Josef Wenter
Mannsräuschlin
Josef Wenter

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Begegnis

In Pracht und Herrlichkeit ist die Sonne durch die blitzenden Himmelshäuser gewandelt. Jetzt hat sie das Haus des Steinbocks erreicht. Da dunkelt die Welt der Pferde ein, und die unendlichen Regen rauschen aus monatelang ziehendem Gewölk. Nebel jagen im kalten Südost über die öde Pampa, und in einförmigem Gesaus und Triefen geht das Jahr der Pferde zu Ende. Es ist, wie es immer war. Man ist es gewöhnt, man schreitet willig und des Daseins gewiß im Kreis und Tanz der Sonne und Gestirne.

Die Pferde suchen das höhere Land gegen Westen zu auf, wo die Vorgebirge ansteigen und schwarze Wälder bis an den tonigen Boden der Pampa herankommen.

Lange haben Lagunen und verstreute Salzlachen sich verbündet, und es ist ein Kunststück und eine große Erfahrenheit, zwischen ihren Tücken und Untiefen 308 hindurchzufinden. Alle Fährnisse und der vielfache Tod lauern wie eh und je. Seine Trabanten, die schwarzen Leute, sind voll krächzenden Selbstgefühls und zudringlich wie Wegelagerer. Ihre gute Zeit ist da. Sie lagern an den Wegen des Sterbens und haben davon freches Leben. So ist das.

Ach, wo die Schöpfung eine große Gebärde tut, wie etwa wenn sie den Wirbelsturm oder die Sintflut über die Welt der Pferde schickt, da nimmt der Tod alle möglichen Gestalten und Fratzen an. Und manche sind dann beinahe lächerlich.

Oder ist es nicht lächerlich, und muß es die stolzen Pferde, die sich gegen die Gewalt wehren, nicht wundern, wenn sie da ein Trüpplein Lebendiger sehen, die keine Anstalten zum Weiterleben treffen, sondern sich an ihren langen Schwänzen im Ungewissen aufhängen und warten, bis der Tod kommt? Einen Augenblick stutzt der Hengst, als er aus den Ästen der zwei Akazien, die da in der Wasserwüste im Wind sich biegen und triefen, eine fremde und wohl auch verwesende Witterung bekommt. Als dann ein schwaches Gebrüll und hohe klägliche Fistelstimmen anheben und aus dem Gezweig kleine schwarze nackte Gesichter starren, da traben die Pferde schneller, daß das Wasser um Brust und Flanken aufgischtet. Was war das? Nie gehört! 309 Nie gewittert! Fremd, o fremd, was die Sintflut in das Land der Pferde spült!

Schon ist die Herde im Nebel undeutlich, aber noch immer kommt das Gejammer dünn und dünner durch den rauschenden Regen.

Die beiden Akazien stehen nahe einer Waldzunge, und es wäre wohl kein Kunststück für die kleine Affensippe, sich in den Wald vorm Hungertod zu retten. Vor ein paar Tagen sind sie auf den Bäumen gelandet. Das helle Grün der gefächerten Blätter hat ihnen großen Eindruck gemacht, wenn sie vom Waldrand herüberäugten. Und oh, die Neugier! Tagelang hatte man sich beraten, ob das Abenteuer zu wagen wäre. Ein Abenteuer, gewiß! Man hält ja vom Reisen nicht viel und liebt geruhsames Dasein in den dunklen Kronen, und dann: es ist gegen jedes Herkommen, über die Erde zu gehen. Man wird in den hohen Kronen geboren, man lebt in den Kronen, stirbt in den Kronen der Urwaldbäume. Man hat vielleicht in seinem ganzen Leben den Erdboden nie gesehen, gewiß nicht betreten. Oh, die lichtgrüne saftige Verführung da draußen in der Steppe!

Ja, und dann wagte man eines Abends die Reise. Oh, es war eigentlich ganz gefahrlos und höchst interessant und neu. Mit ein paar Sprüngen war man 310 am Fuß der grünen Verführung angelangt, war gemächlich den Stamm hinaufgeklommen, hatte den Nachkletternden die Hand gereicht und mit hohen Tönen die Verzagten aufgemuntert. Ja, und dann saß man da im hellgrünen Schein und beguckte die unermeßliche Welt. Im dichten Wald hatte man sich ja keine Vorstellung gemacht, daß es irgendwo im Leben etwa keinen Wald gäbe. Nein, so weit ins Dasein hinaus haben die kleinen schwarzen Augen noch nie geschaut. Oh, was es alles gibt! Was alles!

