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Il Felze

»II felze«, so heißt das schwarze Zeltdach, das die Gondeln bei regnerischem Wetter aufsetzen. Die Gondeliere holen es wirklich nur bei Bedarf hervor, und zur Entschädigung erwarten sie vom Paar, das sich darin verbirgt, eine entsprechende »mancia«, ein Handgeld.

Ein schöner Felze hat eine Schleppe, die bis zu den Füßen des Gondeliers reicht. Kein Brautschleier kann dichter sein. Bunter dem Dach des Verstecks, auf der »Poppa«, steht der Gondelier und rudert; die aufgereckte Hellebarde des Bootschnabels hält ihm das Gleichgewicht. Hellebarde und Gondelier bilden die Endpunkte einer Ellipse, in der das Boot, etwa an die Bewegung einer Schlange erinnernd, sich vorwärts bewegt. Mit dem einzigen langen Ruder führt der Gondelier das Versteck, aber er selbst ist durch zehn Meilen davon getrennt. Er sieht nichts, er hört nichts, und wenn er dem Kollegen, der ihn auf dem Wasser kreuzt, einen Ruderschlag überspringend geheimnisvolle Zeichen mit den Händen macht, zu denen der andre grinsend nickt, so spielt er sich nur auf. Wer sagt ihm denn, ob nicht seine Fahrgäste damit beschäftigt sind, das Vaterunser auf italienisch zu lernen?

II felze spielte in den Gesellschaftsräumen des Hotels eine besondere Rolle, hinter der Maria und ich bald ein Geheimnis witterten, gleichsam eine ganze Geheimsprache in einem einzigen Wort. »II felze« rief man zwar auch, wenn einer jener entzückenden venetianischen Frühlingsregen einsetzte und alle zu den Fenstern drängten, um die erste bedeckte Gondel in die Lagune stechen zu sehn, – gewöhnlich ließ sie nicht lange auf sich warten, und ihr Erscheinen wurde mit Hallo und Händeklatschen begrüßt. Aber viel öfter hörte man das Wort im übertragenen Sinne gebrauchen. Bei hellstem Wetter konnte jemand mit einem Blick auf einen Herrn oder eine Dame leise ausrufen: »il felze«, was bei den Hörern immer ein bestimmtes Lächeln auslöste. Andrerseits hatte ich es auch in wütendem Tone aussprechen hören, ja in einer ganzen Abwandlung des Zorns und der Entrüstung, und zwar von einem Herrn und einer Dame, die laut streitend vor mir den Korridor entlang gegangen waren.

Eines Morgens, als Maria und ich aus dem Hotel und mit freudig zum Empfang erhobenen Armen in einen sonnendurchschienenen Sprühregen hinausliefen, bemerkten wir eine reich geschnitzte, mit ornamentalen Figuren aus getriebenem Messing geschmückte Gondel, die gerade aus dem engen Kanal in die Lagune fuhr. Sie trug ein nicht minder festliches Dach (»il felze!«, Maria deutete mit dem Finger darauf) und war bis auf Bug und Heck hinauf mit roten Teppichen ausgelegt; auch auf den Treppchen zu beiden Seiten des Bootsinnern lagen, unter Messingstangen, rote Läufer, ja, der Gondelier selbst trug eine breite, rote Schärpe um die Hüften. Dies viele Rot auf dem spiegelnden Schwarz der blankgeriebenen Gondel wirkte wie ein Freudenschrei. Wir eilten die Landungstreppe am Ende des Damms hinab und bückten uns, um in das Innere des vorbeigleitenden Felze zu spähen. Und da erblickten wir etwas, was uns schnell wieder in die Höhe fahren, aus entsetzten Augen den herüberdrohenden Gondelier anstarren und dann fluchtartig die Treppe hinaufstürzen ließ. Atemlos standen wir hinter dem Konzertflügel in der Halle und wagten nicht, einander anzusehn. Wir hatten den Schlüssel der Geheimsprache »il felze« gefunden ...

Ich muß nun, um die Folgen dieses Ereignisses leichter verständlich zu machen, vorausschicken, daß Maria sowohl wie mir verboten war, des andern Zimmer zu betreten. Wir durften auch nicht allein ausgehen. Infolgedessen verbrachten wir oft ganze Tage in der Hotelhalle. Bei schönem Wetter fanden wir nichts dagegen einzuwenden, denn dann konnten wir in der leeren Halle unsre Spiele treiben, den Gästen aufpassen, wie sie kamen und gingen, einander Szenen machten und sich versöhnten, beim Portier Erkundigungen einzogen, aus denen ihre Absichten ziemlich klar hervorgingen, auch zog hinter den Scheiben auf der Riva degli Schiavoni der Frühling in einem endlosen Reigen von Menschen vorbei. Drohte uns einmal der Stoff auszugehn (es war aber wohl mehr das Bedürfnis der Abwechslung oder noch etwas anderes, was uns dann trieb), so streiften wir das Hotel ab, vorn Keller bis unters Dach, wobei unser Atem um so schneller ging, je einsamer es um uns wurde. Es konnte geschehn, daß wir minutenlang dicht vor einander standen, uns mit den Augen verzehrend, schwer atmend, von unserm Herzklopfen wie betäubt, und nicht imstande waren, einen Finger zu rühren, bis Maria sich losriß und die Flucht ergriff. Halb befreit, halb enttäuscht jagte ich ihr nach ... »in die Oberwelt«, wie wir es nannten, was jedoch abfällig gemeint war und einzig zu dem Zwecke erfunden, die leider so flüchtige Welt der Versunkenheit, des Zwielichtes, des einsamen Entrücktseins auf zwei taumelnden flatternden Herzen., auf einem einzigen abgründigen Augenblick zu ehren und im überhellen Gedächtnis zu verschließen. Lachend machten wir Halt und gingen zu gefahrloseren Spielen über. Da gab es zum Beispiel im Speicher eine Ecke, wo die leeren Koffer aufbewahrt wurden. Sie boten uns Gelegenheit, zuerst auf die Nationalität des Besitzers, dann auf die Besitzer selbst zu raten. Die Schrankkoffer der Amerikaner glichen reisenden Geldschränken, die Koffer der Engländer waren leichter und von heller Farbe, aber mit vielmehr Leder, als die der deutschen Faserkoffer. Die Franzosen zogen wenigen großen Stücken ein Dutzend Handtaschen vor, wozu halb soviel Hutschachteln traten, und alle schienen schon den Großvätern und Großmüttern gedient zu haben, auch der einzige größere Behälter für die Roben Madames. Die Italiener erkannte man an den absonderlichen Farben und Formen, die vom grauen Holzkasten mit grüner Leiste bis zum eidottergelb gestrichenen, ein wenig zu kurzen oder zu schmalen Amerikanerschrank in bunter Reihe die Entwicklung des Koffers im letzten Jahrhundert darstellten. Von der Regel bildete nur der Staatskoffer Sidonias eine Ausnahme. Er war fast viereckig, aus hartem Leder und mit großen, gelben Knopfnägeln gespickt Sie hatte ihn sich von Rheinweiler nachsenden lassen, und er schien so alt wie das Schlößle selbst, verriet aber weder seine Zugehörigkeit zu einem Volk, noch zu einer Zeit. Am meisten glich er noch einem mittelalterlichen Kasten, den man mit Leder verputzt und mit englischen Schlössern versehen hätte. Schwieriger war es, zu den Koffern nun auch die Besitzer herauszufinden. Die aufgemalten Initialen und Kronen zogen wir selten zu Rate, nur in ganz problematischen Fällen, sonst griffen wir erst nachträglich nach ihnen, wie Rätselsucher, nach getaner Arbeit, zur verkehrt gedruckten Auflösung. Maria behauptete sogar, an den Damenkoffern zu erkennen, wie sehr ihre Besitzerinnen geliebt würden. Ja, das behauptete sie, allen Ernstes und mit Nachdruck.

