Richard Wagner
Oper und Drama
Richard Wagner

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das, was das Orchester zunächst nach seinem besonderen Vermögen auszudrücken hat, ist – wie wir sahen – die dramatische Gebärde der Handlung. Beachten wir nun, welchen Einfluß auf die notwendig erforderliche Gebärde der Umstand haben muß, daß der Sänger ohne Sprache singt. Der Sänger, der nicht weiß, daß er der Darsteller einer zunächst sprachlich ausgedrückten und bestimmten, dramatischen Persönlichkeit ist, demnach auch nicht den Zusammenhang seiner dramatischen Kundgebung mit der der ihn berührenden Persönlichkeiten kennt – somit selbst nicht weiß, was er ausdrückt, ist folglich ganz gewiß auch nicht imstande, die zum Verständnis der Handlung erforderliche Gebärde dem Auge kundzugeben. Er wird, sobald sein Vortrag der eines sprachlosen musikalischen Instrumentes ist, sich durch die Gebärde entweder gar nicht ausdrücken, oder sie nur in der Weise gebrauchen, wie ungefähr der Instrumentalvirtuos sich genötigt sieht, zur Hervorbringung des Tones in verschiedenen Lagen und in verschiedenen Momenten des sinnlichen Ausdruckes, sich ihrer als einer physisch ermöglichenden zu bedienen. Diese physisch notwendigen Momente der Gebärde sind dem vernünftigen Dichter und Musiker unwillkürlich gegenwärtig gewesen: er kennt ihre Erscheinung im voraus; er hat sie aber zugleich in Übereinstimmung mit dem Sinne des dramatischen Ausdruckes gesetzt und ihnen somit die Eigenschaft einer bloß physisch ermöglichenden Hülfe genommen, indem er eine durch den physischen Organismus, zur Hervorbringung dieses Tones und dieses besonderen musikalischen Ausdruckes, bedingte Gebärde genau mit der Gebärde in Einklang setzte, die zugleich dem ausgedrückten Sinne in der Kundgebung der dramatischen Persönlichkeit entsprechen soll, und zwar in der Weise, daß die dramatische Gebärde, die ihren Grund allerdings auch in einer physisch bedingten haben muß, diese physische nach einer höheren, dem dramatischen Verständnisse nötigen Bedeutung rechtfertigen, sie als rein physische somit decken und aufheben soll. Dem nach den Regeln der absoluten Gesangskunst geschulten Theatersänger ist nun eine gewisse Konvention gelehrt worden, nach welcher er auf der Bühne seinen Vortrag durch die Gebärde zu begleiten habe. Diese Konvention besteht in nichts anderem als in einer, der Tanzpantomime entnommenen, Veranständigung der physisch durch den Gesangsvortrag bedingten Gebärde, die bei ungeschulteren Sängern in die groteskeste Übertreibung und Roheit ausartet. Diese konventionelle Gebärde, die an und für sich nur dazu wirkt, den abgehenden Sprachsinn der Melodie noch vollkommen zu verdecken, bezieht sich aber auch nur auf die Stellen des Dramas, wo der Darsteller wirklich singt: sobald er damit aufhört, hält er sich auch für die Gebärde zu keiner weiteren Kundgebung verpflichtet. Unsre Opernkomponisten haben nun die Pausen des Gesanges zu Orchesterzwischenspielen benutzt, in denen entweder einzelne Instrumentisten ihre besondere Geschicklichkeit zu zeigen hatten oder der Komponist selbst die Aufmerksamkeit des Publikums auf seine Kunst der Instrumentalweberei zu ziehen sich vorbehielt. Diese Zwischenspiele werden von den Sängern, sobald sie nicht mit dankenden Verbeugungen für erhaltenen Applaus beschäftigt sind, wiederum nach gewissen Regeln des theatralischen Anstandes ausgefüllt: man geht auf die andere Seite des Proszeniums oder schreitet nach dem Hintergrunde – wie um zu sehen, ob jemand käme, tritt wieder nach vorn und schlägt die Augen gen Himmel. Weniger für anständig, dennoch aber für erlaubt und durch die Verlegenheit gerechtfertigt gilt es, wenn man sich während solcher Pausen zu den Mitspielenden neigt, verbindlich mit ihnen sich unterhält, die Falten des Gewandes in Ordnung bringt, oder endlich auch gar nichts tut, und geduldig das Orchesterschicksal über sich ergehen läßt.Soll ich der Ausnahmen erwähnen, die gerade dadurch, daß sie ohne Einfluß auf sie blieben, uns die Macht der Regel gezeigt haben?

