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Die Entstehung der Rasse

Der Baron hatte mit grosser und edler Bekümmernis einen Aufsatz darüber gelesen, dass die Kinder der Oberklassen zu Grunde gehen müssten, wenn sie nicht den Kindern der Unterklassen die Muttermilch wegtränken. Er hatte Darwin gelesen, und die Sache so zu verstehen geglaubt, dass die Nachkommen der Adelsgeschlechter ein höheres Entwicklungsstadium der Gattung Mensch bedeuteten. Nun hatte er aber auch viel über die Vererbung studiert, und das hatte ihm einen grossen Widerwillen gegen die Verwendung von Ammen beigebracht, indem er die Befürchtung hegte, durch Einführung des niederen Blutes in Adern höherer Wesen könnten dem Kinde vielleicht allerlei im Volke häufige Begriffe, Vorstellungen und Intentionen eingeimpft werden. Er hatte es sich also in den Kopf gesetzt, seine Frau sollte ihr zu erwartendes Kind selbst nähren, und wenn sie dazu nicht imstande sei, wollten sie es mit der Flasche aufziehen; auf die Milch seiner Kühe, die sein eigenes Heu frassen, hatte er doch sicher ein Recht.

Und so kam das Kind zur Welt. Es war ein Sohn! Er war bis zu der entscheidenden Stunde sehr unruhig gewesen, denn er selbst war ein armer Teufel, seine Frau dagegen sehr reich; er aber hatte von ihrem Gelde nichts, wenn ihre Ehe nicht von einem männlichen Erben gesegnet wurde. Man kann sich daher vorstellen, dass ihre Freude gross und ungeheuchelt war. Der Sohn war ein durchsichtiges kleines Vollblutwesen, mit blauen Adern auf dem Köpfchen. Ja, blau war das Blut, aber dafür auch desto dünner. Die Mutter war eine engelhaft zarte Person, die nur von ganz bestimmter, sorgfältig ausgewählter Nahrung lebte, sich durch kostbares Pelzwerk gegen das rauhe Klima schützte, und deren Wangen durch jene zarte Blässe ausgezeichnet waren, die die feine Rasse andeutet.

Sie nährte ihr Kind selbst, – so brauchte man nicht erst Bauersfrauen, um leben zu dürfen! Das waren ja alles nur Phrasen!

Das Kind trank und schrie vierzehn Tage lang. Alle Kinder schreien, – das hatte nichts zu bedeuten. Aber es magerte ab, – es magerte ganz entsetzlich ab. Ein Arzt wurde zugezogen. Er erklärte dem Baron, dass das Kind sterben müsse, wenn die Mutter fortführe, es zu nähren, teils weil sie zu nervös war, teils weil sie nichts zu geben hatte. Was war zu thun, – denn sterben sollte das Kind nicht. Amme oder Flasche war die Losung. Aber eine Amme kam gar nicht in Frage, unter keinen Umständen. Es sollte durchaus mit der Flasche versucht werden, obschon der Arzt entschieden darauf bestand, es müsse eine Amme genommen werden.

Es blieb bei der Flasche. Die beste holländische Kuh, die auf dem landwirtschaftlichen Verein die Goldmedaille bekommen hatte, wurde auf Trockenfutter gesetzt. Der Arzt machte eine chemische Analyse der Milch und alles war gut. Es war doch zu bequem mit der Flasche! Weshalb hatte man es nur nicht gleich gethan! Und was für ein Segen, dass man ohne Amme auskam, – diese Pest, diesen Haustyrannen, dem man alles in den Hals stecken musste, und die dann womöglich noch eine ansteckende Krankheit an sich hatte!

Aber das Kind magerte ab und schrie. Es schrie Tag und Nacht, – gewiss hatte es Magenschmerzen. Neue Kuh und neue Analyse. Die Milch wurde mit Karlsbader Brunnen, echtem Sprudel, verdünnt, aber es half nichts: Das Kind schrie weiter.

»Hier giebt's keine andere Rettung als eine Amme,« erklärte der Arzt.