Was war das für ein Kerl, die Maria! Ich mußte lächeln, wenn ich an die verschlafenen Puppen, meine Kusinen, dachte, nur geschaffen, um von uns Jungens verachtet zu werden, und ich zögerte nicht, sie Maria in ihrer ganzen Verkehrtheit preiszugeben.

»Kennen Sie Sacré-Coeur, Maria?«

»Nein, was ist das?«

»Ein katholischer Zirkus für Mädchen, in dessen Sprechzimmer wir Jungens am Seil geführt werden, um zu sehn, wie artig unsre Kusinen zu knicksen verstehn. Von meinen fünf Kusinen, die ich zweimal im Jahr mit der Mutter besuche, hat keine je vergessen, mich zu fragen, ob ich auch vor dem Einschlafen immer mein Abendgebet verrichte.«

»So gehört es sich auch«, sagte Maria und nickte mir tiefsinnig zu. Mit der Religion ließ sie nicht spaßen, wenn sie auch die Kusinen im übrigen gering schätzte.

Da gab es ferner das Bügelzimmer im Hof. Zehn Mädchen bügelten und strichen mit braunen Händen über die weiße Wäsche – schweigend in sich versunken verrichteten sie ihre Arbeit. Es sah fromm aus und roch stark. Ohne sich zu unterbrechen, überschütteten sie mich mit Blicken, die nachhaltig bebten, wenn sie in mir festsaßen, und bestreuten meinen Weg mit Lächeln und Händezucken, unter dem das Bügeleisen eine Sekunde stillestand. Maria, die mir ungern hierher folgte, ergriff auch bald meinen Rockärmel und zog mich unauffällig hinaus. »Ich möchte nur wissen, was das ist«, äußerte sie. »Alle Büglerinnen kokettieren wie die Spatzen.« Ein andermal bezeichnete sie die Mädchen als weiße Fledermäuse, die in ungelüfteten Betten nisteten – was eine krasse Verleumdung darstellte, denn die Luft ihres Zimmers war von einer geradezu penetranten Reinlichkeit.

Zuweilen leistete der Kellner Emilio uns Gesellschaft. Er war ein leidenschaftlicher Familienvater und wußte von seinen Kindern rührende, sowie drollige Geschichten zu erzählen, aber auch von fremden Ländern und Rassen erzählte er, wie jenen märchenhaft schönen Königskindern in Ceylon (Emilio hatte dort »als Kellner gearbeitet«), unter denen die plumpen Engländer hochnäsig mit der Reitpeitsche in der Hand umherstolzierten. »Plumpe Zauberer, diese English«, urteilte er. »Machen alles mit dem Willen. Jeder einzelne ein Dummkopf, aber zusammen entwickeln sie eine verteufelte Intelligenz.' Dafür mußten wir Emilio über uns selbst und unsre kleinen Verwandten berichten, über die römische Gesellschaft, und wie man in Deutschland die Landwirtschaft betrieb, und ganz besonders interessierte ihn der Stand der Wissenschaft, darauf kam er immer wieder zurück. Denn nicht nur mußte er wegen seines Berufs von Frau und Kindern getrennt leben, in dem lombardischen Nest, wo sie auf dem winzigen Erbgut saßen, konnten die Kinder auch keinen »aufgeklärten Unterricht« erhalten! Wir unterhielten uns vortrefflich, jedoch, ehe wir es uns versahen, tauchte »Petrus«, der Portier, hinter Emilio auf und bedeutete ihm mit einem Blick, die Halle zu verlassen. Für diesen Fall hatten wir uns verabredet, im Speicher wieder zusammenzutreffen und dort, auf den Koffern sitzend, ungestört weiter zu plaudern. Nicht immer hielt Emilio die Verabredung; er entschuldigte sich dann bei der nächsten Mahlzeit, indem er uns zuflüsterte: »Unterwegs gekapert worden«, oder »Seeräubern in die Hände gefallen« oder kurz: »Zwangsarbeit.«

Und dann gab es schließlich noch die Küche. Leider durften wir sie nicht betreten. Indes hatte Maria ein Zimmermädchen als die Freundin des Patissiers ermittelt, und ich mußte der hageren Diana den Hof machen, indem ich begeistert von der Kunstfertigkeit des Bräutigams sprach und vor allem ihr kleine Geschenke zusteckte, Musterfläschchen französischen Parfüms für sie, bunte Krawatten für den Koch, mit denen geschmückt der Adonis im nachmittäglichen Frühlingsreigen der Riva degli Schiavoni vorbeitanzte. So kam es, daß wir auf dem Tisch unsres Zimmers noch einmal das Dessert des Abendessens vorfanden., nicht selten sogar um einige kandierte Früchte, eingestopfte Pralinen, einen Guß Maraschino oder Schlagsahne vermehrt.

Der Abend sank, und wir saßen in der Dämmerung vor dem Hotel. Alles, was Venedig an überquellender Freude enthielt, warf es um diese Stunde auf die Riva degli Schiavoni. Die Liebenden, die sich solang wie möglich verschwiegen hatten, sprachen, wenn die Bogenlampen aufflammten, plötzlich überlaut und warfen frech mit der Schleppe ihres Schattens um sich, Sirenen heulten in das Geläute San Marcos. Weiter unten, dem Arsenal zu, standen unbewegliche Gruppen am Rand der Lagune, und wenn die Glocken in die Ruhe zurückgefunden hatten, hörte man von dort Musik. Sie kam von den russischen Kriegsschiffen, wo die Balalaika sehnsüchtige Gesänge der Matrosen anführte.

