neuen Gedanken liegen bei ihnen, die jetzt, trotz aller Enttäuschungen aus der veränderten Lage geboren werden müssen und Taten werden sollen.

Der General verhält den Schritt. Mitten in der prallen Sonnenglut steht er – achtet sie nicht – merkt nichts von ihr. Seine dunklen Augen im Kranz der ungezählten, erfahrenen Altersfältchen suchen seinen Herren. Und die dünne, greinende Stimme ist durchseelt, als spräche sie da eine letzte Weisheit seiner reifen und früh überreif gewordenen Jahre: »Denn die Tat ist alles! Und unbesiegt und ungebrochen – berechtigt zu jedem ehrlichen Soldatenglauben an den Sieg – sind wir, solange wir den Willen und die Kraft zum Handeln vor den anderen haben – solange wir das neue Schlachtfeld wählen und den Tag – –. Nur wenn wir diese besten Voraussetzungen, sei es durch den Gegner drüben, sei es durch Einflüsse hinter der eigenen Front oder in ihr verlieren sollten – dann – –«

Der König unterbricht erregt – da ist etwas, das rührt an Fragen, die rastlos, wie ein Gift, in seinen Gedanken schwären, bohren, kreisen und darüber er doch die Worte anderer nicht hören will, weil Unausdenkbarkeiten in dem Dunkel hinter ihnen lauern: Die innere Zersetzung – Bruderkämpfe – Umsturz –. Eine abergläubische Abwehr treibt in ihm auf: Nur das nicht berufen – das nicht aus dem Schlafe wecken –!

Er fragt ablenkend, heftig, beinahe beschwörend: »Exzellenz – und diese Kraft zur Tat – die Führung in dem Ablauf der Ereignisse – die haben wir trotz gestern und trotz heute nach Ihrer Meinung noch?«

Der General hält dem drängenden Flimmern dieser blauen Augen und ihrer haltsuchenden Qual mit Ruhe Stand: »Ja, Euer Majestät – noch haben wir sie –.«

Der König senkt den Blick, starrt mit schlagenden Lidern nieder auf den von Unkraut grünen Gartenweg. Ein stahlblau schimmernder Laufkäfer kriecht da unten, schleppt irgend etwas mit den kurzen Zangen – schleppt irgend etwas – –. Holpert über Steine – über Gräser – kriecht unter Halmen hin – – 

All das sieht er – muß es sehen – zerrt dabei mit den Zähnen an den Lippen, tastet ruhlos, mit sprunghaft jagenden Gedanken das Wort ab – dreht es – klopft daran – horcht ihm nach: – Noch haben wir sie –. Noch –!

Jäh reißt er sich dann los – das alles ist versunken. Er wirft den Kopf mit einem Ruck empor – springt auf einen anderen Einfall, eine andere Frage über.

»Sie haben da – Exzellenz, Sie haben da von Chancen gesprochen, die sich diesem – diesem Fehlschlage, dieser Schlappe, vielleicht an einzelnen Abschnitten doch noch abgewinnen lassen –?«

»Jawohl, Euer Majestät –«

»Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon bekannt ist: Der Erste Generalquartiermeister meldet, daß auch die Lage südlich der Marne ganz besonders schwierig geworden ist –?«

»Gewiß, Euer Majestät, wir haben von der Nachbararmee diese gleiche Nachricht. Die Truppen werden, wenn ich die Dinge von hier aus recht erkenne, so bald, wie das ohne zu große Einbuße angängig ist, über den Fluß zurückgenommen werden müssen. Außerhalb des ursprünglichen Zusammenhanges hat das Unternehmen südlich der Marne ja auch nicht Sinn und Kraft, um zu bestehen.«

Der König stößt den Stock gegen den Kies, fährt flammend auf: »Das darf nicht sein! Das bedeutet für die Franzosen – für die anderen alle – unseren Verlust der zweiten Marneschlacht! Das gibt ihnen ein Schlagwort, eine Parole – –«

Aber der andere hebt nur die dürren Schultern an, bewegt den mageren Schädel zu einem langsamen, bedächtigen Verneinen: »Euer Majestät – ich kann die Dinge nur aus rein militärischen Gesichtspunkten sehen. Ich glaube nicht, daß unsere militärische Lage uns im Augenblick den schönen Luxus gestattet, solche Prestigegründe mitsprechen zu lassen. Ich weiß nicht, wie die Oberste Heeresleitung darüber denkt – sie wird sich wohl recht bald schon schlüssig werden müssen – aber meines Erachtens ist das Randgebiet südlich der Marne von uns nicht zu halten. Wir können zufrieden sein, wenn uns unsere Stellung an dem Flußlaufe verbleibt –.«

Nur ein tiefes, erschöpftes Seufzen – ein verzweifelndes Kopfschütteln über diese unbegreiflich grausame Umgestaltung.

»Aber immerhin –«

»Ja –?« Drängend, aufgestöbert fragen die Augen des Königs: da lag doch etwas in dem Ton der beiden Worte, das war Aussicht auf Licht in diesem Dunkel, war Hinweis auf Erfolg in all diesem Versagen – 

»Ich meine: Eines kann uns vielleicht doch noch gelingen. Vielleicht. Wenn nicht ganz Unvorhergesehenes uns auch das aus den Händen schlägt: Reims!«

Reims! – Wie gebannt, versteint von dem Gedanken steht der König; nur die Lider schlagen, und die Kehle schluckt in tiefer Erregung.

Reims! Also doch ein Hoffnungsschimmer. Und gierig, wie ausgehungerte Tiere werfen sich all seine nach Auswegen aus diesem Niederbruche ringenden Gedanken auf diese Möglichkeit. Hemmungslos, wie sie noch eben in Verzweiflungen einherirrten, klammern sie sich jetzt an das Wort, an das Problem, das vielleicht Hoffnungen umgreift – entzünden sich daran, richten sich auf zu neuen flackernden Impulsen – 

»Sie halten es für möglich, Exzellenz?!« So lebhaft, atemlos kommt die Frage, daß ihm die Stimme kaum gehorchen will.

»Für möglich, und, wenn uns die Zeit bleibt, diese Frucht zu reifen, für wahrscheinlich. Die Stadt kann, wenn wir erst die große Straße von Epernay fest in der Hand halten, nicht mehr atmen –«

Der König nickt leidenschaftlich heftig. Völlig versunken und versponnen ist er schon in den neuen Gedankenkreis: Natürlich – Reims –! Wenn man das Berggelände und die Straße hat, von der sie lebt und Kraft und Nahrung findet, dann ist sie voll gedrosselt und dann muß sie fallen! Und nah genug ist sie schon heute ihrem Schicksal – das kann ein Kind erkennen. Nur an einem Faden, an einem dünnen Faden hängt ihr letzter Widerstand – und der wird reißen – der muß durchgerissen werden. Das zeigt dann immerhin nach außen doch noch einen Erfolg: ist für den Gegner eine schwere Wunde und für die Heimat ein sichtbares Pfand, das ihren Glauben stärkt – 

Bilder sieht seine zügellos vordrängende, um diese Zukunftsmöglichkeiten lodernde Phantasie: Mit den Herren seines Gefolges ist er in der bei dem ersten Rückzug aufgegebenen und seitdem durch beinahe vier Jahre umkämpften Stadt –. Die Truppen begrüßt er, die sich in den tiefen weitverzweigten Katakomben gut eingerichtet haben, spricht zu ihnen, dankt ihnen, verteilt Auszeichnungen unter sie – Und einen Dankgottesdienst hört er in der Trümmerhalle der altehrwürdigen Kathedrale, in der sie einst die Könige von Frankreich krönten – gibt dann Befehl, daß man kein Mittel unversucht lasse, um das herrliche Bauwerk, das so schwer schon gelitten hat, vor weiteren Zerstörungen, vor weiterem Verfall zu schützen –. Er, der von denen drüben immer wieder verlästerte Barbar! – der Hunnenkönig! – der Boche –!

Eine fiebernde Belebung glimmt über all seiner inneren Erschütterung und Zerrüttung, drängt ruhlos in unhemmbarem Bewegungszwang nach außen. Seine Worte sprudeln – können kaum Herr all der aufspringenden Gedanken werden – die Gesten seiner Rechten flattern hastend mit den Worten hin – 

Gegen den Niederbruch in der eigenen Brust geht er aufpeitschend an, stärkt sich am Klange seiner vorgestoßenen Worte, gibt mit ihnen seinen in stumpfe Verzweiflung versunkenen ureigenen Wünschen, Trieben, die Dinge gläubig zu betrachten, an ihrem Ende neuen Aufschwung, Auswege und Lösungen zu sehen, einen Halt, an dem sie wieder ranken können.

Natürlich ist das große Michael-Unternehmen in seiner ursprünglichen Anlage gescheitert – sich darüber hinwegzutäuschen, wäre Wahnsinn. Nein, dieser Tatsache müsse man fest ins Auge sehen, und um sich mit dem General darüber auszusprechen, darum stehe er ja hier. Zeit sei durch diesen Rückschlag verloren – kostbare Zeit – kostbarere Menschenleben – –. Und an der Truppe – an der Truppe habe es wahrhaftig nicht gelegen –!

Ein dünnes Zögern ist in diesem im Prunke einer tiefen Überzeugung hingestellten Ausrufe, und der Blick des Königs streift verstohlen das Gesicht des Generals. Der nickt bestätigend, tiefernst: »Ganz sicher nicht. Die Truppe hat gegeben, was nur irgend in ihr war und was sie geben konnte.«

»Nun eben –!« Weiter klingen die Worte des Königs: Und darum glaube er auch fest daran, daß man über den Mißerfolg hinwegkommen werde, wie man in diesen schweren Jahren über so manchen Mißerfolg hinweggekommen ist. Man wird Neues anpacken – und, so Gott will, mit mehr Glück! Und immerhin bleibt eben Reims, das uns kaum mehr entgehen kann! Ein militärisches Objekt von allerhöchster Bedeutung. Ein Pfeiler und ein Schwingpunkt der gesamten Front. Und darum drüben neben der rein militärischen Einbuße ein moralischer Echec, der sehr stark und nachhaltig wirken wird!

Wie ein Rausch ist dieser Zustand der Steigerung, und er hält den König aufrecht durch die halbe Stunde, die er noch bei dem Generale und bei dem Stab der Armee verbringt.

Erst wie er dann wieder allein, befreit vom Blicke fremder, forschend auf ihn gerichteter Augen, in seinem Wagen sitzt und, die knatternde Standarte mit dem Adler vor sich, durch die verhangene, verhüllte Landschaft fegt, sinkt all diese Gehobenheit wieder ins Nichts zurück. Kulissen, die er für die anderen und für sich selber aufgerichtet hat und an deren Sinn er nicht glauben kann – 

Und nur das Grauen sitzt jetzt wieder da in seiner Brust, in seinem Hirn, und frißt an ihm – 

Unsichtig ist jetzt alles ringsumher.

Dicke, rotbraune Schwaden und Ballen aus zermahlenem Lehm, aus in der Sonnenglut gedörrter, aufgebröckelter, zerstäubter Kreide brauen lastend über den Fernen. Und wie durch Dreck gezogen und im Dreckbade verkrustet und erstickt, erstarrt, erscheint die Nähe.

Hinter dem König sitzen die beiden Adjutanten: der Graf, der Gardedukorps.

Kein Wort fällt auf der stundenlangen Fahrt.

 

Der Abend in Bosmont ist ein sich durch die Zeit Hinquälen.

Die äußere Form ist abgesteckt vorhanden und durch die Tradition gegeben; es heißt, durch ihre Leere mit dem Schein von Würde hinzukommen.

Die Tafel so, als säße Banquos Geist mit in der Runde.

Aufheiterungsversuche, die der Hofmarschall mit blinkernd aufmunternden Augen fördert, der Legationsrat zaghaft tastend wagt, der Fürst dreist losläßt, fallen grob und fremd in diese kalte Stille, sinken ins Nichts, als hätte keiner sie bemerkt, als wären sie niemals gewesen.

Nur mit dem Freund und Zivilchef spricht der König hin und wieder ein paar Worte.

Unerträglich ist ihm das alles.

Und gleich nachdem die Tafel abgenommen ist, erhebt er sich, winkt er dem Generalstabsoffizier, grüßt, geht voran in sein Abteil –

»Die Abendmeldungen –«

Wieder liest der Hauptmann.

»Nein – nur die aus dem Schlachtgebiete.«

Ein Knistern und Rascheln der Papiere, dann die Stimme: »Die Angriffsbewegungen bei der dritten Armee und auf dem linken Flügel der ersten Armee sind eingestellt.

Südlich der Marne sind wir im Laufe des Tages immer mehr in die Verteidigung gedrängt worden. Der Feind hat dort neue und starke Kräfte herangeschafft und in den Kampf geworfen. Aber dicht beiderseits des Flusses gewinnen wir in der Richtung auf Epernay doch noch Raum. Wir stehen etwa zehn Kilometer von der Stadt, und so hat sich der Bogen von Reims wieder verengt.«

Still, scheinbar ohne inneren Anteil hört der König den Bericht, läßt er die Worte an sich vorüberrinnen. Seine Augen starren spitz, ziellos in eine leere Ferne.

Der Hauptmann schweigt, erwartet einen Einwurf, sagt dann, da der nicht kommt, zögernd, mit neuem Ansatz: »Ich habe auch den Herrn Generalquartiermeister noch einmal wegen der Lage an der Marne gesprochen. Er befiehlt, Euer Majestät zu melden, daß die Brücken beständig unter schwerstem Feindfeuer liegen und auch von Bombengeschwadern stark heimgesucht werden. Der Nachschub ist aufs äußerste erschwert, die Verbindung überhaupt gefährdet – es besteht die Gefahr abgeschnitten zu werden –. Es wird sich also die Notwendigkeit ergeben – –«

Der König winkt ihm ab mit einer abtuenden Bewegung. Er sagt mit bitterer Starrheit, ohne aufzusehen, ohne auch nur den Blick aus jener Ferne wiederum hereinzurücken: »– daß wir dort unsere Kräfte wiederum über den Fluß zurücknehmen. – 'rin in de Kartoffeln – 'raus aus de Kartoffeln! Und das Ganze heißt dann Weltgeschichte –. Ist doch so?!«

Keine Antwort.

»Noch etwas Angenehmes?«

»Ich habe den Herrn General gefragt, was er Euer Majestät für morgen vorzuschlagen habe. Er hat gefragt, ob Euer Majestät nicht vielleicht aus dem Raume knapp nordwestlich von Reims die Kämpfe um die Stadt beobachten wollen –«

Der König nickt matt, anteillos: »Gut, – leiten Sie das in die Wege.«

Dann Stille – Klappen von Hacken und Sporen – Schritte, die sich verlieren – – 

Einen Augenblick ist es dem König, als sollte er sich mit Gewalt und Willen aus diesem Drucke reißen, aufspringen, den noch einmal rufen, ihn irgend etwas fragen – – nur daß ein Mensch noch bei ihm sei – 

Er rührt sich nicht – er horcht den Schritten nach –

Allein.

Er schließt die Augen, legt den Kopf zurück in das Genick.

Die Zeit rinnt hin. Leise – leise tickt die kleine Uhr.

Todmatt fühlt er sich, und eine traumhafte Verhangenheit ist über ihm. Wie ein Fieber ist das – 

Den Professor herüberkommen lassen –? Der Gedanke ist verworfen, ehe er ausgedacht ist. – Was kann der gute Oberstabsarzt helfen: ein Schlafmittelchen, zu dessen ausreichender Dosierung er nicht den Mut hat, und sanfte Ratschläge –: Ruhe – keine Aufregungen –!

Bilder aus dem Erleben dieses hingegangenen Tages sieht er an sich vorüberziehen – wirr lösen sie sich ab – ohne Zusammenhang reihen sie sich aneinander – treiben sie an ihm vorüber – 

Eine tote Ratte, die er vormittags beim Aufstieg auf die Warte am Fuße des Turmes gesehen hat. Mausetot –. Eine Ratte – mausetot –. Einen Augenblick spielt sein dumpfes Sinnen mit dem Worte – läßt es dann wieder. Wie in flüchtig schnellem Lauf gefällt – erschlagen von irgendwem –. Seltsam plattgedrückt, wie gepreßt für ein Herbarium. Aus dem kleinen Ohre ein paar Flecken antrocknenden Blutes. Und die dünne Schnauze über die spitz vorlugenden Zähne hochgezogen zu einem arroganten und pikierten, überlegenen Grienen – – 

Diese Schmierstiefel des Generals in Rethel, rissig, verriestert – noch aus dem ersten Manöver der Leutnantszeit? – schlingern in diesem prallen Sonnenlicht in der Bewegung seiner Füße, mit allen ihren Beulen und Knollen selbst wie zwei alte verknautschte Generale von der Pike auf, über den Kies, das Gras, den Lattich hin – – 

Und die Herren vom Stabe, wie er dann zwischen ihnen steht und noch von Reims spricht und vom Kriegswetter, das ja auch wieder besser werden wird, stehen und sagen keinen Muck. Aber der alte Generaloberst, der sich da in der Flanke aufgebaut hat, nickt immerzu – immerzu –. Wie ein übereifriger Kronzeuge ist er – und bohrt die anderen mit den scharfen, ausgeblaßten Augen an: So ist es – ja, was Seine Majestät sagt, das ist so – 

Der König ruckt den Kopf, reißt sich gewaltsam aus dem Treiben dieser Bilder.

Er sieht sich um, als könnte er in seiner Umwelt Hilfen finden, über diese wüste Zerrissenheit hinwegzukommen. Nichts – tausendmal Gesehenes! Schreibzeug und Blumenvase – Akten und Skripturen – ein kleines Tischchen mit einem Pack fächerförmig hingebreiteter Bücher und Broschüren – auf einem niedrigen Gestelle ein schmaler, flacher Lederkasten –

Auf ihm haftet sein Blick für einen Herzschlag und gleitet dann mit Bitterkeit und Abwehr weiter: Darin ruht, sorgfältig auf Samt gebettet, sein Feldherrnstab – 

Da muß er denken: Und alles, alles, was da nun geschehen ist – mag es jetzt Schuld sein oder Unglück – wird von der Welt und von der Nachwelt wiederum auf mich geworfen – so wie sie mir die Schuld an diesem Kriege aufzubürden suchen!

Er rückt den Stuhl in einer jähen Unrast, krampft seine Hände um die Armstützen –. Wie unter krallenden Fängen hält ihn jetzt der Gedanke wieder –: Er als Urheber dieses Krieges –! Er – –!

Kaum zu ertragen ist ihm diese ungeheuerliche Ungerechtigkeit, die sich immer wieder höhnisch und unverrückbar vor ihn hinspreizt – täglich und stündlich! Die ihn aus jedem fremden Zeitungsblatte grinsend anspringt, die eine giftige Kröte ist, die er hinunterwürgen muß! Diese von englischer Heuchelei und französischer Erbärmlichkeit gemästete Lüge, die ihn seit Jahren quält und zermartert, gegen die er sich machtlos wehrt und aufbäumt mit allen Kräften des Herzens, mit allen Argumenten des Verstandes – –! Die aber unausrottbar ist – aus jedem abgeschlagenen Haupt zwei neue Schlangenhäupter gegen ihn gebiert – die ihn verfolgt – die ihn am Ende noch – am Ende noch zum – – 

Plötzlich steht da in einem unklaren Zusammenhang mit seiner Qual eine Erinnerung vor ihm – läßt ihn suchend zurück in die Vergangenheit, läßt ihn nach innen horchen – 

Wie war das doch – –? Ein flaches, glasig starres Despotengesicht sieht er – bleich, hochmütig bis zur Verachtung – graugrüne, glanzlos harte Augen – eine willensstarke Stirne unter kurzem Bürstenhaar: Franz Ferdinand –. Eine Geschichte, die der ihm erzählte –. In Eckartsau? – nein doch: in Konopischt!

Von dem Prager Hradschin hatten sie gesprochen, und der Erzherzog hatte die von fanatischen Bestien ersonnenen Grauen der tief unterirdischen Verliese der Daliborka geschildert –. Als ob die leise, schmeichelnde Stimme mit ihrer grausam-feinschmeckerischen Weichheit jetzt wieder vor ihm auferstände: Da sei in diesem nie erhellten Dunkel in einer von den Kellerzellen ein eingemauerter Stuhl gewesen, auf dem wurde der Verurteilte festgeschnürt, daß er sich nicht rühren konnte, ganz stille halten mußte. Und von oben durch ein Loch in der Decke – von zwei Stockwerken darüber – kam dann ein Tropfen Wasser, der fiel dem Gefesselten hart als ein kurzer Schlag und eisig kalt auf den nackten Scheitel. Genau auf den Scheitel. Ein Tropfen – nichts weiter. Abschütteln? Ging nicht! Und alle drei Minuten kam dieser eine Tropfen wieder und klatschte auf die gleiche Stelle. Tag und Nacht, und Nacht und Tag. – Schlafen? – Ruhen? – Vorbei –! Immer nur ein – zwei – drei Minuten abwartende, bohrende Angst – und dann der kleine, harte, eisig kalte Schlag. Und das ging – ging, bis der Mann da unten im Wahnsinne lag – 

Und länger als drei Tage und drei Nächte soll keiner diese Marter je ertragen haben – 

Starr sieht der König vor sich hin. Versunken sind die Fäden, die ihn zu diesem Erinnern führten. Nur das Gesicht des Mannes, der ihm das damals erzählte, dieses Gesicht, in dessen Zügen sich Rassen und Kulturen aus allen Zeiten mit ihren letzten heimlichen Instinkten und Begierden, Ängsten und Abgründen zu einer abschließenden Maske zu finden scheinen, steht vor ihm –.

An die verschwiegenen Verbrechen und Schauer der alten, in Jahrhunderten verwitterten Paläste von Ferrara, Modena und Reggio streift sein Sinnen – er sieht Mord, Ehebruch, Blutschande, Bastardkämpfe, Gift – daneben reifste Staatsklugheit, spendendes Mäcenatentum und höchste Geistesbildung. Daraufgepfropft den blutrünstigen Fanatismus spanisch-habsburgischer Inquisitoren: Grausamkeit und Verschlagenheit zu Gottes Ehren – Machthunger, Schlangenklugheit, unbeugsamen Willen –. Und alles das zusammengefaßt in diesem Erben zu einem einzigen Gedanken: ein neues, stärkeres Groß-Österreich – durch mich!

Er denkt: Ja – der –! Wenn der in Wien an meiner Seite stände. Der und nicht dieser erbärmliche, schäbige Lügner – der kleine, in der Furcht vor Rom verkrüppelte, entmannte Jesuitenzögling – 

Und er bewegt den Kopf: Tot – –. Ermordet – 

Ihm ist's, als sähe er die breit ausfließende, scharlachrote Lache auf dem gierig saugenden Straßenpflaster vor dem Rathaus von Sarajewo – sähe aus diesem Blut all die gebundenen Entsetzen seiner versunkenen Ahnenreihen sich befreien, sich ins Weite schwingen und gleichwie zu einem unerhörten Rachefest für ihren Toten eine Welt in Brand und Grauen setzen – 

Mit einem Ruck hebt er sich aus dem Stuhle. Ziellos, mit schwankend unsicheren Schritten geht er in dem schmalen, langgestreckten Raume ein paarmal auf und nieder.

Drückend schwül erscheint ihm die Luft – zum Ersticken dumpf – 

Die Scheibe läßt er an einem der Fenster nieder, daß nun der vorgezogene Vorhang sich im Winde sachte bläht, lockert den Kragen seines Waffenrockes.

