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Das Ernteopfer

In einem Lande, das zu beiden Seiten eines Flusses gelegen ist, fand einst eine große Opferfeier statt. Der Landesfürst hatte dem Erntegott hundert milchweiße Kühe gelobt, damit er das Wachstum der Felder segne. Die hundert Opfertiere umstanden den Altar, und der Vorbeter verrichtete angesichts des versammelten Volkes die üblichen Bittgebete. Plötzlich stockte er und hielt mitten im Gebet inne. Der Landesfürst, der neben ihm stand, fragte ihn unwillig: »Warum stockst du mit einem Male mitten im Gebet?« Und der Vorbeter erwiderte: »Herr, ich sah soeben unter den hundert milchweißen Opfertieren, die du dem Erntegott gelobt hast, ein Tier mit einem schwarzen Fleck am Hinterbein, und ich befürchte, daß der Erntegott deshalb an diesem Opfer kein Wohlgefallen haben wird.«

Stirnrunzelnd entgegnete der König: »Die gütige Gottheit wird das Versehen eines Sterblichen mit verstehender Nachsicht beurteilen. Wenn wir aber dennoch ihr Mißfallen verspüren sollten, dann könnte dies der Grund sein, weil die feierliche Handlung unterbrochen wurde.« Und er befahl ihm, das Bittgebet zu vollenden. Das geschah, und die hundert Opfertiere wurden dem Erntegott geopfert.

Der Erntesegen aber blieb aus, und das ganze Land wurde von einer anhaltenden Dürre heimgesucht. Der Landesfürst besprach sich mit seinen Ratgebern und verhieß demjenigen einen hohen Lohn, der ein Mittel wüßte, den sichtlich erzürnten Erntegott zu versöhnen. Da meldete sich eines Tages ein fremder Greis, der sprach zu dem Fürsten und seinen Räten: »Stromaufwärts liegt ein Büßerhain; in diesem lebt ein Einsiedler zusammen mit einem Jüngling, den er seit dessen Geburt behütet. Wenn dieser reine Jüngling mit der Kinderseele, der noch niemals den Büßerwald verlassen hat, die Grenzen unseres Landes betend überschreitet, dann wird der Zorn des Erntegottes von diesem Land genommen werden.«

Über diese Botschaft war der König hocherfreut, und er beschenkte den weisen Alten reichlich. Auf seinen weitern Rat ließ er ein Floß errichten, auf diesem war eine Schilfhütte aufgestellt, und das Floß wurde mit vierzig Knechten bemannt. Alsdann rief der König seine einzige Tochter herbei, kleidete sie in das Bastgewand der Büßer und bestieg mit ihr das Floß, das von den Knechten stromaufwärts getrieben wurde.

Als sie in die Gegend kamen, wo der Büßerwald begann, hieß der König seine Tochter an den heiligen Hain gehen und gebot ihr, den reinen Jüngling aufzusuchen und auf das Floß zu locken. Das Mägdlein schritt in den Hain und traf bald mit dem Jüngling zusammen, der im Begriff war, Holz für das heilige Feuer zu sammeln. Er begrüßte die Angekommene und lud sie zum Sitzen unter einem schattigen Baume ein. Dann sprach er: »Ich glaube, fremdes Brüderlein, du wirst hungrig und durstig sein; ich will rasch zu meinem Vater in seine Schilfhütte laufen und Waldfrüchte und Büffelmilch für dich herbeiholen.«

Die Königstochter dankte für seine Artigkeit und bat ihn zu bleiben. Dann entnahm sie dem Binsenkörbchen, das sie bei sich trug, süßes Backwerk und feurigen Wein in einem zierlichen Krüglein und gab ihm von beiden zu kosten. Da begannen die Augen des Jünglings zu leuchten; denn er hatte noch niemals derartiges genossen.

Er fragte die Jungfrau nach ihrer Herkunft, und sie erzählte ihm, daß ihr Vater ein König sei. Dies verstand er nicht, und sie verstand es wiederum nicht, ihm zu erklären, was ein König ist. Dann erzählte sie ihm, wie sie und ihr Vater auf mächtigen Holzstämmen flußaufwärts gekommen seien. Auch hierüber schüttelte der Jüngling den Kopf, und ihre Zwiesprache begann zu stocken. Als der Jüngling sich dann erinnerte, daß sein Vater ihn daheim mit dem Holz für das heilige Feuer erwartete, erhob er sich eilends und lief mit dem gesammelten Holz davon. Niedergeschlagen kehrte das Mädchen zu ihrem Vater zurück.

