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V

Mein Nachbar begann vor sich hin zu lallen. Ich hörte etwas von »Kadetten«. Seine Lippen schnappten wie die Lefzen eines Hundes, der in der Sonnenhitze Fliegen happt. Seine Glieder, Arme und Beine, zuckten. Er richtete erstaunt den Blick seiner wasserblauen Augen darauf, als überraschten ihn die elektrisierten Bewegungen. Er faßte mit seiner (und meiner) gefangenen Hand nach seiner freien, an der die Krämpfe begonnen hatten, als könnte er diese bei ihren zuckenden Froschschenkelsprüngen festhalten, ihr gut zureden und sie beruhigen. Sein Gesicht wußte nichts davon. Was tut der Mensch nicht alles, wovon der Mensch nichts weiß?

Plötzlich wurde das hübsche Gesichtchen schlaff, der Schädel sank auf die Brust, als hätte man mit einer Schere ein haltendes Band zerschnitten. Sein Atem keuchte sich mühsam empor, das elende Essen kam ihm hoch, und die Augen schielten, bis in ihre Ecken gläsern leuchtend, nach verschiedenen Seiten.

Ich, der ich doch von Mitleid nichts wissen wollte und um meiner selbst willen nichts wissen durfte, hielt ihm den schweren, heißen, feuchten Kopf möglichst weit ab. Er röchelte, es rollte in seiner Brust, wie wenn Wasser siedet. Ich blies ihn an, als wäre er ein Milchtopf, der überlaufen will. Er wachte ein wenig auf unter dieser guten Brise und sah mich mit seinen treuen Hundeaugen seltsam von unten an. Jetzt müßte man dich in Photos verewigen, du Frosch, Jammerbild der geplagten Kreatur! Er schüttelte den Kopf ganz erstaunt, als erriete er meine Gedanken. Ein kleines Kind, dessen labbriges, winziges Kinn der gute Vater mit Zeige- und Mittelfinger hält, kann nicht unschuldiger aussehen als er. Er wollte sich ja zusammennehmen, gut und brav sein.

So war es auch gut. Er nahm seine Kraft zusammen, würgte es nieder. Er behielt das seine bei sich. Wäre nur das gefahrdrohende Bläulichgrau fort, welches sein schlaffes Kindergesicht schiefrig verfärbt! Ich mußte ihm, ihm mit meiner und seiner Hand vor dem Gesicht und dem Hals herumarbeitend, den Rock und das Hemd vorn am Halse freimachen. Meine freie Hand konnte ja nicht von seinem Kopfe fort – und um so schwerer war alles, als er seinen Körper in der grauenhaften Hitze eng an mich lehnte.

Der Sonnenstichanfall war bei ihm glücklicherweise noch nicht zur richtigen Entfaltung gelangt. Er war nicht ohnmächtig, nur benommen. Ich konnte ihn dazu bringen, sich aufzurichten und an meiner Hand unter Aufbietung seiner ganzen Energie knieweich an den Rand der Menschenansammlung zu taumeln, dorthin wo einige Kisten aufgestapelt waren, die eine Art Schatten geben mußten.

Die Sonne hat sich gewendet. Die Kisten sind groß, neu, sie riechen scharf, nach Desinfektionsmitteln, Cresol etc. Vielleicht sind sie für den Medizinaldienst drüben in der Kolonie bestimmt. Der Schatten, den sie geben, ist noch nicht so breit wie der einer hundert Jahre alten Korkeiche, er ist nicht breiter als zwanzig Zentimeter vielleicht, ist aber doch hinreichend, um ein müdes Haupt zu betten oder wenigstens die Augen zu schützen. Sein Haupt und das meine auch. Wir sind ja eine Interessengemeinschaft, ein Kollektiv. Bin ich altruistisch, dann bin ich egoistisch. So lege ich meinen bedenklich brummenden Schädel neben den seinen auf das dreckige Pflaster. Nur zu, Bruderherz! Laß liegen, was da liegt und scher dich nicht darum. Jetzt schnell dem Mann seine braune Mütze über die Augen gestülpt, mir die meine auch, nur schnell! Schon fliegen feurige Funken vor meinen Augen auch bei geschlossenen Lidern, und es war höchste Zeit – für ihn? Für mich! Es saust in den Ohren wie Sturm.