Seine Gedanken kreisen in der alten Qual, und hundertmal Durchgrübeltes, Ergriffenes und wieder Fortgewiesenes kommt in dem hindrehenden Wirbel neu an ihn heran – 

Und was ich da in dreißig Jahren geschaffen habe – soll das jetzt ausgelöscht sein? – Ist das nichts? Nur, weil sich der Erfolg mir jetzt ein einziges Mal versagen will? Was war Deutschland damals, als ich auf den Thron kam – und was ist es dann in den dreißig Jahren unter meiner Hand geworden?! Habe ich das Reich, das auf den Lorbeern seiner gewonnenen Kriege ruhen und die neue Zeit versäumen wollte, nicht erst aus seinem zagen Dämmern und Abseitsstehen aufgeweckt und dann auf meinen Wegen friedlich zu einer nie geahnten Macht emporgeführt? Nach meinem Kurs – gegen die Widerstände und den Haß der Zaghaften und der Unbändigen, der Nörgler, der Verbrauchten! Habe ich nicht die Kolonien aufgerichtet? – die Flotte durchgesetzt?! Ist unter mir das Heer nicht das geworden, was es ist? Und Technik, Handel, Wissenschaften, Industrie – sind sie nicht unerhört emporgeblüht? Muß das alles nicht bleiben?! Muß es nicht, wie wir auch aus dem Kriege kommen mögen, als unvergängliches Zeugnis für mich bestehen über alles erbärmliche Lärmen meiner Verkenner und Verleumder und Lästerer hinaus –?!

Ein einzelner Gedanke löst sich aus dem Wirbel, treibt noch einmal vor: – gegen den Widerstand und Haß der Zaghaften und der Unbändigen, der Nörgler, der Verbrauchten – 

In seinem ruhelosen Auf- und Niederschreiten steht er jäh, wie festgehalten still.

Da hebt sich vor ihm aus dem dunklen, unsichtigen Gedränge aus seinem Kreis gerückter, hinter seiner Zeit versunkener Gestalten diese eine. Der Riese, dessen unversöhnter Groll noch aus dem Grabe schwelt und über seinem Leben schattet – 

Der erste Kanzler.

Er denkt: Was soll das nur – wie komme ich auf ihn –? Und zugleich, dunkel, in der Tiefe wirkend, spürt er Verbindungen, Zusammenhänge, die aus jenen fernen Jahren in diese Stunde leiten – Worte, die damals fielen und jetzt Sinn erhalten – Gedanken, die dieser Mann damals warnend ausstreute und die sich jetzt erfüllen – 

Er sieht um sich, als könnte er sich so aus diesem Zwange lösen. Aber da fällt das helle Licht, das ihn vom Schreibtisch, von den Wandleuchtern, von oben her umspielt, ihn schmerzhaft, unerträglich an. Als ob es Wunden aufdeckte, die er vor seinen eigenen Augen nicht entblößen mag. Traumhaft beinahe tut er die zwei Schritte bis zur Wand, dreht den Schaltknopf, daß die Birnen rings erlöschen und nur die eine kleine Lampe da oben an der Decke glühen bleibt. Und tut dann wieder die paar Schritte zu dem breiten, dunklen Ledersessel, läßt sich in diese kühlen Arme sinken –

Der erste Kanzler.

Starr sieht er ins Ziellose hinaus – in Fernen – in Vergangenheiten – über Jahre und Jahrzehnte hin – 

Nein – auch darin – wie er in diesen Kampf getrieben ist – wie er in diesen Kampf getrieben wurde – haben sie ihn niemals verstehen wollen und niemals verstehen können –. Weil er geschwiegen und aus Pietät, aus Stolz die Wurzeln des Zerfalles niemals preisgegeben hat – weil er lieber den Vorwurf tragen wollte, allein der Schuldige zu sein, ihn undankbar und überheblich fortgeschickt zu haben – als daß er die demütigenden Einzelheiten des Konfliktes vor den Augen der Menge ausgebreitet hätte – 

Bei dem Vater sind seine Gedanken jetzt wieder. Bei dem nach dem Throne sich verzehrenden, kränkelnden und bald auf den Tod erkrankten Kronprinzen, der mißgünstig auf den gesunden, tathungrigen Sohn hinsieht – ihm Steine in den Weg wirft – ihn von vornherein unmöglich macht bei dem einen verehrten Manne, der ihm dereinst der erste Ratgeber und Helfer werden soll – 

Ins Dämmern starrt der König – um die Bitterkeiten jener fernen Jahre zieht sein Sinnen hin – 

Prinz Wilhelm war ich damals noch – anderthalb Jahre vor dem Tod des Großvaters ist das gewesen – und da schon – da schon! – hat er mich verlästert bei dem Alten. Hat schon diesen Uriasbrief geschrieben, mit dem er mich, den künftigen Kronprinzen und König, vor ihm gezüchtigt hat, wie einen dummen Jungen!

Eingebrannt in sein Gehirn stehen die Worte dieses Briefes heute noch vor ihm:

»Mangelnde Reife – Hang zur Übertreibung wie zur Überschätzung – rasches, zur Übereilung neigendes Urteil – geradezu gefährlich, ihn mit auswärtigen Fragen zu befassen – –«

Und alles das nur, weil ich angesucht hatte, im Auswärtigen Amt beschäftigt zu werden –. Dazu ohne daß er – daß mein Vater! – vorher nur mit einem Worte zu mir selbst gefunden hätte! Und während doch der Großvater nichts einzuwenden hatte – 

Der König zerrt an seinen Lippen, daß der Druck der Zähne schmerzt – denkt daran, wie er damals, da er durch gefällige Zwischenträger bald genug von diesem Brief und seinem Inhalte erfuhr, in auswegloser Scham losheulte wie ein gefesseltes Tier, das Peitschenhieben preisgegeben ist –. Er: der Siebenundzwanzigjährige – der Oberst und Kommandeur seiner Potsdamer Gardehusaren – der künftige Thronfolger und Herr – 

Entehrt, geschändet hat er sich gefühlt, an den Pranger gestoßen vor dem einen, einzigen Manne, den er von erster Kindheit an wie keinen anderen neben dem Großvater verehrt und bewundert hat, vor dessen Augen in aller Bescheidenheit zu bestehen und Geltung zu gewinnen sein heißester Wunsch gewesen war – 

Er weiß: Und so hat es begonnen!

Den Boden, auf dem ich später stehen sollte, hat der Vater mir untergraben – um mein Bestes, um meine innere Sicherheit, um meine Würde vor dem Riesen hat er mich gebracht, der später – und wenn er mich auch zehnfach überragte! – auf mich, als auf seinen König, doch mit Achtung und Ehrerbietung blicken sollte. Zu einem Menschen zweiter Klasse hat er mich in seinem Haß gestempelt – zum Unverläßlichen und Überheblichen: mit Vorsicht zu gebrauchen! Den Glauben an mich hat er ihm vergiftet, hat ihm Vorurteile und Schlagworte gegen mich eingeimpft, ehe ich selbst ihm noch beweisen konnte, was ich will und was ich bringe – 

Wie ausgelöscht und fortgenommen sind jetzt die Umwelt und die Stunde für den König. Alle Gedanken angesaugt, gehalten und gefesselt von dieser Vergangenheit: Das war der Anfang – und so ist es dann weitergegangen – mußte es weitergehen – 

Da ist einer, der spürt mehr und mehr, daß man ihn geringachtet und nicht für voll nimmt – daß man mit ablehnendem Mißtrauen auf jeden seiner Schritte sieht, nach jedem seiner Worte horcht. Der hinter jeder Stirne den Gedanken wittert: Schon gut – wir wissen ja, du überschätzest dich, und dir fehlt die Reife. Der sich vor jedem neuen Manne fragt: Hat man dich auch vor dem da angeschwärzt, verleumdet?!

Und man ist jung – man hat seine angeborene, anerzogene Würde, die man sich doch nicht ganz vom Leibe schinden lassen mag – man denkt am Ende trotzig: Gut – ihr wollt mich nicht, nur immer zu! Ich finde meinen eigenen Kreis, und später kommt der Tag, an dem ich es euch zeigen werde, was ich kann – – 

Was man so als Gefolgschaft findet – nein – was so als Gefolgschaft plötzlich neben einem steht, das ist vielleicht das Beste nicht: ist Fronde – sind Zukunftsspekulanten, die ihre fortune auf den kommenden Mann setzen – sind Unverantwortliche oder Schwärmer. Aber das spürt und das erkennt man doch erst später – wenn Zeit darüber hingegangen, wenn man reif geworden ist –.

So baut man sich dann eine eigene Umwelt, die nicht Zusammenhänge mit der anderen hat. Man spricht sich seine gärenden Gedanken von der Seele in diesem Kreise – was einen so bewegt: Religiöses und Soziales – Fragen des vaterländischen Aufschwunges und Weltbeglückendes –. Sicher ist das nicht alles Gold und Weizen – woher soll's auch kommen? Man hat nicht Schulung und Erfahrung – man ist ja beinah gewaltsam von all dem ferngehalten worden! Aber man ist doch wie erlöst, daß es jetzt nicht mehr ganz allein um Felddienst und um Pferde geht! Und man will so viel und fühlt sich hier verstanden und gehoben – 

Ausblicke? Man hat durch einen Vorgang der Geschichte des eigenen Hauses ein Ideal, für das man sich von Jugend an begeistert hat, an das man sich jetzt hält, dem man nacheifert. Das einem Stern und Führer ist: was du warst, will ich werden! Ein Vorfahr, dem es um nichts besser ging: Da war einer, den hat der Vater auch überall verlästert und madig gemacht – in der Tabagie – vor den Offizieren – vor allen Leuten: Wie er geht! – Wie er steht! – Wie er aussieht, der effeminierte Kerl! – Wie eine große Meerkatze! – Hat ihn im kursächsischen Lustlager zu Radewitz, wieder vor Fremden und vor Offizieren, in seinem jähzornigen Haß sogar geschlagen! – Der junge Fritz.

Der junge Fritz – der später der Fridericus Rex geworden ist! – – 

Ja – und dann kommt es zu den ersten Auseinandersetzungen mit dem allmächtigen Riesen: November und Dezember siebenundachtzig. Eine Art Vorpostenfühlung. Nicht vor der Öffentlichkeit – 

Um einen vertraulichen Erlaß an die Bundesfürsten für den Fall des Thronwechsels und mehr noch um Stöcker und die christlich-soziale Agitation geht diese erste Reibung: Aus seinem Kreise aufgesprungene Ideen, die er in reinster Absicht fördert, um Massen, die sich neuen sozialistischen Lehren zuwenden, mit den Mitteln der christlichen Arbeit dem Vaterlande wieder zu gewinnen, werden als politische Parteinahme verdächtigt – 

Gewitterstimmung gegen ihn. Da bricht er selbst mit einem aufklärenden Briefe an den Kanzler dieses Schweigen. Mit einem Briefe, der wie eine ausgestreckte Hand ist – der den anderen sucht und der ein überquellend herzliches, beinahe leidenschaftliches Bekenntnis der Verehrung und Zugehörigkeit umgreift: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn – – 

Die Antwort läßt warten – und schiebt dann eigentlich alles beiseite. Mit Recht? Mit Unrecht? Sicherlich nicht ohne Recht! Aber das ist es nicht, und darauf kommt es gar nicht an! Es ist der Ton, der über allem liegt – 

Für das warmherzige Werben hat er eine zurückhaltende Defensive. Besonnen ist der Brief des Alten und voll kühler und erfahrener Weisheit – will aus der überlegenen Höhe eines reifen Lebens warnen und lehrhaft sein – und wirkt so starr und hochmütig verletzend vor einem, der jung ist, der ein warmes Wort für seinen Eifer und einen Puls und Herzschlag für sein der Seele abgerungenes Bekenntnis zur Gefolgschaft ersehnt, erhofft, erwartet hat –. Rund alles lehnt er ab: Versöhnliche Bekehrung der Abgewandten? Nein: gegen Demokraten helfen nur Soldaten! Und dieser ganze Kreis – wer aus ihm ist ohne geheimen Wunsch und Ehrgeiz? Wer dient dir nur der Sache wegen? Was bist du ihnen anderes als der künftige König – das Mittel, dereinst hochzukommen –? – So rührt die Antwort Wunden an und reiht Empfindlichkeiten auf – statt eine Brücke zu werden.

Man hat in einem Augenblicke, der vielleicht für alle Entwicklung der Zukunft entscheidend war, aneinander vorbeigeredet – 

Und man findet jetzt auch nie mehr ganz zusammen – es bleibt im Grunde unter aller zu Schau getragenen guten Form der dünne Riß.

Ein halbes Jahr nach diesem fehlgeschlagenen Versuche, das Herz des Riesen zu gewinnen, sind zwei Könige hinweggenommen: der heiß betrauerte, verehrte Großvater – und der andere, der, schon todkrank, eben erst den Thron bestiegen hat.

Jetzt ist man König – neunundzwanzig Jahre ist man alt: der junge Fritz war achtundzwanzig, als er vom Totenbette seines Vaters aus Potsdam kam, um die Regierung anzutreten. – Jetzt wird man es den anderen zeigen, was man ist – auch diesem einen, um den man damals demütig geworben hat, ohne daß er sich finden ließ. Es soll noch kommen, daß er wirbt – und dann wird man in diesem Wandel, dieser Anerkennung die einzige stolze Genugtuung für das Geschehene erblicken und wird mit ihm gehen, so wie der Großvater mit ihm gegangen ist –

So tritt man in das neue Leben ein – geht an die Arbeit – – 

Der König atmet tief.

Ein Menschenalter liegt das alles zurück, und steht doch vor ihm, als wäre es vor Wochen erst gewesen. Mit immer neuen Bildern und Erinnerungen dringt diese Vergangenheit schwellend an ihn heran – die ganze Hochflut seines Wollens, seiner Sehnsucht, seiner Wünsche, die damals in ihm war, spürt er wie einen fieberheißen Traum in seinen Adern pulsen – 

Er hebt sich aus dem Sessel, schreitet wieder auf und ab. Ruhlos und aufgepeitscht über der tiefen Abgespanntheit und Erschöpfung. –

Zeiten der aufglühenden Schaffensfreude! Zwänge und Ketten sind abgefallen – in einem neuen Lichte liegt das Dasein – von ungeahnten Kräften spürt man sich erfüllt, die wirken wollen –. Wo anfangen – was zuerst ergreifen?! So vieles möchte man!

Alles ist neu – vor Ungeheures fühlt man sich jäh gestellt: Verantwortungen für das Glück, die Wohlfahrt eines Volkes! Und nichts – nichts weiß man, denn sie haben einen doch bisher von all den wichtigen Geschäften mit Eifersucht und enger Angst und Mißtrauen ferne gehalten. Hilfen, Vorträge, Auskünfte brauchte man jetzt zu tausend Dingen und Fragen – 

Aber man kann doch dem Manne, der in seinen Händen all diese Fäden hält, ganz unmöglich mit all dem Zeuge kommen. Auch nicht, weil man sich gerade vor ihm keine Blöße geben will und manches besser, eingehender, und ohne sich da etwas zu vergeben, im Gespräche mit den Ministern, mit den Staatssekretären zu hören bekommt. Und dann hat der Kanzler auch für das Wollen anderer, für neue Fragen, Anregungen und Ideen bisweilen gern ein Nichtsehen oder ein nachsichtig-überlegenes Gewährenlassen – 

Es ist manchmal nicht leicht: wer nicht zünftig durch ihn herangebracht und von ihm approbiert und auf ihn eingeschworen ist, der ist in seinen Augen leicht ein Schmeichler, ein Aventurier, ein Intrigant und Amateurpolitiker. Wendet man sich aber an einen seiner Herren, die meist sehr gerne zur Verfügung stehen und oft erstaunlich auf die neuen Anregungen eingehen, dann fühlt er sich übergangen und wittert Seelenfang und Kliquenbildung. Nimmt es einem in seiner gußeisernen Art übel und trägt es diesen Mitarbeitern bitter nach.

Lang genug hofft man, daß das nur ein Übergang ist, daß er sich in die neue Lage finden werde. Aber es wird nicht besser, und man spürt: hier steht das starr gewordene Alter gegen alles Neue –

Beengt wird man durch diesen Zustand mehr und mehr, fühlt sich am Ende bei jedem Schritt, den man nach vorne tun will, durch Rücksichten auf ihn verhalten – 

Er – er – und immer wieder er! Gewiß – es will ihm ja niemand an den Wagen – aber schließlich ist man doch auch nicht nur Statist!

Man ist doch König, ist von Gottes Gnaden an diesen Platz gestellt, um zu regieren, um zu wirken! Man hat durch Seine Gnade die heilige Pflicht, das hohe Amt nach bestem Können zu erfüllen.

Und man hat wahrhaftig nicht Grund und Lust, als Strohmann für den anderen zu figurieren.

Dazu kriegt man es immer wieder zu verstehen, daß es mit jedem Tag mehr Leute gibt, die sich eigentlich schon wundern – die ihre anzüglichen Glossen machen – 

So gibt das mit der Zeit ganz richtig zwei Lager – zwei Parteien. – – 

Am offenen Fenster steht der König einhaltend still, schiebt den Vorhang beiseite, daß die Nachtluft frei zutreten kann, und sieht hinaus ins Dunkel, das über dem alten, verwilderten Obstgarten liegt. Schwarz, wie von kraus-struppigen Bärten umstarrt, stehen diese längst unfruchtbar gewordenen Bäume, von denen das dürre, abgestorbene Geäst seit so viel Jahren nicht mehr abgenommen wurde, in der Stille. Nur leise, von fern her gluckert das Wasser des Baches, und in den Lüften rollt – verzittert – und rollt wieder das dumpfe Schüttern – 

Mit allem Willen sucht der König von den Gedanken an diese Vergangenheiten loszukommen, sich seiner Sehnsucht nach Entspannung und nach Ruhe hinzugeben. Er fragt: Warum – warum nur überfällt mich jetzt auch das? – hier? – und in dieser Stunde, in der es draußen um Sein oder um Nichtsein geht?! Das ist doch längst begraben, ist vorbei und ruht in einer hingeschiedenen Zeit – 

Und dabei ist er doch Minuten später wie im Zwange einer in verborgenen Tiefen unsichtig wirkenden Kraft und Logik wieder in dieses gleiche Suchen, Sinnen und Nachspüren versponnen – – 

Schuld? Was ist da am Ende Schuld, und was ist Schicksal?! Der Boden ist vergiftet: daran liegt's – das läßt einen über die alte Bitterkeit hinweg nicht mehr zu einem Sich-verstehen kommen.

Und zu der Grundfarbe von Mißtrauen und Verstimmung treten dann Meinungsgegensätze – 

Nach Schluß des ersten Jahres ist der Zar in Berlin – man spricht davon, ihn gelegentlich wieder zu besuchen. Aber der Alte widerrät – und hinter dieses Abraten duckt sich in schlechter Deckung der Gedanke: Bleib du man lieber hier, mein Jung' – wer weiß, was du mir dort, wenn du so losgelassen, ohne Aufsicht bist, verdirbst –. Also, was man so sagt: Vertrauensvotum! Einschätzung etwa so, wie man es seit den alten Anschwärzungen hätte gewohnt sein dürfen. Bilanz der Änderung des Zustandes nach dem ersten Regierungsjahr: gleich Null! – Aber man schweigt – würgt es hinunter – schließlich ist die Frage des Gegenbesuches ja gar nicht eilig.

Man hat sich wieder mit Arbeiterfragen beschäftigt. Der alte Plan noch aus der Prinzenzeit, die mehr und mehr dem Monarchismus sich entfremdenden Massen zurückzugewinnen, mit neuen, breiten Lösungsmöglichkeiten. Herzenssache ist einem das – allen jungen Glauben, helfen zu können, helfen zu müssen, berufen, ausgewählt zu sein zu dieser großen Aufgabe und Pflicht, baut man in die Idee. Arbeiterschutzgesetze – ein soziales Königtum sieht man als Weg – und kommt zu ihm damit, will seine Hilfe, seine Mitarbeit – 

Es ist wiederum nichts! Mit einem ganz fatalen Zug um Mund und Augen hört er sich diese Dinge an: Stärkung der königlichen Gewalt durch die Arbeiter? Ihnen entgegenkommen? Ein Experiment ohne jede Chance! Das heißt vor ihnen demütig kapitulieren! Freiwillig Boden aufgeben! Begehrlichkeiten wecken, die unabsehbar wachsen werden! – Dazu legt er sich einen dünnen, ironischen Ton zu, wenn er auf die herangezogenen Gewährsmänner zu reden kommt – sagt vor den anderen immer nur »der Raffael«, wenn er von einem spricht, der Maler ist – und nennt das alles, was man doch aus heiliger Überzeugung will, wenn er bei seinen gleichgesinnten Leuten ist: Popularitätshascherei und Schusterei nach unten. – Am nächsten Tage kriegt man solche Ausfälle brühwarm durch gefällige Herren mitgeteilt – und kann sich dann im stillen Kämmerlein damit auseinandersetzen, wie man derlei mit seiner Königswürde vereinen mag!

Man sieht am Ende kaum noch Möglichkeiten der Zusammenarbeit. – – 

Immer noch starrt der König durch das offene Fenster in den nächtlich stillen Garten.

Irgendwo schlägt eine Uhr an. Langsam klingen die Töne herüber –. Als ob sie durch das Dunkel schwömmen: Schlag um Schlag –. Elf – 

Eine jäh aufbrechende Sehnsucht, in diese Nacht hinauszugehen – all das Grübeln, Suchen in dieser Weite von sich abzuwaschen wie in einem Bade, ist in ihm. Einmal nur diese Qual abwerfen dürfen – –!

Aber er rührt sich nicht, steht still, trägt nur in seinen Augen das Verneinen, das Wissen: Dir ist das verschlossen – 

Eine Nacht aus dem hingegangenen Frühjahr fällt ihm ein. Bei Trélon lag der Zug, und er war aufgewacht und an das Fenster seines Schlafabteiles hingetreten. Drei Uhr mochte es sein – tiefschwarz die jungen, baumbestandenen Wiesen des an den Bahndamm angrenzenden Schloßparkes, und nur ein dünner blauer Glast von Mond und Sternen. Und ein herber Duft aus Erdreich, das voll von neuem Leben ist. In der Ferne ein paar Posten – ein zur Flugabwehr aufgebautes Maschinengewehr. Und dann ein Mann, der, nur den Mantel um die Schultern, barhäuptig, ohne Mütze, die Hände auf dem Rücken am Wiesenrande hin und wider geht – und hin und wider –: Der alte Generalleutnant – der Vorgänger des Dicken im Militärkabinett. Der zweite – letzte – Sohn war ihm damals gefallen –. Nur die drei Mädchen noch –. Kaum ein paar Worte hatte er am Tag vorher geredet, als die Depesche kam – und Dienst getan. Der ging jetzt draußen auf und ab und starrte in das Dunkel – ging auf und ab – weil er es in der Zelle nicht ertragen konnte. Lud seinen Schmerz von sich – – 

Der König denkt: Und ich – wenn ich jetzt aufstünde und draußen Ruhe suchte? Sie würden mich für verrückt halten! Der Generaloberst und der Hofmarschall würden sich an mich machen – der Oberstabsarzt würde außer sich sein – 

Die ganze Eingeengtheit seines Lebens, den Zwang, die Unfreiheit fühlt er wie Lasten, die kaum zu ertragen sind.

Heftig reißt er sich los und zieht den Vorhang wieder vor.

Steht dann vor seinem Schreibtisch und denkt tastend: Was wollte ich doch noch –? Was war es nur –?

