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XXIX.
Ein parlamentarisches Diner

Es gehörte zum Programme, daß Lukas seine geistlichen Mitbrüder zum Diner lud. Er war einer der wenigen Kapläne, die das Privilegium »eigenen Haushaltes« genossen; dieses Privilegium brachte aber auch einige Pflichten mit sich, unter andern die, bei Antritt seiner Stellung ein gemütliches Essen zu geben. Die Geschichte machte ihm einige Aufregung und Unruhe. Sein korrektes, kühles englisches Auftreten hatte ihn bei seinen Mitbrüdern nicht beliebt gemacht, deren rasche, flüchtige, lebhafte Art ihm zuwider war und deren Versuche, sich leicht und familiär zu geben, er sehr übel aufnahm. Aber er fühlte doch, daß er sein steifes Wesen aufgeben müsse, wenn er überhaupt in diesem Lande vorankommen wollte, wo jeder in einer Art gemütlichen, ruhigen Sichgehenlassens zu leben schien.

»Ich hoffe, mein lieber junger Freund,« riet ihm der liebe, gute alte Pfarrer in einem Tone höflicher und ergebener Freundschaft, der ihn charakterisierte, »daß Sie bei diesem kleinen Mahle nicht zu weit gehen werden. Ihr hiesiger Posten ist recht bescheiden dotiert, und auf jeden Fall ist es angebracht, vor den andern nicht aufzufallen.«

»O nein, Sir!« erwiderte Lukas. »Ich werde absolut nichts bieten, als was bei solchen Gelegenheiten allgemein üblich ist. Um ganz aufrichtig zu sein, so wäre es mir ebenso lieb, wenn ich die Einladungen gar nicht zu machen hätte. Ich mache mir nicht viel daraus und habe sogar einen lebhaften Abscheu vor einem Speisesaal und was drum und dran hängt.«

»Sie wissen, daß Sie über alles verfügen können, was Sie brauchen,« erklärte der Greis. »Haben Sie nur die Güte und schicken Sie Ihren Burschen zu mir. Meine Haushälterin wird Ihnen dann mit Freuden alles zur Verfügung stellen, was Sie an Gläsern, Servietten, Tischtüchern oder Bestecken brauchen.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar,« erwiderte Lukas. »Sagen wir nächsten Donnerstag um fünf Uhr.«

Das Diner ging flott vor sich. Selbst die steife Förmlichkeit des Wirtes konnte die Lebhaftigkeit seiner jüngeren Gäste nicht zurückhalten, die in Witzen, Anekdoten und feinen, schlagfertigen Antworten aufleuchtete und überströmte. Nirgends in der ganzen Welt gibt es soviel Witz und Fröhlichkeit wie bei einem geistlichen Essen in Irland. Möge es immer so bleiben in diesem Lande des Glaubens und der Lustigkeit!

John servierte bei Tische; und John prangte in weißem Vorhemd und schwarzem Frack. Diese Ausstattung Johns als Kellner war aber eine Neuerung, die einige Gäste Lukas schon übelnehmen wollten und die ihre Laune herabstimmte. Da hörte man draußen plötzlich ein Stolpern und dann das Klirren zerbrochenen Glases; damit war der Bann gebrochen. Lukas wollte zwar ärgerlich auffahren. John aber ließ sich nicht aus seinem Gleichmut bringen. Er erklärte nachher:

»Was sollen wir noch darüber reden? Die Sachen müssen doch einmal brechen.«

Es war die ruhige Philosophie des keltischen Fatalismus.

Nun hatte Lukas, wie er früher schon einmal erklärt hatte, den entschiedensten, festesten Entschluß gefaßt, nie und unter keinen Umständen sich über irgend ein Thema in eine Diskussion einzulassen, weil, wie er erklärte, es unmöglich war, in Irland eine Debatte auf parlamentarische Art zu führen. Das war allerdings sehr entmutigend und ungemütlich, aber er hielt es für sicherer und weiser. Aber ach! was sind oft menschliche Entschlüsse! Und was soll ein Mann, der in die Charybdis gefallen ist, tun, als seine Arme nach Hilfe ausstrecken?

