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Vierter Aufzug.

Ein Jahr später in Moskau.

Saal in Sarynzews Haus, der zu einem Tanzabend mit Klavierbegleitung hergerichtet ist. Diener stellen Blattpflanzen vor dem Flügel auf. Maria Iwanowna tritt in elegantem Seidenkleid mit Alexandra Iwanowna ein.

Erster Auftritt.

Maria Iwanowna. Alexandra Zwanowna und die Diener.

Maria. Was redest du da »von einem Ball? Das ist doch kein Ball, sondern einfach ein Tanzkränzchen, thé dansant, wie man früher sagte. Ich kann doch meine Kinder nicht nur bei anderen Leuten tanzen lassen. Bei Makows haben sie Theater gespielt, überall getanzt – da muß ich mich doch revanchieren.

Alexandra. Ich fürchte nur, Nikolai ist nicht sehr entzückt davon.

Maria. Was kann ich dabei ändern? (Zu einem Diener). Hier stellen Sie die Pflanzen hin. Gott weiß, wie sehr ich mich bemühe, ihm alle Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu räumen. Ich glaube Übrigens, er ist jetzt schon nicht mehr so anspruchsvoll.

Alexandra. O nein; er zeigt es nur nicht mehr so. Nach Tisch ist er sehr verstimmt in sein Zimmer gegangen.

Maria. Was kann ich dabei machen? Was soll ich anfangen? Wir müssen doch alle leben. Sind jetzt sieben Kinder. Wenn man ihnen nicht ab und an zu Hause ein kleines Vergnügen bietet, stellen sie Gott weiß was an. Ich hin nur glücklich, daß es mit Ljuba so gekommen ist.

Alexandra. Hat er schon seinen Antrag gemacht?

Maria. So ungefähr. Er hat mit ihr gesprochen, und sie hat ihm ihr Jawort gegeben.

Alexandra. Das ist wieder ein schwerer Schlag für ihn.

Maria. Aber er weiß es doch. Muß es längst wissen.

Alexandra. Er kann ihn nicht ausstehen.

Maria (zu den Dienern). Stellen Sie die Früchte aufs Büfett. – Wen? Alexander Michailowitsch? Natürlich liebt er ihn nicht, weil Alexander der verkörperte Widerspruch gegen all seine Theorien ist: ein lieber, guter, angenehmer Mensch und dabei Weltmann. Ach, dieser unglückliche Boris, der wie ein Alp auf mir lastet – was macht er eigentlich?

Alexandra. Lisa war bei ihm. Er ist immer noch »dort«. Soll schrecklich abgemagert sein; die Ärzte fürchten für sein Leben oder seinen Verstand.

Maria. Den hat er mit seinen Ideen tatsächlich so weit gebracht. Warum mußte er zugrunde gehen! Ich habe die Verbindung übrigens nie gewünscht.

Ein Klavierspieler (tritt ein).

Zweiter Auftritt.

Die Vorigen und der Klavierspieler.

Maria. Sie sind der Klavierspieler?

Klavierspieler. Jawohl, gnädige Frau.

Maria. Bitte, nehmen Sie Platz. Es dauert noch etwas. Vielleicht wünschen Sie Tee?

Klavierspieler. Nein, danke. (Er geht zum Flügel).

Maria. War stets dagegen. Ich hatte Boris sehr gern, trotzdem war er keine Partie für Ljuba. Besonders, als er sich für Nikolai Iwanowitschs Ideen begeisterte.

Alexandra. Erstaunlich bleibt doch diese Überzeugungskraft! Was hat er auszustehen! Man sagt ihm, wenn er nicht nachgäbe, würde er entweder im Irrenhause bleiben oder auf Festung kommen. Trotzdem wiederholt er stets dasselbe. Und wie Lisa sagt, ist er froh, ja heiter gestimmt.

Maria. Diese Fanatiker. Da ist übrigens Alexander Michailowitsch.

Alexander Michailowitsch Starkowski (elegante Erscheinung im Frack, tritt ein).

Dritter Auftritt.

Die Vorigen und Starkowski.

Starkowski, Ich komme wohl zu früh? (Er küßt beiden Damen die Hand).

Maria. Um so besser.

Starkowski. Wie geht es Ihrem Fräulein Tochter? Sie wollte beim Tanz alles Versäumte nachholen, und ich hatte die Absicht, ihr zu helfen.