An solch einem Abend beichtete ich Maria, daß ich Sidonia liebte.

Sie murmelte: »Armer Junge!« und dazu seufzte sie auf eine besondere Art, die ihr natürliches Interesse für meinen Fall deutlich überstieg.

»Ich habe auch noch eine Freundin«, sagte ich. »Viviane von Bock«.

»Wie, bitte?« fragte Maria mit hochgezogenen Brauen, obgleich dieser Name gewiß nicht schwer auszusprechen war.

»Viviane von Bock«, wiederholte ich, bemüht, die Laute gradezu melodisch zu formen. Und um ihrem künstlichen Erstaunen ein Ende zu machen, fügte ich hinzu: »Sie nennt mich Puleinella.«

»Pulcinella? Warum das?«

Ich erzählte ihr von unserm Komödienspiel, worin ich in der Haltung Vivianes, mit hängenden Armen und seitlich geneigtem Kopfe auftrat und mich, als spräche ich zu mir selbst, über die Welt beklagte und ebenso an mich gerichtete Fragen beantwortete. Es war der Gegensatz zwischen der spitzen Rede und der schwärmerisch versunkenen Haltung, der die andern zum Lachen brachte. Nur Viviane lachte nicht, sondern schaute verzückt zu dem Jungen hinauf, der ihr in so überragender Weise glich.

»In dieser Rolle kann ich Sie mir nicht vorstellen, Claus«, sagte Maria.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Marchesa: in der Stegreifkomödie sprudle ich von unfreiwilligem Witz.«

»Pulcinella!« rief sie, jählings erleuchtet, und klatschte in die Hände. »Komisch, es war mir bisher gar nicht aufgefallen.«

Sie musterte mich aus den Augenwinkeln, und da ich ein ernstes Gesicht bewahrte, lachte sie von neuem los.

»Vielleicht heiraten Sie Viviane?« meinte sie.

Ich nickte bedächtig:

»Wahrscheinlich, Maria, heirate ich sie. Ich fürchte nur, wenn es darauf ankommt, erlauben Sie es nicht.«

»Wir wollen sehn«, sagte sie.

Es zeigte sich, auch sie hatte schon geliebt: einen römischen Lausbuben ohne Hemd und Schuhe, seinen Namen kannte sie nicht, aber vielleicht hieß er Peppo. Einmal war sie Zeuge gewesen, wie er im Hof des Palazzo einen andern, größeren Jungen verprügelt hatte, mit dem er am Faß voll Küchenabfälle zusammengestoßen war. Nun war Peppo ein außergewöhnlich schüchterner Junge. »Das ist mein Faß!« hatte er ängstlich ausgerufen, »ich habe keinen Vater mehr.« Der andre war herausfordernd auf ihn zugetreten. »Mein Vater ist ein Lump, ich habe ihn nie gesehen.« Peppo hatte erst gezaudert, aber dann: »Deine Mama wäscht für den Vatikan. Die meine liegt im Bett und spuckt Blut. Geh! Geh sofort! Du willst nur Hundefutter verdienen, um mit dem Geld Orangen zu kaufen. Via! Via!« Dabei zitterte er vor Angst und faltete flehentlich die Hände. Der Große sprang Peppo an die Kehle. Da, in der Wut der Verzweiflung, hämmerte der Kleine auf ihn ein, bis der andre blutend am Boden lag. Mit Fußtritten trieb Peppo ihn aus dem Hof. Aber er kehrte nicht zum Faß zurück.

»Ich folgte Peppo heimlich bis zu seinem Haus, und am Nachmittag besuchten Mama und ich seine Mutter. Mama brachte sie in unsre Villa. Von dort kam sie in ein Sanatorium im Apennin. Am 6. Dezember starb sie, gerade, als der Nikolaus eintrat, um den bei ihr weilenden Peppo zu belohnen. Peppo Ist seitdem bei uns und hilft dem Chauffeur. Ich liebe ihn nicht mehr, und er heißt gar nicht Peppo.« Das war eine schöne Geschichte, o ja, wenn auch Peppo schließlich gar nicht Peppo hieß. Was aber meinen Fall anlangte, so rückte ihn die Geschichte kraft ihres heroischen und gefühlvollen Inhalts in eine Sphäre, wo lauter Glanz und Zuversicht herrschten. So fragte ich mit fester Stimme:

»Maria, glauben Sie, ich könnte Sidonia heiraten? In zehn Jahren bin ich gut vierundzwanzig – und Sidonia erst vierunddreißig. Das geht doch?«

Maria schüttelte den Kopf.

»Sidonia liebt einen andern.«

Ich rührte mich nicht. Ich fragte nicht.

»Und Sie, Claus, sind leider nicht mein Typ. Schade. Aber wissen Sie, Claus, wenn ich erst einen Mann habe und Sie eine Frau, da werden wir fabelhafte Freunde sein ... Sie müßten eine Frati wie Donja haben, nur jünger. Und ich einen Mann wie Boris.«

»Boris?« fragte ich leise, »wer ist Boris?«

»Ach so«, seufzte Maria, und sie blickte scheu auf die Lagune hinaus. »Sie kennen ihn nicht?... Boris ist der Verlobte Sidonias ...

Ein russischer Fürst, es sind seine Kriegsschiffe, die da draußen liegen. Wenn er es befiehlt, bombardieren sie Venedig. Er ist sehr schön.«

»Ich kenne ihn nicht!« flüsterte ich verbissen, in Scham verloren, mit einem Zittern ums Kinn. »Ich will ihn nicht kennen.«

Maria sprang auf.

»So spricht ein eifersüchtiger Mann!« rief sie, und dicht vor mir stehend, begann sie schwärmerisch: »Boris trägt meistens Tennisschuhe, müssen Sie wissen, mit einer Schnalle aus Brillanten. Er hat einen Mund, man möchte auf ihm einschlafen, da ist gut ruhen, Claus, soviel glaube ich Ihnen versichern zu können. Und überhaupt, wenn Sie einem Manne begegnen, dessen Augen, wenn er sie anguckt, nur so auf einer unmerklichen Brise durch Sie hindurchsegeln, und hinter dessen langen Gliedmaßen die Frauen stehenbleiben – dann,« schloß sie in nüchternem Ton, »dann ist das Boris. Und ich wünsche Donja von Herzen, daß sie ihn kriegt – Sie dummer Bub!«

Ich erwiderte nichts. Sie wartete ein Weile, dann ging sie hurtigen Schrittes davon. Die Promenade war voller Liebender, und auf den Kriegsschiffen spielte die Musik. Festlich bunte Dämmerung. Die Frauen schwenkten ihre großen schwarzen Schals und hüllten sich darin ein. Es war, als zögen sie jemand an ihre Brust.