Zu diesem Gebärdenspiele unsrer Opernsänger, das ihnen durch den Geist und die Form der übersetzten Opern, in denen sie fast einzig zu singen gewohnt sind, geradesweges diktiert ist, halte man nun die notwendigen Anforderungen des von uns gemeinten Dramas und schließe aus der vollständigen Nichterfüllung dieser Anforderungen auf den verwirrenden Eindruck, den das Orchester auf den Zuhörer hervorbringen muß. Das Orchester, nach der Wirksamkeit, die wir ihm verliehen, war in seinem Vermögen des Ausdruckes des Unaussprechlichen namentlich dazu bestimmt, die dramatische Gebärde in der Weise zu tragen, zu deuten, ja gewissermaßen erst zu ermöglichen, daß das Unaussprechliche der Gebärde durch seine Sprache uns zum vollen Verständnisse gebracht würde. Es nimmt somit jeden Augenblick den rastlosesten Anteil an der Handlung, deren Motiven und Ausdruck; und seine Kundgebung soll grundsätzlich an sich keine vorausbestimmte Form haben, sondern seine einigste Form erst durch seine Bedeutung, durch sein anteilnehmendes Verhalten zum Drama, durch Einswerden mit dem Drama gewinnen. Nun denke man sich z. B. eine leidenschaftlich energische Gebärde des Darstellers, die sich plötzlich und mit schnellem Verschwinden kundgibt, vom Orchester gerade so begleitet und ausgedrückt, wie diese Gebärde es bedarf: – bei vollkommener Übereinstimmung muß dies Zusammenwirken von der ergreifendsten, sicher bestimmendsten Wirkung sein. Die bedingende Gebärde fällt auf der Bühne aber nun aus, und wir gewahren den Darsteller in irgendwelchen gleichgültigen Stellung: wird nun der plötzlich ausbrechende und heftig verschwindende Orchestersturm uns nicht als ein Ausbruch der Verrücktheit des Komponisten erscheinen? – Wir können nach Belieben diese Fälle vertausendfältigen: von allen denkbaren seien nur folgende angeführt.

Eine Liebende entließ soeben den Geliebten. Sie betritt einen Standpunkt, von dem aus sie ihm in die Ferne nachblicken kann; ihre Gebärde verrät unwillkürlich, daß der Scheidende noch einmal sich gegen sie umwendet; sie sendet ihm einen stummen letzten Liebesgruß zu. Diesen anziehenden Moment begleitet und deutet uns das Orchester in der Weise, daß es den vollen Gefühlsinhalt jenes stummen Liebesgrußes uns durch die gedenkende Vorführung der Melodie vergegenwärtigt, die zuvor die Darstellerin in dem wirklich gesprochenen Gruße uns kundtat, mit welchem sie den Geliebten empfing, ehe sie ihn entließ. Diese Melodie, wenn sie zuvor von einer sprachlosen Sängerin gesungen war, macht bei ihrer Wiederkehr an und für sich nicht den sprechenden, Gedenken erweckenden Eindruck, den sie jetzt hervorbringen soll; sie erscheint uns nur als die Wiederholung eines vielleicht lieblichen Themas, das der Komponist noch einmal vorführt, weil es ihm selbst gefallen hat und er damit zu kokettieren sich für berechtigt hält. Faßt die Sängerin dieses Nachspiel aber eben nur als ein »Orchesterritornel« auf, führt sie jenes Gebärdenspiel gar nicht aus und bleibt sie dafür gleichgültig im Vordergrunde stehen – um eben nur den Verlauf eines Ritornels abzuwarten, so gibt es für den Zuhörer gar nichts Peinlicheres als jenes Zwischenspiel, das, ohne Sinn und Bedeutung, gerade nur eine Länge ist und füglich gestrichen sein sollte.