»Das erinnert mich,« sagte ein junger Kaplan, der ein Mitschüler Lukas' in Maynooth gewesen war, »an eine Geschichte aus unserer Studienzeit von einem Studenten, dem es aufs strengste verboten war, die Zimmer seines Onkels, eines Professors, zu betreten. Er gebrauchte verschiedene Listen, doch vergebens; denn Jack war gerieben wie ein Fuchs. Da verfiel er auf den Plan, das Kohlenbecken heraufzuschleppen und darüber zu fallen und gerade vor Jacks Türe. Und Jack mußte herauskommen, um nachzusehen und dem armen Kerl in seiner Not zu helfen. Und dann – gab es ein warmes Feuer und ein Glas Wein.«

»Ich weiß aber immer noch nicht, wo Sie mit Ihrer Geschichte hinaus wollen,« bemerkte Lukas, den das zerbrochene Glas noch ärgerte.

»Lassen Sie mal sehen!« erwiderte der Gefragte. »Ich glaube nicht, daß ich eine Nutzanwendung beabsichtigte. Aber lassen Sie mich mal sehen! O ja! Ich hätte wirklich diesen klugen Ganymed gar nicht bemerkt, wenn er mit dem Zerbrechen keinen solchen Lärm gemacht hätte. Der Genius braucht Zufälle, um sich zu entwickeln.«

»Es ist wirklich interessant,« nahm jetzt der alte Pfarrer das Wort, »zu beobachten, wie rasch unsere Leute sich in ihre Umgebung hineinfinden. Man kann aus einem Irländer machen, was man will. Ein geschickter Alchimist, das heißt, ein fähiger Staatsmann, könnte all das überflüssige Material in Irland hernehmen und es in alle schönen Formen der Nützlichkeit und Lieblichkeit umgießen. Ich kannte den armen Kerl schon,« fuhr der Greis in seiner milden Art fort, »als er noch dem Archidiakon wegen seiner Trunksucht und Lügenhaftigkeit fast das Herz brach. Ich hätte nie geglaubt, daß Sie ihn so rasch umformen könnten.«

Dieses kleine Kompliment machte Lukas stolz und zerbrach seinen stählernen Entschluß zu Splittern. Er rief nach mehr kochendem Wasser zum Aufgießen des Kaffees und richtete sich zu einer hübschen akademischen Erörterung ein.

»Jawohl,« sagte er, die Serviette über seine Kniee legend, »die Iren sind eine plastische Rasse. Aber die Form, in die sie neuerlich gezwängt wurden, sollte man nicht kalt werden lassen. Denn wenn man es geschehen läßt, sind sie stereotypiert für immer. Irland ist ein Land von stählernem Konservatismus. Man kann sich nicht in Originalität von allem losreißen, ohne ein Monstrum zu werden. Irland ist das Land der Pyramiden und Sphinxe, auf das alle jüngeren Rassen verwundert starren und das sie als ein Rätsel aufgeben.«

»Es würde gleich kein Rätsel mehr sein,« warf der obenerwähnte junge Priester ein, »wenn man es uns auf unsere Art zu lösen gestattete. Aber es ist stets unser Unglück gewesen, daß ein Blinder immer wieder zur Lösung des Rätsels bestimmt wird.«

»Dessen bin ich nicht so ganz sicher,« erwiderte Lukas, der in der alten sic-argumentaris-Weise die Soutane über seine Knie zog; »unser geistliches Gebiet ist nicht so sehr damit verknüpft; und doch – sehen Sie nur zu, wo wir stehen!«

»Und wo stehen wir?«

»Ich glaube, irgendwo im Mittelalter,« gab Lukas zur Antwort. »Vergleichen Sie doch nur unsere Ansichten von der Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit eines Mannes für eine bestimmte Stellung mit denen, wie sie in der ganzen weiten Welt sonst herrschen. Auf jedem anderen Gebiet menschlicher Tätigkeit frägt man: Ist dieser Mann geeignet? Bei uns aber frägt man: wie lang steht er schon in der Seelsorge? So beurteilt man auch das Können eines Mannes nicht nach dem, was er schon geleistet hat oder leisten kann, sondern nach der Frage: Was hat er bekommen? Das heißt: Welche Preise und Auszeichnungen erhielt er in seiner Seminarzeit und als er noch kurze Höschen trug?«