Maria. Sie macht die Kotillonsachen zurecht.

Starkowski. Da werde ich ihr helfen – darf ich?

Maria, Sehr liebenswürdig.

Starkowski (will gehen).

Ljuba (kommt ihm mit einem Kissen voll Orden und Bändern entgegen)

Vierter Auftritt.

Die Vorigen und Ljuba.

Ljuba (in Abendtoilette, nicht dekolletiert). Ach, da sind Sie. Das ist schön. Sie können mir helfen. Da im Gastzimmer liegen noch zwei Kissen, die bringen Sie bitte her. Guten Abend, guten Abend!

Starkowski. Ich eile, ich fliege. (Er gebt ab).

Fünfter Auftritt.

Maria Iwanowna. Alexandra Iwanowna.

Maria (zu Ljuba). Hör mal, Ljuba. Heute kommen Bekannte, die Anspielungen und Fragen stellen. Darf ich die Verlobung bekanntgeben?

Ljuba. Ach nein, Mama, nein. Wozu? Laß sie doch fragen. Es ist Papa so unangenehm.

Maria. Aber er weiß es doch, oder errät es. Früher oder später muß man ihn doch einweihen. Ich denke, es ist am besten, heute alles bekanntzugeben. Es weiß ja jedes Kind ...

Ljuba. Nein, nein, Mama, bitte nicht. Du verdirbst mir den ganzen Abend. Es ist wirklich nicht nötig.

Maria. Wie du willst, mein Kind.

Ljuba. Oder höchstens ganz gegen Schluß, eh' wir zu Tisch gehen.

Starkowski (kommt).

Sechster Auftritt.

Die Vorigen und Starkowski.

Ljuba. Nun, haben Sie die Sachen?

Marie. Also ich werde mal nach Natalie sehen. (Sie geht mit Alexandra Iwanowna ab).

Siebenter Auftritt.

Ljuba und Starkowski.

Starkowski (trägt vier Kissen; von denen er eins mit dem Kinn stützt und unterwegs fallen läßt). Bitte, bemühen Sie sich nicht, ich hebe es sofort auf.

Ljuba. Ach, was haben Sie da gemacht! Hätten die Sachen richtig verteilen müssen. Wanja, komm mal her.

Achter Auftritt.

Die Vorigen und Wanja.

Wanja (bringt noch mehr Kissen). Jetzt sind es alle. Ljuba, Alexander Michailowitsch und ich haben gewettet, wer am meisten Orden bekommt.

Starkowski. Du hast es gut, du kennst alle, ich dagegen muß die Mädchenherzen erst erobern, um meine Belohnung zu erhalten. Trotzdem gebe ich dir vierzig Points vor.

Wanja. Dafür bist du auch Bräutigam und ich noch ein Schuljunge.

Ljuba. Wanja, geh doch bitte in mein Zimmer und hol mir den Gummi und das Nadelkissen von der Etagere.

Wanja (setzt sich in Bewegung).

Ljuba. Aber mach um Gottes willen nichts entzwei!

Wanja. Alles mach' ich entzwei. (Er läuft fort).

Neunter Auftritt.

Ljuba und Starkowski.

Starkowski (faßt Ljuba bei der Hand). Ljuba, darf ich? Ich bin so glücklich. (Er küßt ihre Hand). Die Masurka ist mein, aber die genügt mir nicht. Dabei kann man sich so wenig unterhalten. Und ich habe so viel auf dem Herzen. Darf ich meinen Eltern telegraphieren, daß ich glücklicher Bräutigam bin?

Ljuba. Ja, heute abend.

Starkowski. Und noch eins: wie wird dein Vater die Nachricht aufnehmen? Habt ihr mit ihm gesprochen, ja?

Ljuba. Ich nicht. Aber ich werde es ihm sagen. Er wird die Nachricht aufnehmen, wie alles, was die Familie betrifft; wird sagen: tu, was du für richtig hältst. Aber innerlich wird er traurig sein..

Starkowski. Weil ich nicht Tscheremschanow bin, sondern Kammerjunker und Adelsmarschall?

Ljuba. Ja. Ich habe mit mir selbst gekämpft, mich seinetwillen belogen. Nicht, weil ich ihn zu wenig liebe, kann ich nicht auf das eingehen, was er will, sondern weil ich mich nicht verstellen kann. Mein sehnlicher Wunsch ist: leben, leben!