Der Jüngling aber erzählte seinem Vater von dem Fremdling im Bastgewand, den er beim Holzsammeln angetroffen hatte, und er rühmte seinen zarten Wuchs, sein liebliches Antlitz und sein reiches Flechtenhaar. Dies beunruhigte den frommen Einsiedler, und er grübelte die ganze Nacht darüber nach, welcher schlimme Geist in arglistiger Verkleidung wohl den reinen Jüngling habe verführen wollen. Am andern Morgen machte er sich auf und durchstreifte den ganzen Hain bis in die entlegensten Winkel, um den Versucher ausfindig zu machen und ihn mit seinem Fluch zu beladen.

Unterdessen war der Jüngling neugierig zum Flußufer hinabgeschritten, um das geschilderte Schiff aus Holzstämmen zu sehen. Er fand das mächtige Floß, und wie er es staunend betrachtete, gewahrte die Königstochter in der Schilfhütte den Jüngling. Sie eilte hinaus, begrüßte ihn und bat ihn, in die Hütte einzukehren und ihren Vater zu begrüßen. Der Jüngling folgte ihr in die Hütte, und dort empfing ihn der König und sprach gütige Worte zu ihm. Dann wurde er von der Jungfrau mit Backwerk und süßem Obst bewirtet, und als endlich der König ihn aufforderte, er möge sie in ihr Land begleiten, weil solches dem Lande zum Segen gereichen würde, da verstand der Jüngling abermals diese dunkle Rede nicht; aber gleichzeitig war es ihm, als ob eine übernatürliche Macht ihm zuredete, dieser Aufforderung sich zu unterwerfen. So fuhr der reine Jüngling mit ihnen stromabwärts.

Als das Floß die Landesgrenze erreicht hatte, erhob sich der König und befahl den Ruderknechten zu halten. Dann begab er sich mit dem Jüngling und der Tochter an die Spitze des Flosses und sprach feierlich zu dem Jüngling: »Siehe, wir betreten das Land, das unter der anhaltenden Dürre zusehends leidet. Ich bitte dich, der du ein Liebling der Gottheit bist, entsühne uns und bitte den Erntegott, die verdürstenden Fluren mit dem erquickenden Naß zu segnen, da wir sonst alle Hungers sterben.«

Der Jüngling blickte um sich und sah zur Rechten und zur Linken ausgedörrte Erde und versengte Felder und Bäume, und eine große Ergriffenheit kam über ihn. Er faltete die Hände auf der Brust, hob die Augen zum Himmel, und während der König und seine Tochter demütig mit gesenkten Häuptern beiseitestanden, verrichtete er laut das folgende Gebet:

O Erntegott, hör' unser Flehen,
Die wir vor deinem Throne stehen!

Sind wir nicht würdig deiner Huld,
Dann nimm von uns hinweg die Schuld!

Oh, gib den Fluren deinen Segen
Und spende den ersehnten Regen!

Dieses schlichte Gebet aus dem Mund eines reinen Menschen versöhnte die beleidigte Gottheit; eine dunkle Wolke beschattete das Land ringsum, und bald fiel ein reichlicher Regen nieder. Alle Bewohner des Landes waren darüber hocherfreut und dankten der Gottheit mit lauter Stimme. Der König aber sprach zu dem Jüngling: »Du bist in Wahrheit der Wohltäter meines Landes geworden; nimm meine einzige Tochter, die dich liebt, zur Frau.«

Inzwischen hatte der Einsiedler den gesuchten schlimmen Verführer nirgendwo im Walde gefunden. Als er am Abend müde in seine Schilfhütte zurückkehrte, wartete er vergeblich auf den Jüngling. Und er wartete den zweiten und den dritten Tag. Dann machte er sich auf und schritt stromabwärts, um ihn zu suchen. Und er kam in ein Land, wo eine reiche Ernte heranreifte, und die Menschen waren voll Lob und Dank gegen den gütigen Erntegott. Dem Greis aber erzählten sie dies: Nach wochenlanger Dürre sei ein reiner Jüngling, den ein heiliger Einsiedler aus dem Büßerwald stromabwärts entsandt hatte, ins Land gekommen und habe den göttlichen Zorn von ihnen weggenommen, weshalb der Landesfürst ihm zum Dank seine einzige Tochter zur Frau gegeben habe.

Als der Greis solches vernommen hatte, schmolz der Zorn in seiner Seele. Er war stolz darauf, daß der reine Jüngling, den er seit dessen Geburt behütet hatte, ein Werkzeug Gottes geworden, und er kehrte beruhigt in seine Waldeinsamkeit zurück.

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