»Sie dürften sich aber doch nicht beklagen, Vater Delmege,« meinte ein greiser Priester; »Maynooth hat Ihnen einen Stempel aufgedrückt, den Sie nicht mehr loswerden.«

»Danke Ihnen, mein Vater,« erwiderte Lukas; »aber es ist ebenso absurd von einem Mann als von einem großen Theologen zu reden, weil er vor dreißig oder vierzig Jahren in der Theologie einen Preis erhielt, wie von einem Mann als einem großen Krieger zu reden, weil er Anführer in einem siegreichen Schneeballengefecht in Eton war; oder als von einem großen Künstler in schwarz und weiß, weil er eine Karikatur seines Lehrers auf die Tafel einer Landschule zeichnete.«

»Ich habe aber oft gehört, daß Eton Waterloo gewonnen habe,« entgegnete der andere.

»Das ist auch wieder eine von den Fälschungen der Welt oder der Geschichte,« erklärte Lukas. »Die schlechte Verpflegung der Franzosen und die Verräterei Grouchys verloren Waterloo, und die wohlgefüllten Feldkessel der Engländer und die Hilfe Blüchers gewannen es. Es war der Sieg der Dummheit und des Roastbeef über das Genie und den Hunger.«

»Nun, das ist aber Unsinn, lieber Delmege! Jeder gibt doch zu, daß man in der Laufbahn eines jeden großen Mannes die Triumphe seiner Jugend als Anzeichen seiner Zukunft auslegt und berichtet.«

»Das habe ich noch nicht bemerkt,« versetzte Lukas, »da keiner der großen Männer, die ich kenne, jemals seine heroischen Schatten in die Hallen einer Hochschule warf. Aber so ist nun einmal Irland! Man sucht die Schatten auf das Gras zu nageln und hält sie dann für Wirklichkeiten.«

Lukas hatte gewonnen. Es war ein Pyrrhussieg, und noch dazu ein gefährlicher, denn er brachte ihn in Wallung. Sein stählerner Entschluß war nun in alle Winde verflogen.

»Doch bleiben wir bei unserm Gegenstand!« sagte er. »Wir befinden uns jetzt gerade auf einer andern Uebergangsstufe, auf der die Neubildung unseres Volkscharakters Platz greifen soll. Achten wir darauf, daß die neuen Ideale die richtigen sind, ehe der Genius unserer Rasse für immer fixiert ist.«

»Es sind da so viel Künstler an der Arbeit,« warf ein junger Priester ein, »daß sie kaum fehlgehen können.«

»Das möchte ich doch noch bezweifeln,« bemerkte Lukas. »›Viele Ratgeber besitzen zwar viel Weisheit‹, aber das setzt doch voraus, daß die Ratgeber in einer Sache übereinstimmen. Ich sehe keine andere Aufgabe vor uns liegen, als uns dem Zeitgeiste anzubequemen und das angelsächsische Ideal zu dem unsern zu machen.«

Man wußte schon, daß das Lukas' Steckenpferd sei; er hatte aber seine Ueberzeugung nie so genau formuliert. Die ganze Tafelrunde erhob sich zu einmütigem Protest dagegen.

»Das angelsächsische Ideal? Eine Zivilisation, wo Mammon Gott ist und wo jeder nur fürs Geld und das Geschäft ein Auge hat!«

»Das angelsächsische Ideal? Eine Nation toter Seelen und elender Körper!«

»Das angelsächsische Ideal?« Der vorerwähnte junge Geistliche war emporgesprungen und fuhr mit den Händen wild in der Luft herum, während seine rauhe, schnarrende Stimme die zornigen Proteste seiner Mitbrüder übertönte. Lukas wurde ganz bleich, als er den Sturm sah, den er entfesselt hatte.