Nein, das wollte man nicht.

Man wollte andern Kindern nicht fortnehmen, was ihnen zukam, das war unnatürlich, und ausserdem war man doch nie sicher von wegen der »Vererbung«.

Wenn der Herr Baron von »natürlich« oder »unnatürlich« sprach, so konnte ihn der Doktor darüber aufklären, dass, wenn man der Natur ihren Lauf liesse, alle Adelsgeschlechter aussterben müssten, und ihr Besitz an die Krone fallen würde. So hätte es die Natur gewollt, und die Kultur wäre nur ein ohnmächtiger Kampf gegen die Natur, ein Kampf, in dem der Mensch unterliegen müsse. Die Rasse des Herrn Barons wäre zum Untergange bestimmt; ein Beweis dafür sei schon der Umstand, dass die Frau Baronin nicht genug Nahrung für das Kind hätte. Um es am Leben zu erhalten, müsste man die Milch anderer Frauen rauben, – oder kaufen; – die Rasse lebte eben vom Raube bis in die geringsten Einzelheiten.

Ob es denn auch Raub wäre, wenn man die Milch kaufte, – teuer kaufte.

Ja gewiss, denn das Geld zum Kaufen der Muttermilch war ja das Produkt einer Arbeit; und wessen Arbeit? Der Arbeit des Volks, – denn der Adel arbeitete ja nicht.

»Aber Sie sind ja Sozialist, Doktor!«

»Nein, Darwinist; im übrigen können Sie auch ruhig Sozialist sagen, – das ist mir völlig gleichgiltig.«

»Ja, aber stiehlt man, raubt man denn, wenn man kauft?«

»Wenn man mit Gelde kauft, was man nicht erarbeitet hat, – gewiss.«

»Meinen Sie buchstäblich mit den Händen erarbeitet?«

»Ja.«

»Aber dann gehören Sie ja auch zu den Räubern, lieber Doktor!«

»Natürlich! Das hindert doch nicht, dass ich so rede? Erinnert sich der Herr Baron nicht vielleicht an den bussfertigen Sünder aus der Bibel?«

Hier wurde die Unterhaltung abgebrochen.

Der Baron schickte nach einem Professor.

Dieser nannte den Baron gar einen Mörder, dass er nicht sofort eine Amme besorgt hatte.

Nun musste jener seine Frau überreden. Sein ganzes eigenes Beweisgebäude musste er niederreissen und ihr zweierlei vorhalten: Die Liebe zu ihrem Kinde und – das geltende Erbrecht.

Aber woher eine Amme nehmen? Aus der Stadt, daran konnte man nicht denken, in der Stadt waren alle Menschen so verderbt! Nein, ein Mädchen vom Lande musste es sein. Aber von einem Mädchen wollte nun wieder die Baronin nichts wissen, – ein Mädchen mit einem Kinde war ja doch ein unsittliches Geschöpf, von der der junge Baron womöglich etwas erben konnte!

Der Arzt sagte, alle Ammen wären Mädchen, und wenn der junge Baron von ihr die Neigung zum andern Geschlecht »erben« sollte, so wäre das nur ein Beweis für seine tüchtige Natur u. s. w. u. s. w. Eine verheiratete Bäuerin bekämen sie auf keinen Fall, denn wer nur etwas Grund und Boden besässe, der wollte auch seine Kinder behalten.

Ja, – wenn sie z. B. ein Mädchen mit einem ihrer Knechte verheirateten?

So müssten sie eben neun Monate warten.

Ja, – aber wenn sie nun ein solches Mädchen verheirateten, die schon ein Kind hatte?

Ho, das war ein Gedanke.

Der Baron wusste schon ein Mädchen mit einem drei Monate alten Kinde, er kannte sie nur allzugut, – hatte sie während seiner langen Verlobungszeit kennen gelernt – – –. Er ging selbst hin, um sie zu fragen. Sie sollte einen eigenen kleinen Bauernhof bekommen, wenn sie einwilligte, den Stall-Anders zu heiraten und Amme auf dem Herrenhof zu werden. Gewiss wollte sie das, es war doch immer besser, als hier mit der Schande herum zu laufen. Sie sollten gleich am nächsten Sonntag ein für alle mal aufgeboten werden, und Anders sollte auf zwei Monat zu seinen Eltern reisen.