Starkowski. Das ist auch das einzig Wahre. Na, aber Tscheremschanow?

Ljuba (erregt). Sprich nicht von ihm. Ich könnte mich hinreißen lassen, ihn zu verurteilen, jetzt, wo er leidet. Und ich weiß, daß das daher rührt, daß ich vor ihm schuldig bin. Ich weiß aber auch, daß es eine Liebe, eine wahre Liebe gibt, die ich für ihn nie empfunden habe.

Starkowski. Ljuba, ist das wahr?

Ljuba. Du möchtest von mir hören, daß ich diese wahre Liebe für dich empfinde? Aber das kann ich nicht. Gewiß, ich liebe dich anders – aber auch nicht richtig. Wenn man das eine und das andere zusammentun könnte ...

Starkowsi. Nun, ich bin schon zufrieden. Ljuba! (Er küßt ihr die Hand).

Ljuba (abwehrend). Nein, wir wollen hier aufräumen. Da kommen schon Gäste.

Die Fürstin (kommt mit Tonja und einem kleinen Mädchen).

Zehnter Auftritt.

Die Vorigen und die Fürstin mit Tonja und dem kleinen Mädchen.

Ljuba. Mama muß sofort erscheinen.

Fürstin. Sind wir die ersten?

Starkowski. Irgend jemand muß den Anfang machen. Vielleicht wird nächstens eine Gummipuppe erfunden, die immer die erste ist.

Stefan (tritt ein).

Wanja (bringt die gewünschten Sachen).

Elfter Auftritt.

Die Vorigen. Stefan und Wanja.

Stefan. Ich hoffte, Sie gestern bei den Italienern zu treffen?

Tonja. Wir waren bei Tante; haben Armenkleider genäht.

Studenten, Damen, Maria Iwanowna, eine Gräfin Kommen.

Zwölfter Auftritt.

Die Vorigen. Maria Iwanowna, die Gräfin, Studenten und Damen.

Gräfin. Werden wir Nikolai Iwanowitsch nicht sehen?

Maria. Nein, er kommt nie aus seinem Zimmer.

Starkowski. Bitte zur Quadrille die Herrschaften. (Er klatscht in die Hände. Man nimmt Aufstellung und tanzt).

Alexandra (tritt zu Maria Iwanowna). Er ist schrecklich erregt. War bei Boris, und als er nach Hause kommt, sieht er die Vorbereitungen zum Ball. Jetzt will er fort. Ich stand an der Tür und hörte seine Unterhaltung mit Alexander Petrowitsch.

Maria. Worüber denn?

Starkowski. Rond des Dames. Les cavaliers en avant.

Alexandra. Er erklärt es für unmöglich, hier weiter zu leben, und geht fort.

Maria. Was für ein Quälgeist ist dieser Mann! (Sie geht ab).

 

Verwandlung.

Nikolai Iwanowitschs Zimmer.

Gedämpfte Klänge der Musik. Nikolai Iwanowitsch, im Überzieher, legt einen Brief auf den Tisch. Bei ihm der zerlumpte Alexander Petrowitsch.

Erster Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch und Alexander Petrowitsch.

Alexander. Seien Sie unbesorgt, bis zum Kaukasus kommen wir ohne einen Groschen. Und dort richten Sie sich schon ein.

Nikolai. Bis Tula fahren wir, und dann geht's zu Fuß. Nun ist alles fertig.

(Er legt den Brief mitten auf den Tisch und will hinausgehen. Da stößt er auf Maria Iwanowna).

Zweiter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch, Alexander Petrowitsch und Maria Iwanowna.

Nikolai. Nun, was willst du hier?

Maria. Was ich will? Ich will verhindern, daß du deine Grausamkeit auf die Spitze treibst. Warum das? Warum?

Nikolai. Weil ich nicht länger so leben kann. Ich kann dieses entsetzliche, durch und durch unmoralische Leben nicht ertragen.

Maria. Das ist fürchterlich. Mein Leben, das ich ganz dir und den Kindern widme, soll plötzlich unmoralisch sein! (Sie erblickt Alexander Petrowitsch). Renvoyez au moins cet homme. Je ne yeux pas qu'il soit témoin de cette conversation.