Ein anderer Fall ist aber endlich der, wo eine durch das Orchester verständlichte Gebärde geradesweges von entscheidender Wichtigkeit ist. – Eine Situation hat sich abgeschlossen; Hindernisse sind beseitigt, die Stimmung ist befriedigt. Dem Dichter, der aus dieser Situation eine folgende als notwendig ableiten will, liegt aus dieser zu verwirklichenden Absicht daran, jene Stimmung als in Wahrheit nicht vollkommen befriedigend, jene Hindernisse der bisherigen Situation nicht als gänzlich beseitigt empfinden zu lassen; es kommt ihm darauf an, die scheinbare Beruhigung der dramatischen Personen uns als eine Selbsttäuschung derselben erkennen zu lassen und deshalb unser Gefühl so zu stimmen, daß wir eine weitere, veränderte Entwickelung der Situation aus unsrer mitschaffenden Sympathie als notwendig bedingen, und er führt uns zu diesem Zwecke die bedeutungsvolle Gebärde einer geheimnisvollen Person vor, mit welcher diese, aus deren bis jetzt enthüllten Motiven wir für eine schließlich befriedigende Lösung in Besorgnis sind, der entscheidenden Person droht. Der Inhalt dieser Drohung soll uns als Ahnung erfüllen, und das Orchester soll den Charakter dieser Ahnung uns verdeutlichen, und vollständig kann es das nur, wenn es sie an eine Erinnerung knüpft; er bestimmt zu diesem wichtigen Momente daher die scharf und energisch betonte Wiederholung einer melodischen Phrase, die wir bereits früher als den musikalischen Ausdruck eines auf die Drohung beziehungsvollen Wortverses vernommen haben, und die von der charakteristischen Beschaffenheit ist, daß sie uns das Gedenken an eine frühere Situation deutlich hervorruft und jetzt, im Verein mit der drohenden Gebärde, uns zur ergreifenden und das Gefühl unwillkürlich bestimmenden Ahnung wird. – Diese drohende Gebärde fällt nun aber aus; die Situation hinterläßt auf uns den Eindruck einer vollkommen befriedigenden; nur das Orchester macht sich gegen alle Erwartung plötzlich mit einer musikalischen Phrase breit, deren Sinn wir dem früheren sprachlosen Sänger nicht haben abgewinnen können und deren Kundgebung an diesem Orte wir daher für eine phantastische, rügenswürdige Willkür des Komponisten halten. –

Dies sei genug, um die demütigenden weiteren Konsequenzen auf das Verständnis unsres Dramas zu ziehen! –

Ich habe allerdings hier der gröbsten Verstöße erwähnt; daß sie aber auf Bühnen, die noch vom besten Geiste beseelt sind, dennoch in jeder Opernaufführung vorkommen können, wird sowohl niemand in Abrede stellen, der das Wesen dieser Aufführung vom Standpunkte der dramatischen Forderung aus beobachtet hat, als es uns einen Begriff von der künstlerischen Entsittlichung zu geben vermag, die unter unsren Bühnensängern namentlich durch den hervorgehobenen Umstand eingerissen ist, daß sie meist nur übersetzte Opern singen. Denn, wie gesagt, bei Italienern und Franzosen findet man das, was ich hier rügte, nicht, oder doch bei weitem nicht in dem Grade – und bei den Italienern schon deswegen nicht, weil die Opern, die sie zu singen haben, durchaus keine anderen Anforderungen an sie stellen als die, denen sie eben in ihrer Weise vollkommen genügen können.

 

Gerade auf deutschen Bühnen, also in der Sprache, in der es für jetzt am vollkommensten zu ermöglichen wäre, würde das von uns gemeinte Drama nur die höchste Verwirrung und das gänzlichste Mißverständnis hervorrufen. Darsteller, denen die Absicht des Dramas in ihrem nächsten Fundamentalorgane – der Sprache – gar nicht gegenwärtig und fühlbar ist, können diese Absicht auch nicht fassen, und versuchen sie vom reinmusikalischen Standpunkte aus – wie es zumeist geschieht – diese Absicht zu erfassen, so müßten sie sie nur mißverstehen und in irrtümlicher Befangenheit gewiß alles, nur nicht eben diese Absicht verwirklichen.