Dann futterte man. Es war herrlich und ein wenig säuerlich, und voll Kraft und Frische, und man war bestimmt nicht klug, daß man diese Bäume nicht schon öfter aufgesucht hatte. Als man satt war, kam die Nacht. Man hockte sich hoch in der dichten Krone vergnügt zusammen, sicherte den tiefen Schlaf mit dem langen Schwanz gut an Ästen und Gezweig und begann eine kleine heitere Nachtmusik, die recht traurig klang. Die Nachtleute der Pampa horchten auf und waren eine Weile im Zweifel, ob da eine Rauferei oder vielleicht Liebeshändel der Pumas oder der Pampakatzen im Schwange wären. Man duckte sich und machte sich aus dem Bereich des Gebrülls und Gefistels. Nach einer guten halben Stunde hatte sich die Gesellschaft auf der Akazie in Schlaf gesungen, 311 und dann stand der schöne Baum still und schwarz im Regen und verriet durch nichts, was er da für seltsame Wanderburschen herbergte. Manchmal schüttelte ihn eine Bö, dann kuschelten die Brülläffchen enger zusammen. Ho, sie freuen sich im Schlaf auf das hellgrüne Morgenfutter und nahmen sich schon gestern vor, wenn alles gut ginge und kein Neid aus der flachen Welt daherkäme, die schönsten Zweige beider Akazien rein abzuweiden und dann mit ein paar Sprüngen gegen Abend wieder sich nach Hause zu machen. Jawohl! So wird's gemacht! Eine glatte Rechnung! Gut! Aber wohl ohne den Wirt? . . . O heimtückische Welt!

Der Tag graut. Hallo! Das Leben hebt lustig an. Ein wenig Musik, ein wenig Spaß in den Zweigen, damit man sich ordentlich dehnt. An die Arbeit! Oh, ein feiner Baum! Auf den konnte man sich verlassen! Er schmeckte bei Tag noch besser, und das Gelaub ist noch schöner grün. Herrlich! Man futtert das Beste weg, und gegen Mittag faßte man einen Entschluß. Der Nachbarbaum war ebenso hübsch und mit ein paar Schritten zu erreichen. Los! Der Führer turnt gemächlich den Stamm hinab. Hallo! Was ist das? Man hat den Schwanz im Wasser. Schöne Geschichte! Der Schreck fährt einem so in die Glieder, daß man 312 einen Augenblick wie leblos hängt. Kreischen, Gebrüll, Rückzug. Wasser ist der Tod! Wahrscheinlich! Man hat es nie probiert, ob man etwa schwimmen könnte. Vielleicht könnte man es. Viele Verwandte können es. Aber nein! Man hat eine tiefe und grausende Angst vor dem Wasser. Man ist einfach nicht dazu erschaffen. Man führt ein Kronendasein. Jawohl! Und es ist bestimmt eine große Feindseligkeit, daß da über Nacht das Dasein überschwemmt ward. Ja, der große Strom im Nordwesten ist ausgetreten, und jetzt stehen die Akazien in einer unabsehbaren gelben lautlosen Wasserwüste. Ja, das ist wohl ein Abenteuer!

Was tun? Da hockt man also und vergißt aufs Futtern. Sehr eng hockt man zusammen und glotzt hinüber, wo die hohen schwarzen Kronen sind und die Heimat. Ach, in welche Fremde hat man sich begeben! Kaum hundert Fuß weit, aber welche tückische unüberwindliche Fremde! Nein, man musiziert nicht mehr. Am besten ist es vielleicht doch, wenn man futtert? Das Wasser wird natürlich inzwischen fortgehen. O natürlich! Aber so ist es, wenn man nie abwärts äugt. Immer nur aufwärts oder geradeaus; denn mit der unteren Welt hat man ja nie etwas zu schaffen . . . Gut! Aber das Wasser geht keineswegs fort. Es steigt sogar höher, und der Lehmgeruch ist fremd und 313 bösartig. Doch Musik? Ja, vielleicht kriegt man Mut davon! Eine halbe Stunde! Aber das Wasser geht nicht. Man hockt und wartet und glotzt jetzt abwärts, immerzu abwärts; manchmal auch in die gelbe Unermeßlichkeit. Aber da kommt auch keine Hoffnung her. Man hat schon angstverzerrte Lärvchen. Und jetzt kommt die Nacht. Vielleicht  . . .

Aber am Morgen ist es wie gestern. Futtern! Gut! Aber jetzt sind die Blätter rein abgeweidet. Durchs kahle Gezweig schüttet kalter Regen auf die schwarzen Pelzwämschen. Man friert, weil man stillsitzen muß. Es ist wohl ein Jammer. Oh, morgen wird natürlich das Wasser fort sein, und man erwartet es kaum, in die Heimat, gleich nebenan zu kommen. Man wird gewiß keine Abenteuer mehr unternehmen. Keinesfalls! – Aber das Wasser ist hartnäckig. Wenn der Wind stärker herfährt, gurgelt es. Das ist besonders schreckhaft und eine große Tücke. Am nächsten Morgen gurgelt es stark. Es schwillt, das Wasser.