Beim Abendessen saß ich allein am kleinen Tisch, und mein Herz war so leer, so im Stich gelassen wie das Gedeck gegenüber, Donjas Gedeck. Dies war ihr Platz, und sie speiste irgendwo anders, mit Boris, zu Abend. Wie festlich meinte es dieser Abend!.. Sie dachte gewiß nicht an mich. Ich aber sah, ich hörte sie lachen. Die kleinen Zähne klirrten ihr im Mund, und sie hielt die Hände unter dem Kinn gefaltet... Auf ewig verloren! Immer gab es jemand, der schöner und von höherem Adel war als ich... Und Maria hatte mich beleidigt. Das Essen widerstand mir. Ich sehnte mich nach meiner Mutter.

Zum Dessert kam Maria, die ebenfalls allein gegessen hatte. Ihre ersten Worte entwaffneten mich.

»Claus,« fragte sie mit der reuigen, biegsamen Eindringlichkeit in der Stimme, im ganzen Körper, die ich schon kannte, »Claus, ist Ihre Mutter so schön wie Sidonia?«

»Viel schöner«, antwortete ich tiefsinnig zerstreut, »doch hat sie es immer so einzurichten gewußt, daß man es nicht merkte. Sie war zu schamhaft, um schön zu sein«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie errötend.

Ich hob den Blick zu ihr, sah sie fest an.

»Aber ich, Maria, ich verstehe es jetzt. Schöne Menschen, sind schamlos, sie demütigen die andern. Maria, Sie haben keine Religion, sonst wüßten Sie, was ich meine. Komisch, ihr Italiener habt den Papst im Land und kennt nicht die Religion.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen, senkte die Lider, duckte den Kopf, sie machte ihr »Fauchende Katze«-Gesicht und schielte mich aus den Augenwinkeln an.

»Und Sie, Claus, wissen nicht, daß sie jede Nacht in Bobs Zimmer Karten spielen.«

»Wer ist das – ›sie‹?«

»Aha! Aha! Sie, das ist Bob und Zeus und Boris. Es sind aber noch andre dabei. Manche schickt der Portier, aber die meisten bringt Boris mit.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ja, woher weiß ich –! Kleine Jungens müssen um neun ins Bett und schlafen ein. Kleine Mädchen können geistern. Oder sie träumen allerhand so genau, als wären sie dabei ... Doch sagen Sie mir, Claus: was halten Sie von Bob?«

»Was soll ich von Bob halten? Was weiß ich von Donja? Ebensoviel wie von eurem Boris. Sie sind nie da. Vielleicht schickt der liebe Gott Regen –.«

Es blieb schön, und Donja und Bob Capponi fehlten immer öfter bei den Mahlzeiten. »Es ist Zeit, daß Mama kommt«, meinte Maria eines Tages, »Bob gerät außer Rand und Band. Er spielt und trinkt.« Und dann wollte sie von Boris sprechen.

Rasch ergriff ich ihre Hand und drückte sie, ein zorniger Eroberer, und beugte mich finster auf die überhellen Augen. In einer fast schmerzhaften Anspannung meines Willens befahl ich ihr, ich befahl, als ob ich schlüge ...

»Mag Ihr Bob spielen und trinken, soviel er will, aber das mit Donja ist unwahr. Ich verbiete Ihnen, so etwas zu denken! Haben Sie gehört, Marchesa? Ich verbiete es Ihnen! Ich will nicht! Ich will nicht! ...«

»Au«, machte sie kläglich, »lassen Sie los! Meinetwegen!«

»Gut, sagte ich, und das sollte mein letztes Wort in der Sache sein.

Der Zwischenfall konnte bald für abgetan gelten und vergessen, um so mehr, als Maria am gleichen Nachmittag Europa überraschte, wie der lasterhafte Ganymed, der also Bob Capponi hieß, sie hinter der halbgeöffneten Tür eines Ortes, wohin er durchaus nicht gehörte, an sich gepreßt in den Armen hielt und, Mund auf Mund, immerfort schüttelte, bis, von der empörten Hand Marias geschleudert, die Tür ins Schloß gekracht war. Und wenig später wohnte ich einer, die sonst menschenleere Halle erschütternden Ohrfeige bei, womit Zeus aufleuchtenden Stiernackens Europa, die beim plötzlichen Anschlag von Bobs Stimme aufgesprungen war, ebenso rasch wieder in den Sessel zurücklegte. Als ich Maria den Vorgang berichtete, schloß ich mit der Versicherung, daß Zeus ein Ungeheuer sei. »Und Bob ist ein Nichtsnutz«, erklärte sie. »Die Dame ist doch verheiratet. Er wird sich noch mit Zeus schießen müssen. Ich sag es Mama, wenn sie kommt.« Auch mit der Moral ließ sie nicht spaßen.

Man sieht, Maria kannte das Leben. Sie hatte aber auch von klein an aufgepaßt. »Wenn meine Mutter mich säugte«, so behauptete sie einmal, »verdrehte ich die Augen, um zu sehn, was für ein Gesicht sie machte.« Aber das war ein Ausspruch Bobs, wie sie auf meine Vorhaltung, das könne sie doch unmöglich aus eigenem wissen, schließlich auch zugab. Aufruhr und Lichtblick! Da sagte ich mir im stillen: sie behauptet soviel zu wissen, daß das mit Donja und dem Boris auch nicht wahr zu sein braucht. Sicher verhält es sich damit wie mit den Erinnerungen aus ihrer Säuglingszeit...

Trotzdem, sie war ein wahrer Schießhund und mir immer weit mehr als nur um ihre eine, feine Nase voraus. Auch lehrte sie mich mehr, als ich sie hätte lehren können, zumal es für sie in der Mythologie längst keine Geheimnisse mehr gab. Ich aber erfuhr alles, womit Frauen sich beschäftigen, und das war genug, um sich jahrelang nicht zu langweilen.

So stand es mit mir bis zur Stunde, wo ich jenen Blick in den Felze der wahrhaft hochzeitlichen Gondel warf. Auf roten Polstern lag Sidonia an der Brust eines Mannes ...

Ich erkannte ihre dunkeln Locken, in denen ein Irrwisch umhersprang, und hoch darüber andre, blonde Locken – der Kopf des Mannes hing zaudernd über ihr. Sie hatte das Gesicht zurückgeworfen, ich sah nur ihr Gesicht, es lag flach da, haltlos im Raum, weiß, mit treibenden Augen, weiß wie eine Maske, und wie hinter einer Maske schwankten auch die Augen, und der unnatürlich rote Mund war ein wenig, nur eine Messerschneide breit geöffnet, aber gerade deshalb kam es mir vor, als ob er über ihren Zähnen blutete. Niemals hatte ich ein so schmerzliches Antlitz gesehn!