Ja – dieses war's: der Tag, an dem das Maß gerüttelt voll war – überlief – – 

Und da fallen auch schon die Bilder, die Erinnerungen wieder über ihn her, zerfleischen ihn und geben ihn nicht frei.

Ein Märzmorgen – Herrgott, als ob es gestern erst gewesen wäre! Kalt, trüb und ungemütlich. Im Auswärtigen Amt – in der Amtswohnung seines Sohnes – sucht man ihn auf. Und gleich nach zwei Minuten ist man wieder mitten in Gegensätzlichkeiten. Der Fürst dabei natürlich immer unverrückbar starr auf seinem Standpunkt. Bis an den Hals steht einem schon der Ärger – aber man hält gut an sich: er ist nun einmal so, der große Mann – muß so genommen werden – gut! In Gottes Namen also: solang es irgend geht!

Da aber bringt er, wie um jetzt erst seinen Trumpf zu geben, die Rede auf den noch immer nicht erfolgten, jetzt für den Sommer vorgesehenen Besuch in Rußland – rät wieder ab –. Und spielt einem dabei – scheinbar nur ungern, widerwillig und nur dem Druck der Umstände sich fügend, aber doch zugleich wieder mit diesem fatalen Zuge um den Mund – einen Bericht aus London in die Hände. Einen Bericht, mit dem der Botschafter Nachrichten weitergibt, die er von einem ihm vertrauten Agenten aus Petersburg erhalten hat und die angebliche Äußerungen des Zaren über das letzte gemeinsame Zusammentreffen in Peterhof in voller Wiedergabe anführen: Worte von zersetzender Kälte – absprechend, bösartig und tief verletzend. Doppelt verwundend, weil man doch an ein besonders herzliches Verhältnis glaubt und dieser Überzeugung auch, gerade vor dem Fürsten, mehr als einmal Ausdruck gegeben hat – 

Als eine rote Welle steigt es auch jetzt noch, nach beinahe einem Menschenalter, in dem König auf, da er die Szene wieder vor sich sieht: Er selbst das Papier in Händen, von dem ihn Anwürfe, Beschimpfungen, Erniedrigungen anstarren, wie sie ihm seit jenem niemals vergessenen Brief des Vaters nie wieder zugetragen worden waren. Und wieder, wie damals, als Mitwisser dieser Beleidigungen der Fürst, vor dem man, wie vor keinem anderen Menschen, um seine königliche Würde kämpft. Ihr Mitwisser allein –? Nein: diesmal ihr Vermittler! Der Fürst – der mit einem markierten Ausdruck kühlen, bekniffenen Bedauerns vor ihm steht – der ihm die ganze Demütigung und Entwürdigung dieser Szene hätte ersparen können – wenn er sie nicht vielleicht gerade herbeigeführt hat als Mittel, um sich durchzusetzen, um diese Reise nach Krasnoe endgültig abzutun –! Russische Politik galt ihm als seine und als seines Sohnes Pachtung – den Boden sollte ihm kein anderer betreten dürfen – auch ich, sein König, nicht!

Nein – nein – es ging nicht mehr! – – 

Der König denkt in fiebernder Erinnerung: Damals nach dieser Szene – damals – wie habe ich in mir gekämpft – gerungen! Verwechsle nicht den Boten mit dem Urheber der Botschaft – vielleicht hat es der Fürst wirklich für Pflicht gehalten, dich so rücksichtslos aufzuklären? – Ich habe mich zusammengerissen: Laß dich nicht durch diese dir hier zugefügte Kränkung leiten – sei sachlich – sicher durfte er nicht völlig schweigen! Ich habe ihm am Ende, als ich ging, nach schwerem inneren Kampf und Überwindung meiner selbst mit Herzlichkeit gezeigt: Auch über dieses mich aufrührende Erlebnis weg – ich will dir trauen – ich will weiter versuchen, an dich zu glauben – mit dir zu gehen – 

Ein einziges Zugeständnis habe ich dann noch von ihm verlangt. Als Souverän, als König – nur um das Gesicht zu wahren vor mir selbst: formale Dinge ging das an – Vorträge, Informationen –

Er hat das abgelehnt. Er hat sich starr auf irgend eine alte Order angehakt, hat sich als Sieger über mich gefühlt und hat diktiert –. Kapitulieren sollte ich vor ihm – 

Es ging nicht mehr – das war das Ende! – – 

Mit beiden Händen umspannt, umkrampft der König die Lehne des Sessels, der vor ihm steht.

Seine Augen bohren ins Nichts. Nur dieser eine Satz klingt immer wieder durch seine Erschöpftheit, seine Leere: – das war das Ende – 

Und dann ist da ein Warten, Stillesein und Horchen –. Unbewegt steht er – daß kein leises Rühren, kein Lidschlag es verscheuche – lauscht gespannt –. Als ob noch etwas kommen müßte, als ob die letzten Gründe, die ihn unerbittlich durch diesen Strudel bitterster Vergangenheiten zerrten, sich da entblößen, offenbaren müßten –.

Warum – warum? Jetzt – heute – hier –?

Da hebt sich langsam ein Gedanke vor ihn hin – steigt aus den Tiefen auf wie eine dunkle Blase – platzt und ist vorbei:

Und dann – drei Tage später – am gleichen Tag, an dem er sein Abschiedsgesuch übersandte – hat er Verhandlungen des Grafen Schuwalow über eine Verlängerung unseres ablaufenden Rückversicherungsvertrages mit Rußland versacken lassen – – 

Nach ihm aber hat keiner mehr diesen Vertrag erneuert. Wir haben andere Politik gemacht, neue Gruppierungen der Mächte sind geworden. Und wo zuerst in diesem von ihm errichteten riesigen Gewölbe aus Bindungen, Versteifungen und Sicherheiten der eine Stein nur fehlte, da ist ein Riß, ein Spalt und eine Kluft geworden. Vielleicht, daß alles sich anders entwickelt hätte, wenn damals diese Sicherung, über die hinweg Frankreich und Rußland niemals bis zum Bündnis hätten zueinander kommen können, aufrecht erhalten worden wäre – – 

Und noch ein anderes sieht der König sich aus diesen Bildern schälen: Sieht den Kanzler, wie er in Zwiesprachen und Vorträgen und Sitzungen immer aufs neue mahnt und warnt: Was ich an Macht und an Gewalt hinter der Königswürde aufgerichtet habe, wird untergraben, wird geschwächt mit jedem Schritte, der den Arbeitern auf den Wegen ihrer sozialistischen Forderungen entgegenkommt. Principiis obsta! Das Königtum darf nicht paktieren und nicht schwach erscheinen, sonst geht seine Linie, die bisher angestiegen ist, bergab. Haarscharf müssen die Grenzen zwischen Mein und Dein bestehen bleiben. Den unbeugsamen Willen und die Kraft, sich in nichts schmälern zu lassen, muß das Königtum erweisen, wenn es die Massen zwingen will. Auf den Stufen seines Thrones muß es mit ruhiger und fester Hand kämpfen können für sein Recht!

Und dabei ging es damals um Fragen, die beinah nichtig waren, verglichen mit den Forderungen, zu denen sich die dem Throne feindlichen Massen jetzt verbunden haben – 

Aber man hat paktiert und zugestanden – Jahr um Jahr. Und man hat Schritt um Schritt vom Boden alter Königsmacht, so, wie er sie gesehen hat und aufrechthalten wollte, verloren.

Um die Heimat zieht das dumpfe Schauen und Suchen des Königs – um die täglich sich mehrenden und schärfer werdenden Berichte über revolutionäre Umtriebe – über Streiks – Aufruhr – Umsturzdrohungen –. Um die kämpfende Front zieht es, von deren treuem Durchhalten jetzt mehr denn je alles abhängen wird –. Und er sieht mit dunklem, ahnendem Grauen, wie Tag um Tag, Stunde um Stunde, mit jedem rollenden Rad, mit jedem schlurfenden Marschtritt – mit jedem neu herangezogenen Mann, mit jedem Urlauber, der wiederkehrt aus dieser verseuchten Heimat, aus der versumpften Etappe, ein neuer Tropfen von dem Gift der heimlichen Verschwörung hinausgetragen wird zu ihnen, mit deren Treue alles steht und fällt – – 

Der heimlichen Verschwörung – –. Denn das ist es trotz all dieser beruhigenden Worte der Referenten und Behörden –. Man spürt es, wittert den Zusammenhang, sieht auf den hageren, verhungerten Gesichtern das Zeichen ihrer Zugehörigkeit – immer öfter – immer öfter – 

Und diese Masse wächst, spült gierig um die Stufen der königlichen Macht – 

Über die Stirne streicht er sich hin.

Damals? – heute? Was ist Vergangenheit – was Gegenwart –?

Wurzeln sieht er jetzt bloßgelegt, sieht einen Stamm, sieht Zweige – – 

Steht lange so, starrt in das Dämmern. – 

Ein leises, vorsichtiges Klopfen an der Türe.

Da taumelt er auf. Sein Blick streift die kleine Uhr: Um Mitternacht – 

»Ja – Schulz – ich komme gleich – –«

Die beiden Hände schlägt er vors Gesicht.

Fort. Ruhe finden. Sich aus all der ausweglosen Wirrnis dieses Fiebers lösen. Schlafen – schlafen –!

Eine heiße, erschütternde Sehnsucht nach der Erlösung und der Fortgenommenheit des Schlafes ist in ihm. Erflehen und erbeten könnte er sich diese Ruhe –!

Hinübergehen will er – und steht doch still, wie gelähmt, kann den Entschluß nicht finden – 

Als eine dunkle Angst steigt es in ihm an – Abgründe tun sich auf zwischen ihm und der Türe, die in das Schlafabteil hinüberführt.

Nerven! – denkt er – ist doch kein Wunder! Nerven –

Und steht doch immer noch auf diesem gleichen Flecke und streicht sich mit gespreizten Fingern über die Schläfen hin – –

Der alte Schulz –!

Er ruckt sich wieder auf. Das Bruchstück eines Verses fällt ihm in all seiner Benommenheit und Qual von irgendwoher zu – 

» To sleep! perchance to dream: – ay there's the rub; for in that sleep what dreams may come –«

Hamlet –? – Ach, weil ich heute auf der Warte diesem üblen Landwehrkavalleristen – – 

Heute –? War das erst heute? So lange scheint das her –

Dann jäh reißt er sich doch zusammen und geht zur Türe, öffnet – – 

 

Wie Wetterbrauen liegt es über dem neuen Tag.

Druck, Qual und Schwere des Erlebten und dunkle Angst und Sorge vor jeder neuen Stunde.

Die Nachtkämpfe südlich der Marne waren hart bis zur Unerträglichkeit – gegen den Anprall der immer neuen Kräfte, die der Feind zu seinen Gegenangriffen in das Feuer wirft. Also Einsatz des Letzten bei den durch die Kämpfe breit auseinandergerissenen, zerfledderten und aufgesplissenen Divisionen, von denen keine weiß, was sie an Kräften noch besitzt. Nur ein paar hundert Mann zählt da und dort noch der Bestand an kampffähigen Leuten. Aber die halten durch – an denen beißt der Gegner sich zunächst die Zähne aus – 

Wie die Linie läuft –? Die Stäbe tappen selbst im Dunkel. Meldungen hat man kaum. Vielleicht daß dann die Flieger Auskunft bringen – 

Die Brücken hinter denen vorne sind zerfetzt durch massenhafte Bombenwürfe der feindlichen Geschwader – ein guter Teil der Nachschubkolonnen liegt zermalmt auf den von Feuern überschütteten Straßen – 

So ist denn der Befehl der Obersten Heeresleitung heraus, da drüben alles für den Abbau und die Räumung vorzubereiten –

Der Generaloberst nimmt den Generalstabshauptmann zur Seite, wie der zum Vortrag will, fragt mit den scharfen, von den Jahren ausgeblaßten Augen.

Ein Achselheben und ein kurzer dienstlicher Bericht: Nein – alles das geht hart – es steht nicht gut.

»Na – also, Lieber – machen Sie es gnädig mit Seiner Majestät. Der Hohe Herr war gestern noch bis spät in die Nacht wach – wir müssen ihn gesund erhalten. Man muß ja bei den Dingen wohl nicht zu sehr in die Einzelheiten gehen – kann manches lassen: vielleicht steht es mittags auch schon wieder besser – dann war die ganze Aufregung gar nicht erst nötig!« –

Der König ist grau vor Abspannung, da er unter seine Herren tritt und jedem einzelnen, wie täglich, die Hand zum Gruße reicht. Runen sind um seine Schläfen, um die Augen. Silberig glänzt die gepflegte Lockenwelle über der hohen Stirne. Das zerquälte, hager gewordene Gesicht sucht, wie er so die Seinen grüßt, nach einem herzlichen Ausdruck, der Mund nach ein paar persönlichen und guten Worten. Keiner soll es entgelten – und keiner soll auch sehen, wie er leidet –.

Aber der Wille ist wohl besser als die Kraft, und keine zur Schau getragene Lebhaftigkeit kann die fressende Sorge übertünchen.

Ein paar kurze Mitteilungen streut er in die Stille.

Bei Reims geht es vorwärts – langsam, hart, aber man kommt doch weiter. Im Berggelände sowohl wie oben bei der Gruppe Ilse.

Und nach dem kurzen, lustlos hinuntergewürgten Frühstück geht es in die Wagen. Nach Süden: an den rechten Flügel der ersten Armee. Über Sissonne, Amifontaine, Berry-au Bac in das Gebiet von Reims.

Brimont – St. Thierry. Und dann in kleinen Gruppen – denn das Gelände ist vom Gegner eingesehen – zu Fuße weiter.

Hier ist man wenigstens einmal halbwegs am Feinde und nicht wieder weit hinter der Linie!

Aber der Druck über dem König und den Männern um ihn bleibt. Die kargen Worte finden nicht Zusammenhänge, sind hinweggewischt, kaum daß sie gesprochen wurden. Und die Schritte hasten, die Blicke gehen ruhelos einher –  als ob hinter dem allen unsichtbare Kräfte treibend ständen und Peitschen schwängen – 

Trübe und lastend ist der Himmel. Verborgenes Drohen birgt sich in dem stumpfen Grau. Gewitter oder Stürme, die da ihre Kräfte im Schatten dicker Dunstwände zum Losbruch sammeln. Weiß keiner, was da werden will – fühlt jeder nur die dunklen Feindlichkeiten, die sich zusammenbrauen – 

An einem Hügelhang, im Schutze des Waldsaumes wird der Beobachtungsstand eingerichtet. Noch vor kurzem haben Franzosen hier gelegen, wurde hier gekämpft. Blutfleckiges Verbandzeug, Uniformfetzen und fortgeworfene Ausrüstungsstücke liegen am Hang, im Unterholz zerstreut. Im Dickicht über altem Blut und Unrat stahlblaue große Fliegen in dicken surrenden, wimmelnden Klumpen – wie metallisch schillernde Schilder.

Jetzt wird der Tisch hier aufgeschlagen, Karten und Scherenfernrohr. Auch ein paar Stühle sind mit einem Male da. Von hier aus sieht man Reims ganz nahe, erkennt die Häuser, die Kasernen einzeln, kann an dem grausam wundgeschlagenen Leib der Kathedrale die Spitzbogen, die Rosen und die Knäufe unterscheiden. Dazu dann linker Hand die eben in vollem Fluß stehenden Kämpfe am Westrande der Stadt: das Ringen bei Courcelles, St. Price, Tinqueux.

Die Zweihundertunddreizehnte greift an – 

Ruinen, Trichterfelder. Rauchballen und Qualm von Einschlägen. Geschieße und Gehämmer. Zwischendurch Sturmangriffe: winzige Männchen, die aus Gräben, Mauerresten quellen – ganz wenige – die vorlaufen und wieder irgendwo verschwinden, vom Boden aufgesaugt und fortgenommen sind – 

Stundenlang sieht man das mit an, ist scheinbar stark interessiert – aber all diese augenfällige Hingegebenheit an das Schauspiel des Kampfes ist doch nur Tünche, darunter Unruhe, Qual, Ungeduld sich mühsam bergen. Und man wird aus dem Hin und Her, das sich da im Gelände unter Rauchschwaden und Dreckwolken regt, eigentlich nicht viel klüger – 

Zwischendurch regnet es ein wenig – große, schwere Tropfen, die vereinzelt fallen, gleichsam überfließen – und kommt dann doch nicht zum Ergusse, ist wieder dumpf und undurchdringlich grau und stumpf wie vorher. Droht weiter mit dem Druck bleischwerer Last, soweit das Auge reicht – 

Auch der Herr Kommandierende der Gruppe kommt einmal an, macht seinen Kotau und bleibt eine halbe Stunde. Ein Fünfziger: groß, wuchtig, sachlich, ruhig. Das blaue Tatzenkreuz des Pour le mérite leuchtet hell unter dem vollen, ein wenig fettigen Gesicht, das ohne viel Prägung ist, das ebenso einem höheren Postbeamten oder Eisenbahner gehören könnte.

»Tja – es geht doch noch recht schwer und nur Schritt für Schritt vorwärts. Die drüben wehren sich über Erwarten zähe – muß ihnen wohl auch ganz besonders eingepaukt sein, zu halten um jeden Preis. Und selbst kann man sich eben auch nicht mehr so aus dem Vollen rühren –. Aber es wird – gewiß, es wird! Nein – da müßte ja wirklich schon der Teufel in die Suppe spucken! Freilich ein wenig Geduld wird man noch haben müssen –«

Ein fragender Blick.

»Wir schaffen es – vielleicht schon morgen – vielleicht übermorgen – vielleicht in drei Tagen –. Und es besteht die Aussicht, daß die Heeresgruppe aus den ihr zur besonderen Verfügung stehenden Reserven den Einsatz hier verstärkt –«

»So – so –?«

Der Kampf geht weiter. Der Herr Kommandierende zieht wieder los. Der Generalstabshauptmann begleitet ihn – er will telephonieren.

Der König quält sich, aufgewühlt durch Sorgen, um den Stand des Ringens: Also heute wieder nichts! Vielleicht morgen – vielleicht übermorgen – vielleicht in drei Tagen –. Vielleicht nie –!

Angst, dunkles Grauen vor der Zukunft ist in ihm. Immer wieder das angespannte Haschen, Hasten, Jagen nach dem Ziele hinter diesem ewig weichenden Vielleicht – und dann, wenn man die Sicherheit beinahe schon zu halten glaubt: ein Teilerfolg, dessen Auswirkung einem zwischen den Fingern zerflattert und verrinnt – ein Fehlgriff –. Sein Hoffen auf das Morgen, auf das Übermorgen ist allzuoft zu furchtbar enttäuscht worden, als daß es sich jetzt wiederum erheben könnte – 

Der Generaloberst läßt den Thermophorkoffer auspacken. Im zerstampften Rasen des Waldhanges, zwischen den modernden und verwesenden Resten kaum versunkener Kämpfe, zwischen durchbluteten Kleiderfetzen und verrotteter Verbandgaze blitzt und blinkt das weiße Metall mit dem königlichen Initial und der Krone.

Irgendwo in der Ferne gewittert es.

Aus silbernen Tellern ißt man den Löffel Erbsensuppe, aus silbernen Bechern trinkt man den Schluck dünnen Wein.

Unsagbar träge rinnt die Zeit.

Wie Herbstblätter im Nebel fallen und verwehen die Worte des Gespräches.

Von der Herrlichkeit der Kathedrale spricht der König – ist dann mit einem Male in der deutschen Heimat und bei Erinnerungen an die alte Augustiner-Klosterkirche zu Ravengiersburg auf dem Hunsrück – bei fernen Einzelheiten alter romanischer Baukunst –. Redet vor sich hin – trifft bald den einen, bald den anderen mit seinem Blick, lenkt sich gewaltsam ab von einem uferlosen Grübeln, das ihn bedroht – 

Ahnungslos unter der Geste regen Interesses nickt der lange Gardedukorps. Und der kleine dicke Benzinhauptmann mit den vielen schönen Kriegsorden kriegt einen roten Kopf und muß an die Reifenpanne denken, die sie damals im Soonwald hatten, wie sie die Lausestraße von Kreuznach her hinüberfuhren – 

Drüben im Kampfraume von Reims ballert es weiter – 

Dann ist der Generalstabshauptmann wieder hier. Atemlos, eilig tritt er an – er hat Verbindung mit Avesnes gehabt: Der General war eben im Begriffe, nach Rethel zur ersten Armee zu fahren, um dort die Einzelheiten über die verschärfte Fortsetzung des Angriffes auf Reims mit dem Armeeführer und seinem Chef zu besprechen. Die Aussicht, hier bald zu einem abschließenden Ergebnis zu gelangen, sei unverändert gut. Im übrigen sei ein neues Unternehmen nahezu schlagfertig vorbereitet – darüber werde er noch am Abend nähere Meldung nach Bosmont gelangen lassen.

Da beginnt die Phantasie des Königs doch wieder sachte aufzustreben, erst zaghaft nur, dann gieriger, um diesen Ausblick zu tasten und Möglichkeiten auszubauen –: Wenn Reims erst fällt – und wenn es dann vielleicht doch noch gelingt, rasch einen schweren neuen Schlag zu landen – den Mißerfolg des Marnestoßes unter dem starken Gelingen dieses neuen Unternehmens zu begraben –. An den Gegner denkt er, an die Wirkung auf die gärende Heimat, an die Resonanz draußen in der Welt – –. Nicht Zeit dürften die drüben finden, in ihrem Jubel über unseren Echec warm zu werden – da müßte schon der Rückschlag über sie herniederbrechen! Mitten in ihrem ersten Siegestaumel müßte er sie treffen – und müßte so doppelt wirken – – 

Drüben in Rethel bei dem braven Knautschke ist der General in dieser Stunde. Worte, die der alte Armeeführer gestern in dem verkommenen Garten des Armeeoberkommandos aussprach, wie er da klein und dürr und trocken über den von Unkraut überwucherten Weg hinstapfte, stehen wieder auf und stärken ihm das Herz. Die dünne greinende Stimme, die voll der heiligen Überzeugung eines erfahrenen Soldatenlebens ist, glaubt er zu hören: »Denn die Tat ist alles – und berechtigt zu jedem ehrlichen Glauben an den Sieg sind wir, solange wir den Willen und die Kraft zum Handeln vor den anderen haben: solange wir das neue Schlachtfeld wählen und den Tag!«

 

An diesem Abend in Bosmont, noch ehe man sich an die Tafel setzt, erhält der König Vortrag zu dem ausführlichen Bericht des Ersten Generalquartiermeisters über den Stand um Reims.

Der General ist von seiner Besprechung mit Below wieder zurück. Der Kampf um die Stadt soll mit wesentlich verstärktem Einsatz von Reserven weitergehen – aber die Lage beim Gegner und der Zustand der augenblicklich noch im Angriffe stehenden Divisionen machen klar, daß bis zum Reifen des Erfolges doch eine weitere Spanne Zeit wird angenommen werden müssen, so sehr erwünscht auch ein rasches Erreichen des Zieles wäre. Einschiebung neuer Stoßkräfte – Zeit – ungestörte fürsorgliche Arbeit. – Um gegen ablenkende Zwischenfälle möglichst gute Sicherheiten zu schaffen, hat der General auch bei der Heeresgruppe Kronprinz auf ein paar jetzt noch auffallend ruhige Frontstellen im Raume nördlich und östlich von Compiègne hingewiesen. Denn Feststehen dieser Abschnitte und namentlich der Westfront unseres von der Aisne bis an die Marne vorgeschobenen Bogens muß als Voraussetzung für die Operationen am Fuße seiner Ostfront gelten. Und schließlich fordert unser Vorgehen bei Reims den Gegenzug geradezu heraus. Also: Vorsicht, Verstärkung der hinter der ersten Linie bereitgestellten Eingreifdivisionen – die Wechselwirkung dieser beiden Pfeiler Soissons und Reims stets fest im Auge – –

Und auch welchen neuen Schlag gegen den Feind die Oberste Heeresleitung im Sinne hat, weiß der König jetzt.