»Jawohl,« erwiderte er, »ihr müßt euch wohl oder übel mit der Zivilisation auseinandersetzen oder eine eigene Zivilisation schaffen. Die Leute verlieren allmählich die Poesie der Vergangenheit – ihren Glauben an keltische Gebräuche und Schöpfungen. Könnt ihr eine Poesie für sie schaffen? Und könnt ihr den Kampf aufnehmen und die Angriffe eurer Feinde zurückschlagen, ohne daß ihr deren Waffen benützt?«

»Besser, die ganze Rasse würde vom Atlantischen Ozean verschlungen,« rief der junge Priester, »als daß sie ihre Ueberlieferungen und ihre Ehre verraten und den Moralkodex des Teufels annehmen würde! Eine Rasse nach der andern ist seit viertausend Jahren auf dieser Schicksalsinsel vom Meere des Unterganges verschlungen worden. Aber sie gingen in Ehre und fleckenlos zu Grunde. Und das wollen auch wir!«

»O mein lieber Kollege und Freund!« beschwor ihn Lukas, »wenn Sie ruhig zusehen und das Unvermeidliche über sich ergehen lassen wollen, dann ist ja alles recht! Dann brauchen wir auch keinen Augenblick länger zu streiten. Hüllen wir uns dann in unsere Togas und fallen wir! Aber wenn der Kampf noch weiter dauern soll, dann hilft es nicht viel, wenn wir Drachen fliegen lassen in der Hoffnung, dadurch den Blitz des Himmels auf unsere Widersacher herabzurufen.«

»Ich glaube, es ist Schicksal,« gab der junge Heißsporn zurück und setzte sich wieder. »Aber es ist hundert Mal besser, vom Erdboden zu verschwinden, als daß wir Geldhamster und Beefsteakfresser werden.«

»Das ist nur der Kreislauf, der sich in der ganzen Weltgeschichte bemerkbar macht und von allen großen Denkern beobachtet, von Vico und Campanella sogar in eine Formel gebracht wurde,« erwiderte jetzt Lukas siegreich und triumphierend, »das sind die corsi und ricorsi alles menschlichen Fortschrittes. Und eine große, lichtvolle Wahrheit geht daraus hervor, daß jeder, der sich nicht selbst regieren kann, sich von einem andern regieren lassen muß, und daß die Welt stets von jenen regiert werden wird, die von Natur die Ueberlegenen sind.«

Eine Kleinigkeit kann des Iren Zorn oder Verzweiflung in Lachen wandeln.

»Möchten Sie mir nicht die corsi und ricorsi dieses Kaffees und heißen Wassers herunterreichen?« bat ein junger Witzbold und siehe da! Die Debatte endete in einem schallenden Gelächter.

Und jetzt sang gerade vor dem offenen Fenster eine süße, klare Mädchenstimme mit tiefem Gefühl die ersten Zeilen von Lady Dufferins rührender Ballade:

Ich sitze auf dem Stiegel, wo wir einst Seit' an Seite saßen.

Es klang so süß und so traurig zugleich, da mitten in dem irischen Dorfe. Und die goldene Sonne überflutete die Landschaft, und die Luft war warm und vom süßen Dufte des Geisblattes erfüllt, der das Fenster umrahmte. Und das Lied schien so zu allem zu passen, daß die Priester schweigend lauschten. Es hüllte die ganze Debatte, die eben ihr Ende gefunden, in Musik. Es war das caoine der Banschi Irische Fee oder Zauberin. über die dem Schicksal verfallene Rasse:

Ein langes Lebewohl ruf ich dir zu, meine Maria, lieb und treu!
Doch werd ich deiner nie vergessen in dem Land, wohin ich gehe.
Brot und Arbeit gibt es allen und die Sonne scheint dort immer,
Doch wie schön es immer sei: Dich, Altirland, werd' ich nie vergessen!

Kein Wort wurde gesprochen, bis das Lied verklungen war. Es war das unendliche Pathos Irlands.

Das Mädchen trat ans offene Fenster und bat um eine Gabe. Sie war ein schlankes, schmächtiges junges Mädchen, dunkel wie eine Italienerin. Die Haube ihres leichten schwarzen Ueberwurfs verbarg kaum die Locken, die ihr über die Stirne hereinfielen. Das Teller ging bei den Geistlichen herum, und bald hatte sie mehr Silbergeld in ihren Händen, als sie je vorher im Leben gesehen hatte.