Dem PublikumUnter dem Publikum kann ich nie die einzelnen verstehen, die vom abstrakten Kunstverständnisse aus sich mit Erscheinungen befreunden, die auf der Bühne nicht verwirklicht werden. Unter dem Publikum verstehe ich nur die Gesamtheit der Zuschauer, denen ohne spezifisch gebildeten Kunstverstand das vorgeführte Drama zum vollständigen, gänzlich mühelosen Gefühlsverständnis kommen soll, die in ihrer Teilnahme daher nie auf die Verwendung der Kunstmittel, sondern einzig auf den durch sie verwirklichten Gegenstand der Kunst, das Drama, als vorgeführte allverständlichte Handlung, gelenkt werden sollen. Das Publikum, das demnach ohne alle Kunstverstandsanstrengung genießen soll, wird in seinen Ansprüchen durchaus beeinträchtigt, wenn die Darstellung – aus den angegebenen Gründen – die dramatische Absicht nicht verwirklicht, und es ist vollkommen in seinem Rechte, wenn es einer solchen Darstellung den Rücken wendet. Dem Kunstverständigen dagegen, der die unverwirklichte dramatische Absicht aus dem Textbuche und aus der kritischen Deutung der Musik – wie sie ihm von unsren Orchestern gewöhnlich gut ausgeführt zu Ohren kommt – sich, der Darstellung zum Trotz, als verwirklicht zu denken bemüht, ist eine geistige Anstrengung zugemutet, die ihm allen Genuß des Kunstwerkes rauben, und das zur abspannenden Arbeit machen muß, was ihn unwillkürlich erfreuen und erheben sollte. bliebe somit nur noch die, von der dramatischen Absicht losgelöste, Musik übrig, und diese Musik würde genau nur da Eindruck auf die Zuhörer machen können, wo sie sich von der dramatischen Absicht in der Weise zu entfernen schiene, daß sie ganz für sich einen ohrgefälligen Reiz darböte. Von dem scheinbar unmelodischen Gesange der Sänger ab – nämlich »unmelodisch« im Sinne der gewohnten auf den Gesang übergetragenen Instrumentalmelodie – müßte das Publikum sich nach Genuß aus dem Orchesterspiele umsehen, und hier würde es vielleicht von einem gefesselt werden, nämlich von dem unwillkürlichen Reize einer sehr wechselvollen und mannigfaltigen Instrumentation.

Um das außerordentlich ermöglichende Sprachorgan des Orchesters zu der Höhe zu steigern, daß es jeden Augenblick das in der dramatischen Situation liegende Unaussprechliche dem Gefühle deutlich kundgeben könne, hat der von der dichterischen Absicht erfüllte Musiker – wie wir bereits erklärten – nicht etwa sich zu beschränken, sondern seine Erfindungsgabe ganz nach der von ihm empfundenen Notwendigkeit eines treffendsten, bestimmtesten Ausdruckes zum Auffinden des mannigfaltigsten Sprachvermögens des Orchesters zu schärfen; solange dieses Sprachvermögen noch nicht zu so individueller Kundgebung fähig ist, als seiner die unendliche Mannigfaltigkeit der dramatischen Motive bedarf, kann das Orchester, das in seiner einfarbigeren Kundgebung der Individualität dieser Motive nicht zu entsprechen vermag, nur störend – weil nicht vollkommen befriedigend – mitertönen, und im vollkommenen Drama müßte es daher, wie alles nicht gänzlich Entsprechende, eine ablenkende Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gerade eine solche Aufmerksamkeit soll ihm, unsrer Absicht gemäß, aber nicht zugewendet werden dürfen; sondern dadurch, daß es überall auf das entsprechendste der feinsten Individualität des dramatischen Motives sich anschmiegt, soll das Orchester alle Aufmerksamkeit von sich, als einem Mittel des Ausdruckes, ab, auf den Gegenstand des Ausdruckes mit unwillkürlichem Zwange hinlenken – so daß gerade die allerreichste Orchestersprache mit dem künstlerischen Zwecke sich kundgeben soll, gewissermaßen gar nicht beachtet, gar nicht gehört zu werden, nämlich nicht in ihrer mechanischen, sondern nur in ihrer organischen Wirksamkeit, in der sie eins ist mit dem Drama.