Als ich neben Maria in der Halle stand und mich, vor Kälte schlotternd, am aufgeklappten Deckel des Flügels festhielt, tauchte in Sidonias Gesicht, auf das ich in Gedanken weiterstarrte, ein andres, verlöschendes Antlitz auf, der Mund verschwand und die Augen und alles Blut, bis auf das schmale Rinnsal an einem Mundwinkel, das langsam über das Kinn und den Hals hinablief: das Gesicht meiner sterbenden Großmutter, des einzigen Menschen, den ich, vor diesem hier, sinken gesehn. Ich griff nach dem Kragen, mir war plötzlich unerträglich heiß. »Das war Boris«, hörte ich noch sagen. Auch schien es mir, als ob Maria sich auf mich stürzte und wir gemeinsam, wie auf einer Rutschbahn, nur viel langsamer, in die Tiefe führen, und ein süßes Wohlsein durchrieselte mich.

Vielleicht erwachte ich schon durch den Aufschlag meines Körpers aus der Ohnmacht. Jedenfalls lag ich noch an derselben Stelle, wo ich hingefallen war, und Marias Tränen näßten mein Gesicht. Kniend hielt sie die Arme mit den krampfhaft gefalteten Händen über mir und weinte zwischen ihnen auf mich hinab. Und es war wirklich, als ob ich unter ihren Anrufungen der Madonna, von unsichtbarer Hand gezogen, die Stufen hinauf ins Leben zurückkehrte ... Ich hatte mich aufgerichtet.

»Was ist?« rief sie, sich mit beiden Ärmeln die Augen trocknend.

Sie sprang auf die Füße, blickte mich forschend an, lächelte ein seltsames, ein sehr seltsames Lächeln und lief aus der Halle. Ich erhob mich mühsam und schleppte mich am Flügel entlang bis zu einem Sessel, von dem einzigen Gedanken beseelt, möglichst schnell mein Zimmer zu erreichen und Ausschau nach der roten Gondel zu halten.

Der Kellner Emilio kam mit einem Glas Wasser. Ich fragte nach Maria.

»Die Marchesa hat eine Gondel genommen«, erwiderte er eilfertig, und »Lieber kleiner Baron«, sagte er plötzlich in verändertem Ton, hob mich auf die Arme (»No!« schrie er den Liftjungen an, der ihn beim Vorbeigehen in den Fahrstuhl ziehen wollte) und trug mich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Da war ich, fiel mir ein, als Kind einmal vom Baum gefallen, und mein Vater trug mich so ins Haus. Ich weinte nicht...

»Ans Fenster«, bat ich.

Und jetzt konnte ich die Jagd einer Gondel, in der Maria saß, hinter dem Hochzeitsschiff her verfolgen. Es lag auf ihm wie Blutlachen, und seine Fahrt selbst verriet den Raub. Ich stöhnte auf... Welche Angst war in ihren Augen gewesen! Lieber Gott, was geschah mit ihr. Aber es war ja ihr Verlobter, in dessen Armen sie starb! Das also war die Liebe,, wenn man sie eine glückliche hieß. Dafür waren wir von Basel nach Venedig gesaust. Was aber, was plante Maria da draußen? Was denn, wenn nicht Sidonia einzuholen, neben dem Bett der selig Verblutenden aufzuspringen und ihr zuzurufen – was? Daß es im Hotel einen kleinen Ohnmachtskandidaten gab, der sie liebte, ja, und dazu noch einen, den sie, Maria, deshalb einen dummen Bub geschimpft hatte. Eine neue, unheimliche Beleidigung bereitete sich vor, ich fühlte es, aber ihrer achtete ich weiter nicht, meine ganze Überlegung richtete sich darauf, was ich tun sollte, wenn der Streich gelänge und Sidonia mit Maria umkehrte – und ich beschloß, in diesem Fall aus dem Fenster zu springen. Die rote Gondel befand sich jetzt auf der Höhe des ersten russischen Kriegsschiffes, Marias Gondel etwa in der Mitte zwischen diesem und dem Hotel. Sie rückte schnell voran. Da stieß ein weißes Motorboot, dessen Kabinenfenster im Sonnenregen schimmerten, vom Kriegsschiff ab und legte sich neben die rote Gondel. Ich erkannte das Boot, das uns vom Bahnhof abgeholt hatte.

Maria war aufgesprungen. Ich sah, wie sie heftig winkte, auch ihr Gondelier schwenkte die Arme, ich konnte es nicht hören, aber sicher riefen sie. Dann drehte Maria sich um, der Gondoliere warf sich ins Ruder, sie mochten fünfzig Meter von dem Motorboot entfernt sein. Zum Glück zeigte ein dünner, weißer Rauch an, daß der Motor in Gang war, also konnten sie dort nicht hören, wie man hinter ihnen rief. Das weiße Kleid Donjas huschte vorbei, eine zweite Gestalt, die folgte, verweilte länger. Endlich tauchte auch sie in das weiße Boot. Ein Streifen Wassers blinkte zwischen dem. Boot und der Gondel, – da, mit einem Sprung, stürzte es davon. Dem Lido zu, ach! ich wußte es, der Adria entgegen, deren grünen Streifen ich in der Ferne flimmern sah, hinaus ins Meer... Marias Boot hielt bei der verlassenen Gondel.

Es legte am Kriegsschiff an, und Maria stieg die Treppe hinauf und stand, unter einer Turmkanone, in einem Halbkreis von streichholzdünnen Gestalten, die sich leise rührten und manchmal zusammenknickten.

Was trieb sie dort? Erzählte sie nicht den Offizieren des Fürsten seine und Sidonias und meine Liebesgeschichte? Verlangte sie nicht, daß man die Jagd mit einem andern Motorboot fortsetzte? Sie war toll, vollständig toll! Sie stellte uns alle bloß. Sie ruhte nicht eher, als bis wir zum Weltgespött geworden wären – nur, um zu beweisen, wie gut sie aufgepaßt,.. Maria, dachte ich, du bist des Teufels!

Die Tür meines Zimmers öffnete sich, und Emilio eilte mit einem Tablett herbei, worauf eine Flasche Champagner und ein Glas standen, »Zu spät?« fragte er mit einem Blick aus dem Fenster, gleichzeitig entkorkte er die Flasche. Und als sie entkorkt war, zog er ein zweites Glas aus der Rocktasche, lächelte: »Permesso, Signore barone?« – und schenkte in beide Gläser. »Bene, bene, petit Baron, trink, very good!« Die Sprachen gingen ihm wie ein Lottorad im Kopf herum, er schüttelte den Kopf, als ließe er keine Ausreden gelten, und schnalzte bekümmert mit der Zunge. Maria, du bist des Teufels!