Alexander. Je comprends, madame; je pars aussitot. »Schick wenigstens diesen Menschen fort. Ich will nicht, daß er Zeuge dieser Unterhaltung wird.« »Ich verstehe, gnädige Frau. Ich reise sofort ab.«

Nikolai. Erwarten Sie mich dort, Alexander Petrowitsch, ich komme sogleich.

Alexander (geht ab).

Dritter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch und Maria Iwanowna.

Maria. Was kannst du mit solchem Menschen gemein haben? Weshalb steht er dir näher als deine Frau? Das ist einfach unverständlich. Wohin willst du jetzt?

Nikolai. Ich habe dir einen Brief hinterlassen. Ich wollte nicht mit dir sprechen; es wird mir zu schwer. Wenn du aber willst, werde ich dir alles sagen, so ruhig ich nur kann.

Maria. Nein, ich kann dich nicht verstehen. Weshalb haßt und folterst du dein Weib, das dir alles hingegeben hat. Sag: habe ich Bälle besucht, mich geputzt, kokettiert? Mein ganzes Leben gehörte der Familie. Alle Kinder habe ich selbst genährt, erzogen; im letzten Jahre lag die ganze Last der Erziehung und all die geschäftlichen Sorgen auf meinen Schultern ...

Nikolai (sie unterbrechend). Das kam daher, weil du nicht so leben wolltest, wie ich dir vorschlug.

Maria. Ach, das ist ja unmöglich. Frag die ganze Welt. Wie kann ich die Kinder ohne jeden Unterricht lassen, wie deine Absicht ist, und selbst waschen und kochen.

Nikolai. Das habe ich nie gewollt.

Maria. Na, dann ungefähr so. Nein, du willst Christ sein, willst Gutes tun, sagst, du liebst die Menschen. Warum folterst du dann die Frau, die dir ihr ganzes Leben hingegeben hat?

Nikolai. Wieso foltere ich dich? Ich liebe dich, aber ...

Maria. Ist das keine Tortur, wenn du mich verstößt und fortgehst? Was werden die Leute sagen? Eins von beiden ist nur möglich? entweder bin ich ein verworfenes Frauenzimmer, oder du bist verrückt.

Nikolai. Vielleicht bin ich verrückt; jedenfalls kann ich so nicht weiterleben.

Maria. Was ist denn Schreckliches dabei, daß ich den ganzen Winter ein einziges Mal – in ewiger Sorge, es könnte dir unangenehm sein – bei uns tanzen lasse! Frag Wanja und Barbara Wassiljewna – alle haben mir gesagt, es ginge nicht anders, es sei unbedingt nötig. Und das soll nun ein Verbrechen sein, für das ich diese Schande auf mich nehmen muß! Ja, nicht nur Schande – das Schlimmste ist, daß du mich nicht mehr liebst; du liebst die ganze Welt, bis zu diesem betrunkenen Alexander Petrowitsch und dennoch liebe ich dich, kann nicht ohne dich leben. Warum das, warum? (Sie weint).

Nikolai. Du willst mein Leben, mein geistiges Leben nicht verstehen.

Maria. Ich will es, kann es aber nicht. Ich sehe, daß dein Christentum bewirkt, daß du mich, deine Familie haßt. Wozu das nötig ist, begreife ich nicht.

Nikolai. Andere begreifen es.

Maria. Wer denn? Alexander Petrowitsch, der dich anbettelt?

Nikolai. Er und andere, wie Tonja und Wassili Nikanorowisch. Aber darauf kommt es nicht an. Wenn niemand mich verstehen würde, würde das nichts ändern.

Maria. Wassili Nikanorowitsch hat Buße getan und sein Amt wieder angetreten. Tonja tanzt in diesem Augenblick und flirtet mit Stefan.

Nikolai. Das ist sehr traurig, kann aber nicht bewirken, daß Schwarz Weiß wird, und kann mein Leben nicht ändern. Mascha! Ich bin für dich nicht nötig. Laß mich gehen. Ich habe versucht, an eurem Leben teilzunehmen, in dieses Leben das hineinzutragen, was für mich alles bedeutet. Es ist unmöglich. Die Folge ist nur, daß ich euch und mich quäle. Mich nicht nur quäle, sondern das Werk, das ich vorhabe, zuschanden mache. Jeder Mensch, wie zum Beispiel dieser Alexander Petrowitsch, hat das Recht, mir zu sagen, ich sei ein Betrüger, der nicht so handelt, wie er spricht, der nach dem Evangelium Armut predigt, selbst aber in Luxus lebt unter dem Vorwande, alle Habe an seine Frau abgetreten zu haben.