Mit einem wunderlichen Gefühl von Neid betrachtete der Baron seinen unehelichen Sohn. Es war ein starkes kleines Tierchen. Schön war er nicht grade, aber er schien dazu geboren, zu leben, und eine grosse Reihe von Nachkommen zu haben, – was man von seinem legitimen kleinen Erben nicht behaupten konnte.

Anna weinte, als ihr Kind ins Findelhaus gethan wurde, aber das gute Leben auf dem Herrenhof und besonders das gute Essen, – denn sie bekam natürlich vom herrschaftlichen Tisch, – trösteten sie allmählich wieder. Sie durfte oft ausfahren, in der grossen Kalesche, mit dem Bedienten auf dem Kutscherbocke; sie bekam »Tausend und eine Nacht« zu lesen, – sie führte ein Leben, so behütet und gepflegt, wie sie es früher nie geahnt hatte.

Nach zwei Monaten kam Anders ausgefüttert und ausgepflegt vom Besuch bei seinen Eltern zurück. Er begann seinen Hof zu bewirtschaften, und sich nach seiner Anna zu sehnen. Sie könnte ihn doch wenigstens ab und zu besuchen, meinte er. Das wollte aber die gnädige Frau nicht, um keinen Preis!

Anna wurde mager und der kleine Baron schrie. Man fragte den Doktor um Rat.

»Lassen Sie sie doch hingehen,« – sagte der.

»Aber wenn es nun schädlich ist?«

Ach bewahre, aber Anders sollte »analysiert« werden.

Das wollte Anders nicht.

Aber da bekam er ein paar Wollschafe zum Geschenk, – und liess sich »analysieren«.

Und nun schrie der kleine Baron gar nicht mehr.

Da kam eine Nachricht aus dem Findelhause: Annas Junge war tot, an Diphteritis gestorben. Anna verlor die Milch, und der junge Baron schrie mehr wie je.

Anna musste verabschiedet werden und kam zu ihrem Manne heim. Anders war recht froh, endlich »ordentlich verheiratet« zu sein, aber Anna hatte sich zu sehr an das feine Leben gewöhnt. Brasilianischen Kaffee konnte sie nicht mehr trinken, sie musste Zara haben; und sechsmal die Woche Strömlinge essen konnte sie auch nicht mehr, das verbot ihr ihre Gesundheit. Schwere Feldarbeit konnte sie nicht mehr machen, so ging es bergab mit ihnen.

Über ein Jahr musste Anders von seinem Hofe herunter, aber der Herr Baron wollte ihnen wohl, und gab ihm Arbeit. Auch Anna arbeitete für Tagelohn auf dem Hofe, und sah oft den kleinen Baron. Er kannte sie nicht wieder, und doch hatte er an ihrer Brust gespielt, doch hatte sie ihm das Leben gerettet, und das ihres Kindes dafür geopfert.

Sie war fruchtbar und hatte viele Söhne; die wurden Bauern, Eisenbahnarbeiter, – und einer wurde Sträfling.

Aber der alte Baron sah mit Unruhe dem Tage entgegen, wo der junge Baron heiraten und Erben zeugen sollte. Er sah nicht gerade stark aus. Er wäre viel beruhigter gewesen, wenn der andere kleine Baron, der im Findelhause gestorbene, auf dem Herrenhof gesessen hätte. Und wenn er wieder solche Aufsätze las, wie damals, dann musste er zugeben, dass die Oberklassen von der Gnade der Unterklassen lebten, und dass man die Zuchtwahl, wie sie heute war, nichts weniger als natürlich nennen konnte. Aber es war nun einmal so, da liess sich nichts ändern, mochten der Doktor und die Sozialisten sagen, was sie wollten.

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