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Der Friedensvertrag und das Kabinett Scheidemann.

Der Versuch, in Verhandlungen zu kommen. – Das Kabinett ändert meine Rede. – »Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar.« – Die Agitation der Unabhängigen: Sofortige Unterzeichnung. – Der Reichspräsident mit mir einverstanden. – Die Gegenvorschläge und die Konferenz in Spa. – Erzberger verlangt eine Aussprache über die Folgen von Annahme und Ablehnung. – Mein Kampf um die Ablehnung. – Mein Rücktritt und die Vollendung des Zusammenbruchs.

Der Versuch, in Verhandlungen zu kommen.

Dies Buch trägt den Titel »Zusammenbruch«. Es verfolgt von Etappe zu Etappe die Fehler unserer Kriegspolitik, die Halbheit und Unehrlichkeit heißen. Es zeigt die unermüdlichen, aber leider auch fruchtlosen Bemühungen der Sozialdemokratie, einen einheitlichen Willen in dies Chaos der Entschlußlosigkeit zu bringen. Es zeigt die unter Lebensgefahr und Aufopferung parteipolitischer Interessen geleistete Arbeit meiner Freunde nach dem 9. November. Es führt in diesem Schlußkapitel zum vollendeten und besiegelten Zusammenbruch, dem Versailler Frieden.

Ich spreche hier nicht für die Partei und ihre Haltung – wenn auch zahlreiche Parteifreunde auf meiner Seite standen – sondern für mich! Es kann nicht meine Aufgabe sein, eine Geschichte dieses Kampfes um den Frieden zu schreiben. Ich will nur einige der Höhepunkte herausheben, die für die Ablehner des unerhörten Vertrags besonders ausschlaggebend waren. Für mich wird es immer das krasseste Beispiel schamloser Parteiverhetzung bleiben, wie die Rechte mich bei diesen Vorgängen verunglimpft und mit einer Verantwortung beladen hat, die gerade ich in jedem Augenblick der Verhandlungen mitzutragen abgelehnt habe. So stark wirkte die Kriegsverlängererhetze gegen den »Scheidemann-Frieden« nach, den sie nach dem von ihnen herbeigezwungenen Vernichtungsfrieden nur zu gern und mit aller Inbrunst angenommen hätten.

Die Besprechungen, die sich mit dem Frieden befaßten, begannen schon in der Zeit der sechs Volksbeauftragten und gaben, zugleich mit den Verhandlungen über die jeweils nötig werdende Verlängerung des Waffenstillstandes, den ersten Monaten der Weimarer Tagung das Gepräge. Es galt nicht nur, jedes einzelne in Frage kommende Gebiet genau durchzuarbeiten, sondern auch die Auswahl der zu beteiligenden Personen zu treffen, die nötigen organisatorischen Vorbereitungen zu machen und die Riesenzahl der vorgeschlagenen und notwendigen Sachverständigen zu sieben. In all diesen Fragen bedurfte es zwar langwieriger Verhandlungen, aber es spielte in sie die prinzipielle Frage der Unterzeichnung oder Nichtunterzeichnung noch nicht hinein. Selbst als der Friedensvorschlag der Feinde vorlag und ganz Deutschland diesen hemmungslosen Vernichtungswillen erst fassungslos und dann mit einer elementaren Volksempörung ohnegleichen aufnahm, siegte über eine sofort auszusprechende Ablehnung zuerst noch der Wille, um jeden Preis in Verhandlungen und damit in ein Fahrwasser vielleicht noch möglichen Ausgleiches zu kommen.

Das Kabinett ändert meine Rede.