Der General fährt heute nacht zur Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht: der kommende Stoß soll den englischen Nordflügel angreifen und soll im Anschlusse an unseren Erfolg während der Frühjahrsoffensive das beherrschende Höhenland von Poperinghe bis Bailleul und das Höhengebiet von Hazebrouk als nächsten Boden in unsere Hände bringen. Die planmäßige Vorarbeit ist lange schon getan – die schwere Artillerie, die Minenwerfer, Flugparks rollen seit vierundzwanzig Stunden schon aus dem Gebiet von Reims, aus der Champagne auf ungezählten Achsen ab nach Flandern.

Sichtlich gehoben von dem Ausblick in die neue tatkräftig ergriffene, großzügige Aktion, berichtet der Generalstabshauptmann dem König über diesen Plan der Heeresleitung. Sachlich bleiben seine Worte, aber die jungen Augen haben wieder jenen Glanz und Eifer, den sein allerhöchster Herr so gerne sieht – 

Willig folgt der König. Neue Abschnittskarten liegen ausgebreitet – neue und doch aus alten schweren Kämpfen wohlbekannte Namen fallen – nach neuen Zielen drängen die Gedanken. Und wie Kulissen bauen sich die Folgen des Gelingens als neue Möglichkeiten hinter diesen ersten Zielen auf, wollen in ersehnte Fernen locken. Gewaltsam hält der König an dem Nächsten fest: Während sie uns noch voll beschäftigt mit dem Abbau unserer riesigen Angriffsfront in dem Gebiete der Champagne und an der Marne glauben, stoßen wir schon wieder mit zwei Armeen nördlich der Lys auf sie ein! – Wer das kann – Tage nur nach solcher furchtbaren Enttäuschung – der hat ein Recht zu hoffen, daß er mit Gottes Hilfe durch eigene Kraft sein Schicksal doch noch glücklich wenden werde!

Indessen, während der Generalstabshauptmann so im Arbeitsabteile des Königs weilt, stehen draußen im Dämmerlichte unter den verwilderten Obstbäumen der greise Generaloberst, der Hofmarschall und der Oberstabsarzt. Schon für die Tafel umgekleidet – kein Stäubchen an den langen scharf geplätteten Beinkleidern, an den blanken Lackschuhen – sind die Herren, lugen ein wenig ungeduldig nach dem Wagen des Königs hinüber und stecken mit bedenklichen Mienen die Köpfe zusammen.

Die dunklen Augen in dem vollblütigen, leise nickernden Gesichte des Hofmarschalls flitzen umher und sind voll tiefen Vorwurfs: »Kaum verantwortlich, wie sehr der gute Generalstabsknabe Seine Majestät in Anspruch nimmt! Gewiß – gewiß – bei allem Verständnis für diese Dinge: aber ein bißchen mehr Anpassung an die allgemeinen Umstände müßte da doch wohl möglich sein.« – Auch nach dem Küchenwagen hin streifen die schwarz glänzenden Beeren, wo doch der Koch nun schon seit beinahe einer halben Stunde mit dem Anrichten warten muß –. Besser wird doch das Essen dadurch sicher nicht – 

Der Generaloberst, der sich mit der großen, wohlgepflegten Hand massierend über die Rippen streicht, geht noch weiter: »Und überhaupt, was Seine Majestät sich in diesen letzten drei Tagen an Anstrengungen zugemutet hat, ist zweifellos weitaus zu viel, und so darf das nicht weitergehen. Schließlich ist man doch haftbar für die Folgen jeder Übertreibung: und Tag für Tag vom Morgen bis zum Abend draußen – dazwischen aber schlechte Nächte auch noch – nein: das geht nicht an! Diese letzten Tage haben Seine Majestät über Gebühr angestrengt, er sieht abgespannt aus, müde – ruhebedürftig!«

Das dichte Netz der feinen Äderchen über den Backenknochen, den Wangen des greisen Kommandanten des Großen Hauptquartiers ist rot durchblutet, die scharfen, ausgeblaßten Falkenaugen stechen auf den Leibarzt ein, nageln ihn fest, als trüge er die Schuld an diesem Nachlassen der Frische Seiner Majestät.

Der Oberstabsarzt kann nur zugeben, daß all diese Unruhe und Aufregungen – –. Also: Ein Ruhetag nach all den bisherigen Strapazen erscheint ihm vom ärztlichen Standpunkte und aus gesundheitlichen Gründen für Seine Majestät dringend geboten. – Und er denkt, während er noch redet: Ach ja – und dann kommt man auch endlich wieder einmal zu einem Briefe nach Hause und zu einem guten Buche – 

»Richtig!« Der Generaloberst nickt beistimmend. »Und überdies würden ja auch die Kabinettchefs, wie mir die Herren sagten, eine solche Pause dankbar begrüßen. Ihr Material ist stark aufgelaufen, sie legen besonderen Wert darauf, Seiner Majestät bald Vortrag halten zu können – dazu bietet sich dann morgen Gelegenheit –«

So ist man sich einig.

Und als die Herren später nach der Tafel dem König gesprächsweise und im Aufmarsch von drei Seiten diesen Vorschlag unterbreiten, erklärt er sich – namentlich mit Rücksicht auf das Arbeitsmaterial der Kabinette und des Auswärtigen Amtes – rasch einverstanden.

Also morgen Ruhe – 

 

Erst für halb neun ist das Frühstück angesetzt. Aber vor acht schon hängt der Hauptmann wieder an seinen Verbindungen zur Obersten Heeresleitung.

Ein junger Offizier hat drüben Dienst und gibt eilig und mit gehetzter Stimme Auskunft: »Neues? Nein – von Reims ist nichts Besonderes gemeldet. Die ersten neuen Einsatzkräfte sind herangebracht, die Ablösungen haben begonnen. Das Ding geht eben sachte weiter –. Aber – –«

»Ja –?«

Ein Zögern drüben – und dann anderes: »Im Berggelände an der Ardre hat der Feind die gestern schon unternommenen Angriffe auch nachts mit Nachdruck aus tiefer Gliederung fortgesetzt, ist aber überall zurückgewiesen worden. – Und unten am Südufer der Marne wird mit aller Vorsicht der Abbau eingeleitet. – Was läßt sich da viel sagen? Die Truppe hat bei diesem blödsinnigen Feuer und bei den schwierigen, beinahe stets mit Bomben eingedeckten Verbindungswegen natürlich reichlich auszuhalten. Kaum daß man die notwendigste Verpflegung in die Linie vorschaffen kann –. Zum Teile jetzt durch Flugzeugabwurf –! Sonst noch? – Nun ja – gewiß, es liegt da eine Nachricht vor, aber die ganze Sache ist noch völlig unklar –. Also: drüben am rechten Flügel der siebenten ist irgend etwas passiert – und, wie es scheint, auch weiter oben, bei der neunten –. Wahrscheinlich haben die Herrschaften wieder einmal nicht aufgepaßt! – Aber die Meldungen sind bisher so widersprechend, so verworren und – nun ja: zum Teil alarmierend – ein klares Bild läßt sich daraus noch nicht gewinnen –. Nur so viel steht fest: Der Gegner hat heute mit dem ersten Lichte angegriffen und scheint ein paar Gräben überrannt zu haben. – Franzosen und Amerikaner. – Nun wird daraus in der ersten Bestürzung wohl wieder einmal mehr gemacht. Nervositäten, von denen wir uns nicht anstecken lassen wollen! Aber irgend eine nicht unbeträchtliche örtliche Schweinerei ist da jedenfalls los –. Und, nicht wahr, Sigurd: das zunächst völlig unverbindlich. In einer Stunde wissen wir wohl mehr – dann fragst du noch einmal vor? Bis dahin also! – Der General? Der ist bei der Heeresgruppe Rupprecht drüben – kommt wohl erst abends wieder –«

Das Weckwerk surrt.

Der Generalstabshauptmann legt den Hörer auf: Drüben am rechten Flügel der siebenten und weiter oben bei der neunten –? Das Bild der Karte sieht er vor sich: Das ist die Stelle, an der unser großer, von der Aisne bis an die Marne vorgeschobener Sack den westlichen empfindlichen Schnürpunkt hat –. Irgend etwas läßt ihn sekundenlang bei dem Gedanken verweilen – an den letzten Hinweis des Generals auf die Druckstelle muß er denken –. Und macht sich dann frei: sicher eine wild übertriebene Nachricht – in einer Stunde sieht man klar – 

Aber es währt keine Stunde – 

Gleich nach dem Frühstück ist es. An der Tafel sitzt man noch im Gespräche, als eine Ordonnanz den Generalstabshauptmann an den Fernsprechapparat holt. Er werde dringend verlangt: Avesnes – 

Der König, dem kein Wort entgeht, blickt aufmerksam hinüber; fragende Spannung und Sorge flattern schattend um seine Stirne, seine Augen: Was gibt es nun wieder? Aber da nickt er schon dem Offizier aufmunternd, lächelnd zu: »Nur los, mein Lieber! Und dann gleich zum Vortrag drüben –!«

Eine Sekunde steht der Hauptmann dienstlich stramm: »Jawoll, Euer Majestät!« – 

Dann ist er fort. Schweigen bleibt hinter ihm – als ob sie alle jetzt auf etwas warteten – 

Als er erst außer Sicht ist, läuft er durch die engen Wagengänge, daß die Ordonnanz ihm kaum folgen kann. Einen Burschen, der ihm in den Weg kommt, schiebt er kurz beiseite: »Stopp, mein Jung'!« Die hohen Stiefel klappern, die Sporen zirpen – 

Jetzt wird er hören –. Durch den Wohnwagen des Königs hastet er – alles egal! Die dumpfe Ahnung eines großen Unglückes ist plötzlich in ihm wach und peitscht ihn vor – 

Das erstaunte Gesicht des alten Schulz sieht er – als ob der dächte: ›Daß du die Nas' ins Gesicht behältst –!‹ Muß irgendwie in aller Aufgerührtheit lachen – und ist weiter – 

Endlich die schallsichere Zelle. Die dick gepolsterte Türe. Den Hörer hält er und nennt seinen Namen – horcht – –

Da –!

Drüben der gleiche junge Offizier wie vorhin – diesmal im Auftrage des Generalfeldmarschalls. Und seine Worte drängen, überstürzen sich erregt, entfesselt aus einer geschnürten Kehle.

»Also die Nachrichten der Armeen liegen jetzt vor – natürlich immer nur noch Stückwerk, aber doch so, daß man den Schaden ungefähr besehen kann. Faul – schlimmer als alles, was man nach den ersten Meldungen befürchten konnte – 

»Es ist da in der Tat ein Großangriff mit weit überlegenen Kräften erfolgt: Tankgeschwader mit noch nicht dagewesenem Einsatz vorweg –. Längs des ganzen Frontabschnittes zwischen Aisne und Marne ist der Angriff vorgebrochen – namentlich aus den riesigen Waldgebieten von Villers-Cotterêts – ohne viel Vorzeichen – ohne lange Artilleriearbeit – nach einem nur ganz kurzen Feuerüberfall. Und unsere vordere Abwehrtruppe ist glatt unter diesem Stoße aufgesplittert – hat den Kopf verloren und versagt. Panikartig –! Divisionen, die wir immer für gut gehalten haben – und die früher sicher gut gewesen sind – durchstoßen – abgekämpft – gefangen – viele Tausende!«

»Herr Gott noch mal!« Die Hand des jungen Generalstabshauptmanns, die den Hörer an das Ohr preßt, zittert. Sein Gesicht ist bleich, im Schlund zerrt ihn ein Würgen. Wie vor den Kopf geschlagen ist er von der Nachricht –. Und während er sich noch in eingedrillter, anerzogener Tenue zurechtreißen und zwingen will, sich ruhig, sachlich, nur Verstand, nur Wille vor dieses ungeheure Ereignis hinzubauen, spürt er die heiße Welle aufspringen, die alle Ruhe, alle Sachlichkeit überspült – denkt er, mitfortgerissen von jäher dankbarer und mitleidvoller Liebe und Verehrung für den armen und immer gütigen Mann – erschüttert bis ins knabenhafte Herz: Und ich – ich soll ihm das berichten – ihm diesen Schlag versetzen –?!

»Sigurd –? Bist du noch da?«

Ganz wirr ist ihm – daß er sich erst zurückfinden muß –: Wever – ja, richtig – Wever ist dort drüben –: »Ja – ja – natürlich –«

»Notierst du?«

»Ja – gewiß –.« Unsicher tastet die freie Hand nach dem Block – nach dem Bleistift.

»Also die Linie ist in ihrem ganzen Zuge von Ambleny bis Chézy überrannt, der Einbruch namentlich in Richtung auf Soissons und im Savièresgrund besonders tief: fünf – sechs – sieben Kilometer –. Hier ist dann und hier wird dann von den rückwärtigen Unterstützungen zunächst mit allen Mitteln ein neuer Widerstand organisiert –.«

»Wird die Truppe jetzt wenigstens halten können?« Der Hauptmann starrt auf den weißen Block, auf dessen Papier seine Hand sinnlose Kurven mit dem Bleistift zieht.

»Wissen wir auch nicht –! Was zu ihrer Unterstützung nur irgend möglich ist, geschieht – aber das alles braucht natürlich Zeit. Wenn sie inzwischen durchstoßen, holt uns der Teufel –« Heiser und wie gedrosselt klingt die Stimme von drüben – 

– wenn sie inzwischen durchstoßen –! Der Hauptmann sieht den an der Marne vorgetriebenen Schlauch, der vollgepackt ist mit kämpfenden Divisionen, mit ungeheurem Material, mit riesigen Beständen einer Armee –. Wenn sie inzwischen durchstoßen –! Weg wäre das dann alles – geschnappt und abgeschnitten – die Katastrophe! Er stößt hervor – und weiß selbst kaum, wie ihm aus diesem Bilde höchster Not jetzt die Frage nach dem einen Manne auf die Lippen springt: »Der General –?!«

»Er ist bei Rupprecht und sofort verständigt worden – hat auch von dort aus bereits eingegriffen. Er will um zwei Uhr etwa hier sein können zur Beratung – 

»Und was sagt der Generalfeldmarschall?«

»Er ist sehr ernst – aber ruhig wie immer. Will vor entscheidenden Entschlüssen erst die Rückkehr des Generals abwarten. Aber er wünscht, daß Seine Majestät sogleich rückhaltlos von dem ganzen Ernst der Lage verständigt werde – denn wie die Dinge sich weiter entwickeln, läßt sich bei aller Zuversicht, daß es uns gelingen werde, das Schlimmste zu verhindern, nicht übersehen. Also – –?«

Schweigen. Und nur von nebenan ganz dünn, ganz dünn – gedämpft durch die dicken Polsterwände das Ticken und Klopfen der Telegraphenapparate.

Und mühsam dann die Antwort, die sich aus Druck und Qualen zum Entschlusse des Soldaten ringt: »Gewiß – ich werde Seiner Majestät sogleich Meldung machen –. Und wenn ihr Neues wißt – natürlich sofort –?«

»Ja – ganz selbstverständlich –.« – 

Dann ruht der Hörer wieder auf der Gabel. – 

Minuten später steht der Generalstabshauptmann im Arbeitsraume des Königs. Nur ein paar Karten hat er vorher noch in seinem Abteile zusammengerafft, die knistern leise in seinen Händen.

Über Akten gebeugt sitzt der König und scheint in die Lektüre vertieft. Gleich nach ihm muß er von der Frühstückstafel aufgebrochen sein – 

»Gleich, Lieber – einen Augenblick – – 

Still sieht der Hauptmann auf den Lesenden nieder, auf diese Welle silbergrauen Haares, auf den Streifen der gebräunten, in diesen Tagen so straff und hager gewordenen Wange. Er kennt diese scheinbare Ruhe, weiß: jetzt schlägt sein Herz voll Sorge und Erwartung – jetzt zwingt er sich zu dieser Geste der Versunkenheit, während die Buchstaben auf dem Papier vor seinen Augen flimmern und nichts von dem Sinne der geschriebenen Worte zu ihm findet – 

Dann, jäh, schiebt der König die Blätter von sich, wendet den Kopf, sieht auf: »So – bitte – –.« Schluckt trocken, wie sein Blick auf dieses bleiche und erregte Gesicht des jungen Offiziers trifft – spürt in dem gleichen Augenblicke hellsehend scharf, daß furchtbare Erschütterungen unabwendbar wie Wogenkämme auf ihn zukommen, ihn überfluten wollen – und fragt doch hastend, mit einer Grimasse, die nach einem Lächeln hascht und mit dem letzten Herzschlag noch ein Schicksal täuschen, ihm entwischen will: »Ja – also hat sich das Orakel von Avesnes – gelöst – –?«

Nur ein Nicken hat der andere erst als Antwort – steht dienstlich zusammengenommen, würgt an seiner harten Pflicht. Und dann in diese Stille, in die nur von draußen durch ein halb offenes Fenster ein undeutliches, heiteres Hin- und Widerreden von ein paar Pionieren klingt, die an dem Bahndamm harken, aus belegter, enger Kehle der Bericht. Worte, die nach Sachlichkeit und Ruhe ringen und die das Zittern der Erregung doch nicht niederhalten können.

»Der Herr Generalfeldmarschall befiehlt, Euer Majestät zu melden, daß der Gegner heute morgen im Raume zwischen Aisne und Marne, südwestlich von Soissons, überraschend und mit starken Kräften angegriffen und längs seiner ganzen Angriffsfront Erfolge errungen hat – –«

Als ob mit einem Male kein Tropfen Blut mehr in dem Angesicht des Königs wäre –. Gelbgrau – und seine aufgerissenen Augen starr mit krampfhaft klein gewordenen Pupillen in dem jäh über ihn hereingebrochenen Entsetzen –

Wieder redet der Hauptmann – redet, als spräche da ein anderer aus diesem dienstlich aufgerichteten Körper: »Unsere erste Stellung ist durchstoßen worden – der Einbruch hat erhebliche Tiefe erreicht, und die Verluste an Gefangenen und Material sollen sehr bedeutend sein –. Die Lage wird seitens der Obersten Heeresleitung als überaus ernst beurteilt –«

Der König sagt kein Wort – nur seine Augen starren immer noch, weit aufgerissen, glasig. Und um die Kinnladen, die spitz und knochig sind, und um die straff gewordenen Backen geht ein Zerren – 

Den Kopf läßt er dann sinken und sieht blicklos und wie fortgenommen aus der Enge dieser Umwelt auf das dunkelgrüne Leder des Arbeitstisches nieder.

Und nickt ein paarmal – nickt ein paarmal. Sagt auch etwas – aber es ist nur das Klaffen und sich wieder Schließen seiner Lippen. Ein einziges Wort glaubt der Hauptmann dabei zu ahnen:

»– Ende – –«

Der Offizier zwingt sich – tritt einen Schritt heran: »Euer Majestät, die Oberste Heeresleitung hofft, daß es uns gelingen werde, den Einbruch abzudämmen – es wird gekämpft – 

»– – ja – –«

Und wieder Schweigen.

Draußen die Pioniere müssen jetzt näher noch mit ihrer Arbeit herangekommen sein – ganz nah, beinahe als ob sie an dem Unterbau des Wagens kratzten, klingt ihr Scharren, Harken – 

Nur die Hand hebt der König ein wenig an.

Da ist der Hauptmann am Fenster, ruft etwas hinaus.

Wie abgeschnitten alles. Geräte werden zusammengenommen, Schritte schurfen vorsichtig ab. Und das Fenster gleitet zu.

Mit dem Kinn weist der König vor: »Die Karte, bitte –.« Erloschen, farblos ist seine Stimme.

Jetzt liegt das Blatt vor ihm, und er sieht stumpf und bitter darauf nieder. Wo hier im Zug der Linie zwischen Aisne und Marne noch das Gewirr der blauen Adern – der Sappen, Gräben, Zugangswege, Drahtfelder, Widerstände – eingezeichnet ist, sitzen jetzt die Franzosen – richten sich als Sieger ein –. Und irgendwo weit hinter dieser Linie wird von eilig zusammengerafften Kräften gerungen, um ihren Stoß, der weiter drängt, zum Stehen zu bringen – – 

Unfaßbar ist ihm alles das – 

»Was haben Sie für Einzelheiten?«

Der Hauptmann redet, wiederholt, was er erfuhr – zeichnet zwischendurch, vorgreifend, mit dem Kohlenstift ein paar dicke Pfeile in Richtung der Angriffstöße auf das Blatt.

Der König wirft kaum hier und da mit halber Stimme ein Wort in den Vortrag ein. Ihm ist es jetzt für Augenblicke, als wäre alles das, was hier an ihm vorübergleitet, gar nicht die Wirklichkeit – als wäre es ein schwerer, unsinniger Traum, den er nur nicht von sich schütteln, aus dem er sich nur nicht zum Wachen und Bewußtsein ringen kann – 

Er fragt: »– und um zwei Uhr – um zwei Uhr sagten Sie? – will der General wieder – –?«

»Jawoll, Euer Majestät –«

Einen Kilometerzirkel hat er vom Tisch gegriffen, läßt ihn sinnlos durch seine flatternden Finger gleiten. Weit fort von diesem Spiel sind seine suchend tastenden Gedanken – Und halten dann ihr Ziel – 

Da ist ein Satz – der Fetzen eines Satzes – den starrt er an, von dem kommt er nicht los: »– solange wir das neue Schlachtfeld wählen und den Tag –«

Er denkt feststellend und erkennend: Jetzt haben nicht mehr wir – jetzt haben die anderen drüben ihr Schlachtfeld ausgesucht und ihren Tag gewählt – – 

Reims? Flandern? Nein – das haben sie uns aus der Hand geschlagen: sie wollten anderes und kamen uns zuvor mit ihrem Willen –

Der ist jetzt über uns – 

Das ist der Umschwung gegen uns – das Ende – 

Über die Stirne streicht er sich –. Etwas wollte er doch noch? Ach ja – da ist ja immer noch – 

Er sagt mit allem Willen zu ruhiger Haltung und Sachlichkeit: »Ich wünsche jede Stunde etwa Bericht von Avesnes –.«

Ein Gedanke zieht ihm wirr, quer und beirrend durch seine Worte: ›Stündlich einen Eßlöffel voll –‹. Er schüttelt ihn von sich.

»Alles, was vorliegt, ist zu melden. – Dem Generalfeldmarschall teilen Sie mit, daß ich um vier Uhr bei ihm in Avesnes sein werde – um diese Zeit werden die Herren sich ja auf jeden Fall schlüssig geworden sein, was jetzt geschehen soll. – Der Generaloberst ist über die Fahrt zu verständigen, er soll die nötigen Anordnungen treffen.«

Dienstlich gerichtet steht der junge Offizier: »Zu Befehl, Euer Majestät –«

Ein wenig schiebt der König die Karte von sich, und der Hauptmann tritt näher, beugt sich vor und faltet sie zusammen. Seine Finger sind unsicher, zittern – 

Auf diese Finger blickt der König – nickt leise vor sich hin – und sieht dann auf, trifft in den abirrenden Blick des andern –.

Die Hand hebt er – und läßt sie wieder sinken. Und sagt mit einem Rest von Atem und einer Stimme, die aus warmen Tiefen kommt und alle Qual durchbricht: »Ja – mein Lieber – –«

Und schluckt dann würgend mit leerer Kehle.