Auf der Lagune ruderten das Hochzeitsschiff und Marias kleines Jagdboot Seite an Seite zurück. Das Motorboot war hinter einer Insel verschwunden. Der schmale, grün flimmernde Streifen des Meeres versperrte wie ein stählerner Schlagbaum den Horizont.

»Emilio, mir ist ganz wohl, ich danke Ihnen«, sagte ich aufatmend. Das Sterben war vorbei, und Leben flutete zurück.

Er nickte, schenkte mir noch ein halbes Glas ein, wobei er in die Kniebeuge ging und mit dem Finger den Kelch maß, verbarg ein Glas in der Hosentasche, flog auf gebreiteten Frackschößen davon... Damals legte mich mein Vater auf Mutters Bett, als gehörte ich in großer Gefahr dorthin und nirgendwo anders, und er lächelte mir, während die zitternde Mutter meine Schuhe aufknöpfte, über mich gebeugt so innig in die entsetzten Augen, daß ich trotz der Schmerzen die Arme um seinen Hals schlang und ihn küßte ... Als ich mich aus dem Fenster lehnte, sah ich Emilio an der Landungstreppe stehn; er wartete auf Maria. Da nahte sich auch schon der Portier, offensichtlich in der Absicht, Emilio in gewohnter Weise zu verscheuchen. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel, und diesmal war es »Petrus«, der das Feld räumte. Außerordentliche Umstände machten auch diesen Vater frei und kühn.

Nun blieb mir noch zu erdulden, was Maria, ins Hotel zurückgekehrt, gegen mich unternähme. Ich befürchtete, sie könnte sich über Sidonias Verbot hinwegsetzen und jählings in mein Zimmer eindringen; sie ließ aber durch Emilio bestellen, daß sie mich, wenn ich mich wohl fühlte, bei der Abendmahlzeit erwartete, wenn nicht, würde sie mich sofort in meinem Zimmer aufsuchen. Ich antwortete, daß ich zum Essen käme, und nun war ich endlich allein und vor der Heftigkeit Marias eine Weile geborgen. Endlich geschah nichts mehr.

Obgleich mir jene Tage bis in zahlreiche Einzelheiten (auch solche, die ich unerwähnt gelassen habe) aufs lebhafteste gegenwärtig sind, so klafft in meinen Erinnerungen doch eine Lücke, und das sind die zwei oder drei Stunden, die ich, am Fenster sitzend, den Blick auf den mattfarbenen Streifen der Adria gerichtet, scheinbar stumpfsinnig in meinem Erkerzimmer zubrachte. Dies erscheint mir um so merkwürdiger, da es ohne jeden Zweifel entscheidende Stunden meines Lebens waren. Zwar bin ich mir bewußt, daß der anscheinend katastrophale Akt der Einweihung in jene grausame Unschuld, die das Leben heißt, gründlich vorbereitet war, daß ich vielleicht sogar vor Ungeduld gefiebert hatte, die lang gereifte Frucht zu pflücken, und etwas Ähnliches muß ich auch dunkel empfunden haben, denn in meinem grenzenlosen Leid herzklopfte es: »Gottseidank! Gottseidank!« Wofür ich so im Innersten dankte, das wußte ich nicht, und wäre aus dem sich langsam vorbereitenden Sonnenuntergang mit eins mein Beichtvater gesprungen and hätte mich darnach ausgeforscht, ich hätte, nach einigem Besinnen, höchstens aussagen können, die Erleichterung meines Gemüts rühre daher, daß ich mich nunmehr sicher fühlte vor den ewig drohenden Enthüllungen Marias. Der Hohlweg, wo ich vor einem Überfall gezittert hatte, lag hinter mir! Ich war erdolcht worden und – ich lebte. Es war also nicht lebensgefährlich, hinterrücks erdolcht zu werden! Es drehte einen nur herum, den ferneren Stößen zu, wie sie nun von vorn kommen mußten, und die, so schlimm sie auch sein mochten, nicht mehr auf dein Blitz der Überraschung als ihrem furchtbareren Bundesgenossen gefahren kämen.

Man muß sich vergegenwärtigen, was ein vierzehnjähriges Kind ist: eine Windharfe, die ein Hauch zum Klingen bringt, und die kein Sturm zerreißt. Mit einemmal konnte ich gleichsam die Noten des schreckhaft bezaubernden Seemannsliedes lesen, das unser Oberschweizer, ein früherer Matrose, in der Trunkenheit zu singen pflegte (es war immer abends, und er sang wütend, mit haarsträubendem, blasphemischem Hochmut) und worin von Liebe, Mord und höhnisch erwarteter Sühne berichtet wurde, wenn ich auch natürlich den tiefern Sinn des Liedes nicht »verstand«. Ich will nicht bei dem zweifelhaften Begriff »Verstand« verweilen, der vermutlich nicht viel mehr besagt, als daß jemand in der Entzifferung des Lebens eine gewisse Routine erlangt hat. In jener Stunde begriff ich alles, aber, da ich ein Kind war, glaubte ich nur, mich von Maria und dadurch auch irgendwie von Sidonia befreit zu haben. Ich entdeckte, daß ich auf mich allein angewiesen war, und daß ich von Fehlschlag zu Fehlschlag ginge, wenn ich, wie bisher, abwartete, was mit mir geschähe. Ich mußte handeln, wollte ich frei sein. Ich machte mich zum Nachtrab und Sklaven der andern, wenn ich sie handeln und über mich verfügen ließ. Und ich wollte ein Herr sein, nicht nur zum Spaß. Ja, es muß schon ein rechter Aufstand gewesen sein, den ich da durchmachte, soviel müßte ich, wenn aus nichts anderm, aus der Haltung schließen, wie ich am Abend Maria und darauf Donja entgegentrat.

Maria empfing mich mit gespielter Unbefangenheit.

»Was haben Sie auf dem Kriegsschiff getan?« fragte ich ohne alle Vorbereitung.

»O nichts Besonderes,« antwortete sie. »Ich habe die Gelegenheit benützt, mir ein Kriegsschiff anzusehn.«

»Maria, bitte, ist das die Wahrheit? Sie haben nicht von ... den andern gesprochen?«

»Kein Wort... das heißt, ich habe gefragt, ob der Admiral streng sei.«

»Sonst nichts?«

»Ich schwöre, kein Wort.«

»Ich danke Ihnen.«

Sie lächelte, ein wenig ängstlich:

»Claus, mir scheint, Sie sind strenger als der Admiral.«

»Warum sind Sie den andern nachgefahren?«

Marias Lächeln verzog sich zu einer kleinen Grimasse, die mich von neuem beunruhigte.

»Maria, sagen Sie mir alles. Wir wollen ein Ende machen.«

Demütig legte sie die Hand auf mein Knie.