Wie müßte es nun diesen dichterischen Musiker demütigen, wenn er vor seinem Drama das Publikum mit einziger und besonderer Aufmerksamkeit der Mechanik seines Orchesters zugewandt sähe und ihm eben nur das Lob eines »sehr geschickten Instrumentisten« erteilt würde? Wie müßte es ihm, dem einzig aus der dramatischen Absicht Gestaltenden, zumute sein, wenn Kunstliteraten über sein Drama berichteten, sie hätten ein Textbuch gelesen und dazu Flöten, Geigen und Trompeten wunderlich durcheinandermusizieren gehört? –

Könnte dieses Drama unter den bezeichneten Umständen aber eine andere Wirkung hervorbringen? –

 

Und doch! Sollen wir aufhören Künstler zu sein? Oder sollen wir uns der notwendigen Einsicht in die Natur der Dinge begeben, bloß weil wir keinen Vorteil daraus ziehen können? – Wäre es aber kein Vorteil, nicht nur Künstler, sondern auch Mann zu sein, und sollte eine künstliche Unwissenheit, ein weibisches von uns Abweisen der Erkenntnis uns mehr Vorteil bringen als ein kräftiges Bewußtsein, das uns, wenn wir alle Selbstsucht beiseite setzen, Heiterkeit, Hoffnung und vor allem Mut zu Taten gibt, die uns erfreuen müssen, wenn sie auch noch so wenig von äußerem Erfolge gekrönt sind?

Gewiß! Nur die Erkenntnis kann uns schon jetzt beglücken, während die Unkenntnis uns in einem hypochondrischen, freudlosen, gespaltenen, kaum wollenden, nirgends aber könnenden Afterkunstschaffen erhält, durch das wir nach innen unbefriedigt, nach außen ohne befriedigende Wirkung bleiben.

Blickt um euch, und seht, wo ihr lebt, und für wen ihr Kunst schafft! – Daß uns die künstlerischen Genossen zur Darstellung eines dramatischen Kunstwerkes unvorhanden sind, müssen wir erkennen, wenn wir irgend durch den künstlerischen Willen geschärfte Augen haben. Wie würden wir uns nun irren, wenn wir diese Erscheinung bloß aus einer von ihnen selbst verschuldeten Entsittlichung unsrer Opernsänger erklären wollten; wie würden wir uns nun täuschen, wenn wir diese Erscheinung für eine zufällige, nicht aber aus einem weiten, allgemeinen Zusammenhange bedingte ansehen zu müssen glaubten! – Setzen wir den Fall, uns würde irgendwie das Vermögen, auf Darsteller und auf eine Darstellung vom Standpunkte der künstlerischen Intelligenz aus so einzuwirken, daß einer höchsten dramatischen Absicht in dieser Darstellung vollkommen entsprochen würde, so müßten wir dann erst recht lebhaft innewerden, daß uns der eigentliche Ermöglicher des Kunstwerkes, das nach ihm bedürftige und aus seinem Bedürfnisse es allmächtig mitgestaltende Publikum, abginge. Das Publikum unsrer Theater hat kein Bedürfnis nach dem Kunstwerke; es will sich vor der Bühne zerstreuen, nicht aber sammeln; und dem Zerstreuungssüchtigen sind künstliche Einzelnheiten, nicht aber die künstlerische Einheit Bedürfnis. Wo wir ein Ganzes gäben, würde das Publikum mit unwillkürlicher Gewalt dieses Ganze in zusammenhangslose Teile zersetzen, oder im allerglücklichsten Falle würde es etwas verstehen müssen, was es nicht verstehen will, weshalb es mit vollem Bewußtsein einer solchen künstlerischen Absicht den Rücken wendet. Aus diesem Erfolge würden wir den Beweis dafür erhalten, warum auch eine solche Darstellung jetzt gar nicht zu ermöglichen ist und warum unsre Opernsänger gerade das sein müssen, was sie jetzt sind und gar nicht anders sein können.