 

Der Vormittag geht hin in Arbeit.

Die angesagten Vorträge hört der König. Pflichterfüllung vor allem – 

Er hat das unsoldatisch fettsüchtige Militärkabinett bei sich, das unter anderem mit gutmütig-sadistischer Behaglichkeit die Skalps von einem reichlichen Halbdutzend von Kommandierenden und Chefs im Anschluß an den Mißerfolg der Offensive fordert und seine Vorschläge für den Ersatz unterbreitet – er läßt sich von dem grauen Admiral die jüngsten Wunder der Tiefsee erzählen – und hört den arbeitsüberladenen Zivilchef und den unergründlich glücklich lächelnden Legationsrat.

Schweigend folgt er den Darlegungen der Herren, zwingt sich mit aller Kraft in den Gang der Geschäfte und kann sich doch bei allem Willen, einzutauchen in den Augenblick, aus seiner bohrenden Qual, nicht lösen. Dunkel spürt er: sie merken es! – ahnt er auf ihren Gesichtern und aus ihren Stimmen und Gebärden das neugierige, nur mühsam verhaltene Wittern, Tasten, Fragen –. Ein wenig zu tief und schwelgerisch versinkt der dicke General in seinen badischen Dialekt – und reichlich viel Belege packt der sonst so wortkarge Tonnage-Patjomkin heute aus – 

Aber nur einem spricht der König in ein paar Andeutungen von den Vorgängen im Kampfgebiete und von seinen Sorgen: dem alten Freunde, der mit ernsten, stillen Augen nickt und dann mit seiner leisen und behutsam guten Stimme ein paar menschlich beruhigende Worte in die Stille streut – 

Und zwischen all den wechselnden Gestalten, die da mit Briefen, Akten, Mappen kommen und wieder gehen, ist zwei-, dreimal der Hauptmann da und gibt Bericht.

Es ist nicht sehr viel Neues, was sich so nach und nach bis gegen Mittag über die Lage zusammenkrümelt, aber die Gründe der ersten Überrumpelung enthüllen sich doch jetzt klarer. Auch um die Linie, in der gerungen wird und die man gegen alle weiteren Anstürme zunächst zu halten hofft, weiß man jetzt ungefähr Bescheid: Sie geht im Savièresgrunde etwa durch Vierzy und scheint im Süden das Dorf Courchamps zu schneiden. – Zu dem Vorgange selbst steht fest, daß zunächst die südwestlich Soissons eingesetzten Divisionen sich unter dem hier ganz besonders starken Druck der unter dichtem Nebelschutz aus dem Waldgelände von Villers-Cotterêts entwickelten und plötzlich vor und in den Stellungen auftauchenden Massen über den Haufen werfen ließen. Hier stieß der Gegner mit dichten Tankgeschwadern und Infanteriewellen sein erstes tiefes Loch –

Ganz zweifellos liegt bei dem Angriffe die Absicht eines Durchstoßes bis auf Soissons und weiter vor und so, in planmäßigem Zusammenhange mit den gleichzeitig verschärften Angriffen im Reimser Bergwald, der Versuch, unseren ganzen Sack im Raume zwischen Aisne und Marne und südlich der Marne an seinem Halse durchzuschneiden –. Daß sich der Gegner mit dem bisherigen Erfolge dieses ersten Stoßes zufrieden geben werde, darf man nicht hoffen, der Kampf gewinnt mit jeder Stunde mehr das Bild einer den ganzen Frontabschnitt von dreißig, fünfunddreißig Kilometern erfüllenden Schlacht, gegen deren Bedeutung die Wichtigkeit der anderen Unternehmungen zunächst zurücktritt. – 

Bis er zur Tafel geht, bleibt der König in seinem Arbeitsraume. Nur ein Drang ist in ihm: abgelenkt über die Zeitspanne, die da vor ihm liegt, hinwegzukommen, diese ihm selber kaum begreifliche Entferntheit von den Ereignissen festzuhalten und so die Stunde zu erreichen, in der er die beiden Männer sprechen wird. Einmal streift dunkel hinhuschend ein erkennender Gedanke durch sein Gehirn: wie ein Nachtwandler, der nur starr und mit fortgewandtem Blick in eine leere Weite sieht – und der um alles nicht bewußt werden und in die abgründige Tiefe hinunterschauen darf – sonst bricht er nieder – 

Überwindung kostet es ihn dann, in den Speisewagen hinüberzugehen – all diese Augen wieder verstohlen auf sich umherkriechen, an sich herumrätseln zu fühlen. Aber sie sollen nichts finden, und zehnfach will er sich verschließen. Sie sollen höchstens, wenn sie schon etwas aufgeschnappt und erfahren haben, erkennen: auch unter diesem Rückschlage hält er sich königlich und unerschüttert –

Mit einem heiteren Grußwort, den Versuch zu einem scharf und maskenhaft wirkenden Lächeln auf den grauen, abgehetzten Zügen, tritt er zwischen seine Herren, geht er auf seinen Platz zu. Jede Bewegung will Sicherheit und Ruhe zeigen.

Blumen stehen vor seinem Gedeck – er nimmt den Duft und dankt dem Hofmarschall über den Tisch hinweg mit einer liebenswürdigen Geste. Denkt dabei bitter: Komödie!

Wie auf ein Stichwort haben sie auf seinen Eintritt gewartet: Wird er bedrückt erscheinen? – dann wird man auch die Brauen hochgezogen und die Lippen fest geschlossen zeigen. – Wird er wettern? – dann wird man gleichfalls finden, daß eben doch nur ganz unerhörte Mißstände da vorne zu dieser Panne führen konnten.

Aber er hat beinahe gelächelt – hat für die Blumen gedankt! – er will, daß man nichts gehört habe und nichts wisse. Die blanken Augen des Hofmarschalls flitzen rechts und flitzen links. Wie ein Kapellmeister ist er, der sein Orchester überschaut, ehe er das Stäbchen zum Einsatz hebt. Ein Rühren geht durch die Doppelreihe der Herren, als ob da, unhörbar und doch für jeden klar, eine Parole ausgegeben wäre. Man wird sich also ahnungslos und ungezwungen mit einer taktvoll zurückhaltenden Freiheit geben – 

Aber so völlig glatt geht das dann doch nicht.

Der König ist sichtlich zerstreut und abgelenkt. Manchmal ist das Gespräch mit einem Male aus. Dann wieder stürzt er sich auf ein Wort, eine Frage wie ausgehungert hin, hält die und redet – redet –

Jagd?

Ach ja – Jagd – –. Vorbei. Und nur die Gabeln und die Messer klingen leise an.

Der Hofmarschall denkt bekümmert: Während des ganzen Krieges haben wir ihn dazu doch niemals wieder kriegen können. Ein Jammer –!

Nur unten bei den jungen Herren flüstert der Semmelblonde noch die Geschichte einer fabelhaften Dublette, die er auf Urlaub auf dem Gute seiner Tante – 

Da wirft der Fürst sich in die Bresche, sagt, neuanknüpfend hell: »Eier Majestät – also der Nikki Esterházy – ich war doch bei der letzten Hirschbrunft dort – der is jetzt aber auch schon völlig taub – richtig terrisch –. Also zu dumm! Sagt er mir – ›Hans‹ – sagt er mir – ›weißt, mit meine Hirschen, da hab' ich jetzt was ganz Neies beobacht't – ganz erstaunlich: du, die rohren und schreien gar nimmer in der Brunft – weiß Gott, was die Ludern haben? – mäuserlstill sein s', machen nur immer mit dem Geäse soo – soo –!‹« Und er läßt die hohlen Schalen seiner mit den Handwurzeln aufeinander gelegten Hände wie zwei Kinnladen aufeinander klappen: auf und zu – auf und zu – 

Seine kleinen wässerigen Schlachtschitzenaugen warten auf Beifall.

Aber der König nickt nur halb abwehrend – 

»Der alte Fürst Esterházy – so, der wird taub?« Als ob er es nicht länger ertragen könnte, so ist ihm dabei zumute. Als ob er aufstehen und fort – wiederum in die Einsamkeit des Arbeitszimmers drüben fliehen müßte –

Ein Schütteln ist in ihm –. Wie eine randvolle Schale, zitternd vor dem Überlaufen, ist ihm das Herz – 

Aber dann hat er sich gleich wieder, ist durch irgendeine Gedankenverbindung – ach ja, durch die Erinnerung an den alten Herren und weil er auf dem Kalenderblatte sah, daß morgen der Jahrestag der französischen Kriegserklärung von 1870 ist – plötzlich bei der zwiespältigen Stellung, die Österreich-Ungarn damals eingenommen hat, stößt darauf nieder, schüttet sich darüber leidenschaftlich aus. Erzählt, während der Legationsrat drüben beklommen-glücklich lächelnd seine Zähne zeigt und auf dem Stuhle wetzt, und während der Zivilchef auf seine unruhig gewordenen schlanken Hände niedersieht, von dem geheimen Abkommen, das kurz vor siebzig zwischen der Doppelmonarchie und Frankreich zustande gekommen war – 

»Ja – Österreich sollte mit gegen Preußen marschieren. Vergeltung für Königgrätz! Gewinn der Vorherrschaft! Aber der sehr vorsichtige Erzherzog Albrecht hatte in diesen Vertrag die Klausel gebracht, daß Österreich erst dann marschieren würde, wenn die Franzosen den Rhein überschritten hätten. Schon nach Saarbrücken begannen die Herren in Paris mächtig nach dem Rückenstoß durch die Österreicher zu rufen. Man hat sie von Wien aus vertröstet: Erst über den Rhein! Und nach der Schlacht bei Wörth erklärte der Kaiser Franz Joseph endgültig: ›Nein – nun nicht mehr –!‹« Er hält einen Augenblick ein, stößt dann hervor: »Ja – man hat mit dem Hause Habsburg schon mancherlei erlebt –«

Und schweigt erregt.

Die Schlacht bei Wörth – der Siegeszug von damals – dieses endlose Grauen jetzt –. Und das, was drüben von dem schoflen Jesuitenzögling und seiner Sippe wiederum im Rücken Deutschlands an heimlichen Giftsuppen gebraut worden ist und weiter brodelt: Verrat und Niedertracht! – Das würgend drohende Gespenst spürt er wieder um sich – 

Sachte schiebt ihm der Nachbar die kleine Bronzeschale hin.

Eine Zigarette nimmt er, dankt, raucht in kurzen, hastigen Zügen. Nervös, genußlos. Seine Gedanken sind weit fort aus dem Kreise seiner Herren.

Aber plötzlich wendet er sich dann dem Generaloberst zu: »Wann wird abgefahren?«

»In zwanzig Minuten, wenn Euer Majestät allergnädigst so zu befehlen geruhen wollen –«

Da nickt er zustimmend und steht auf.

Die Stühle rücken, scharren.

Der kleine, schnieke Jägerhauptmann stößt den Legationsrat heimlich lächelnd an, wirft einen vorsichtigen Schuljungenblick zu dem Generaloberst hinüber: – wenn Euer Majestät allergnädigst so zu befehlen geruhen wollen –.

Seine Stimme flüstert: »Donnerwetter, Baron – das hat der Alte 'raus – – Sache!«

 

Nur zwei Wagen jagen diesmal durch den dünnen Sprühregen über die grauen Straßen nach Vervins, La Capelle, Avesnes. Aller gewohnte Troß, Leibjäger, Stabstrompeter, Standartenträger, Sanitätsunteroffizier bleibt zu Hause.

Im ersten Wagen der König, der Generalstabshauptmann und der Graf, im zweiten der Generaloberst, der Gardedukorps, der Oberstabsarzt.

Die Fahrt endlos und drückend still.

Da und dort wirft der König den Herren hinter sich ein paar flüchtige Worte zu, dann schweigt er wieder.

Feindlich und abgekehrt erscheint ihm alles: die trübe, gleichsam in sich verschlossene Landschaft und die abgenutzten, hinsiechenden Dinge und die Menschen. Als ob diese grauen Männer, die da, vermummt gegen den Regen und wie an unsichtbaren Lasten schleppend, an den Wegen stehen oder vor den Dreckspritzern der hinrasenden Räder zur Seite stieben, verändert wären. Als ob bösartige Lichter in ihren Augen glömmen und lauernde Tiergesichter dem Wagen nachsähen, dessen Standarte klatscht und knattert – 

Nur in dem zweiten Wagen geht das Gespräch.

Der Generaloberst kaut die Dinge durch. Im Grunde fühlt er sich durch die Anwesenheit des Professors ein wenig gehandikapt in seinen Äußerungen – denn schließlich so ein Medizinmann –

Für ihn bleibt eben endlich doch das Unmöglichste bei dem ganzen Vorgange die peinlich-schwierige Lage, in die man Seine Majestät durch diesen Rückschlag gebracht hat. Das durfte nicht geschehen! In diesem Augenblick! in dem für den monarchischen Gedanken und für das persönliche Prestige Seiner Majestät solche Belastungen ganz und gar nicht erwünscht erscheinen. Man braucht doch nur mal in die Zeitungen zu sehen, um zu wissen, was das wieder für üble Folgen haben wird. Und da mußten die Herren bei der Obersten Heeresleitung, wenn sie nicht völlig sicher waren, eben vorbeugen – und dafür sorgen, daß Seine Majestät sich nicht so sehr exponiere. Aber da affichiert man erst großartig einen neuen Offensivstoß unter den Augen Seiner Majestät – und hat dann solche Pleite – 

Er schüttelt hart mißbilligend sein störrisch-nobles Greisenhaupt, als wäre hier eine Sache einfach falsch aufgezogen worden. Von ungeschickten Händen, die sich nicht der Verantwortung bewußt waren, die sie dem Engagement der Dynastie und Seiner Majestät im besonderen schuldig sind – 

Der lange Major ist mit all diesen Ausführungen völlig einverstanden: »Na – überhaupt!«

Aber eigentlich denkt er über die Dinge und Zusammenhänge und Folgerungen nicht allzu bohrend nach – er ist ehrlich verärgert; hat nur so ein paar allgemeine Eindrücke, wie: Stinkefaul der ganze Zauber! und: Gottverfluchte Judenbengels! – Und seinetwegen könnte man mit diesem ganzen Zinnober endlich zu Rande kommen. Schließlich muß alles doch einmal ein Ende haben! Vier Jahre –! Gott, man weiß ja schon gar nicht mehr, wie's in Potsdam aussieht. Und wenn diese faulen Köppe im Auswärtigen Amt nicht so völlig gottverlassen wären – – 

Endlich Avesnes – 

Langsamer fahren die Wagen die steile Straße hinauf.

Punkt vier Uhr ist es, wie sie vor der roten Gartenvilla der Operationsabteilung halten.

Ein Meldeposten hat sie erwartet.

Wie der König die wenigen Stufen vor dem Eingang emporsteigt, kommt ihm der Generalfeldmarschall entgegen. Würdig, gemessen – ohne Hast – ohne Zögern. Nur ein Rittmeister – sein Adjutant und Schwiegersohn – in weitem Abstand bescheiden hinter ihm.

Dämmern erfüllt die Diele, auf die sich nur vom Garten her durch die offene hohe Doppeltür das Nachmittagslicht mit grünlich-kühlem Schein ergießt.

Die Züge derer, die von draußen kommen, läßt es im Schatten, spielt nur um die Umrisse der Gestalten, umfließt die Achselstücke und die grau bezogenen Helme, aber über den anderen, der aus der Tiefe des Hauses kommt, flutet es hin.

Ruhig, voll tiefer Ehrerbietung ist sein Gruß: Sein Oberster Kriegsherr und König – 

Die Hand streckt der König dem Feldherrn hin – der Kopf nickt heftig, die Lippen bewegen sich, aber die Stimme will nicht recht. Ein Feld von tausend widerstreitenden Empfindungen ist seine Brust. Bitterkeiten hat er in all den hingegangenen qualgetränkten Tagen, hat er noch auf der ganzen Fahrt hierher in sich getragen – hat sie bebrütet und geschleppt, um sie hier vor dem Manne auszuschütten – jetzt will das alles ihm entgleiten. Sichere, tief wurzelnde Kraft, ungebeugt durch Schicksalsschläge zu gehen, ruht in diesen kleinen, tief gebetteten Augen; Vorwurf, Mißtrauen und Abwehr verkriechen sich vor ihnen – schamvoll beinahe. Überlegenheiten des Riesen spürt der König – als wäre seine Nähe schon Geborgenheit und Schutz –. Und ein Drang, sich diesem einen zu vertrauen, ist übermächtig, triebhaft mit einem Male da – 

»Euer Majestät –«. Tief, warm und ruhig.

An ein Wort muß der König denken, das der Graf unlängst sagte, als sie von dem Generalfeldmarschall sprachen: Eine Stimme, an der man sich im Winter wärmen könnte – 

Und während die Adjutanten ihm Helm und Schwert und Mantel abnehmen, gleitet der Blick des alten Herren gütig und verstehend über die unruhvollen und abgehetzten Züge des Königs, die sich gewaltsam um einen Ausdruck von Geschlossenheit und Ruhe quälen, und streift dann grüßend über die Herren des Gefolges hin. Seine ernste, langsam fließende Stimme redet wieder: »Euer Majestät haben viel gesehen in diesen schweren Tagen – der Krieg hat ein hartes Gesicht gezeigt. Ich bin glücklich, Euer Majestät wieder hier begrüßen zu dürfen – und wenn Euer Majestät befehlen –?« Sein Blick weist in die Tiefe nach der Treppe.

Der König nickt; er will nur eines: Hören – hören – –. Allein sein mit den beiden und die Wahrheit wissen –. Erfahren, wie sie sich den Fortgang denken –. Seine Schritte drängen.

»Der General ist richtig vor zwei Stunden eingetroffen. Ich habe ihn auf dem Bahnhofe abgeholt, und wir konnten uns über die Lage rasch verstehen –«

Man ist auf der Treppe. Die Sporen, die Säbel der Herren klirren hinter dem König, dem Generalfeldmarschall.

Der König denkt: Ob er auch heute aus kaltem Dünkel nicht mit unten war? Oder aus zaghaftem Kleinmut über das Versagen und Zusammenbrechen seiner Pläne –? Schlechtes Gewissen, weil wir ihm das danken?! – Oder verschanzt er sich hinter den Vorwand, daß ich mich nur bei dem anderen angemeldet habe –?

Bleich ist er, spürt den Frost seiner Erregung – 

Vor der grün bezogenen Polstertüre oben sieht er um – sein Blick trifft den Generaloberst, und der versteht. Er allein folgt den beiden, wie der Generalfeldmarschall die hohe Tür öffnet.

Wieder diese mitleidlos blendende Helle – 

An seinem Schreibtische, über Schriftstücke vorgebeugt, hat der General gesessen – jetzt blickt er um, läßt das Einglas aus dem Auge fallen und erhebt sich rasch, tritt dem Könige ein paar Schritte entgegen.

Seine Bewegungen sind hart, fest abgegrenzt, bestimmt, die Haltung aufrecht, sein Gruß korrekt und ehrerbietig. Die Worte der Begrüßung kurz und sachlich. Man spürt, er kommt aus einer anderen Welt, aus Arbeit – Arbeit – Arbeit, und sucht sich rasch auf die Pflicht dieser Stunde umzustellen. Sein König steht vor ihm und fordert Vortrag – Aufklärung – Rechenschaft – 

Aber was da an fest gebändigter Erregung in seinen Augen glimmt und manchmal um die tief nach unten gekniffenen Mundwinkel zucken will, hat nichts mit Enge und Befangenheit zu tun – ist nur das Fieber drängender Gedanken und Energien, die aus dem Kampf gegen ein widriges Schicksal kommen.

Nein – in dem Mann ist nichts von Unfreiheit, Beklommenheit und Druck – der glaubt an sich und seine Tat nicht anders als vor diesem Niederbruche – 

Irgendwo in einer Tiefe seiner Brust, tief unter den Wogen seiner hungrigen Qual, empfindet das der König beinahe als eine Enttäuschung. Als ob es ihm eine Genugtuung gewesen wäre, auch diesen Unbeugsamen einmal klein zu sehen – 

Aber das huscht vorüber – ist vorbei – 

Diesen Augenblick lang zögert er, dann greift er vor und hält die feste, kräftige Hand des Generals. Und jetzt, wie er ihm Auge in Auge gegenübersteht, erkennt er erst die schwere, mit Gewalt verhaltene Abgespanntheit in den Zügen, die Säcke unter den Augen, die Furchen um die Schläfen, um die schlaffer gewordenen Wangen, den trotzigen Mund. Als ob der Mann durch viele Tage, viele Nächte nicht zur Ruhe gekommen wäre – 

Er sagt – um irgendwie in ein Gespräch zu gleiten: »Sie haben eine Gewalttour hinter sich – Exzellenz?«

Der General spürt die Nüance: ›Exzellenz‹ – sonst sagt er das doch nie – nur: ›General‹ – ›mein lieber General‹. Verstimmung? Ungnade? Aber das ist für ihn nicht anders, als summte eine Mücke irgendwo an ihm vorüber.

»Ich habe natürlich die schnellsten Gelegenheiten benutzt, Euer Majestät – wir hatten ja keine Minute zu verlieren.«

Einen Stuhl schiebt er für den König heran.

Nein – man bleibt stehen. Unweit des großen Kartentisches ist man so in einer Gruppe – weiter zurück, unbewegt auf den aufgestützten Säbel vorgebeugt, ein stummer, ritterlicher Posten, der greise Generaloberst. Schweigen ist einen Augenblick – 

Der König starrt ins Wesenlose vor sich hin. Das grelle Licht schmerzt ihn. Seine Zähne martern die Lippen, seine Rechte reißt ungeduldig an den Quästchen der goldenen Fangschnüre. Unerträglich ist ihm diese Stille. Reden sollen sie: Was ist geschehen? Was soll werden?! – Mit einem Ruck des Kopfes weist er jäh nach der aufliegenden Karte hinüber.

Da nimmt der Generalfeldmarschall das Wort: »Ich glaube, daß es Euer Majestät vielleicht erwünscht ist, zunächst unsere Auffassung darüber kennen zu lernen, wie es denn zu der harten Lage kommen konnte, in der wir uns befinden?«

Der König nickt. Seine Lider schlagen. Viel zu langsam für seine brennende Unruhe rinnen ihm die Worte des Generalfeldmarschalls.

Aber der bleibt geruhsam-unbeirrt in seiner Art: »Nach meiner Ansicht wird man sich das Gesamtbild der Schlacht vor Augen halten müssen, um richtig zu erkennen, was geschehen ist. Wir haben da ein weit vorgeschobenes Viereck, das mit drei Seiten an die Feindfront stößt. An der Südfront und an der Ostfront des Viereckes wird seit vielen Tagen schwer gekämpft – Anfangserfolge werden erreicht – an der Westfront bleibt verhältnismäßig Ruhe. Wir wissen, daß der Gegner auch in diesem Abschnitt starke Kräfte versammelt hat – aber auch wir haben uns vorgesehen. Was wir an Einsatzdivisionen und Reserven hier aufgebaut haben, muß uns, wenn keine Vorsicht außer acht gelassen wird, für alle Fälle sichern – –. Diese letzte Vorsicht und unermüdliche Aufmerksamkeit der Truppe bleibt aber nicht wach. Ich möchte hier niemand zum Sündenbocke machen – im Kriege, wo einer für alle und alle für einen stehen müssen, gilt das doch doppelt: Herr, wir sind Sünder allzumal. Ich spreche von Eindrücken, denen sich die Truppe schwer entzieht und die auch leicht auf die Stäbe übergreifen. Sie alle hören durch Tag und Nacht das Feuer aus den Kämpfen an der Marne und vor Reims. Sie hören von Erfolgen: wir kämpfen südlich des Flusses und sind im Bergwald vorgekommen. Gerüchte entstehen: der Gegner weiche überall – er werfe all seine Reserven nach Reims und an den Fluß – sei völlig abgelenkt und in der Abwehr – er denke nicht daran, in dieser Lage auch noch anzugreifen. So wird die Beobachtung laxer – das Gefühl der Sicherheit schläfert die Truppe ein. Man fühlt sich beinahe wie in einer Ruhestellung –«

Er schweigt, holt Atem aus tiefer Brust.