»Wenn Vater Meade da wäre,« bemerkte Dr. Keatinge lächelnd, »würde er sagen, der Geist Erins wäre hier – der Schutzgeist eines dahingegangenen Volkes.«

»Ich werde dich nicht vergessen, Liebling,« monologisierte der junge Priester; »aber sie vergessen dich, Liebling, und was noch schlimmer ist, sie verachten dich. Und weder auf Erden noch in den Tiefen der Hölle,« stieß er leidenschaftlich hervor und ließ seine Hand schwer auf den Tisch niederfallen, »gibt es ein verächtlicheres Wesen als den, der, vom Glanz und Flitter fremder Zivilisation verführt, sein Vaterland verachtet.«

»Nun, nun, nun, das Lied hat Sie aber erregt, Cole,« besänftigte ihn sein Nachbar.

»Ich bin nicht erregt,« protestierte er; »aber ich sage Ihnen, nicht englischen Stahl haben wir zu fürchten, sondern englisches Gold.«

»Macht nichts, Cole,« entgegnete der andere, »die corsi und ricorsi werden sich wieder in ihrem Kreislauf bemerkbar machen und dann wird Irland obenan kommen.«

»Jawohl,« zischte er, »wenn es sein Geschick nicht vergißt.«

»Und was soll das für ein Geschick sein?«, schrieen einer oder zwei und lachten über seine Heftigkeit.

»Was das sein soll? Was würde denn das Geschick der jüdischen Rasse geworden sein, wenn sie Christus nicht verworfen hätten

»Delmege, besänftige die erregten Nerven unseres Mitbruders wieder und singe die ›Musterung‹!«

Doch nein! Lukas hatte die »Musterung« vergessen – der Text war ihm ganz entfallen – er hatte sie schon so viele Jahre lang nicht mehr gesungen usw. Er sang:

Ist diese fröhliche Runde nicht ein Ersatz dafür?

»Ich habe mich nicht in ihm getäuscht,« murmelte der Heißsporn. »Er ist ein Schüler des Kanonikus und kein ungelehriger.«

Die Gäste zerstreuten sich rasch; und Lukas blieb allein – und unglücklich. Was war der Grund, daß er sich nach der Berührung mit Menschen stets elend und unglücklich fühlte? Und warum war er stets ärgerlich auf sich selber und unbefriedigt, so oft er nach einer zeitweiligen Zerstreuung seiner Gedanken zu sich selbst zurückkehrte? Jede Berührung mit der Außenwelt veranlaßte seine sensitive Natur, sich nur inniger und fester in sich selbst zurückziehen, außer wenn er zu etwas aufzublicken und etwas zu verehren hatte. Trotz all seiner Versicherung praktischer Weisheit sehnte er sich immer nach einem geheimen, verborgenen Ideale.

Als er aus der erhitzten Atmosphäre des Speisezimmers in den kühlen Garten hinaustrat, der hinter dem Hause lag, hörte er das sanfte Trippeln von Füßen in der Küche und einen leisen, pfeifenden Ton. Beides klang schwach und unterdrückt, als wenn man es zu verbergen suche. Dann aber klang das Pfeifen in artikulierte Sprache aus:

( Forte) »Schwing dich im Kreise, Biddy McClure!«

( Andante) »Zeig ihnen den rechten Schritt, Mary McCarthy!«

( Fortissimo) »Yerra, tanzt zur Musik, ihr Teufel!«

( Adagio) »Bei – Witwe – McLau – au – au – ghlins – Gesell – ell – ell – schaft!«

Damit hörte der Tanz auf.