Diesem politisch einzig möglichen Willen trug ich unter Zustimmung des Kabinetts Rechnung, als ich in seinem Namen zum ersten Male, gleich nach der Überreichung des Versailler Dokuments, im Friedensausschuß der Nationalversammlung, der im Reichsfinanzministerium tagte, referierte. Ich sparte keine Worte der Verurteilung, verwies aber gleichzeitig auf das einzige Gebot der Stunde: Verhandeln, Verhandlungsmöglichkeiten suchen! Dieselbe Absicht beherrschte mich bei der Vorbereitung meiner in der Aula vor der Nationalversammlung zu haltenden Rede. Es kam mir, der ich zur Ablehnung des Vertrages in der vorliegenden Form fest entschlossen war, nicht auf einen billigen rhetorischen Erfolg an, sondern ich wollte vor allem keine Gelegenheit zum Ausgleich zerstören. Deshalb hieß es in meinem Redeentwurf an der entscheidenden Stelle: »Ich werde nicht über die Gefahren eines Ja oder Nein sprechen. Dazu wird noch Zeit sein, wenn das Unmögliche Ereignis zu werden droht, daß die Erde solch ein Buch tragen kann, ohne daß aus Millionen und aber Millionen Kehlen aus allen Ländern ohne Unterschied der Partei der Ruf erschallt: Weg mit diesem Mordplan!«

»Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar.«

In der Kabinettsitzung am Montag, den 12. Mai, vormittags, waren es hauptsächlich die Demokraten, die auf ein unbedingtes Nein hindrängten. Die andern Minister, mit der alleinigen Ausnahme von David, der aber auch erst nach der Sitzung Einspruch erhob, schlossen sich ihnen an, und so wurde an Stelle des zitierten Satzes der neue gesetzt: »Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar!« Damit mußte meines Erachtens die Frage für die Mitglieder des Kabinetts insofern unbedingt als erledigt gelten, als für sie an eine Unterschrift nicht mehr zu denken war, wenn nicht ganz gewichtige Zugeständnisse gemacht wurden. Es ist bekannt, daß die Unabhängigen ihrer sinnlosen Politik die Krone aufsetzten, indem sie das von der Regierung in der Nationalversammlung ausgesprochene Nein! zur Entfachung von Demonstrationen für sofortige Unterzeichnung benutzten. Nichts hat uns im damaligen Stadium mehr geschadet als diese gewissenlose Aktion; gewissenlos, denn ihren Drahtziehern war es ganz genau bekannt, daß an einen neuen Krieg nicht zu denken war, und daß niemand in der Regierung an einen solchen dachte. Die Sozialdemokratie antwortete infolgedessen am 13. Mai mit einer gewaltigen Demonstration gegen den Gewaltfrieden, bei der ich ausführte: »In der jetzigen Regierung sitzt kein Mann, der so unehrlich wäre, etwas zu versprechen, wovon er weiß, daß er es nicht halten kann … Wir wollen den Frieden, wir wollen ihn auf Grund der Wilsonschen Punkte, wir sind bereit zu Verhandlungen. Unser ganzes Streben ist auf Anbahnung von Verhandlungen gerichtet, die nicht abweichen dürfen von dem, was der Welt wirklich den Frieden bringen kann.« Ich glaube, konsequenter kann die Haltung eines Politikers vom ersten Anfang bis zum bittern Ende nicht durchgeführt werden.

Darnach schien auch die dem Kabinett vorgeschriebene Richtlinie so klar wie möglich. Ebert, mit dem ich wiederholt gesprochen hatte, bekannte sich nicht nur vielen unserer gemeinsamen Freunde gegenüber, sondern auch öffentlich zu den gleichen Anschauungen in der Friedensfrage, die ich wiederholt vertreten hatte. Ich hatte ihm auf das bestimmteste erklärt, daß ich meinen Namen nicht unter einen Vertrag setzen werde, der den deutschen Namen schände und uns Verpflichtungen auferlege, von denen wir überzeugt seien, daß sie nicht erfüllt werden können. Unbedingte Ehrlichkeit gegenüber der Entente und auch gegen uns selbst sei dringendes Erfordernis, wenn wir als ehrliche Leute im In- und Ausland gelten wollten. Wie im Kabinett, so habe ich besonders auch Ebert gegenüber immer wieder betont, daß m.E. die Zukunft den Politikern gehören werde, die diesen Schandvertrag abgelehnt hätten. Auch dann würde ich nicht unterzeichnen, wenn es die Partei verlangen sollte. Die Partei mag, so leid mir das wäre – immer im Hinblick auf die angedeutete Voraussetzung der Schändung des Namens und der Ehre des deutschen Volkes – unterzeichnen lassen durch wen sie will, mein Name kommt nicht unter einen Vertrag, in dem wir bestätigen, daß die Feinde mit uns machen können, was sie wollen, weil wir der Auswurf der Menschheit seien – schlechthin wir Deutsche!