Aufmerksam hört der König, fühlt sich festgehalten von diesen stillen, breit malenden Worten, die für das unglückselige Geschehen Erklärungen in unseren Menschlichkeiten suchen.

»Ja – und in dieses Idyll schlägt dann aus dicken Morgennebeln wie ein Blitz der Überfall.

»Man hat mir berichtet, daß ein großer Teil der Kampftruppen eben zur Erntearbeit in die Felder zog, als er losbrach. Nun – man geht nicht mit der Forke und der Sense gegen Tanks und Maschinengewehre an – das kann ich verstehen. Unsere Truppen von neunzehnhundertvierzehn hätten auch das gemacht – und hätten's vielleicht geschafft –. Durch das Wunder ihrer Hingabe – ihres Glaubens –. Das ist heute anders: wir müssen mit den Menschen und den Dingen rechnen, wie sie sind –«

Der König stößt hervor: »Die Leute haben versagt –?«

Ruhig hält der wuchtige Mann den Blick des anderen aus: »Wir haben namentlich den Nachschub der Divisionen der Gruppen Matter und Winckler, die südwestlich Soissons im Kampfe waren, für widerstandsfähiger gehalten, als er sich erwiesen hat – die Truppen haben nachgegeben – wir haben große Verluste an Gefangenen –«

Er sinnt einen Augenblick, kehrt zu seiner Darstellung zurück: »Euer Majestät wissen, daß der Angriff mit Einsatz von vielen Hunderten von Tanks geführt wurde. Ein, wie es scheint, hier neu herausgebrachter Typ von kleinen, schnellen Wagen, die vordringen und sich dann als Maschinengewehrnester etablieren. Es ergibt sich also nach kürzester Zeit das Bild, daß die vordere Linie an zahllosen Stellen durchstoßen ist, daß man vorne noch kämpft und sich seiner Haut wehrt – und zugleich im Rücken das harte Klopfen des feindlichen Maschinengewehrfeuers hat. Was eigentlich los ist, weiß in der Verwirrung keiner – aber daß sie umgangen ist, erkennt die Truppe und verliert da und dort den Kopf –. Das steckt an. Wo der Gegner vordringt, flankiert er die noch kämpfenden Nachbarabschnitte, reißt so die Einbruchstellen nach beiden Seiten immer weiter aus. Zugleich kommen ununterbrochen neue Sturmwellen heran – Franzosen und Amerikaner – die Lage wird immer ernster. Eine Weile will es scheinen, als ob die Katastrophe für uns kaum noch abzuwenden wäre – 

»Erst unseren rückwärtigen Unterstützungen und den Kräften des zweiten Treffens gelingt es dann, in aufopferndem Kampfe den gegnerischen Einbruch aufzuhalten und eine neue Linie zu bilden.

»Das etwa ist der Hergang, wie wir ihn jetzt sehen –«

Der König nickt, schweigt, zerrt an seinem Rock. Er fragt kurz, trocken: »Diese neue Linie wird gehalten?«

Der Generalfeldmarschall steht vierkantig, groß, unbewegt: »Das läßt sich wohl nicht ohne weiteres sagen, Euer Majestät. Wir stehen zwischen Aisne und Marne im Beginn einer großen Angriffsschlacht des Gegners – die dürfte durch mehrere Tage hingehen. Wir haben mit neuen Großstürmen sicher zu rechnen und haben, wie sich mehr und mehr zeigt, allein in erster Linie über ein Dutzend frischer Angriffsdivisionen gegenüber. Dahinter wird wohl auch noch einiges stehen. Und dann darf man sich diese augenblicklich von uns gehaltene Linie nicht als ein zusammenhängendes Stellungssystem oder als eine für uns ideale Abwehrstellung denken –. Eines kann gesagt werden: daß der schwerste Gefahrpunkt, der in dem Erfolge der Überrumpelung durch den Gegner lag, überwunden ist. Was er auch jetzt noch unternehmen mag, trifft uns bereit zur Gegenwirkung.«

Er hält wiederum ein.

Der König hört nur einen Sinn: – der schwerste Gefahrpunkt überwunden – aber – – 

Alle zurückgedrängten Ängste und Befürchtungen drohen ihm hinter diesem einen einschränkenden Wort. Beklommen und gehetzt von Sorge und zugleich mit dem Wunsche, fest und überlegen zu erscheinen, fragt er: »Also wir werden weiter zurückgehen? – weiter Raum aufgeben –?« Aber die Stimme will ihm nicht gehorchen, die Worte kommen ungnädig heraus, beinahe brüsk.

Der Generalfeldmarschall fühlt den fiebrig aufflackernden Blick. Mit ruhevoller Ehrerbietung gibt er Auskunft: »Wir haben alle Anordnungen getroffen, Euer Majestät, um zuversichtig hoffen zu dürfen, daß die weiter zu erwartenden Angriffe des Gegners ihr Ziel nicht erreichen, daß wir diese Schlacht, die uns in der Abwehr sieht, bestehen werden. Ob wir dann ein paar Kilometer weiter westlich, weiter östlich stehen werden, das hat – gemessen an dem Feindplane, mit seinem Stoße unseren Marnesack zu kappen – keine Bedeutung. Sollte sich aber etwa später für uns die Notwendigkeit ergeben, Euer Majestät weitergehende Vorschläge zu unterbreiten, so würden darin nur taktische Gründe von ausschlaggebender Bedeutung oder die Entwicklung der Gesamtlage ihre Berücksichtigung finden –«

Die Lider des Königs schlagen. Den Kopf hält er ein wenig schief – sinnt stöbernd hinter diesem Satze her – spürt Absichten dahinter sich verbergen, die man noch nicht vor ihm enthüllen, die man vielleicht erst nach und nach aufdecken will – 

Er sagt vorsichtig festlegend: »Ich möchte dann nur bitten, bei der Beurteilung der Gesamtlage auch die Fragen der Wirkung auf die sehr unruhig gewordene Stimmung in der Heimat, auf die Verbündeten und auf das Ausland entsprechend zu bewerten. Wir haben in der Heimat mit jedem Tage mehr mit den Widerständen hetzender und verhetzter Elemente zu rechnen –. Die Bedeutung dieser Widerstände darf im Interesse der Krone nicht schwer genug eingeschätzt werden –«

Dünn klirrt ein Säbel im Hintergrund des Raumes auf. Der Generaloberst hat sich steiler emporgerichtet. Sein Greisenhaupt ist ernste Zustimmung und nickt kaum merklich: Richtig – –

Der Generalfeldmarschall meint sachlich-ruhig: »Gewiß, Euer Majestät, die Dinge liegen uns schwer genug auf dem Herzen – wenngleich ich natürlich in erster Linie an die unserer Fürsorge und Pflicht anvertrauten rein militärischen Gesichtspunkte dachte: an die Sicherheit der Armeen – an die Erreichung des militärischen Zieles –«

Pause. – 

Langsam sieht er sich seitlich um nach dem Ersten Generalquartiermeister, dann trifft sein Blick wieder den König: »Vielleicht darf jetzt mein Kamerad –?«

»Bitte –!« Kurz, aufgejagt aus einem Suchen, das bei anderen Gedanken ist, kommt das Wort. Nein, was der Generalfeldmarschall da sagte, bringt seinen Argwohn nicht zur Ruhe: Da ist doch noch etwas im Hinterhalt – – 

Auf den General blickt er. Bereitschaft, Abwehr im Auge –.

Ein leises Räuspern. Noch ein wenig straffer wird die gedrungene soldatische Gestalt.

Er redet. Nicht anders als das überhelle Licht des Raumes ist seine schneidend scharfe Stimme, die allen Fragen auf den Leib rückt, die nichts im Zweifel, in der Schwebe läßt.

»Ich darf Euer Majestät bemerken, daß ich die Nachricht von dem gegnerischen Einbruch heute morgen während der Beratungen unseres neuen Flandernunternehmens erhielt. Die peinliche Überraschung für die Oberste Heeresleitung –«

Der König ruckt den Kopf und unterbricht: »Wir sind also doch ganz regelrecht überrascht worden –?!«

Wie ein herausfordernder Hieb klingt die kurze, bittere Frage. Gereizt, gewitterig.

Der General redet im Ausbau seines Gedankens über sie hin, als wäre sie nie gefallen: die Überraschung lag nicht in dem Angriff überhaupt – den mußten wir von dem Augenblicke an erwarten, als unser Vorgehen östlich von Reims zum Stillstand gekommen war und Marschall Foch damit neu über seine Reserven disponieren konnte – sie lag in dem Versagen unserer ersten Linie und in der daraus sich ergebenden Größe des feindlichen Anfangserfolges.«

Der General tritt an den Kartentisch, klemmt sich das Einglas ein, sieht nieder auf das große ausliegende Blatt.

»Wie schon der Herr Generalfeldmarschall erwähnte, ist namentlich die knapp südwestlich von Soissons eingesetzte Division der auf Grund ihrer früheren Haltung in sie gesetzten Erwartung nicht gerecht geworden. Aber auch die weiter südlich in Reserve liegenden Divisionen – einundfünfzigste Reserve, fünfundvierzigste Reserve und vierzigste – konnten leider nicht einheitlich und geschlossen in die Abwehr gestellt werden. Immerhin halten sie jetzt den Gegner in bravstem Kampfe auf den Höhen westlich der Straße von Soissons nach Château-Thierry fest. – Wenn Euer Majestät diese Linie bemerken wollen – –?«

Der König hebt nur abtuend die Hand. Das drängt: Ich weiß – was soll mir das – nur weiter, weiter –. Zwei Schritte von dem Kartentisch entfernt steht er noch immer, sieht so von weitem auf das Blatt – über das Blatt hinweg – 

»Die Gefahren, die sich aus der Tiefe des Einbruches ergeben, stellen uns zunächst vor die Aufgabe, unter allen Umständen eine möglichst starke Sicherung der angegriffenen Frontabschnitte gegen weitere Sturmstöße zu erreichen. Sie ist der Schutzschild der im Marnebogen kämpfenden siebten Armee. Und nur die Sicherheit unserer Westflanke läßt weitere Operationen im Raume von Reims und läßt einen unbedrängten, planmäßigen Abbau am Südufer der Marne möglich erscheinen. – Solange wir diese Sicherheit nicht haben – oder solange wir nicht eine neue Front herstellen konnten, die uns dem gegnerischen Plane entzieht, sind wir nicht wieder unbeschränkte Herren der Lage zu neuen, freien operativen Entschließungen.

»Hier also müssen wir klare Verhältnisse zu schaffen suchen, hier liegt so oder so unser Weg.«

Der König horcht mit mißtrauischer Spannung auf. Jetzt lugt der Teufelsfuß wiederum vor – jetzt hat er sie –! Also Festigung der Linie – oder, wenn das nicht gelingt, weitere Raumaufgabe: ›Herstellung einer neuen Front‹ –! Am Ende Rückzug von der Marne überhaupt!

Das Blut drängt ihm zu Kopf, siedet in seinen Pulsen. Sein Fuß wippt zuckend – seine Gedanken jagen, überstürzen einander – 

Ein zweiter Marnerückzug!

Eine Demütigung sondergleichen! Und für die Welt, die er als böse, mißgünstige Zuschauer rings um die Bühne sieht, auf der er und auf der das Reich seit nun vier Jahren ringt und blutet, eine zweite, jetzt unverrückbare Entscheidung! Höhnen würden sie – und gierig wie Bluthunde sich vorstürzen – –. Wie ein Symbol der bisher ungebrochenen Kraft ist es, daß man den Fuß trotz allem am Nordufer des Flusses hält – sich feststemmt und nicht weicht: von hier mußten wir damals vor vier Jahren zurück – ein Dutzend Heere habt ihr seitdem gegen uns gehetzt – und hier stehen wir wieder! Von hier gehen wir nicht: ihr schließt denn Frieden mit uns – den erträglichen Frieden in Ehren, um den wir das durchkämpft, durchlitten haben –!

Nicht ausdenkbar erscheint ihm der Vorgang, den diese beiden hier wie etwas vielleicht gar nicht Fernes ins Auge fassen. Wie Gegner empfindet er sie in diesem Augenblick – wie Männer, die nicht auf dem gleichen Boden mit ihm stehen – 

Und eine neue Front? Wo denn?! Die alte Aisnelinie wiederum? Oder die Maas –? Und dann der Rhein –?!

Das Ende – diesen dunklen Riesenrachen, von dem er sich während dieses ganzen Tages gewaltsam mit verschlossenen Augen abgewandt hat – sieht er plötzlich ganz nahe vor sich gähnen –. Ein einziges Grauen starrt ihn an: das aufgelöste Heimwärtsfluten der verbitterten Armeen – die furchtbare Enttäuschung bei den durch Entbehrungen zermürbten Massen – die entfesselt aufspringende rote Flut der Millionen, die doch seit Jahren gierig nur auf diese, ihre Stunde warten – 

Er schüttelt heftig den Kopf, als könnte er damit das alles in das Nichts stürzen: Nein – nein –!

Er will etwas sagen – und schluckt nur mit zuckender Kehle – greift nach dem Stuhle vor, umfaßt die Lehne –. Was denn? Sich aufwerfen gegen die beiden und gegen ihre Pläne? Und dann –? Was dann –?! Und haben sie nicht Recht, wo auf der einen Seite Geschick und Leben von Millionen Menschen an dem Entschlusse hängen – und aus der anderen nur er – sein Thron – sein Haus –. Die ganze Wurzellosigkeit seiner Stellung sieht er für einen Herzschlag furchtbar klar – spürt seine hilflose Unfähigkeit, das grauenvolle Triebwerk, das da malmend näher kommen will, zu hemmen oder sich aus ihm zu lösen –. Und muß, wie jetzt sein Blick das Bild der beiden, die da wartend vor ihm stehen, aufnimmt, in allem Aufruhr seines Blutes wieder den einen, seit der Kindheit eingebleuten und durch sein ganzes Leben hinziehenden Gedanken vor sich halten, sich an ihn klammern: Würde –! Sie nicht in deine Qual, in deine Aufgeriebenheit und Sorge sehen lassen! – die königliche Würde wahren!

Und mit gestrafftem Willen, seine Haltung nicht zu lassen, preßt er hart, abschließend ein paar Worte vor: »Nein – ich hoffe doch sehr, daß nun kein Schritt breit Boden weiter preisgegeben werden muß –!«

Druck und Stille. – 

Der Blick des Generalfeldmarschalls sucht den General, der mit verkniffenem Mund auf seine Karte niedersieht – dann, nach Sekunden, den Kopf in den Nacken ruckt und, gleichsam über eine offene Kluft hinweg, den Faden seines Vortrages wieder aufnimmt.

»Wir haben jedenfalls an Reserven herangezogen, was irgend erreichbar und entbehrlich ist. Die Heeresgruppe wirft die zu ihrer Verfügung stehende zwanzigste Infanteriedivision aus dem Raume von Ambrief und Chacrise in Kraftwagen auf das Schlachtfeld – auf sie wird morgen schon zu rechnen sein – und die fünfte Infanteriedivision rollt aus der Gegend von St. Quentin heran. – Aber all diese Hilfen werden erst im weiteren Verlaufe der Schlacht wirksam eingreifen können – bis dahin muß man eben abwarten – bis dahin liegt die Entscheidung bei der Truppe, die jetzt im Kampfe steht. Ich glaube, daß sie halten wird –«

Einen kleinen Schritt tritt er zurück.

In die Weite gehen die Augen des Königs. Dann plötzlich suchen sie den General. Er sagt brüsk, trocken: »Ja, Exzellenz – das klingt ein wenig anders als die Dinge, die Sie mir vor vier Tagen hier erzählten –!«

Das dünne Band, das zwischen den zwei Männern war, ist durchgerissen – 

Rot steigt dem General das Blut zu Kopf. Aber er bleibt beherrscht, kaum daß die Stimme noch ein wenig gehackter, härter klingt: »Rückschläge liegen im Bereiche der Wesenheit jedes Krieges. Wenn aber das Vertrauen Euer Majestät – –«

Der König wehrt entschieden ab. Der Wunsch, wiederum gut zu machen, wenn er hier etwa verletzte, und auszugleichen, ist in ihm. Er fragt, zu Sachlichem wieder hinübergleitend: »Und unsere anderen Unternehmungen?«

Der General ist wieder nur Soldat: »Der Kampf vor Reims geht weiter, und auch die Vorbereitungen für den neuen Stoß gegen den englischen Nordflügel in Flandern werden zunächst unabhängig von dieser Schlacht betrieben. Wenn das Kriegsglück uns die Macht der Vorhand wieder gibt, wollen wir jedenfalls schlagfertig sein!«

Das klingt wie Hoffnung –

»Also heißt es abwarten und als guter Christ und Soldat auf Gott vertrauen –?«

»Jawohl, Euer Majestät.«

Die Hand streckt er dem General entgegen: »Ich danke Ihnen –. Na, Sie haben viel zu tun. Und das nächste Mal, wenn wir uns sehen, steht's hoffentlich wieder besser!«

Aber das sind Worte, und er spürt, noch während er sie spricht, daß ihm der Glaube fehlt.

Auch mit dem Generalfeldmarschall verweilt er noch in einem kurzen Hin und Her von Worten.

Natürlich ist auch sein Programm durch diese Wendung auf dem Schlachtfeld umgeworfen. Jedenfalls aber will er in Bosmont bleiben und der Truppe nahe sein, bis man erst wieder klarer sieht – 

Wie sie aus der Türe auf den Treppenflur treten, steht da wartend ein junger Offizier, ein Blatt in Händen, für das er sich das Visum des Ersten Generalquartiermeisters holen will: der Text des Abendtelegrammes des Wolffbureaus.

Aus den Händen des Generalfeldmarschalles nimmt der König diese Zeilen, liest:

»Berlin, amtlich 18. 7. 18.

Zwischen Aisne und Marne hat der Franzose mit starken Kräften und Panzerwagen angegriffen und etwas Gelände gewonnen. Unsere bereitstehenden Reserven haben in den Kampf eingegriffen.«

Wortlos reicht er das Blatt zurück.

Wie harmlos das klingt.

Und ist, wenn Gott nicht noch ein Wunder tut, die Wende –

 

Aber das Wunder bleibt aus.

Tage kommen, deren dumpfe Last kaum noch zu tragen ist.

Die Nachrichten vom neuen Schlachtfeld sickern wie schwere fallende Tropfen. Sie zeigen ein erbittert hartes Ringen. Das Dasein der Armee im Marnebogen steht aus dem Spiele – 

Hemmungen, Widerstände, Hindernisse überall – 

Nein – es ist nichts mehr da vom alten Geist der Truppe, der heilige Wunder tat. Der diese Tausende und Tausende zu einem Willen, einer Kraft und einer Tat zusammenschmolz.

Nackt, unverhüllt steht diese Wandlung jetzt mit einem Male da. Die große Not hat Schleier fortgefetzt und zeigt in zwei Welten geschieden, was bisher scheinbar noch ein einziges Ganzes war, ein Kleid trug, einer Fahne folgte. Vorbei – 

Durchsetzt von einem starren, sturen Trotz ist alles. Greifbar beinahe geht die Auflehnung gegen das blutige Grauen und gegen den Zwang, in diesem Grauen auszuharren, durch die Massen: Wir können nicht mehr – und wir wollen auch nicht mehr –!

Der Glaube an den Sieg, der im Erfolg der Frühjahrsschläge sich noch einmal hob, ist ihnen niedergebrochen, und auf dem brachen Felde ihrer in jahrelangen Entbehrungen stumpf gewordenen Gehirne, ihrer armen, durch tausend Höllen, tausend Tode geschleiften Herzen wuchert eine andere Saat. Die ungezählten Aufklärungsredner, Sendboten und Werber der wühlenden Partei haben lange schon mit heißen und drängend verheißenden Worten neue Gedanken in sie geworfen. Mit Märchenbildern haben sie die Armen und Beladenen umstrickt, die hungrigen Seelen gefangen. Haben Sehnsüchte und Träume, Wünsche und Begierden geweckt: Sprengt eure Ketten und werft eure Waffen hin! Keiner ist unfrei, der sich nicht mit Willen als Sklave halten läßt. Mord ist der Krieg – und ein Geschäft der Großen, die euer Blut in Gold ummünzen. Vaterland? Deutschland? Frankreich? Wahn! Brüder im Elend seid ihr alle, ob ihr nun graue oder blaue Sklavenkleider tragt! Wer ist euch näher, der verkümmerte Franzose im Quartier, mit dem ihr euer Brot, eure Suppe teilt, oder der Offizier, für den ihr ein Stück Vieh seid und nicht mehr? In eurer Macht ist es, der Welt den Frieden wiederzugeben – werft eure Waffen hin. Und jenseits der Drahtfelder und Gräben ist eine Welt der reinen Bruderliebe und wartet nur auf all die armen Söhne, die zu ihr finden wollen –. Die Welt der Internationale – 

Das Heer, das Instrument des Krieges, morscht und schwindet in der Hand der Führer. – 

Hemmungen, Widerstände, Hindernisse überall – 

Der Aufmarsch der Verstärkungen macht Schwierigkeiten, die Straßen und die Bahnen liegen unter schweren Feuern. Der Raumgewinn hat den Gegnern die Möglichkeit gebracht, tiefer in unser Land zu greifen mit ihren Geschützen. Ausladungen, die nahe dem Schlachtfelds erfolgen sollten, müssen weit zurückverlegt werden – Zeit wird verloren – Zeit, die uneinbringbar ist. Und Kampfeinheiten werden so geteilt, zerrissen, kommen nicht mit der vollen Kraft zum Einsatz und zur Wirkung.

Überall stößt der Gegner – führt aus unerschöpflichen Reservoiren von Blut und Material frische und wieder frische Kräfte vor gegen das Häuflein eingeschmolzener, todmüder, bis auf das Krepieren abgekämpfter Divisionen – will den Erfolg mit allem Nachdruck nutzen. Bis an die Straße schiebt er sich südlich Soissons, und seine Feuer überspielen die Stadt und überschütten die einzige Bahn und Straße, die unseren Marnebogen mit Blut versorgt, am Leben hält. Auch südwestlich Hartennes gewinnt er neuen Raum. Aber der letzte, der entscheidende Erfolg bleibt ihm versagt.

Der junge Generalstabshauptmann kommt in diesen Tagen, diesen Nächten kaum aus den Kleidern.

Bedrückt, beklommen, so als wäre da ein schwer Erkrankter zwischen ihnen, drücken sich die meisten von den Herren des Gefolges umher. In kleinen Gruppen stecken sie die Köpfe zusammen, reden mit halben Stimmen halbe Worte. Oder sie wechseln vielsagende Blicke und haben sorgenschwere Augenbrauen. Aber wenn der König in der Nähe ist, dann kehren sie die Unbefangenen heraus: Gewiß, man geht durch eine schwere Krisis – aber die wird man überwinden, daran glauben sie felsenfest. Und das soll er auch sehen, soll er spüren – 

Nur der Zivilchef spielt dabei nicht mit – der Graf – die kleine graue Marineexzellenz –. Die hat es nun auch leicht, zu unken: Sie hat ja der Obersten Heeresleitung, die jetzt den ganzen Kram versiebt, niemals über den Weg getraut. Phantasten, die sich viel zu viel zumuteten von Anfang an. Herrschaften, die England nicht kannten! Er kannte es! Na – er hatte genug geredet. Vielleicht sah jetzt doch mancher ein, daß man mit dem Kurse des ersten Kriegskanzlers weniger schlecht gefahren wäre –

Und den König treibt die Unruhe um.