Ja, man müßte wohl versuchen, den Nachbarbaum anzuspringen? Man verhungert sonst angesichts der hellgrünen Verlockung. Und wie der Anblick den Hunger reizt! Oh! . . . Ein Mutiger wagt es. Ganz auf die Spitze hinaus eines schwingenden Zweiges turnt das Bürschchen. Natürlich versichert er sich mit 314 dem langen Schwanz. Ach, der Tapfere! Aus großen entsetzten Augen schaut die Sippe zu und fistelt da und dort dünn. Wenn es ihm gelingt, werden es alle nachmachen. Gut! Aber Akazienäste sind tückisch. Sie knicken ganz plötzlich. Sie sind keineswegs elastisch. Da hockt der Tapfere und mißt den Sprung. Dann schwingt er sich zum Absprung. Knack! Kopfüber saust er abwärts. Aber wozu hat er sich versichert? Da hängt er am Kletterseil und hat noch den abgebrochenen Ast in den Händen. Vor Schreck brüllt und quiekt die Verwandtschaft. Ja, der Abgestürzte tut jetzt, was man in solchen Lagen stets tut, wenn nichts Greifbares in der Nähe ist. Man beginnt sich in einen hübschen Pendelschwung zu bringen. Oh, sehr hübsch, und man hat das tausendmal gemacht. Aber nicht über einer gurgelnden Heimtücke. Da ist es nicht hübsch und sehr aufregend. Die Sippen starren herunter und schreien durcheinander und geben gute Ratschläge, recken ihre Schwänze und Hände hin, aber nichts will langen. Dabei rutschen sie, immer mehrere, den Ast hinaus, an dem der Verunglückte hängt. Sie haben sich natürlich selber auch versichert. Oh, keinen Schritt im Leben ohne sicherste Sicherheit! So sind sie. Ja, gut! Aber der Ast ist ein Akazienast . . . Knack! Plumps! . . . Ja, jetzt ist der Tapfere im Wasser. 315 Schwimmt er? Keineswegs! Er paddelt so vor dem Tod her. Aber er paddelt sich auf die glückliche Seite, und der Tod hat einstweilen ein Einsehen. So leicht will er den Abenteurern das Sterben wahrscheinlich nicht machen.

Da hantelt der Abgestürzte sich triefend und zitternd und dünn fistelnd den Stamm der benachbarten Akazie hinan und hockt jetzt im Laubdickicht und denkt nicht daran, etwa zu futtern; ist voll Schrecken und Todesangst und starrt zu den Verwandten hinüber und ruft sie. Der Tapfere! Die Sippen rufen und winken und sind außer sich und wagen sich doch nicht in die Grüne hinüber, trotzdem sie halb verhungert sind. Sie sehen auch den ganzen Tag lang nicht einmal, daß der Tapfere etwa futterte. Es schmeckt ihm nicht. Er starrt nur hinüber zu ihnen. Oh, ausgesetzte Kreatur!

Das begab sich ein paar Tage, ehe die Pferde vorüberzogen. Jetzt hängt an der abgeweideten Akazie, von der die Verhungernden sogar die Rinde abgenagt haben, kopfunter ein totes Pelzmännchen am verkrampften Kletterseil und riecht nach Verwesung. Die anderen sind am Sterben und hocken aneinander gekauert mit geschlossenen Augen eng am Stamm.

Drüben der Tapfere hat doch endlich gefuttert, aber ohne Freude. Die Verlassenheit und die sterbenden 316 Sippen so nahe und doch nicht zu erreichen, das macht ihn sehr krank. Hundertmal ist er den Stamm hinab und hat versucht, ob nicht vielleicht das Wasser gegangen wäre. Aber das Wasser war immer da. Hundertmal ist er dann wieder umgekehrt und hat hinübergerufen und gedeutet, daß es eben doch nicht ginge, nicht ginge. Dann hat er immer dünnere Antwort bekommen, und eines Morgens keine mehr.

Gegen Mittag sind dann schwarze Leute angekommen und haben sich auf der Krone der abgeweideten Akazie niedergelassen. Man kennt sie nicht, weil sie nie in die großen Wälder kommen. Sie sind den Pferden gefolgt. Jetzt hocken sie da mit langen nackten Hälsen und krächzen ungut und schauen aus kalten gierigen Augen. Ja, das ist wohl das Ende des Abenteuers? . . . Sie hören das häßliche Gekrächz wie aus einer großen, großen Ferne, die schwarzen, neugierigen, sanftherzigen Brülläffchen. 317

 


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