Ebert war, wie gesagt, vollkommen meiner Meinung und schien darin unerschütterlich zu sein. Er denke nicht daran, anders zu handeln. Ich habe ihm gesagt, daß er in besserer Position sei als ich, weil er sich nicht öffentlich zu engagieren brauche, wie der Wortführer seiner Regierung.

Die Gegenvorschläge und die Konferenz in Spa.

Die nächsten Tage waren der Ausarbeitung unserer Gegenvorschläge gewidmet. In Versailles sollte, unter dem unmittelbaren Eindruck der gegnerischen Mächte, ein Teil der Arbeit geleistet werden, der andere von den einschlägigen Ressorts in Berlin. Daß sich dabei Mißhelligkeiten herausstellen mußten, war selbstverständlich, aber nicht zu vermeiden; es galt, sie nach Möglichkeiten auszugleichen, insbesondere in bezug auf die Wiedergutmachungsangebote. Auch schon damals schien eine der unerträglichsten Folgen des Versailler Vertrags die Tatsache, daß unsere Entschädigungspflichten nicht umgrenzt waren, sondern erst später, dazu noch ohne unsere Mitwirkung, festgesetzt werden sollten. All diesen Problemen galt eine Zusammenkunft am 23. Mai in Spa. Zu ihr waren aus Berlin vor allem die Reichsminister Dernburg, Erzberger, Bell und ich erschienen, und aus Versailles die sechs Mitglieder der Delegation, Graf Rantzau, Giesberts, Landsberg, Leinert, Melchior und Schücking, dazu Direktor Simons und einige Sachverständige, wie Herr von Stauß und Geheimrat Hillger. Es handelte sich zuerst um die sehr wichtigen technischen Fragen. Dabei wurde beschlossen, daß von weiteren Noten, die allzu leicht einzeln von der Entente abgetan werden könnten, fernerhin abgesehen werden solle. Alle noch nicht behandelten Fragen sollten Gegenstand der einheitlichen Gegenvorschläge werden, für welche die Regierung die Richtlinien, die Delegation die Redaktion und die Sachverständigen schließlich eine Schlußkontrolle, ohne das Recht zu prinzipiellen Änderungen, zu leisten hätten. Damit schien die Gefahr widersprechender Aktionen beseitigt.

Die wichtigste Frage, die nach einer zu leistenden Pauschalentschädigung, wurde ebenfalls erledigt und einer, am nächsten Tag stattfindenden Sitzung mit den Versailler Finanzdelegierten zur endgültigen Formulierung überlassen. Die Richtlinien dafür, die vor allem durch Herrn Dr. Melchior vertreten und von Dernburg, seinem ursprünglichen Nein entgegen, akzeptiert wurden, lauteten: »Unter Aufrechterhaltung der im ursprünglichen Finanzprogramm des Reichsfinanzministers enthaltenen Einschränkungen wird ein Generalbond von 20 Milliarden als erste Rate angeboten. Davon werden die schon gemachten oder zu machenden Leistungen abgezogen. Der Rest ist bis zum Jahr 1921 durch Kohlenlieferungen zu zahlen. Darüber hinaus Angebot im Rahmen der Zahlungsbestimmungen des Wilson-Programms von einer zinslosen Entschädigung, die 100 Milliarden nicht übersteigen darf, einschließlich der belgischen Schuld an die Alliierten und der ersten Milliarden-Rate.«

Diese Richtlinie ist dann in unsern Gegenvorschlägen zum Ausdruck gekommen.

Erzberger verlangt eine Aussprache über die Folgen von Annahme und Ablehnung.

Schon in diese Besprechung in Spaa war das Thema von definitiver Annahme oder Ablehnung hineingeklungen, ohne daß natürlich eine Entscheidung getroffen werden konnte, die nur Sache des Kabinetts sein durfte. Insbesondere Landsberg glaubte nicht daran, daß sich die Entente etwas abhandeln lasse, und sah eine letzte, vielleicht wirksame Möglichkeit darin, daß die Delegation im Fall der Unabänderlichkeit der Bedingungen abreisen und einstimmig erklären solle, dem Kabinett die Ablehnung zu empfehlen.