»Ja, Claus, es war eine gräßliche Dummheit. Als ich Sie sah, wie Sie ... wie Ihnen schlecht war ... Ich habe nur an Sie gedacht, Claus, ich wollte Donja holen. Es war blödsinnig.«

Kaum aber waren wir freundschaftlich übereingekommen, wir hätten beide den Kopf verloren, ich auf dem Teppich der Halle, sie auf der Lagune, als sie sich gleichsam in ein neues Geheimnis hüllte und nachdenklich jenes seltsame Lächeln auf mir ruhen ließ, das mir schon nach meiner Ohnmacht aufgefallen war.

»Wollen Sie mir wieder wehtun?« fragte ich freundlich.

Sie wurde plötzlich ernst, beinah feierlich. »O Claus, im Gegenteil. Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen nie mehr wehtun könnte.« Dabei errötete sie tief.

Ich sah sie bestürzt an, da fügte sie mit leiser Stimme hinzu:

»Nur gut, daß Sie jetzt nicht gelacht haben.«

Ein kitzliges Bangen beschlich mich ... Es war, wie wenn wir manchmal im Keller oder im Speicher gebannt voreinander gestanden hatten, aber jetzt saßen wir in der Halle, in strahlendem Licht, unter Menschen, nein, es war doch ganz anders, auch in uns war es ganz anders. So verweilten wir eine lange Minute. Dann errötete auch ich.

Schweigend saßen wir und lauschten dem Klavierspiel. Es waren elende Gassenhauer und Tänze, aber irgend etwas verwandelte sie für uns in beseligende Musik. Leid blühte. Weit hinter mir sank die glühende, grünlich zehrende Adria in Asche. Ein Gefangener sang sich frei und los. Breite, bestirnte Nacht, in der die Reben zu beiden Seiten der weißen Straße dufteten. Maria und ich gingen Hand in Hand, wir hörten nichts als unsre Schritte. Der Rand der Vogesen zeichnete sich mattsilbern vom Himmel ab. Dies dauerte noch an, als der Klavierspieler schon lange die Halle verlassen hatte und die Mehrzahl der Gäste ihm gefolgt war, und wurde erst durch den Ansturm Emilios vernichtet, der uns aufforderte, eiligst ins Bett zu gehn; die Zofe der Baronin stehe schon eine Stunde vor der Halle und warte auf die Marchesa.

»Ach,« rief ich aus, »die Marchesa weiß noch gar nicht, daß ich heute aufbleibe. Jawohl, Emilio, heute warte ich auf meine Tante.«

Ich hatte den Plan, Sidonia, koste es, was es wolle, heute abzufangen, bereits in meinem Zimmer gefaßt.

»Gerade heute sollten Sie das nicht tun«, redete Emilio mir zu. »Heute, wo Sie so krank gewesen sind!«

»Aber jetzt bin ich gesünder als vorher... Ich weiß nicht, was die Marchesa tut, ich jedenfalls bleibe auf«.

»Selbstverständlich bleibe ich dann auch auf«, sagte Maria gewichtig.

Nach Emilio kam der Portier,, und der Portier holte den Direktor. Alle drei standen, ein jeder in einem Abstand vom andern, vor uns, und Emilio und Petrus begleiteten die Rede ihres Chefs mit beifälligen Lauten. Ich versicherte, daß ich meiner Tante eine wichtige Mitteilung zu machen hätte, eine Mitteilung, die sich mitnichten auf morgen verschieben ließe, und ebensowenig wäre es mit einem von mir geschriebenen Zettel getan, den der Portier, dem Vorschlag des Direktors zufolge, überreichen würde, – und auch nicht mit einem Brief. Es handle sich um eine unaufschiebbare, nur mündlich zu erledigende Familienangelegenheit. Schließlich zuckte der Direktor die Achsel und ging, desgleichen der Portier. Emilio wäre gern noch geblieben, aber der Portier hatte an der Tür halt gemacht und lauerte ihm auf. Ich holte das Damenbrett.

Nachdem wir einige Partien gespielt hatten, unterbrach Maria das Schweigen:

»Claus, darf ich wissen, was Sie vorhaben?«

Ich sagte es ihr, ruhigen und bestimmten Tones. Ich war dieses »Gefängnisses mit Ausgang« überdrüssig und verlangte meine Freiheit.

»Das ist sehr vernünftig von Ihnen«, meinte Maria. »Und ich schlüpfe dann mit Ihnen durch«.

Nach elf Uhr begannen wir unsre Müdigkeit zu spüren. Zuerst schlummerte Maria ein, und ich zögerte nicht, mich ebenfalls dem Schlaf zu überlassen, in der Gewißheit, der Portier werde Sidonia zu uns führen.

Und so geschah es. Ich erwachte von einem Lachen, das schon lange in der Luft zu schwirren schien. Als ich den Kopf nach der Seite wandte, von wo es kam, sah ich Sidonia auf uns zuschreiten. Schnell griff ich nach Marias Schulter.

»Ist sie da?« fragte sie verschlafen.

»Ja«, stieß ich hervor und sprang auf die Füße.

Maria rieb sich umständlich die Augen. Plötzlich rief sie: »Nein –!«, da stand sie neben mir und starrte zu Sidonia empor. »Sind Sie es?«, und sie gab ihrem Köpfchen schnell ein paar Rucke, als wollte sie damit feststellen, ob sie wachte oder ob sie träumte. In Sidonias Haar funkelte ein Diadem. Sie trug ein dunkelrotes Kleid mit Silberstickereien, darüber einen Umwurf aus Hermelin. Auch die roten Schuhe waren silbern durchwirkt. Ein schwarzer, irisierender Gürtel hing in Fransen um ihre Hüften. Sie streckte Maria eine Hand hin, die bis an den Ellbogen in einen weißen Handschuh gehüllt war, und hier, dicht unterm Ellbogen, wo ein ebenfalls weißer Pelzstreifen den Handschuh abschloß, bildete der Arm eine Ausbuchtung, in der eine Quelle zu sprudeln schien. Ich hätte gern meine Lippen hineingetaucht, aber Sidonia schwebte, ein Diadem im Haar, auf einer Morgenwolke. Bei aller Erhabenheit schimmerte sie vom rosigen Schmelz eines Mädchens, das nach einem schnellen Lauf durch den Garten ins Zimmer tritt.

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« fragte sie Maria. Maria beugte sich, sank auf Donjas Hand, sie ergriff die Hand, legte ihre Wange darauf.

»Ich schlafe noch, murmelte sie.

Sidonia lachte wieder, daß es leise in den Ecken der Halle klirrte.