»Mir ist's zu heiß,« stöhnte Mary, »und nach all dem Kochen und Spülen bin ich müde.«

»Und du hast deine Sache gut gemacht, Mary,« lobte John, der Musikant. »Ich habe beim Archidiakon nie ein besseres Diner gesehen.«

»Potz Blitz! So hör' doch um Gotteswillen mal mit dem ›Archidiakon‹ auf!«, erwiderte Mary, der Schmeicheleien zuwider waren. »Ich höre nur immer ›Archidiakon‹ da und ›Archidiakon‹ dort. Warum bist du denn nicht dort geblieben, als du bei ihm warst?«

»Steck' das ruhig ein, John!« rief einer der Jungen, der eben mit der leichten Gemütlichkeit, die auf dem Lande herrscht, eingetreten war.

»Ich wollte nichts Böses sagen,« entgegnete John bescheiden. »Aber es war ein großartiges Essen, durch und durch großartig, ich hab' gehört, wie die Geistlichen es lobten.«

»Du wirst hübsch 'was zu zahlen haben für das Glas, das du zerbrochen hast,« meinte Mary. »Der Herr schaute in seinem schwarzen Käppchen wie ein Richter aus; so streng blickte er drein.«

»Nicht das hat ihn rasend gemacht,« behauptete John, »sondern der kleine rote Kaplan von Lorrhabey. Bei Gott, er schlug ja wie verrückt auf unseren Herrn los.«

»An dem hat er aber dann seinen Meister gefunden,« bemerkte Mary. »Ich möchte den von ihnen sehen, ausgenommen unsern Pfarrer, der ihm das Wasser reichen kann.«

»Was war denn los?« fragte einer der Nachbarn, der seine Neugierde nicht mehr zügeln konnte.

»Nichts aus der Schule plaudern, John! Wenn du diesem geschwätzigen Burschen etwas erzählst, wird er es noch vor Sonntag in allen Wirtshäusern der Pfarrei breittreten,« mahnte die gute Mary.

»Wischa, es war nicht viel los,« erwiderte John. »Es war nur die alte Geschichte von England und Irland. Unser Herr sagte, wir müßten alle Engländer oder in die See gefegt werden. Der Kleine wünschte die Engländer zum Teufel und sagte, wir sind Iren oder gar nichts.«

»Und wer behielt denn Recht?« forschte der »geschwätzige Bursche«.

»Schwer zu sagen,« meinte John. »Sie sprachen alle auf einander ein und fuhren auf wie Springteufelchen. Nur die alten Pfarrer blieben ruhig. Und dann kam das Mädel, und gleich wurden sie wieder sanft und still wie kleine Kinder in der Wiege.«

»Begor, sie sind doch eine sonderbare Gesellschaft,« meinte der geschwätzige Bursche. »Sie sind wie Kinder. Wenn einer über das Trinken, Tanzen oder ein bißchen Hofmachen aufgebracht ist und man sagt nur ein Wort von der seligsten Jungfrau oder Altirland, so ist er im Augenblick wieder ein Lamm.«

»Die Engländer und die Grundbesitzer hätten aber ohne sie leichtes Spiel,« bemerkte Mary.

»Geh', tanz noch mal,« bat John. »Ich hole dann die Ziehharmonika.«

»Nein!« erklärte Mary. »Mir ist's zu warm!«

»Ich denke daran, meinen Schneider einen Anzug wie deinen für mich machen zu lassen,« begann jetzt der geschwätzige Bursche. »Was würde das kosten?«

»Mehr Geld, als du je in deinem Leben zu sehen bekommst,« entgegnete John ärgerlich.

»So hört doch,« gebot Mary. Sie haßte alle Streiterei. »Denkt doch daran, wo ihr seid! Hole die Ziehharmonika, John! Unser Herr wird nichts dagegen haben.«

»Spaß, Streit und Gebet,« dachte Lukas. »Zur Arbeit hat der Herr die Iren nun einmal nicht bestimmt.«

Er spazierte langsam die Dorfstraße hinunter, und die ruhige, stille Schönheit des Abends stahl sich in seine Seele und stillte die Aufregung und den Aerger, die er während des Diners ausgestanden.