Am 1. Juni nun, nach einer Kabinettssitzung, kam Erzberger in mein Zimmer im Reichskanzlerhaus, um mich zu bitten, eine besondere Sitzung abzuhalten, in der lediglich die Folgen der Annahme oder der Ablehnung des Friedensvertrages erörtert werden sollten. Ich war zunächst dagegen, weil wir doch abwarten sollten, wie die Schlinge, mit der das deutsche Volk – und zwar mit unserer Zustimmung! – erdrosselt werden sollte, endgültig aussehen werde. Erzberger aber bestand auf der Sitzung, so daß ich schließlich zusagte unter der von mir wohl überlegten Bedingung, Erzberger müsse »als Grundlage der Aussprache« eine Exposé vorlegen, in dem er die seines Erachtens eintretenden Folgen bei Annahme oder Ablehnung des Vertrages skizziere. Ich wollte es schwarz auf weiß von ihm selbst haben, wie er die Folgen einschätzte. Er ging auf meinen Wunsch ein.

Das Kabinett beschäftigte sich dann am 3. und 4. Juni mit den »voraussichtlichen Folgen« auf Grund der Erzbergerschen Vorlage, die ich hier im Wortlaut wiedergebe: Erzberger hat das Schriftstück in seinen Erinnerungen auch veröffentlicht. Der Vollständigkeit halber und wegen einiger Abweichungen habe ich auf seine Zitierung dennoch nicht verzichten wollen. Sch.

Wenn der Friede unterzeichnet wird.

Ungeheuer schwere Lasten ruhen auf dem deutschen Volk.

1. Außenpolitische Folgen.

Der Kriegszustand hört auf.

Die Blockade wird beseitigt.

Die Grenzen öffnen sich, es kommen wieder Lebensmittel und Rohstoffe ins Land, der deutsche Kaufmann kann auf Privatkredit Waren kaufen.

Der Export kann wieder beginnen.

Die Kriegsgefangenen kommen in die Heimat zurück.

Deutschland wird seine konsularischen Vertreter im alliierten Ausland wieder einsetzen.

Polen wird gezwungen, seine Angriffsabsichten aufzugeben.

Die Einheit des Reiches bleibt bestehen.

2. Innenpolitische Folgen.

Die Steuerlasten werden außerordentlich drückend sein, aber:

Durch die vermehrte Einfuhr von Lebensmitteln, Waren und Rohstoffen wird eine Beruhigung und ein gewisser Ausgleich geschaffen.

Die Arbeit wird in steigendem Umfang wieder aufgenommen werden können. Neben der Befriedigung der Inlandsbedürfnisse kommt der Außenhandel wieder in Gang.

Die Valuta wird steigen. Die hierdurch bedingte steigende Verbilligung der Lebensbedürfnisse wird die Position der breiten Massen bessern.

Der Bolschewismus verliert an Werbekraft.

Arbeitslust und Arbeitsleistung werden wieder wachsen.

Durch vermehrte Kohlenproduktion wird die Verkehrslage gebessert.

Lebensmittel, Waren und Rohstoffe sind die Voraussetzungen für die Arbeitslust und Arbeitsmöglichkeit, die nötig ist, um den Friedensvertrag durchzuführen.

Die gegenwärtige Regierung bleibt aller Voraussicht nach.

Von rechts her und von einem Teil des liberalen Bürgertums wird ein erbitterter Kampf gegen die Regierung entbrennen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es zu einem militärischen Putsch gegen die Regierung kommt. Diese Aktion würde sehr wahrscheinlich vom Osten ausgehen.

Es ist damit zu rechnen, daß der gesamte Osten sich der Durchführung des Friedensvertrags mit Waffengewalt widersetzen wird. Von da aus wird versucht werden, gegen die Regierung aufzuputschen. Die Bewegung aber würde wahrscheinlich an der vorbehaltslosen Friedenssehnsucht der großen Mehrheit des Volkes, sowie an der greifbar in Erscheinung tretenden Besserung der allgemeinen Lage durch den Friedenszustand bald verpuffen.