Grau ist er, und die Haut spannt sich, vom Messer glänzend, gleich Pergament über die Backenknochen. Wie eingeschnürt ist ihm die Brust – und manchmal überkommt ihn eine dunkle Angst, als ob er in der Luft, die jetzt auf allem lastet, nicht atmen könne und ersticken müsse – 

Dabei ist ein Bewegungsdrang, ein Trieb zu Ablenkungen ruhelos in ihm. Vorträge hört er und durchblättert Akten, setzt seinen steilen Namenszug mit dem schwungvollen Schnörkel unter Ernennungen, Kundgebungen, Erlasse. Auf Schriftstücke, die in die ferne Zukunft wirken sollen – und die ihm jetzt, wie sie aus seinen Händen gehen, so ohne Sinn und Sicherheit erscheinen. Als ob sie wurzellos ins Dunkel glitten –

Wie einer, der auf der ziellosen Flucht vor irgend einem grauenvollen Etwas ist, so hetzt er durch die Stunden. Vor einem Etwas, das er hinter sich weiß – nach sich greifen fühlt – und nach dem er doch nicht umsehen will – 

Und keinen Menschen – keine Seele – der er sein Herz mit all der dunklen Qual ausschütten könnte – 

So redet er zu denen, die um ihn sind, über gleichgültige Fragen, nur um dem Fieber seines Blutes ein Ventil zu geben. Lockerer noch als sonst fließen und drängen seine Worte. Von scheinbar völlig fernliegenden Dingen fängt er im Ausbau eines aufspringenden Gedankens oft plötzlich an, hakt sich an ihnen fest, läßt sie nicht los und redet sich in Eifer.

A horse, a horse! my kingdom for a horse!

Nur diese Stille – dieses Schweigen nicht! – Als ob die Worte die Gespenster, die da ringsum lauern, scheuchen könnten – 

Theater und Regie – damals der großartige Aufbau der Szene des »Sardanapal«! Das neu erschürfte Wissen unserer Forscher in Leben, Handlung, Bilder umgesetzt und von der Bühne in das Volk getragen –. Ein Beispiel, so wie Wildenbruch ein Beispiel war – 

England in Indien. – Mosaikenkunst. – Die Nibelungen Hebbels und ihr Zerrbild bei Richard Wagner – 

Hinreißend wie nur je sprudelt dabei sein Vortrag, trägt ihn vom festen Boden seines großen, jeden Augenblick greifbaren Wissens in geniale Phantasien. Seine Hände malen in weiten Gesten. Die blauen Augen leuchten fanatisch aus dem edlen abgezehrten, hager gewordenen Gesicht. Verlassen unter diesem Rausch von Worten und Gedanken liegt das Grauen –. Bis dann der Rückschlag kommt und es mit einem Male wieder ihm an die Kehle springt, das Wort im Munde würgt. – 

Und er fährt zur Truppe.

Zu Below wieder. Starrt durch Stunden nach dem Kampfraum von Reims – und weiß dabei: das hat doch jeden Sinn verloren! Reims? – was ist uns Reims geworden –? Hekuba –!

Zu Conta – zu der Gruppe Conta. Erinnerungen an die Siegestage am Chemin des dames. Damals zu Ende Mai, westlich der eingestampften Trümmer von Craonne auf dem im Sturm genommenen Winterberge!

Ein einziger Siegesjubel damals über allem: Frühling und Glauben! Die Truppen wie im Rausche vorgetragen über die Aisne und die Vesle und den Ourcq –. Weit offen alle Tore in die Zukunft – dieses so lang und inbrünstig ersehnte und umstrittene Ziel beinahe greifbar nahe – 

Jetzt nichts davon. Hinweggewischt, versunken. Kein Ausweg rings. Zerbrochen, machtlos steht man wie vor kahlen, mitleidlosen Mauern. Der Regen fällt – grau, grau ist alles. – 

Am Scherenfernrohr steht der König irgendwo auf einer trostlos kahlen Hügelwelle im zermatschten Boden – spürt nasse Kälte, die ihm an dem Leib nach oben kriecht, starrt in den Nebel und hört Worte – Worte –: Dort in der Tiefe, hinter jenem Höhenstreifen liegt Chattillon, dahinter dann der Fluß – und was von der zehnten Reserve und von der zweiten Gardedivision noch blieb, das kämpft sich dort bei Reuil sur Marne zu Tode – 

Als ob der General, wie er so spricht, gar nicht mehr der von damals wäre. Die Haltung anders – und die Stimme – und der Blick. Um Jahre, Jahre älter – und sind doch erst acht Wochen her –.

Nein – kaum zu tragen ist die dumpfe Last der Tage.

 

Einmal ist Sonntag, und man fährt nach Marle in die Kirche.

Bis auf den letzten Platz gefüllt mit grauen Männern, die aus den Ruhelagern, aus den Lazaretten kamen, ist der aus starren Quadern hochgewölbte Raum. Nur vorne, jenseits dieses Meeres von entblößten Köpfen, von eingefallenen, bleichen, sorgenschweren oder stumpfen Angesichten, die Herren der Etappe und die beiden Reihen leerer Stühle – der eine Armsessel –

Nach kaltem Weihrauch riecht es und nach ranzigem Leder, nach alten, schweißgetränkten Kleidern und nach Verbandzeug.

Ein Scharren, Rühren, Hälserecken, wie er vor seinen Herren, hoch aufgestrafft, den Helm im Arm, den Blick gesammelt geradeaus gerichtet, den Mittelgang durchschreitet.

Stille ist dann für Augenblicke.

Durch schmale bunte Fenster fällt das Licht, gleißt über goldenem Schnitzwerk, glimmert auf Altären, umspielt die farbig angemalten Heiligen und Engel, die aus den Nischen, aus den Wölbungen, von den Konsolen auf diesen fremden Kult der grauen Menschen niedersehen.

Dann spielt die dürftige Orgel, und sie singen.

Als eine schmerzhaft andringende Welle kommen ihre von Leid und Jammer angefressenen Stimmen von hinten her über den König hingeflutet. Ihm ist's, als ob er in all diese armen, verstörten, suchenden Gesichter sehen müßte – 

Still, ohne einen Finger zu bewegen, sitzt er in seinem Sessel, starrt ins Weite – einsam, keinen vor sich und keinen neben sich –

»Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,
Der dich auf Adelers Fittigen sicher geführet,
Der dich erhält, wie es dir selber gefällt.
Hast du nicht dieses verspüret?«

Fern – fern erscheint ihm alles das.

An die strenge, feierliche Schönheit der Potsdamer Garnisonkirche muß er denken, an die starken, rufenden Sprüche längs der Empore, an die aufstrebenden Adler auf den Betbänken –. Und an die Säulen mit den stolzen Bündeln der deutschen Siegesfahnen.

Wie oft hat er nicht dort diesen Choral gehört – gesungen –! Als kleiner Junge schon – und dann als Offizier – vor seinem Regiment – als Kronprinz –. Und dann noch immer wieder – beinahe ein Menschenalter lang – 

Er denkt – und ist erschüttert von dem eigenen Gedanken –: Werde ich das je wieder so erleben –?!

In die Umwelt reißt er sich zurück und horcht auf sie, will in ihr untertauchen. Ganz deutlich kann er jetzt einzelne Stimmen seiner Nähe unterscheiden.

Die dienstlich kauenden Greisentöne des Generalobersts, der den Text des Liedes wie ein befohlenes Pensum getreulich absolviert: »Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet –«

Und das nasale, hochmütige Detonieren des Gardedukorps: »Alles was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen!« – Ein wenig peinlich abrückend: als ob er, etwa aus Standesrücksichten, mit dieser Anregung des guten Joachim Neander gar nicht recht einverstanden wäre – 

Dann spricht der Pfarrer, der von einer der zurückgezogenen Divisionen kommt. Handfest und gut gemeint – ein wenig unsicher und aus dem Gleis gebracht durch die Nähe seines Königs und all der anderen mit so viel Gold und Orden übersäten Herren.

Von seiner Predigt irren die Gedanken der Hörer fort auf eigenen Wegen.

Der Hofmarschall läßt seine dunklen Augen verstohlen durch die Kirche gehen. Ein wenig vorwurfsvoll und gekränkt ruhen sie auf der lebensgroßen holzgeschnitzten Jungfrau Maria in der Nische links und auf dem heiligen Joseph in der Nische rechts. Und sie werden richtig bekümmert und pikiert, wie sie die gipserne Jeanne d'Arc mit ihren himbeerroten Bäckchen und dem silberig angemalten Schwerte treffen – 

Der König klammert seine Hände fester um den grau bezogenen Helm. Er denkt inbrünstig, aufgerührt und hingegeben: Herr – Herr, was habe ich getan, daß du mich so hart züchtigst?! Was habe ich gesündigt, daß du mich mit solchen Leiden schlägst – mich – und mein Haus – mein ganzes Volk?!

All seine Gedanken krampft er in ein demütiges Suchen, das nach oben geht. Als ob er zu dem Ewigen, Allgegenwärtig-Unsichtbaren sprechen könnte, so ballen sich die Qualen seines Herzens zum Gebete: Auf einen Platz hast du mich hingestellt, den ohne deine Kraft und Gnade kein Mensch erfüllen kann –. Vor all meinen Entscheidungen habe ich mich in tiefem Ernst geprüft – habe um deine gnädige Erleuchtung gefleht – habe dann fest geglaubt: Dein heiliger Wille spricht durch mich und meine Stimme – 

Der Pfarrer redet. Worte – gut gemeinte Worte, die als ein nichtiges Geräusch vorüberziehen.

– War ich hochmütig, überheblich, Herr?! Ich will mich demütigen vor dir! Nimm dieses Opfer an –! Erhöre mich!

Und er fleht: Herr, gnädiger, allgütiger Gott, wende es noch zum Guten! Du allein kannst uns erretten – du allein! Verlaß uns nicht! Herr, steh mir bei! –

Die Zivilexzellenz sieht ernst und still auf den leis zuckenden Rücken des Königs.

An die Truppe denkt er jetzt, die in dem Ringen liegt, die kämpft und blutet: Gib ihnen Kraft – laß sie bestehen, Herr!

Und an die Millionen in der Heimat: Führe die Irregeleiteten zurück auf deinen rechten Weg – laß sie sich aus dem Trug und Wahnsinn befreien und zur Wahrheit finden, Herr! – 

Dann ein Schurfen und Scharren: sie haben sich erhoben.

Da schreckt der König auf und steht wie sie.

Vorne betet der Pfarrer: – – – Amen.

Und dann singen sie wieder. Das Lied, dessen Nummer der brave Mann da oben ihm zu Ehren auf die schwarze Tafel schrieb:

»Vater, kröne du mit Segen
Unsern König und sein Haus,
Führ durch ihn auf deinen Wegen
Herrlich deinen Ratschluß aus. –«

Wie im Traume nickt er und atmet tief aus schwerer Brust.

»Sammle um den Thron die Treuen,
Die mit Rat und frommem Flehn
Fest in deiner Streiter Reihen
Für des Landes Wohlfahrt stehn.
Baue um den Königsthron
Eine Burg, o Gottessohn.«

Auf den Stufen vor dem Altare steht der graue Frontpfarrer still, die Hände vor dem Leibe wie zum Gebet gefaltet. Sein Herz schlägt stolz und stark: Vor seinem Könige hat er in dieser großen Zeit gepredigt, das wird noch im Gedächtnis seiner Kinder und Kindeskinder leben! – Dem Text des Liedes folgt er jetzt, sucht – man muß doch die seltene, denkwürdige Stunde nutzen! – mit seinen Augen die Männer, die da mit goldenen Fangschnüren und Ordenssternen überhangen, ein starker Wall, ja, eine Burg! hinter dem König stehen: den Hofmarschall – den Fürsten – den Generaloberst. Den Gardedukorps – den Dicken – die Marineexzellenz. Den lächelnden Baron – den schnieken Jäger: gewiß ein Prinz – – 

Das sind sie also –: Möge Gott sie segnen!

 

Am nächsten Tage in der Dämmerstunde ist es, daß der König wieder in seinem Arbeitsraume vor dem dunkelgrün bezogenen Tische sitzt und mit aufgepeitscht suchenden Gedanken auf die Karte niedersieht, die der Hauptmann ihm im Anschluß an den Vortrag hier gelassen hat.

Linien – Pfeile – Kurven – 

Wie Zauberrunen –. Und sind ein Schicksal.

Ein Glutofen ist diese Schlacht, in dem die Hoffnung, Vormacht und Führung wieder an uns zu reißen, hinschmilzt und verbrennt –

Die Dinge stehen schlecht – es bröckelt weiter, und immer noch versucht der Gegner, mit neuen starken Sturmstößen an diesen beiden Würgepunkten südlich von Soissons und südwestlich Reims sich in den Hals des Marnesackes tiefer einzufressen.

Bei alledem hat sich jetzt doch eine neue Linie herausgebildet, die man zunächst mit allen Kräften und großen Opfern hält. Sie setzt etwa drei Kilometer westlich von Soissons über die Aisne, liegt dann bei Parcy-Trigny an der Straße, gibt Neuilly auf und hält den Raum von Château-Thierry erfolgreich gegen alle Stürme der Amerikaner fest.

Aber das ist, daß man dahinter auf die Dauer nicht leben kann! Blind, wer das übersehen, wer sich dem verschließen wollte –. Die Bahn im Osten von Soissons, von deren Strang das ganze Land südlich der Aisne lebt, liegt Tag und Nacht im Feuerregen – durch eine Hölle müssen unsere Transporte, und was so durchkommt, reicht bei weitem nicht, um die Truppe da vorne kampfstark zu erhalten. Und andere Mittel, Kraftwagenkolonnen und Betriebsstoff fehlen. Mangel ist ja jetzt überhaupt mit einem Male überall – 

Gerade daß der Rückzug vom Südufer der Marne, der in der Nacht endlich vor sich gehen soll und dessen Ausfall man entgegenzittern muß, im Schutze dieser Linie steht –. Wird er ungestört durch den Feind gelingen? Oder wird der nachdrängen – und wird dann an diesen zerschlagenen, zersprengten Brücken ein Grauen und Gemetzel sondergleichen sein –?!

Der König krampft die Finger um die Knie: da drüben aus dem Raum von Epernay drücken die einhunderteinunddreißigste, die siebte und zwischen ihnen die zehnte Kolonialdivision – schwarze losgehetzte Bestien – in barbarischem Haß fanatisierte mitleidlose Tiere –. Drücken gegen unsere zehnte Reserve, gegen die zweite Garde –. And er sieht diese grauenvolle Möglichkeit: die Truppe abgeschnitten und wehrlos an den Fluß gepreßt – dem Blutrausch und den viehischen Martern dieser Wilden ausgeliefert – – 

Und wenn der Zug gelingt – wenn wir sie täuschen und uns heimlich auf das Nordufer herüberretten –? Was dann –?!

Nicht wieder seit der letzten schweren Aussprache ist er drüben in Avesnes gewesen. Jetzt aber, wie seine Gedanken um diese Frage tasten und in das Dunkel der Zukunft bohren, stehen die Eindrücke jener Besprechung mit einem Male wieder scharf bis ins Letzte – gleichsam aus der Vergangenheit geschnitten und hierher gestellt – vor ihm. Für Augenblicke nur –.

Das kahle, vorhanglose, überhelle Zimmer – das Zimmer, das nur Akten, Kartentische, Kartenrollen kennt und keinen Platz für irgend einen Schmuck des Lebens, ein Bild, ein Kunstwerk, eine Blume hat – dieser soldatisch starre Mann mit dem trotzig verkniffenen Mund – die kehlig harte, schneidend rücksichtslose Stimme: »Solange wir die Sicherheit der Westflanke nicht haben – oder solange wir nicht eine neue Front herstellen können, die uns dem gegnerischen Plan entzieht, sind wir nicht wieder unbeschränkte Herren der Lage –«

Und der andere, der Große, Vierschrötige mit der unerschütterlichen Gehaltenheit: »– sollte sich aber später die Notwendigkeit ergeben, Euer Majestät weitergehende Vorschläge zu unterbreiten – 

Fort sind die beiden – fort diese Vergangenheit –.

Der König preßt die Zähne auf die Lippen: Die Sicherheit der Westflanke haben wir nicht gewinnen können – werden sie nicht gewinnen –. Der Feind stößt weiter, und unsere Gegenwehr verblutet – 

Bleibt nur der andere Weg – – 

»– der weitergehende Vorschlag,« wie der Generalfeldmarschall so schonend vorbereitet – der Rückzug von der Marne auf irgend eine rückwärtige Linie, wie der General klipp und klar erkennen läßt – 

Da hebt sich diese rote Welle wieder, jagt ihm das Blut in seine Schläfen und macht seine Pulse in auffliegender Erregung hämmern.

Unausdenkbar, wie damals, als sich der Gedanke zum ersten Male vor ihn schob, ist er ihm auch in dieser Stunde noch – 

Nur das nicht –! Nur den einen Halt nicht preisgeben, an dem sich aller letzte Glaube in der Heimat hält – der vor den Augen einer Welt ein Zeichen, eine wehende Standarte ist.

Wir stehen an der Marne! – Und was sie auch an Siegesnachrichten hinausposaunen mögen – Franzosen, Engländer, Amerikaner – das alles wird gering vor einem Faktum, das sie nicht verwischen können: die deutschen Heere stehen an der Marne!

Nur das nicht lassen! Und er sieht, wie mit dem ungeheuren Stimmungsrückschlag in der Heimat die Führung völlig an die rote Gegenströmung gleitet, die sich dann über alles, was bisher Bestand und Geltung hat, hinweg, als Erben fühlt, als Retter aufspielt –. Sieht, wie draußen vor allen Völkern dieses Urteil fällt: Sie sind zu Ende – und was jetzt noch kommen mag, ist Niederbruch und Untergang –

Ihm ist's, wie er in diese Zukunft starrt, als ob ihm da sein Stolz zertreten werden sollte, als ob die Kleider seiner königlichen Würde ihm vom Leib gefetzt, er nackt und bloß dem Haß und Hohne einer Meute preisgegeben würde – 

Getrieben und gehetzt, eingeengt und umstellt fühlt er sich vor dem Ahnen dieses Weges: Nur das nicht erleben –!

Er denkt erschüttert: Nein – dann lieber hier an der Wende des Erreichten ein Ende finden – – wenn Gott das so bestimmt –. Aber das nicht mehr sehen müssen!

Zwei Worte stehen jäh vor ihm: Bleiben – kämpfen –!

Seine Lippen öffnen sich. Trocken und spröde sind ihm der Gaumen, die Zunge –. Zwei-, dreimal muß er würgend schlucken –. Wie höchstes Jagdfieber ist das – ein anstehendes Warten mit verhaltenem Herzschlag – 

Als ob ein Weg sich jetzt auftun, eine Rettung sich offenbaren wollte –: Bleiben – kämpfen!

Hemmungen fallen ab von ihm, und seine Phantasie wird frei, sprengt allen Druck – 

Da vorne an der Spitze der Truppe stehen und mit ihr fallen –

An der Spitze der Truppe vor ihnen allen – bei einem Sturme – einem Gegenstoße – 

Den Aufschwung seiner Seele fühlt er wie ein aufstrahlendes Licht – wie eine jäh aufblühende Genesung nach all der Qual – 

An Trompetenklang und an große Reiterangriffe bei versunkenen Manövern muß er in all dem Hochflammen seiner vorbrechenden Impulse denken – an Waffenlärm – an eine Szene: die Piccolomini –. An eine ganz bestimmte Vorstellung im Schauspielhause: Matkowsky war der Max –. Und dann diese Erzählung des schwedischen Hauptmanns von dem letzten Sturm der Pappenheimer Kürassiere bei Neustadt – von dem Heldentode des Oberst Piccolomini – 

So untergehen – 

Und dann für alle Ewigkeit und Nachwelt und Geschichte das Epitaph: Als Held für Deutschlands heilige und gerechte Sache ist auch er gestorben –! Der deutsche König –. Sein Name ruhmvoll, unvergeßlich in dem Kranz der hunderttausend deutschen Heldennamen –!

Ein Schicksal, das die Dynastie, über alle Trübungen der Vergangenheit hinweg, aufs neue für Geschlechterreihen unlöslich mit dem ganzen Volke verbindet – 

Wie im Rausche ist er. Beflügelt und emporgetragen. Romantische Bilder voll eindringlichster Wirkung sieht er: ein ganzes Volk den Einen, Vielverkannten jetzt erkennend –. Verse drängen an ihn heran, und sein immer schlagbereites, untrügliches Gedächtnis wirft sie aus:

»Heut früh bestatteten wir ihn. Ihn trugen
Zwölf Jünglinge der edelsten Geschlechter,
Das ganze Heer begleitete die Bahre.
Ein Lorbeer schmückte seinen Sarg, drauf legte
Der Rheingraf selbst den eignen Siegerdegen.
Auch Tränen fehlten seinem Schicksal nicht,
Denn viele sind bei uns, die seine Großmut
Und seiner Sitten Freundlichkeit erfahren,
Und alle rührte sein Geschick. –«

Bleiben – kämpfen! – 

Vor einer Division – 

Er stockt. Die Lider schlagen.

Nein: mitten in der Truppe – im Regiment – im Bataillon – 

Aber da splittert diese schwungvolle Gehobenheit schon auf – da mengen sich schon Unklarheiten, Hemmungen und Widerstände ein. Die Phantasie stößt an die Wirklichkeit.

Als ob ganz plötzlich die Lichter auslöschten und er im Dunkel stünde – 

Nach Vorstellungen tastet er –. Sieht Stürme, wie er sie in diesen hingegangenen Tagen im Scherenfernrohr verfolgen konnte: in der Champagne und vor Reims –. Das Wimmeln winziger Pünktchen – Menschen, die sich aus Erdlöchern, aus Dreck und Moder lösen – vorstreben – wiederum in Gräben, Trichtern, Runsen unterkriechen – – oder da irgendwo, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, im Drecke liegen bleiben – 

Den Kopf bewegt er: Da ist nichts von diesem weithin sichtbaren Heroentume der Vergangenheit – nur dieses Anrennen gegen das Feuer, das blindwütig den einen schlägt, den anderen läßt –. Und er denkt: Vielleicht auch, daß man dann gar nicht gefunden wird – für alle Zeit verschüttet irgendwo in diesem Grauen modert – 

Der Glanz in seinen Augen lischt – 

Gesichter sieht er – sieht Soldatenköpfe, wie er sie jetzt in diesen Tagen immer wieder sah: verbissen und verstockt – gehetzte Tiere – weit, weit fort von ihm. Augen, die bitter bösartig herüberschielen: Was willst denn du bei uns? In deinem Wagen – mit deiner Standarte? Was spürst denn du von unserer Not?

Mit denen stürmen? Als ein Fremder – einsam, ohne Zusammenhänge auch bei ihnen –?

Nach einem hinhuschenden Einfall hascht er – und weiß es dabei selbst, das ist ein Vorwand –: Nicht einmal diese neue Felddienstordnung kenne ich und die Kommandos – ein jeder Unteroffizier und Gruppenführer weiß das besser – 

Ein anderer Einwurf schiebt sich vor: Und wenn ich dann nicht gleich tot bin – nur verwundet – und wenn die anderen mich dann auflesen und erkennen?! Nein, nur nicht lebend in die Hände dieser Feinde fallen! Um meiner Würde willen – um des ganzen deutschen Volkes Würde willen nicht –!