Die Berge am Horizont glühten im Abendschein, und die Luft war erfüllt vom Duft von Rosen und Geisblatt. Die alten Männer saßen vor den Häusern und rauchten gemächlich aus ihren Tonpfeifen. Eine Kinderschar lachte und spielte auf der breiten Dorfstraße, hüpfte im Kreise herum und sang das Volkslied, das den Kindern der halben Welt geläufig ist:

Die Londoner Brücke ist eingestürzt.
Sie war so groß und schön:
Nun wird sie wieder aufgebaut
Mit Stein und Sand und Lehm!

Auf der Brücke saßen zwanzig oder dreißig junge Leute, die nach des Tages Mühe sich erholten und den sanften Klagetönen einer Flöte lauschten, die einer aus ihrer Mitte spielte.

Lukas ging schnell an ihnen vorbei. Die alten Leute erhoben sich und grüßten; die Männer nahmen ihre Pfeifen aus dem Munde. Lukas fragte: »Wie steht das Befinden?« Sie verstanden ihn nicht. Sie waren von ihren alten, lieben Priestern etwas anderes zu hören gewohnt.

»Er ist ein feiner Mann,« hieß es, »aber er ist mächtig stolz.«

Die Kinder hörten zu spielen auf, als er sich näherte, und liefen ihren Müttern zu. Die Knaben grüßten sehr achtungsvoll. Der Spieler verbarg seine Flöte. Sie alle hätten sagen können, wo der Kaplan wohnte; aber ach! von ihren Herzen war er tausend Meilen entfernt. Er ging weiter ins Freie hinaus unter das Zwielicht der Buchen. Von den Schlehdornhecken fielen die weißen Blüten, das schwülduftende Geisblatt wand sich um Hagedorn und Dornbusch, und der weiße Klee stand in voller Blüte. In der Ferne sangen einige Mädchen ein altes, irisches Volkslied, und als Lukas stehen blieb und lauschte und dem blauen Rauch nachschaute, der sich aus den Hütten gerade emporringelte, da hörte er auch die Flöte wieder eine irische Melodie in die Abendstille hinausklagen. Da erschollen hell und klar die Stimmen der Kinder von neuem:

Die Londoner Brücke ist eingestürzt.
Sie war so groß, und schön:
Nun wird sie wieder aufgebaut
Mit Stein und Sand und Lehm!

Das Problem der unerbittlichen Gegenwart und die Prophezeiung der unvermeidlichen Zukunft flossen wieder seltsam ineinander.

Beim Nachhausegehen trat er in die Dorfkirche. Hier war das Halbdunkel dichter als draußen. Er kniete hin und betete seinen Rosenkranz. Da und dort verrichteten noch einige fromme Pfarrkinder ihre Andacht; das Flüstern ihrer Gebete und das Klappern der Rosenkranzperlen auf der Kirchenbank drang gedämpft an Lukas' Ohren. An den Altarstufen kniete in ehrfürchtiger Liebe der alte Pfarrer, das Haupt leicht auf eine Seite geneigt. Lukas beneidete ihn.

»Ich wollte, ich wäre alt,« sagte er, »und hätte die Rätsel dieses Lebens hinter mir. Diese alten Leute scheinen ungetrübte Blicke in die Ewigkeit werfen zu können.«

An der Türe seiner Wohnung angekommen, zögerte er einen Augenblick, bevor er eintrat, und schaute die Straße hinunter, wo die hübschen Häuser sich gegen die dunkle Wand dichten Blätterwerks hinter ihnen abhoben. Es war ungemein ruhevoll.

»Ein weiser Mann würde hier glücklich sein wollen. Aber wird auch dieses Gefühl andauern? Und was kann ich tun, um mir das Glück zu erhalten und zu vermehren?« Wieder Rätsel und Probleme!

»Alles, was ein Mensch zu tun vermag, will ich versuchen,« sagte er heftig vor sich hin, »um das schreckliche Rätsel zu lösen und dies gläubige Volk zu retten.«

Am nächsten Morgen lagen zwei Briefe auf seinem Frühstückstische. Der eine kam von Amiel Lefevril. Er war einer von vielen und enthielt die alten Phrasen.