Wenn der Friede nicht unterzeichnet wird. 1. Außenpolitische Folgen.

Der Kriegszustand würde wieder aufgenommen, und zwar wahrscheinlich mit dreitägiger Kündigung des Waffenstillstandes.

Die Alliierten, und zwar sämtliche, auch die Amerikaner, rücken in breiter Front vor, wie weit, ist nicht bekannt, aber mindestens zu einer Linie, die durch Kassel parallel des Rheines läuft.

Insbesondere wird das Ruhrgebiet besetzt.

Außerdem liegen Nachrichten vor, nach denen die Alliierten einen Korridor von Frankfurt bis Prag bilden wollen, um Norddeutschland von Süddeutschland zu trennen.

Die Blockade wird verschärft. Die Grenzen werden hermetisch geschlossen. Die neutralen Länder haben bereits Anweisung von den Alliierten, jede Ein- und Ausfuhr nach bzw. von Deutschland zu sperren.

Die wehrfähige Bevölkerung kann, da es sich um Kriegszustand handelt, in Kriegsgefangenschaft abgeführt werden.

Die übrige Bevölkerung in den weiten besetzten Gebieten wird nach Kriegsrecht behandelt; es ist zu erwarten, daß die Alliierten mit den stärksten Repressalien vorgehen werden.

Die Requisitionen werden in härtestem Maßstab durchgeführt werden.

Vom Osten her werden die Polen ins Land einrücken.

2. Innenpolitische Folgen.

Allgemeine Lebensmittel-, Waren- und Rohstoffknappheit in Deutschland.

Von den Grenzen Deutschlands werden die Bevölkerungen von Osten und Westen nach dem Innern Deutschlands zusammenströmen und die Lebensmittelnot ins Ungeheuere steigern.

Durch die Besetzung des Ruhrkohlengebiets fällt der Nachschub an Kohlen fort, daher ist:

Allgemeiner Zusammenbruch des Verkehrs und Hungersnot in den großen Städten in einigen Wochen zu erwarten.

Überhandnehmen des Bolschewismus, der seine Zeit kommen sieht.

Plünderung, Mord und Totschlag wird an der Tagesordnung sein.

In der allgemeinen Verwirrung wird es kein Nachrichtenwesen mehr geben. Daher Atomisierung Deutschlands.

Die Behörden werden nicht mehr arbeiten können, da sie keine Autorität mehr besitzen und von oben her keine Weisungen mehr empfangen können. Stillstand der ganzen Staatsmaschine.

Der Mangel an Lebensmitteln und Bedürfniswaren wird ein wahnsinniges Emporschnellen der Preise hervorrufen. Die Folge davon ist die völlige Entwertung des Geldes.

Wir werden dann tatsächlich russische Verhältnisse in Deutschland bekommen.

Aus Angst vor diesem Terror werden, wie in Rußland, zahlreiche bürgerliche Elemente der äußersten Linken in die Arme geführt werden. Der andere Teil wird sich zur Rechten schlagen.

Blutiger Bürgerkrieg, vor allem in Berlin und in den großen Städten.

Das Deutsche Reich fällt auseinander.

Die einzelnen Freistaaten werden dem Anerbieten und Druck der Alliierten, mit ihnen Frieden zu schließen, nicht widerstehen können. Wenn schon jetzt in Bayern, in den Rheinlanden und auch im Osten solche Tendenzen auftreten, so ist dies erst sicher zu erwarten, wenn der völlige Zusammenbruch Deutschlands Wirklichkeit geworden ist. Die Rheinische Republik wenigstens ist in einigen Tagen Tatsache geworden.

Werden diese Tendenzen verwirklicht, so werden die Alliierten die in Betracht kommenden deutschen Staaten so fest an sich binden, daß das Deutsche Reich tatsächlich aufgehört hat zu existieren.

Aber auch kleinere deutsche Gebiete würden sich selbständig machen und den Anschluß an unsere Gegner suchen. Die Karte des Deutschen Reiches würde dann verschwinden und an ihre Stelle eine Buntscheckigkeit von Kleinstaaten entstehen, wie sie stets der große Traum Frankreichs war.