Um uns nun diese Stellung des Publikums zur Darstellung zu erklären, müssen wir notwendig zur Beurteilung dieses Publikums selbst schreiten. Wir können im Hinblicke auf frühere Zeiten unsrer Theatergeschichte mit Recht dieses Publikum als im wachsenden Verfalle begriffen uns vorstellen. Das Vorzügliche und besonders Feine, was bereits in unsrer Kunst geleistet worden ist, dürfen wir nicht als aus der Luft gekommen betrachten; sondern wir müssen finden, daß es sehr wohl mit aus dem Geschmacke derjenigen angeregt war, denen es vorgeführt werden sollte. Wir finden dieses feinfühlende, geschmackvolle Publikum in seiner lebhaftesten und bestimmendsten Teilnahme am Kunstschaffen in der Periode der Renaissance uns entgegentreten. Hier sehen wir die Fürsten und den Adel die Kunst nicht allein beschützen, sondern für ihre feinsten und kühnsten Gestaltungen in der Weise begeistert, daß diese aus ihrem begeisterten Bedürfnisse geradesweges als hervorgerufen zu betrachten sind. Dieser Adel, in seiner Stellung als Adel nirgends angefochten, nichts wissend von der Plage des Knechteslebens, das seine Stellung ihm ermöglichte, dem industriellen Erwerbsgeist des bürgerlichen Lebens sich gänzlich fernhaltend, heiter in seinen Palästen und mutig auf den Schlachtfeldern dahinlebend, hatte Auge und Ohr zur Wahrnehmung des Anmutigen, Schönen und selbst Charakteristischen, Energischen geübt; und auf sein Geheiß entstanden die Werke der Kunst, die uns jene Zeit als die glücklichste Kunstperiode seit dem Untergange der griechischen Kunst bezeichnen. Die unendliche Anmut und Feinheit in Mozarts Tonbildungen, die dem grotesk gewöhnten heutigen Publikum matt und langweilig vorkommen, ward von den Nachkommen dieses Adels genossen, und zu Kaiser Joseph flüchtete sich Mozart vor der seiltänzerischen Unverschämtheit der Sänger seines Figaro; den jungen französischen Kavalieren, die durch ihren begeisterten Applaus der Achillarie in der Gluckschen Iphigenia in Aulis die bis dahin schwankende Aufnahme des Werkes als eine günstige entschieden, wollen wir nicht zürnen – und am allerwenigsten wollen wir vergessen, daß, während die großen Höfe Europas zu politischen Heerlagern intriganter Diplomaten geworden waren, in Weimar eine deutsche Fürstenfamilie sorgsam und entzückt den kühnsten und anmutigsten Dichtern der deutschen Nation lauschte.

Der Beherrscher des öffentlichen Kunstgeschmackes ist nun aber derjenige geworden, der die Künstler jetzt so bezahlt, wie der Adel sie sonst belohnt hatte; der für sein Geld sich das Kunstwerk bestellt und die Variation des von ihm beliebten Themas einzig als das Neue haben will, durchaus aber kein neues Thema selbst, – und dieser Beherrscher und Besteller ist – der Philister. Wie dieser Philister die herzloseste und feigste Geburt unsrer Zivilisation ist, so ist er der eigenwilligste, grausamste und schmutzigste Kunstbrotgeber. Wohl ist ihm alles recht, nur verbietet er alles, was ihn daran erinnern könnte, das er Mensch sein solle – sowohl nach der Seite der Schönheit als nach der des Mutes hin: er will feig und gemein sein, und diesem Willen hat sich die Kunst zu fügen – sonst, wie gesagt, ist ihm alles recht. – Wenden wir uns eilig von seinem Anblicke ab! –

 

Wollen wir mit dieser Welt Verträge schließen? – Nein! Denn auch die demütigendsten Verträge würden uns als Ausgeschlossene hinstellen. –

Hoffnung, Glauben und Mut können wir nur schöpfen, wenn wir auch den modernen Staatsphilister nicht als ein bedingendes allein, sondern ebenfalls als ein bedingtes Moment unsrer Zivilisation erkennen und nach den Bedingungen auch dieser Erscheinung in einem Zusammenhange forschen, wie wir es mit Bezug auf die Kunst hier getan haben. Nicht eher gewinnen wir Glauben und Mut, als bis wir im Hinhorchen auf den Herzschlag der Geschichte jene ewig lebendige Quellader rieseln hören, die verborgen unter dem Schutte der historischen Zivilisation, in ursprünglichster Frische unversiegbar dahinfließt. Wer fühlte jetzt nicht die furchtbar bleiche Schwüle in den Lüften, die den Ausbruch eines Erdbebens vorausverkündigt? Die wir das Rieseln jener Quellader hören, sollen wir uns vor dem Erdbeben fürchten? Wahrlich nicht! Denn wir wissen, es wird nur den Schutt auseinanderreißen und dem Quelle das Strombett bereiten, in dem wir seine lebendigen Wellen auch fließen sehen werden.