Maria. Du schämst dich vor den Leuten? Kannst du dich darüber nicht erheben?

Nikolai. Ich schäme mich nicht – oder doch nur wenig aber ich richte das Werk Gottes zugrunde.

Maria. Du hast selbst gesagt, daß dieses Werk auch dann geschieht, wenn wir uns ihm widersetzen. Doch darum handelt es sich nicht. Sag, was du von mir forderst.

Nikolai, Das habe ich schon gesagt.

Maria. Aber Nikolas, du weißt doch, daß das unmöglich ist. Bedenk doch, Ljuba soll jetzt heiraten. Wanja bezieht die Universität. Mischa und Katja besuchen die Schule soll denn das alles unterbrochen werden?

Nikolai. Also was soll ich jetzt tun?

Maria. Was du selbst predigst: ausharren, uns lieben. Wird dir das so schwer? Ertrag nur unsere Gegenwart, entzieh dich uns nicht. Was quält dich denn so?

Wanja (kommt hereingelaufen).

Vierter Auftritt.

Die Vorigen und Wanja.

Wanja. Mama, du wirst gerufen.

Maria. Sag, ich könnte jetzt nicht. Geh, geh.

Wanja. Komm aber bald. (Er geht ab).

Fünfter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch und Maria Iwanowna.

Nikolai. Du willst nichts sehen und mich nicht begreifen.

Maria. Ich will schon, aber ich kann nicht.

Nikolai. Nein, du willst nicht, wir kommen immer mehr auseinander. Dring einmal in mein Inneres ein, versetz dich einen Augenblick in meinen Zustand, so wirst du mich verstehen. Zunächst ist unser ganzes Leben hier unmoralisch. Du bist böse über dieses Wort, ich kann aber ein Leben, das ganz und gar auf Ausbeutung anderer beruht, nicht anders nennen. Das Geld, von dem ihr lebt, ist der Ertrag des Landes, das ihr dem Volk abgenommen habt. Außerdem sehe ich, daß dieses Leben die Kinder verdirbt. »Wehe dem, der dieser Geringsten einen ärgert«, heißt es; ich aber sehe, wie die Kinder vor meinen Augen verdorben werden und zugrunde gehen. Ich kann es nicht mit ansehen, daß erwachsene Menschen, gleich Sklaven, in Livreen gesteckt werden und uns bedienen müssen. Jedes Mittagessen ist für mich eine Qual.

Maria. Aber das war doch immer so, bei allen, im Auslande und überall.

Nikolai. Seitdem ich begriffen habe, daß alle Menschen Brüder sind, kann ich das nicht mehr mit ansehen und darunter leiden.

Maria. Es steht doch aber jedem frei. Schließlich kann man sich alles ausdenken.

Nikolai (erregt). Diese Verständnislosigkeit ist aber wirklich schrecklich. Heute zum Beispiel. Ich bin morgens im Asyl für Obdachlose, sehe, wie da ein Kind direkt vor Hunger stirbt, wie ein Knabe Alkoholiker geworden ist, wie eine schwindsüchtige Wäscherin Wäsche spült. Dann komme ich nach Hause, ein Diener in weißer Binde öffnet mir die Tür; ich sehe, wie mein Herr Sohn sich von dem Diener Wasser bringen läßt, sehe diese Armee von Bedienten, die für uns arbeiten. Darauf fahre ich zu Boris, einem Menschen, der für die Wahrheit sein Leben läßt, sehe, wie man den gesunden, kräftigen, entschlossenen Mann mit Vorbedacht dem Wahnsinn und Verderben in die Arme jagt, um ihn los zu werden. Die Leute wissen, daß er einen Herzfehler hat, und erregen und reizen ihn, schleppen ihn ins Irrenhaus. Nein, das ist fürchterlich, fürchterlich. Und dann komme ich nach Hause und erfahre, daß die eine Tochter, die nicht mich, sondern die Wahrheit verstanden hatte, daß die gleichzeitig ihrem Bräutigam, dem sie ihre Liebe versprochen, und der Wahrheit entsagt hat und einen Lakaien und Lügner heiraten will ...

Maria. Nennst du das christlich gedacht?