Damit geriete ungefähr das ganze Deutsche Reich auch unter die territoriale Abhängigkeit der Alliierten, und was dann von Deutschland übrig bliebe, müßte, wenn es zum Frieden kommen wollte, als ein innerlich völlig zerstörtes und erschöpftes Land neue schwere Opfer auf sich nehmen.

Auch bei Annahme weniger katastrophaler, durch den alliierten Vormarsch hervorgerufener Wirkungen wäre jedenfalls das Rheinland für Deutschland verloren, die Einheit des Deutschen Reiches also zerstört. Nach kurzem Einmarsch aber würde ein noch schlimmerer Frieden aufgezwungen werden.

Die Spekulation, als ob die Alliierten die Verwaltung eines am Boden liegenden Deutschlands übernehmen würden, dürfte verfehlt sein. Dieser Zustand der Ohnmacht Deutschlands wäre einer mächtigen Strömung innerhalb der Alliierten (Frankreich und England) erwünscht, die Alliierten würden Deutschland daher auflösen und die einzelnen Teile sich selbst überlassen.

Die Folgen eines durch Nichtunterzeichnung hervorgerufenen Einmarsches der Alliierten wären, kurz zusammengefaßt:

1. Zertrümmerung des Reichs, Auflösung desselben in Einzelstaaten. Der Haß der Einzelstaaten gegen Preußen, dem die Verantwortung für die Katastrophe Deutschlands zugeschrieben wird, würde die Trennung in Einzelstaaten zu einer dauernden machen.

2. Nach kurzer Frist müßte doch Frieden geschlossen werden, aber nicht vom Reich, sondern von den Einzelstaaten, denen zur Bedingung gemacht würde, keine Einheitsbildung mehr einzugehen. Dieser Friede wäre ein noch schlimmerer als der jetzige.

3. Sturz der Regierung und Ersetzung derselben durch Unabhängige und Kommunisten. Auflösung der Reichswehrbrigade, Ordnungslosigkeit im ganzen Lande.

Mein Kampf um die Ablehnung.

In mein Tagebuch habe ich am 5. Juni 1919, also unter dem frischesten Eindruck dieser Sitzungen, folgendes eingetragen:

… Ich bin wie an allen Gliedern geschlagen. Vermag ich vielleicht nicht die ganze Furchtbarkeit der Situation zu überschauen, in die unser Volk kommen kann, wenn wir nein sagen? Sind die Erzberger, Noske und David politisch so viel klüger und weitsichtiger als ich? Aber – wenn es schon sein muß, was ich auch jetzt noch nach der Aussprache im Kabinett, an der auch Ebert und die Preußen teilnahmen, bestreite, und zwar leidenschaftlich bestreite, müssen denn wir ja sagen, wir, die wir im Kabinett sitzen und vor aller Welt schon nein gesagt haben?

»Unser Volk ist national so verlumpt, daß wir unterzeichnen müssen.« – »Unser Volk ist moralisch und national so verlumpt –«, dreimal hat es Noske vorgestern gesagt. Und der Vorreiter bei dieser Retirade war Erzberger, der irgendwelchen Gegenreden in dieser Frage vollkommen unzugänglich ist. – Sonst sprach niemand für die Annahme. Von den Demokraten sprachen sehr entschieden für Ablehnung: Gothein, Dernburg und Preuß; Giesberts vom Zentrum schlug sehr energische Töne an und begründete die Unmöglichkeit der Annahme besonders auch mit den vielgenannten Ehrenpunkten.

Von uns Sozialdemokraten war ich der erste, der seinen ablehnenden Standpunkt begründete. Ich enthielt mich aller großen Worte, sprach aber mit Deutlichkeit aus, daß ich mich unter gar keinen Umständen in Widerspruch setzen werde zu dem, was ich öffentlich, zum Teil auch als Präsident des Kabinetts, schon erklärt hätte. Ich werde meine Notizen, die ich in den Sitzungen auf dem gleichen Blatt machte, auf dem ich die Redner verzeichnete, wie einen wertvollen Schatz aufbewahren, den ich zur Hand nehmen will, wenn jemals eine übermütige Stimmung über mich kommen sollte. Ich führe einige Sätze aus meinen Ausführungen an:

»Ich will unserer Aussprache einen gewissen Wert nicht absprechen. Aber darüber wollen wir uns klar sein, Beschlüsse können wir erst fassen, wenn das Ultimatum vor uns liegt. Wir wollen uns sachlich entscheiden. Jeder nach bestem Gewissen im Interesse des Landes, jede persönliche Rücksicht muß selbstverständlich ausscheiden. Ich habe öffentlich erklärt, und andere von Ihnen auch, daß wir diesen Vertrag nicht unterzeichnen können. Ich habe in der Nationalversammlung am 12. M a i d. J. gesagt: »Wer kann als ehrlicher Mann, ich will gar nicht sagen als Deutscher, nur als ehrlicher vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?« Meine feste Überzeugung ist die, daß die politische Zukunft nur denen gehören kann, die diesen Forderungen gegenüber ein klares Nein aussprechen. Ich kann mir denken, daß das Reich der Gewalt weichen und schließlich ja sagen muß. Aber das will ich bestimmt versichern: Ich werde es nicht sein, der es tut. Ich nehme den Standpunkt ein, daß wir der Entente ganz offen und ehrlich sagen: Was ihr von uns verlangt, kann von uns nicht erfüllt werden. Wollt ihr das nicht einsehen, dann kommt und versucht es selbst in Berlin. Mutet uns nicht zu, euer Gerichtsvollzieher und Henkersknecht am eigenen Volke zu sein. Der Vertrag ist – selbst wenn größere Konzessionen gemacht werden – unerfüllbar. Deshalb bedeutet er für mich einen Fetzen Papier, auf den ich meinen Namen nicht schreibe. Was Erzberger über den Zerfall des Reiches gesagt hat, wenn wir den Vertrag nicht unterzeichnen, kann man mit derselben Berechtigung anführen für den Fall, daß wir unterzeichnen. Ich bitte dringend, keinerlei persönliche Rücksicht zu nehmen auf mich, weil ich in Ihrem Auftrage bestimmte Erklärungen abgegeben habe. Das Kabinett ist, soweit ich persönlich in Betracht komme, in seinen Entschließungen selbstverständlich vollkommen frei.«

Sehr energische Töne gegen den Vertrag schlug Bauer an. An der Heftigkeit der Töne will ich mich nicht stoßen, die Hauptsache ist mir, daß er nicht für die Unterschrift stimmt. – Nach Giesberts, den ich bereits erwähnte, sprach Ebert. Er ist sich treu geblieben. Er erklärt die Annahme für unmöglich. Als gründlicher Mann geht er auf einzelne besonders schmachvolle Bedingungen und solche, die platterdings unerfüllbar sind, näher ein. Er stehe zu dem, was er bereits mehrfach, auch schon öffentlich, gesagt habe. Bravo, Fritz! Du bleibst fest. – Sehr fein war Landsberg. Wenn wir die Unmöglichkeit einsehen, den Vertrag erfüllen zu können, dürfen wir als ehrliche Leute auch nicht unterzeichnen. Ich war vollkommen mit ihm einverstanden, als er meinte, daß man der Entente offerieren solle, den Betrieb in Berlin selbst zu übernehmen. (Ähnlich hatte ich mich ja auch ausgesprochen.) Herzerfrischend klar war sein Nein! Wissell war auch kurz und gut: Nein! Auch der Preuße Hirsch war für Ablehnung.

7. Juni. Große Sorge machen mir die Andeutungen in der Presse, daß das Kabinett nicht einig sei in der Frage der Unterzeichnung. Das Verhalten der Unabhängigen finde ich schandbar – »Wir müssen unterzeichnen.« Was für Konzessionen sollen die Gegner denn machen, wenn sie wissen, daß wir auf alle Fälle alles unterzeichnen?


Ich habe dann bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrags nur noch wenige Notizen machen können. An dem Sonntagvormittag – es war am 22. Juni 1919 –, als die Abgeordneten der Nationalversammlung und die Mitglieder der Regierung im Weimarer Theater sich versammelten, um dem Versailler Vertrag zuzustimmen, fuhren Landsberg und ich, unserer Ämter ledig, nach Berlin.

Der Zusammenbruch war vollendet!

 


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