Aber bald wird es wunderbar! Bald merke ich, wie der süße Schatten der Kiste hinabwandert über meinen Nasenrücken, jetzt über Mund, Hals, Brust, Hüften und Knie, bis wir beide wie in Abrahams Schoß, bis zu den Fußspitzen im gelobten Lande des Schattens liegen. Wir sind nicht die einzigen. Nur die ersten. Paar bei Paar. Und kein Wort. Kein Fluch, kein Pfiff, kein Hieb und Stoß, bloß atmen und still. Das Gemurmel der »liebenden Herzen« hört sich an wie ferne Brandung, und die Brandung hört sich an wie das Gemurmel erregter Menschen, alles egal, alles eins.

Plötzlich Alarm. Alles schrickt aus tiefem Schlaf auf. Der Platzkommandant, das hohe Tier, lange erwartet, tritt auf. Dunkelbraunes, verwettert hübsches Lebemannsgesicht voll Schneid und Scharm. Weiße, buschige Augenbrauen, schwarzer, niedlich wie ein Bürstchen gestutzter Schnurrbart, glänzend wie Pech oder Schnurrbartfarbe. Es gibt ja keine Greise mehr. Hoch aufgerichtet. Selbstdisziplin oder Korsett? In seiner eng an der Taille anliegenden himmelblauen Litewka, sandfarbene, weite Breeches an den Hüften, schlotternd voll Eleganz, mit bis an die Knie reichenden, vorne von Messinghefteln geschnürten Ledergamaschen, Orden an Orden über der Hühnerbrust, blinkendes Lederzeug und Revolvertasche um den Gürtel, Monokel im linken Auge, so stelzt er durch unsere Reihen, ein Gott unter der dummen Kreatur, die erstirbt, während er rückwärts die Schöße seines Uniformrockes auseinanderschüttelt, als hätte er Angst, es könne Ungeziefer von uns an ihm haften bleiben. Wie sollte es das wagen, Exzellenz?! Er hat Eile. Zwei blutjunge, weißhäutige (oder gepuderte) rotwangige (oder diskret geschminkte) Adjutanten schnellen in ehrerbietiger Distanz hinter ihm her. Gerade als die Gruppe durch einen Transport gelber Sträflinge hindurchgaloppiert, von denen manche an krustigen Hauterkrankungen leiden, wie sie in den Tropen häufig sind, verzieht sich das Gesicht des hohen Herrn und seiner schönen Begleiter zu einem Ausdruck besonderen Ekels.

Aber nicht doch! Diese gelben Strafkolonisten waren keine »gemeinen« Verbrecher, wie es das Strafgesetz zartfühlend nennt, es waren Menschen erster Klasse, politische Rechtsbrecher. Irregeleitete, aber idealistische, begeisterte, opferwillige Menschen waren es, die ihrem politischen Ideal zuliebe vor nichts zurückscheuten, auch nicht vor dem geheiligten Besitz der Nation, nämlich dem investierten Kapital des Mutterlandes. Ihre Einsicht: Fragezeichen. Ihr Charakter: Rufzeichen. Und dafür als Lohn: nun, ich sage nicht mehr, als daß sie unter Mördern und anderen Schwerverbrecher im Dreck lagen.

Mit höchster Geschwindigkeit raste der alte, steifbeinige Generalhengst durch sie mitten hindurch. Es war eine reine Formalität. Nicht einmal die Zahl der Deportierten wurde gezählt.