Nikolai. Nein, es ist häßlich, ich fühle mich schuldig; aber ich will doch nur, daß du dein Ich einmal in das meinige hineinversetzt. Ich sage nur, sie hat der Wahrheit entsagt ...

Maria. Du sagst: der Wahrheit; andere, die meisten, sagen: dem Irrtum. Wassili Nikanorowitsch glaubte auch, er sei auf falschem Wege – jetzt ist er aber in den Schoß der Kirche zurückgekehrt.

Nikolai. Nicht möglich

Maria. Er hat Lisa geschrieben; sie wird dir den Brief zeigen. Lauter vorübergehende Erscheinungen. So auch mit Tonja; ganz zu geschweigen von Alexander Petrowitsch, der die Sache einfach ausnutzt.

Nikolai (ärgerlich). Einerlei. Ich bitte nur, mich zu verstehen. Wahrheit bleibt für mich stets Wahrheit. Aber das alles tut sehr weh. Dort sterben Leute Hungers, hier sehe ich diesen Ball, der Hunderte verschlingt. Ich kann so nicht leben. Hab Erbarmen mit mir, ich bin am Ende meiner Kraft. Laß mich gehen. Leb wohl.

Maria, Wenn du gehst, gehe ich mit dir. Wenn ich dich nicht begleiten kann, werfe ich mich unter die Räder des Zuges, mit dem du fortfährst. Dann mögen alle zugrunde gehen, mit Mischa und Katja. Mein Gott, mein Gott! Diese Qual! Wofür das, wofür? (Sie weint).

Nikolai (in der Tür). Alexander Petrowitsch, gehen Sie nach Hause. Ich fahre nicht. Ich bleibe, schön. (Er legt den Rock ab).

Maria (umarmt ihn). Wir haben nicht mehr lange zu leben. Laß uns unser Leben nicht nach achtundzwanzig jähriger Ehe verderben. Ich werde keine Bälle mehr geben. Aber straf mich nicht auf diese Weise.

Sechster Auftritt.

Die Vorigen. Wanja und Katja.

Wanja und Katja (kommen hereingelaufen). Mama, komm doch schnell.

Maria. Ich komme schon, ich komme. Also wollen wir uns gegenseitig verzeihen.

(Sie geht mit Wanja und Katja ab).

Siebenter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch allein.

Nikolai. Ein Kind, genau wie ein Kind, oder ein listiges Weib. Nein, ein listiges Kind. Ja, ja. Herr Gott, ich sehe, du willst nicht, daß ich an deinem Werk mitarbeite; ich soll erniedrigt werden, auf daß alle mit dem Finger auf mich deuten und sagen: er redet, handelt aber nicht. Nun, mag es so sein. Du weißt am besten, was not tut. Demut, Herzenseinfalt. Wenn ich nur zu Ihm gelange.

Lisa (kommt).

Achter Auftritt.

Nikolai Jwanowitsch und Lisa.

Lisa, Verzeihen Sie, ich bringe Ihnen einen Brief von Wassili Nikanorowitsch. Er schreibt an mich, bittet aber, Ihnen Mitteilung zu machen.

Nikolai. Ist es denn wahr?

Lisa. Ja. Soll ich vorlesen? *

Nikolai. Lies nur.

Lisa (liest). »Ich schreibe Ihnen – und bitte Sie, Nikolai Iwanowitsch Mitteilung zu machen. Ich bedaure die Verirrung, in der ich offen von der heiligen, griechisch-katholischen Kirche abgefallen bin, und freue mich, in ihren Schoß zurückgekehrt zu sein. Ihnen und Nikolai Iwanowitsch wünsche ich dasselbe. Bitte, verzeihen Sie mir.«

Nikolai. Wie wird man den Ärmsten gequält haben! Trotzdem ist es schrecklich.

Lisa. Dann möchte ich Ihnen noch sagen, daß die Fürstin da ist. Sie kam schrecklich erregt zu mir nach oben und will Sie unter allen Umständen sprechen. Sie kommt von ihrem Sohn. Ich glaube, es ist besser, Sie empfangen sie nicht. Was kann aus der Unterredung herauskommen?

Nikolai. Nein, bring sie nur her. Dies scheint heute ein schrecklicher Tag der Prüfungen zu sein.

Lisa. Also ich hole sie. (Sie geht ab).

Neunter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch allein.