»Ihr hättet sitzen bleiben sollen, Kinder. Ihr wart eine reizende Gruppe. Aber jetzt gehn wir alle drei zu Bett.«

»Ich muß mit dir sprechen«, sprach ich und ging zum Angriff über. Maria hatte das Signal verstanden, sie fuhr, wie unter einem Schlag, in die Höhe und blickte mich mit großen Augen an, über denen ein mondsteinfarbener Hof hing.

Das Haar, Brauen und Wimpern und auch der Mund waren wie mit Lackfarbe auf das blasse, runde Gesicht gemalt. Es zuckte und knisterte darin. Ich mußte zwischen ihrem und Donjas Gesicht hin und her blicken, und ich fand Donjas Antlitz schöner, weil es menschlichere Züge trug.

»Maria, Sie können schlafen gehen«, sagte ich ruhig. »Ich will Sie nicht aufhalten.«

Sie verzog ein wenig den Mund.

»Ich muß doch bei Ihnen bleiben«, flüsterte sie. »Ich will auch«, fügte sie laut hinzu.

»Ach so, Kinder, ich bin in eine Verschwörung geraten. Dauert es lange?

»Nein, Tante«, antwortete ich, »aber du solltest dich setzen. Bitte.«

Maria fiel ein:

»Sie sollten sich setzen, geliebteste Donja. Es ist gemütlicher, wenn wir alle sitzen«, eifrig schob sie einen Sessel heran. Da ich aber bereits zu Beginn des Abends einen Sessel für Donja bereitgestellt hatte, so waren es deren jetzt vier, die an unsrer Beratung teilnahmen, und Donja konnte, auf ihrer Morgenwolke niedersteigend, zu mir sagen:

»Claus, in dem scheinbar leeren Sessel sitzt deine Mutter und hört dir zu.«

»Von alledem, Donja, möchte die Mutter nichts wissen«, antwortete ich.

Mit beträchtlichem Gewicht war das gefallen, und dem entsprechend sah Sidonia mich an, erstaunt und ein wenig ängstlich, und, langsam ihr Gesicht zu mir neigend, fragte sie halblaut:

»Nun?«

Sie verharrte in der gleichen, ruhigen Erwartung, während ich mein Anliegen vorbrachte, gleichzeitig aber schien sie sich nur mühsam, ja, nur mit Gewalt in ihrem Sessel festzuhalten, und ihre Augen, so sehr sie mich bedrängten, brachen in einem fort zu einer Reise auf.

Ich begann.

»Donja, ich lebe in diesem Hotel wie in einem Gefängnis. Allein darf ich den Käfig nicht verlassen, und ich bin immer allein. Bei schönem Wetter bist du unterwegs, und wenn es regnet, fährst, du im Felze.«

Sie nahm meinen Kopf in die langen Handschuhe, die rochen wie ein parfümiertes Tier, und lachte, ja, sie lachte mir den so gehaltenen Kopf voll, und von ihren Augen war nur noch ein mattfarbener Meerstreifen zu sehn.

Ich fuhr, mich aufbäumend, fort.

»Wenn es regnet, fährst du in einer roten Gondel, und man meint, du seist am Sterben.«

Sie ließ sofort meinen Kopf los.

»Wo hast du die rote Gondel gesehn?« Ich glaubte, sie sei jetzt im höchsten Grade gespannt, trotzdem kam ihre Frage langsam und wie aus weiter Ferne.

»Hier, vor dem Hotel, wie Ihr in die Lagune hinausfuhrt.«

Sie dachte nach, das Kinn auf die Hand gestützt, mit niedergeschlagenen Augen. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und sah mich mit einem Ernst an, der mir unsagbar hoheitsvoll erschien.

Ja, ja, hier beim Hotel ... als wir in die Lagune hinausfuhren. Und – was weiter?'

Ich nahm mich zusammen, um nicht kopfüber in Tränen zu stürzen.

»Weiter? Nichts. Ich kenne das ganze Hotel auswendig, vom Keller bis zum Speicher. Ich möchte auch Venedig kennenlernen.«

Sie nahm meine Hand, ließ sie aber gleich wieder los.

»Claus, wie oft bin ich mit dir ausgegangen?'

»Dreimal, Donja, seitdem wir hier sind.«

Sie dachte wieder nach.

»Wie lange sind wir eigentlich schon hier?«

»Vier Wichen!« rief Maria.

Donja reckte sich. Mit aufgerissenen Augen:

»Vier Wochen?

Und sie lachte, sie lachte, als hüpfte sie ganz allein auf einer Wiese, einen Kranz von Gänseblumen über den Augen, und würfe die Glieder.

Spaßeshalber hatte sie ein Diadem aufgesetzt, das tanzte mit.

»Claus, wie sie lacht!« sagte auf einmal Maria.

Die ganze Zeit hatte ich dagesessen, von Trauer beschattet, doch ein Mann. In solchem Tone bat ich:

»Donja, habe Mitleid!«

»Schäme dich, Claus«, erwiderte sie, scheinbar ernst. »Habt Ihr Mitleid nötig?«

Wieder schüttelte sie den Kopf, aber ich sah wohl, daß sie in ihrem Gemüt noch immer lachte – verschlafen lachend ruhte sie auf ihrer Morgenwolke.

»So so, hier beim Hotel?« wiederholte sie. »Als wir in die Lagune hinausfuhren? – Höre, Maria!«

Damit zog sie Maria zu sich hinüber und legte ihren Arm um sie.

»Wenn ich Euch jetzt erlaube, in ganz Venedig zu jagen, sagte sie rasch, »statt nur hier im Hotel, auf dem Markusplatz Eis zu essen und Gondel zu fahren, sogar in einer Gondel mit roten Teppichen, meinetwegen unter dem Felze, kann ich mich dann auch darauf verlassen, daß Ihr... daß Sie, Maria, keine Jungensstreiche zulassen?«

Maria stand steif wie eine Puppe.

»Das können Sie, geliebteste Donja.«

»Gut.«

Sidonia erhob sich, nahm uns beide an der Hand. »Gut«, wiederholte sie. »Ihr könnt also laufen.«

Wir schritten in Donjas Duft.

Manchmal streifte der Hermelin meine Wange.

Manchmal schielte Maria mich triumphierend an, und zwischen ihren Brauen knisterte unsichtbar ein Feuer.

»Gut.«

Donja brachte Maria in ihr Zimmer und mich in das meine.

Vor der Tür küßte ich ihr die Hand.

»Verzeih, Donja«, sagte ich. »Ich mußte ein Ende machen.« Sie strich mir über das Haar.

»Ach, Kind –« seufzte sie.

»Du bist glücklich«, sagte ich.

Sie küßte mich auf den Scheitel.

»Ja, Claus, ich bin glücklich. Verzeih mir, wenn du es auch einmal bist.«


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