Durch Zufall verfing sich der Sporn eines der Salonoffiziere in dem Riemen, womit einer der politischen gelben Männer sein Kochgeschirr angeschnallt hatte, an seinem hageren Leibe. Aber der Offizier hielt sich nicht lange auf, er flitzte nur mit der Reitpeitsche (weit und breit kein Roß) hinter sich, dem armen Idealisten in die prompt rot anschwellende Visage, setzte dann seinen schnellenden Geschwindschritt eiligst fort, als brenne es unter ihm, und so schleppte er den eisernen Kochkessel und den damit verbundenen Weltverbesserer mit sich, bis einer von den dreien nachgeben mußte, natürlich der arme Teufel, der sich im wahrsten Sinne des Wortes mit seinem Töpfchen voll Essen im Staube wälzte.

Aber dafür hat der junge schöne Herr auch seinen Lohn, er ist rechtzeitig bei seinem hohen Herrn angekommen, kann ihm seinen eigenen Füllfederhalter reichen, damit der alte Mann seinen Namen auf einen amtlichen Zettel setzen kann, den ihm der diensthabende Unteroffizier auf die Kiste gelegt hat. Zum Lesen dessen, was auf diesem amtlichen Dokument steht, kommt der hohe Herr nicht. Der Unteroffizier hat es ja gelesen, also wird es richtig sein. Und sobald er seinen hehren Namen hingeschnörkelt hat, macht er wie ein ausgedienter Paradegaul im Zirkus auf den Hinterfüßen kehrt, und die drei Halbgötter schnellen zu ihrem Wagen zurück, einem knallroten, sechs Meter langen, schnittigen Auto. Ein Adjutant hält den Schlag, der General schlüpft hinein, gnädig mit dem Köpfchen dem Helfer zunickend, dieser huscht an seine grüne Seite, der dritte setzt sich ans Steuer, Starten, ersten Gang hinein, Vollgas, und sie schnurren ab. Staub und übler Geruch. Auf diesen Besuch haben wir den ganzen Tag hier warten müssen. Müssen? Nein! Dürfen.

Zwei Einzelgänger schleichen jetzt unter Bewachung aus der Stadt zurück. Ihre Gefährten hat man von ihnen mittels einer Feile absägen und im Hospital unterbringen müssen. Einer hat im Anschluß an den Sonnenstich einen Malariaanfall, der andere epileptische Krämpfe bekommen, andere wieder gar nichts, nur den ewigen Frieden.

Nach allem, was man hört, ist es heute noch gnädig abgegangen. Die »liebenden Herzen« können dem Schicksal dankbar sein und frohlocken. Beim letzten Transport, auf demselben Hafenplatz, bei dem gleichen prächtigen, wolkenlosen, windstillen Wetter, an der gleichen Stelle beim Warten auf die gleiche Unterschrift durch den gleichen General sind nicht weniger, nein, du guter G. L., paß doch auf! nicht mehr als nur vierzehn Menschen an den Folgen der Hitze erkrankt, davon sechs tödlich. Also haben wir von Glück zu reden.

Die zwei Einzelgänger haben sich zusammengetan. Vertragen sie nicht das Vereinzeltsein inmitten der geschlossenen Paare?

Der eine ist ein kleines, flinkes, aber schauerlich abgemagertes, dauernd hüstelndes, glattrasiertes Kerlchen von unbestimmtem Alter, zwischen fünfundzwanzig und fünfzig, ein alter Zuchthausbruder. Der andere ist ein richtiger Bär, ein braungebrannter, breitschultriger Hüne, schwarze, fettige Locken, eine verwilderte Haaresfülle über der niedrigen, massigen, kupferfarbenen Stirn. Er hat ein orientalisches Aussehen, ich höre auch, wie er »Sultan« oder »Soliman« gerufen wird. Mit seinen breiten, schwarzen Pranken streichelt er das kleine Kerlchen an dem schweißüberströmten Nacken, wobei ein brutales Lächeln von fast tierischer Sinnlichkeit über seine wulstigen Lippen spielt. Der kleine Mann versucht, sich den schweren Armen zu entziehen, der »Sultan« aber entblößt ein prachtvolles Gebiß und grinst in einer Art Glückseligkeit, als wäre er berauscht oder als läge er in den Armen einer persischen Prinzessin. Wie weit davon entfernt, du Narr des Glücks! Aber glaub es, solange du kannst.


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