Er streicht sich über seine Stirne – die Finger flattern – kalt und feucht ist seine Haut in diesem Absinken der Fieberträume – 

Er quält sich weiter: Wenn ich diesen Weg aber trotz allem gehen wollte – würden sie mich denn handeln lassen, wie ich will –? Würde ich mich denn durchsetzen – gegen die Herren in Avesnes – gegen das himmelstürmende Entsetzen des Hofmarschalls – gegen die Widerstände aller anderen –?

In die Stille horcht er, und ihm ist es, er hörte ihre Stimmen: »Das heilige Leben Euer Majestät darf keinesfalls –«, »der Oberste Kriegsherr darf so wenig wie der leitende Feldherr sein Leben –«, »nein – Euer Majestät haben gar nicht das Recht, sich in solche Gefahr zu bringen –«. Redensarten! Redensarten – die Recht behalten würden!

Bitterkeiten erfüllen ihn mehr und mehr: Vielleicht, daß ich eine Art Offizierskompanie erreichte – damit mir mein Wille geschähe –. Eine Offizierskompanie aus Garnisondienstfähigen für eine gefahrlose Stelle – und irgend einen braven Aufsichtsgeneral mit verläßlicher Bremsvorrichtung meinem alten Generaloberst zur Seite!

Verantwortlich für mich würde sich jeder einzelne von diesen gewissenhaften Herren fühlen – ein erweitertes Gefolge in lächerlicher Kampfausrüstung wäre das Ganze – eine Farce –! – 

Ein Wort aus diesem Sinne hakt in ihm fest, wie er jetzt vor sich hin ins Weite schaut, löst ein Erinnern aus. Hamlet – der auch um Sein oder um Nichtsein ringt:

» Thus conscience does make cowards of us all –«

Cowards –? Nein – Feigheit ist es nicht, wenn er auch diesen Weg nicht geht – mit Feigheit oder Mut hat all das nichts zu tun! Ein Königsschicksal ist es, das von Rücksichten, von Pflichten und von Fesseln starr umschrankt, zur Neige durchgelitten werden muß, wie Gott der Herr in seinem unerforschlich weisen Ratschluß es auferlegt – 

Bleiben –? Kämpfen –?

Wieder streicht seine Hand über die Stirne. Aber das ist jetzt so, als wischte er da Spinneweben fort – 

Matt, müde fühlt er sich, zum Tod erschöpft.

Über die Karte sieht er weg, hinaus ins Freie. Zwei Männer stehen da unter den abendlichen Bäumen im Gespräch: der Chef des Zivilkabinettes – der Graf –.

Irgend etwas ist doch da noch, das ihn da vorhin streifte? Seine Gedanken suchen – 

Dann hat er es. Ja – wie heißt es dann weiter in der Szene?

»Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;
Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck
Verlieren so der Handlung Namen.«

 

Zwei Männer stehen da unter den abendlichen Bäumen im Gespräch – 

Der Graf sagt müde: »– ja – was wirft man ihm jetzt nicht alles vor! So ziemlich alles das, was man früher an ihm bejubelt und bewundert hat. Und ich frage mich dabei immer eines, Exzellenz: Haben die Deutschen ihn denn nicht gerade so gewollt – und so verdient – und so erzogen? Kein Volk hat durch ein Menschenalter einen König, den es nicht will! Haben sie sich denn nicht – trotz aller gelegentlichen Einwände – in ihrem Schielen nach dem Ausland immer wieder an dem Gedanken berauscht, daß uns Frankreich, daß uns England um ihn beneiden? Nicht nur die Deutschen auf der rechten Seite –«

Die Exzellenz nickt mit gesenktem Kopfe.

Der Graf fährt fort: »Und wäre er nicht auch für alle Zeiten für sie der größte Mann, wenn – sagen wir: wenn der Generaloberst von Schlieffen ein paar Jahre länger am Leben geblieben wäre – wenn wir in diesem Kriege ein wenig mehr Glück gehabt hätten? – Sind Glück und Unglück Gradmesser für Wert oder Unwert? Nein – man ist ungerecht geworden gegen ihn –«

Jetzt gehen sie in sachten Schritten an diesem schmalen Steige längs der abendlichen Weiden auf und nieder. Der Graf sieht unter den schweren Lidern vor sich hin ins Gras, als suche er da nach den Worten, die er im Weiterspinnen seiner Gedanken reiht: »Man hat an ihm gesündigt von Kindheit an: Eine puritanische Jugenderziehung zu einem stets nur in romantischen Umrissen gezeigten, fernen Ziel. Hinrichtung aller Sinne nach diesem Ziele, das man zugleich mit einer religiös-mystischen Gloriole umkleidet. –  Ich meine, auch nüchternere, realer veranlagte Naturen, als er es ist, hätten dabei den festen Boden unter ihren Füßen, den Blick für unseren Alltag leicht verlieren können. Dann der Konflikt, den er doch niemals bis zur inneren Freiheit überwunden hat –. Sie, Exzellenz, haben ihn noch gesehen, wie er ein Jüngling war – in Bonn –?«

Der andere nickt: »Damals waren wir alle unfertig und jung – endgültig hat das Leben uns erst später unsere Form gegeben –«

»Das meine ich: er aber ist geworden, was die Umwelt, die er dann gesehen hat, aus ihm machen wollte –. Die nähere Umwelt seiner gefälligen, stets zuvorkommend zustimmenden Umgebung – die weitere Umwelt der gefälligen, stets zustimmenden Deutschen. Denn auch die haben bis in diese letzte Zeit des Unglückes doch kaum je widersprochen – ja – doch, ein einzigesmal: wie lange ist das her? – zehn Jahre! – November acht –. Immer und überall, wo er sich auch gezeigt hat, waren sie der freiwillige Chor, der ihn umjubelt hat, der ihn erkennen ließ: so wie du bist, bist du nach unseren Herzen! Das war auf Paraden so, und auf den Reisen, und bei den Ausritten ›Unter den Linden‹ oder im Tiergarten. Ich kann als Adjutant, der diese Szenen durch Jahre täglich mit erlebt hat, davon reden. Ist es ein Wunder, daß er sich dabei über die Kluft zwischen seiner romantischen Auffassung von königlicher Gewalt und Würde und der ihr heute eigenen rein staatsmännisch repräsentativen Bedeutung nie klar geworden ist? – Nein: die Deutschen haben ihn so gewollt –«

Ein Nicken nur als Antwort.

Still, wortlos gehen sie am Wasser längs der Weiden hin – verloren und versponnen in Gedanken.

Da sagt der Graf aus diesem Schweigen: »– wie rein in seinen Anlagen aber muß das Herz des Mannes sein, daß er in dieser Umwelt so verstehend gütig und dort, wo nur der Mensch in Frage kommt, so schlicht geblieben ist –. Ich sehe seine Schwächen – seine Vorzüge. Und ich weiß eines: Er hat aus reinsten Gründen das Beste gewollt –«

Die Exzellenz hebt den matten, kurzsichtigen Blick. Ein dünnes Lächeln frägt aus seinen sorgenschweren Zügen: »– et voluisse sat est«?

Aber da bewegt der Graf den Kopf zu einem sachten Verneinen: »Dafür – für diese doch ein wenig katzenjämmerlich bescheidene Weisheit – ist unsere Zeit nicht angetan –«

Tut ein paar Schritte, meint dann still: »Jetzt rücken sie von ihm mit jedem Tage weiter ab –«

Und der andere, die beiden Hände auf dem Rücken und vorgebeugt hinschreitend, daß er in diesem Dämmern gleich wie ein Gefesselter erscheint, seufzt – schweigt – sagt gläubig, milde: »Vor dem Urteil des Richters da oben wird er bestehen. Das Urteil dieser Welt wird sich gegen ihn wenden –. Schuld? – Schwäche? – Schicksal? Wer will das sagen? Das Gute, was er gewollt hat, ist zum Unglück geworden. Der Tote im Sachsenwalde hat Recht behalten.«

 

Die Meldungen, die der Generalstabsoffizier dem Könige am neuen Tage bringt, scheinen eine leichte Entspannung zu bedeuten.

Der nächtliche Rückzug vom Südufer der Marne ist geglückt. Der Feind hat nichts bemerkt – als er am frühen Morgen wieder stürmt, stößt er in leere, von den Unsrigen verlassene Stellungen. Die Reste dieser braven Divisionen, die eine Woche lang in einer Hölle kämpften, sind in Sicherheit gebracht.

Dazu tritt jetzt ein Nachlassen und Absinken der Angriffe an der Westfront – die Schlacht im Felde zwischen Soissons und Château-Thierry beginnt zu ermatten –. So ergibt sich jetzt eine Plattform, um die Lage zu übersehen, eine Bilanz der Kräfte aufzustellen, sich über das, was man noch leisten kann, klar zu werden.

Die beiden Männer in Avesnes wägen die Möglichkeiten – 

Der junge Offizier bittet um die Erlaubnis, selbst hinzufahren, um aus ihrem Munde zu hören, wie sie über die Entwicklung der Dinge denken.

Gewiß! So hat man dann doch volle Klarheit.

Und währenddessen treibt es den König wieder in Qual und Unrast um.

Vielleicht daß jetzt – gerade jetzt! – dort der Entschluß gefaßt wird – die Entscheidung fällt –. Nicht daran denken –! Aber das sitzt fest und läßt sich nicht verscheuchen und mahnt – und mahnt – 

Zum Stabe einer Gruppe fährt er wieder und findet nur das in den hingegangenen Tagen so oft erlebte Bild: Ein künstlich aufgeregtes Wesen, das sich festklammert an Hoffnungen und Glauben an den neuen Umschwung – darunter aber, aus den Pausen zwischen all den Worten lugend, die Sorge und die tiefe Not –

In einem von den großen Lazaretten spricht er vor, darin die Blutopfer der Schlacht geborgen liegen: Deutsche und Fremde – wie das Eisen und das Blei sie schlugen –. Tausend und noch mehr – –

Von Saal zu Saal geht er, den grauen Helm im Arm, wie in der Kirche. Und hinter ihm, mit Sporenzirpen, leisem Säbelklirren, die anderen – Anschluß – Anschluß – 

Und geht von Bett zu Bett – hält wächserne, bleiche Hände, streicht über magere Knochenarme hin und sieht in fiebrige Augen –. Redet zu ihnen – und hat dabei eine Stimme, die plötzlich ferne ist von allen denen, die da als prunkende Begleitung in seinem Rücken stehen –. Hat eine Stimme, die allein bei diesem einen ist, der da in Schmerzen liegt, und die ihm sagt: auch ich bin wund wie du – 

»Und du, mein lieber Junge – wo hat's dich erwischt?«

Ein unförmiger Klumpen ist der Verband um die Schulter. Der Arm –. »Bei Dormans, Majestät –.« Augen, als sähe er zu seinem Vater auf.

»Beim Marneübergang in der Nacht zum fünfzehnten?«

»Ja, Majestät, aber wir haben's doch geschafft –«

Der König nickt. Ihm ist, als könnte er es nicht ertragen. Er stößt hervor: »Gewiß, ihr habt's geschafft –. Als rechte Helden habt ihr euch geschlagen –.« Und dabei steht in heiß aufquellendem Schmerz, in würgender Bitterkeit das Wissen vor ihm: Umsonst – vergebens alles – 

Das kleine schwarze Eisenkreuz, das grüne Zweiglein und sein Bild legt er ihm auf die Decke – und kommt sich unsicher, beinah wie ein Betrüger vor, wie er dann geht, beim Nächsten wiederum verweilt.

Und dann sind Betten, da ist auf die schwarze Tafel über dem Kopfende ein kleiner Kreidekreis gemalt. Der Generalarzt hat es Seiner Majestät trotz alles bohrenden Augenzwinkerns des Generalobersts zugeraunt: da bleibt für Menschenkraft und -kunst nichts mehr zu hoffen –. Nur daß man ihnen vielleicht doch noch diese letzte Freude und Ehre spenden kann – 

Auch diese schlaffen, schwer gewordenen Hände hält der König – sieht auch in diese von den Schlafmitteln verglasten Augen.

Freude –? Ehre –? Wie Lasten sind ihm diese Worte jetzt. Als ob ihm seine Sicherheit des Glaubens an sich – an all das – entglitten wäre – 

Und dann vor einem Bette zögert seine Hand – 

Ein Mann von über vierzig – grauenvoll verbrannt –. In Watte und in weiße Binden eingeschnürt wie eine Mumie – und von dem armen eingepackten Angesicht nur die Augen – 

Diese Augen – 

Die stellen, wie sie aus dem Fieber schrecken und auf den König, auf den Trubel seiner Umwelt stoßen, jäh diese bösen, haßerfüllten Tiergesichter an den Straßen, an den Wegen vor ihn hin – 

Freude –? Ehre –?

Bleich bis in die Lippen ist er im starren Schrecken der Erkenntnis. Und denkt, während sein Herzschlag stocken will: – weiß ich denn, ob sie mich nicht etwa mit ihren letzten fliehenden Gedanken noch verwünschen –?!

Und unvermittelt wendet er sich – bricht er auf.

 

Spät abends kommt der Generalstabsoffizier zurück nach Bosmont. Abgehetzt, bleich, erregt.

Vortrag?

Nur einen Blick wirft der König auf das gequälte Jungensgesicht – und weiß, was der ihm bringt.

»Nein – heute nicht mehr: morgen früh.«

Dann ist er wiederum allein – quält sich durch diese Nacht, in der kein Schlaf ihn findet, in der seine letzten Kräfte in tausend Plänen und Gedanken noch einmal anstürmen gegen das Schicksal, das sich erdrückend näher schieben will.

 

Am neuen Tage aber gibt der Hauptmann dem Könige die Auffassung der Heeresleitung wieder.

Hart, unbeugsam zergliedert sie die Lage, stellt sie die neuen Forderungen auf. Manchmal, wie er die Sätze hört, ist es dem Könige, als spräche da der General mit seinen eigenen schneidend scharfen Worten –. Und ist doch nur der junge Offizier, der seinen schweren Dienst erfüllt – 

Wohl ist es in der Schlacht gelungen, die andrängende Flut nach Hingabe des Bodens bis zur Straße bei Hartennes noch einmal abzudämmen, wohl hat der Stoß des Gegners sein Ziel nicht erreicht – aber die Vorhand zu freiem Handeln haben wir nicht zurückgewonnen – können wir zunächst auch nicht wiedergewinnen. Der Marnebogen ist mehr als jemals bedroht – der Gegner kann nach einer neuen Ordnung seiner Mittel aufs neue gegen die zermürbten Stellen südlich von Soissons anrennen – und unsere Chancen, hier mit Aussicht auf Erfolg zu widerstehen, sind bei dem Unvermögen, neues Material heranzubringen, in raschem Sinken. Tollkühnheit – ein Spiel um den ungeheuren Einsatz der südlich der Vesle kämpfenden Truppen wäre so das Verharren, das Festhalten um jeden Preis.

Also: heraus aus dieser Lage! Rückzug zunächst bis an den Ourcq – dann weiter bis hinter die Vesle in die kürzeste Linie Soissons – Reims. Das alles ohne Hast – in Ordnung und nach Räumung aller Vorräte und allen Materiales. Hier an der Vesle ist man dann die schwere Sorge um den sinnlos gewordenen, von drei Seiten umstellten Bogen los, kann sich mit zusammengeschobenen Kräften auf Defensive einstellen, wie an irgendeiner anderen Stelle – und hat zugleich wiederum Truppen frei zum Einsatz in neuen Abwehrschlachten, die kommen werden.

Denn daß der Gegner die errungene Vorhand nützen wird, ist heute klar. Die letzte Schlacht hat die Amerikaner zum ersten Male schlagfertig an der Kampffront gezeigt – die lang gehegte Hoffnung, daß es uns gelingen werde, den Kriegswillen der Gegner vor diesem Augenblick zu brechen, ist gefallen. Was uns angesichts der jetzt zu ungeheurer Übermacht geschwollenen Feindheere noch bleibt, ist die Verteidigung in selbstgewählten, für uns günstigen Linien. Ein Defensivabschnitt des Krieges, der den zu steten Angriffen auf harte Stellungen gezwungenen Gegnern große Einbußen bringen und sie so vielleicht doch noch friedenswillig machen kann.

Damit fällt der Gedanke, weiter gegen Reims zu wirken, und fällt der Flandernplan – 

So will's die allgemeine Lage: Sammlung und sparsamste Erhaltung aller Kräfte – und Einstellung auf Abwehr längs der ganzen Front – 

Das bleibt uns noch – das können wir. Damit läßt sich noch manches schaffen – und Zeit gewinnen. Zeit, die uns eines Tages die Vorhand wieder geben kann – und die vom Auswärtigen Amt zu nutzen wäre – 

Der Hauptmann schweigt.

Ernst, starr beinahe, sitzt der König, die Stirne wächsern bleich, den Blick der Augen weit hinausgerichtet.

Kein Ausbruch – keine Einwürfe und Gegenreden – 

Als ob all das, was er durch ungezählte Male in ahnenden Gedanken entsetzenvoll durchlitten hat, jetzt, da es als Ereignis vor ihm steht, ihn nicht mehr treffen könnte – 

Nur diese fremde, wie versteinte Ruhe – 

Leise rührt sich der Hauptmann.

Da hebt der König den Kopf – bewegt die Lippen. Aber es kommt kein Laut. Und er schüttelt nur leicht, drückt auf den Knopf des Läutwerks auf dem Tische.

Der alte Schulz steht in der Türe.

Nur das Geräusch der Klinke hört der König.

»Den Generaloberst –«

Schweigen. Das frühe Licht liegt auf dem hageren, beinahe ockergelb erscheinenden Gesichte, umglänzt die weiche, silbergraue Lockenwelle.

Er denkt: Wie eine Lähmung –. So als wäre das jetzt fern von mir – beinahe überwunden –.

Fremd, unbegreiflich ist ihm diese stumpfe Stille.

Dann, wie der greise Kommandant des Hauptquartiers vor ihm steht, spricht er sachlich die wenigen Worte, die zu sagen bleiben. Nur daß ihm dabei immer zumute ist, als spräche er das gar nicht selbst – als wäre das ein anderer neben ihm –. So unberührt – so leblos – 

»Also – nach dem, was mir der Hauptmann an Nachrichten bringt, bleibt für mich hier zunächst kaum viel zu tun – wir brechen auf. Noch heute nachmittag. Sie sind so freundlich, alles zu veranlassen. Nach Spa – mit Aufenthalt in Avesnes. Bis dahin fahre ich im Auto – der Zug kann mich, wenn ich dann von den beiden Herren komme, erwarten. Das geht?«

»Gewiß, Euer Majestät –«

»Danke –.« Den beiden Herren nickt er zu.

Und ist allein.

Hört einen Zug auf einem von den rückwärtigen Gleisen vorüberrattern – sieht einen Mann, der, eine Säge, eine Axt in Händen, den alten, abgestorbenen Obstgarten durchquert – 

Denkt wieder: Als ob in mir etwas zerbrochen – totgeschlagen wäre –. Als ob das gar nicht bis zu mir gelangte – 

Dumpf – stumpf und schwer ist ihm ums Herz.

 

Später Nachmittag ist es, als er dann von Bosmont Abschied nimmt.

Kein Wort – nur über diese Umwelt blickt er hin, die er vor erst acht Tagen mit einer Brust voll tiefster Zuversicht und Hoffnung betreten hat –. Nur über diese Umwelt blickt er hin – und nickt dann still – steigt in den Wagen.

Die Räder ziehen an.

Kaum eine Viertelstunde später rollt auch der Zug dahin.

Lang wie noch nie ist diese Fahrt über die grauen Straßen – durch Dörfer, die so elend sind, als könnten sie den neuen Tag nicht mehr erleben – an grauen Wiesen und an schwarzen Wäldern hin. Links in der Weite blutet die Sonne sich hinter den Hügelwellen purpurrot zu Tode – 

Verkrampft, als wollten sie sich niemals wieder lösen, sind ihm die Lippen. Ein fader, bitterer Geschmack klebt ihm am Gaumen. – 

Es dunkelt, wie sie vor dem Gittertore des kleinen Hauses halten.

Straff und gerade steift er sich, grüßt rechts – grüßt links – 

Die kleine Freitreppe – die Diele – dieses Kartenzimmer – 

Die Birnen an den dünnen Drähten glühen scharf und gelb. Dicht zugehängt mit schwarzen Stoffen sind die Fenster: Fliegerschutz. Ein völlig anderes Wesen hat jetzt dieser Raum – kahl und gespenstig – 

Zu dritt stehen sie an dem über die zwei Schrägen aufgeschlagenen Kartentische beieinander.

Der Generalfeldmarschall spricht gute, gläubige Worte. Warmherzig, ehrerbietig und vertrauend – 

Aber das ist, als stürben sie, kaum daß sie sich von seinen Lippen lösten – fielen in eine offene dunkle Grube nieder – 

Nein – es ist wirklich nicht mehr viel zu sagen.

Der König sieht zu Boden, denkt: Als ob wir da um einen Toten stünden –

Hebt dann den Blick, nickt rasch und drückt ihm die Hand. – 

Fort – fort –!

Und wieder fahren diese grauen Wagen.

Den Berg hinunter gleiten sie, rollen die Rue de Mons entlang, vorüber an dem nachtschwarzen Gesträuche, daraus das Denkmal des kleinen Tambours Stroh sich reckt.

Dann halten sie: der Bahnhof.

Als dünner, dunkler Bogen stehen neugierig wartende Menschen: Ordonnanzen, Landser, Kraftfahrer und Leichtverwundete in ihren matt aufschimmernden Verbänden – 

Die Schläge klappen auf.

Der König schreitet durch die Tür in den Bahnhof ein.

Abgeblendet und dunkel alles. Kaum ein paar Schritt weit reicht der Blick.

Nur ein paar Herren draußen auf der Rampe zu beiden Seiten aufgebaut: Brust vor, die Waden durchgedrückt, die Augen starr geradeaus – gleichsam versteint.

Der dicke Ortshäuptling mit seinem Adjutanten, der gallige Herr Bahnhofskommandant.

Grüßend, mit festem Schritt, den Kopf in das Genick gelegt, passiert der König diese Krieger. Die Sporen klirren auf den Steinen.

Dann ist er in dem Wagen, steht ein paar Augenblicke noch hinter der Scheibe, starrt zurück – 

Schwarz, klotzig, undurchdringlich steht der dicke viereckige Turm der Kirche von St. Nicolas gegen den nächtigen Himmel.

Unten, der Ortsgewaltige, der noch immer den Leib einzieht, raunt mit verhaltenen Lippen zu seinem schmalen Leutnant hin: »Forsch sieht Seine Majestät aus – und richtig wie ein König –«

Leise, kaum merklich, beginnen die Wagen zu gleiten.

Jetzt steht der alte Schulz hinter dem König, nimmt ihm den Umhang von den Schultern und nimmt das Schwert, den Helm entgegen – 

Schneller rollen die Wagen.

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer drückt der König auf – 

Steht inmitten des Raumes still – sieht fremd und suchend um sich – streicht sich über Stirn und Schläfen nieder –

Läßt sich dann jäh, als hätte ihn ein Streich gefällt, in einen Sessel sinken – die Arme auf den grünen Tisch – und sein Gesicht auf seine Arme – 

 

Der Zug rast jetzt mit voller Kraft, die Lichter abgeblendet, in das Dunkel. –


Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart

 


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