Nikolai. Ja, ja, nur stets daran denken, daß das Leben im Dienste des Höchsten besteht, daß, wenn Er mir Prüfungen schickt, es geschieht, weil Er mich für stark genug hält, sie zu ertragen. Sonst wären es keine Prüfungen… Vater! hilf mir, nicht meinen, sondern Deinen Willen zu tun.

Die Fürstin (tritt ein).

Zehnter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch und die Fürstin.

Fürstin. Also man würdigt mich wirklich, empfangen zu werden. Alle Achtung! Die Hand gebe ich Ihnen nicht, weil ich Sie hasse und verachte.

Nikolai. Was ist denn geschehen?

Fürstin. Ins Strafbataillon wird er gesteckt. Und das haben Sie fertig gebracht.

Nikolai. Fürstin, wenn Sie etwas von mir wünschen, so sagen Sie es; wenn Sie mich aber nur schelten wollen, schaden Sie sich selbst. Kränken können Sie mich nicht, weil ich Sie von ganzem Herzen bedaure und Mitleid mit Ihnen habe.

Fürstin. Schönes Mitleid, dieses Pharisäertum! Nein, Herr Sarynzew, mich betrügen Sie nicht. Wir kennen Sie jetzt. Meinen Sohn haben Sie zugrunde gerichtet, das macht Ihnen nichts aus – aber Sie selbst geben Bälle, und die Braut meines Sohnes, Ihre Tochter, heiratet einen anderen, macht eine Partie, die Ihnen gefällt. Dabei predigen Sie Einfachheit, Rückkehr zur Natur, machen Tischlerarbeit. O, wie ich Sie verabscheue in Ihrem neuen Pharisäertum!«

Nikolai. Fürstin, beruhigen Sie sich. Sagen Sie, was Sie von mir wünschen. Sie sind doch nicht nur hergekommen, um mich zu beschimpfen.

Fürstin. Deshalb auch. Ich muß meinen Schmerz auslassen. Und ich wünsche von Ihnen folgendes. Er wird ins Strafbataillon gesteckt. Das ertrage ich nicht. Sie haben es dahin gebracht. Sie, Sie, Sie!

Nikolai. Nicht ich, sondern Gott. Und Gott sieht, wie sehr Sie mir leid tun. Widersetzen Sie sich Gottes Willen nicht. Er will Sie prüfen. Ertragen Sie diese Prüfung.

Fürstin. Das kann ich nicht. Mein Sohn war mein ganzes Leben; Sie haben ihn mir genommen und ins Verderben gestürzt. Da kann ich nicht ruhig sein. – Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen das zu sagen. Es ist mein letzter Versuch. Sie haben ihn unglücklich gemacht, Sie müssen/ihn retten. Fahren Sie hin, bewirken Sie, daß er freigelassen wird. Fahren Sie zu den Vorgesetzten, zum Zaren, zu wem Sie wollen. Sie sind dazu verpflichtet. Wenn Sie sich weigern, weiß ich, was ich tue. Sie sind für ihn verantwortlich.

Nikolai. Sagen Sie mir, was ich tun soll. Ich bin zu allem bereit.

Fürstin. Ich wiederhole nochmals: Sie müssen ihn retten. Wenn Sie es nicht tun, sollen Sie es büßen. Ich gehe.

(Sie geht ab).

Elfter Auftritt.

Nikolai Jwanowitsch allein. Dann Stefan.

Nikolai (legt sich auf das Sofa).

(Schweigen. Die Tür wird geöffnet. Man hört Musik: »Großvatertanz«).

Stefan (eintretend).. Papa ist nicht hier, kommt nur.

Große und kleine Paare (treten ein).

Zwölfter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch, Stefan und die Paare.

Ljuba (erkennt den Vater). – Ach, du bist hier, entschuldige.

Nikolai (erhebt sich). Es macht nichts.

Die Paare (Ziehen vorüber).

Dreizehnter Auftritt.

Nikolai Iwanowitsch allein.

Nikolai. Der junge Priester hat sich bekehrt; Boris habe ich ins Unglück gestürzt; Ljuba heiratet. Bin ich wirklich

auf falschem Wege? Ist es verkehrt, an Dich zu glauben? Nein, nein! Vater im Himmel, hilf mir!

 


188…;1900; 1902.

Unter den nachgelassenen Manuskripten Tolstois findet sich weiter folgende Skizze des fünften Aufzuges, der aus drei Auftritten bestehen sollte:


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