Wo nun der Staatsmann verzweifelt, der Politiker die Hände sinken läßt, der Sozialist mit fruchtlosen Systemen sich plagt, ja selbst der Philosoph nur noch deuten, nicht aber vorausverkünden kann – weil alles, was uns bevorsteht, nur in unwillkürlichen Erscheinungen sich zeigen kann, deren sinnliche Kundgebung niemand sich vorzuführen vermag –, da ist es der Künstler, der mit klarem Auge Gestalten ersehen kann, wie sie der Sehnsucht sich zeigen, die nach dem einzig Wahren – dem Menschen – verlangt. Der Künstler vermag es, eine noch ungestaltete Welt im voraus gestaltet zu sehen, eine noch ungewordene aus der Kraft seines Werdeverlangens im voraus zu genießen. Aber sein Genuß ist Mitteilung, und – wendet er sich ab von den sinnlosen Herden, die auf dem graslosen Schutte weiden, und schließt er um so inniger die seligen Einsamen an die Brust, die mit ihm der Quellader lauschen –, so findet er auch die Herzen, ja die Sinne, denen er sich mitteilen kann. Wir sind Ältere und Jüngere: denke der Ältere nicht an sich, sondern liebe er den Jüngeren um des Vermächtnisses willen, das er in sein Herz zu neuer Nahrung senkt – es kommt der Tag, an dem einst dieses Vermächtnis zum Heile der menschlichen Brüder aller Welt eröffnet wird!

 

Wir sahen den Dichter im sehnsüchtigen Drange nach dem vollendeten Gefühlsausdrucke da anlangen, wo er seinen Vers auf dem Spiegel des Meeres der Harmonie als musikalische Melodie abgespiegelt sah: bis zu diesem Meere mußte er dringen, nur der Spiegel dieses Meeres konnte ihm das ersehnte Bild zeigen, und dieses Meer konnte er nicht aus seinem Willen erschaffen, sondern es war das andere seines Wesens, das, mit dem er sich vermählen mußte, das er aber nicht aus sich bestimmen und in das Dasein rufen konnte. – So kann der Künstler nicht das ihm notwendige, ihn erlösende Leben der Zukunft aus seinem Willen bestimmen und in das Dasein rufen; es ist das andere, ihm Entgegengesetzte, nach dem er sich sehnt, dahin es ihn drängt, was, wenn es sich ihm von einem entgegenstehenden Pole her selbst zuführt, erst für ihn vorhanden ist, seine Erscheinung in sich aufnimmt und ihm erkenntlich wieder zuspiegelt. Das Leben des Meeres der Zukunft kann aber dieses Spiegelbild wiederum nicht aus sich erzeugen: es ist ein Mutterelement, das das Empfangene nur gebären kann. Diesen befruchtenden Samen, der einzig in ihm gedeihen kann, führt ihm nun der Dichter, d. i. der Künstler der Gegenwart, zu: es ist dieser Samen der Inbegriff alles feinsten Lebenssaftes, den die Vergangenheit in ihm sammelte, um als notwendigen befruchtenden Keim ihn der Zukunft zuzuführen, denn diese Zukunft ist nicht anders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt. – Die Melodie nun, die endlich auf dem Wasserspiegel des harmonischen Meeres der Zukunft sich abspiegelt, ist das hellsehende Auge, mit dem dieses Leben aus der Tiefe seines Meergrundes nach dem heiteren Sonnenlichte heraufblickt. der Vers, dessen Spiegelbild sie nur ist, ist aber das eigenste Gedicht des Künstlers der Gegenwart, das er nur aus seinem besondersten Vermögen, aus der Fülle seiner Sehnsucht erzeugte; und so, wie dieser Vers, wird das ahnungsvoll bedingende Kunstwerk des sehnsüchtigen Künstlers der Gegenwart sich mit dem Meere des Lebens der Zukunft vermählen. – In diesem Leben der Zukunft wird dies Kunstwerk das sein, was es heute nur ersehnt, noch nicht aber wirklich sein kann: jenes Leben der Zukunft wird aber ganz das, was es sein kann, nur dadurch sein, daß es dieses Kunstwerk in seinem Schoße aufnimmt.

Der Erzeuger des Kunstwerkes der Zukunft ist niemand anderes als der Künstler der Gegenwart, der das Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu sein sich sehnt. Wer diese Sehnsucht aus seinem eigensten Vermögen in sich nährt, der lebt schon jetzt in einem besseren Leben – nur einer aber kann dies: –

der Künstler.

 
Ende des dritten Teiles


 << zurück