»Die Menschheit ist in allen großen Männern im höchsten Maße verkörpert; die wahre Schechina, sagt Chrysostomus, ist der Mensch. Jedes Kind der Menschheit ist ein verklärter Typus der Menschheit. Wir sind unsterblich in der Unsterblichkeit der Rasse. Suchen Sie das Göttliche im Menschen und unterstützen Sie es in seiner Entwicklung!«

»Es ist etwas Wahres in diesen Sätzen,« sagte Lukas. »Mich wundert nur, daß man uns das nie gesagt hat.«

Und Lukas vergaß ganz, daß er in Maynooth erster Preisträger in der dogmatischen Theologie gewesen war und daß er kräftig und erfolgreich verteidigt hatte, daß »die Offenbarung Gottes im Menschen in der ärmlichen Gestalt Jesus' von Nazareth neben dem unmittelbaren Zwecke der Menschwerdung noch einen weiterreichenden Zweck hatte, nämlich den Stolz der Menschen auf die Perfektibilität der Rasse zu vernichten.«

»Wenn wir nur den armen Leuten sagen könnten,« rief er aus, »daß ihr hochmütiger Ehrgeiz: Gott im Menschen zu suchen, einmal, und nur einmal verwirklicht war, dann wäre alles gut. Aber dann müßten sie wieder zu kleinen Kindern werden, und Nikodemus sagte, das sei nicht möglich.«

Der andere Brief war von Margaret, die in einer kritischen Frage um Rat fragte, die Vater Tracey, der keine Idee von Theologie und Mystik zu haben erklärte, viel Sorgen machte. Eine der Büßerinnen, Schwester Maria von Magdala, die eine große Sünderin gewesen war, entwickelte jetzt außerordentliche Heiligkeit, und Vater Tracey erbat nun Aufklärung über die eine und andere Frage.

»Lieber Lukas«, so lautete der Brief, »wirf diese Zeilen nicht mutwillig oder ärgerlich beiseite! Ich weiß, und wenn ich's nicht wüßte, würde Vater Tracey mich davon überzeugen, daß Du ein großer Theologe bist. Aber ich fühle andererseits doch auch wieder, daß solche Dinge den Kleinen geoffenbart werden. Lieber Lukas, sei ein Kind und zugleich ein tiefer Denker, und laß mich wissen, was Du von dieser wichtigen Sache hältst. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, welchen Seelenfrieden Deine Antwort uns allen geben wird, vor allem aber Vater Tracey.

Unsere Mutter ist nicht recht gesund. Möchtest Du sie nicht einmal besuchen?«

»Nun, nun,« meinte Lukas, nachdem er den Brief gelesen, »verlohnt es sich überhaupt, Nonnen zu antworten?«

Und er setzte sich hin und schrieb seiner kleinen Schwester, der blutigste Neuling in der Theologie wisse bereits, daß diese armen Büßerinnen entweder sehr häufig Selbsttäuschungen, besonders auf dem Gebiet höherer Heiligkeit, unterworfen seien oder daß sie unglückseligerweise geneigt seien, zu Täuschungszwecken Tugend zu heucheln. Er hege absolut keinen Zweifel, daß der beschriebene Fall unter eine dieser zwei Kategorien falle. Er rate seiner Schwester, sich in keiner Weise in etwas einzulassen, was sich wahrscheinlich als Betrug herausstellen und vielleicht gar zu einem Skandal führen werde. Vater Tracey sei ja ein ausgezeichneter Mann, wie er höre; er fasse aber gern unkluge Ansichten über Aeußerungen geistlichen Lebens, die die Kirche stets mit Zweifel und Argwohn betrachte.

Lukas war ohne Zweifel sehr praktisch geworden, viele Jahre waren ja auch schon dahingegangen, seit er eine Wallfahrt gelobt hatte, um dieses alten Priesters Füße zu küssen.

Er nahm den Brief der Schwester wieder vor und las ihn kopfschüttelnd nochmals durch.

»Das ist waschechter Positivismus,« erklärte er. »Margaret sieht ebenfalls das Göttliche im Menschen, dieses Mal in einer niedrigen Büßerin. Man stelle sich nur vor: Amiel Lefevril und Schwester Eulalie kommen zum nämlichen Schluß von entgegengesetzten Gedankenpolen.«


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