Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Weiße Blumen

(Eutin)

Ich traf sie an einem der kleinen Seen, die um das oldenburgische Eutin herum im Walddunkel versteckt liegen. In dem Hotel am See, wo sie im vornehmen ersten Stock ein schönes Zimmer bewohnte, lebte sie ruhig und unbekannt, mit den Manieren einer Frau von Welt und mit jenem diskreten Schick, der nicht in einem Prunkstück prahlt, sondern überall weilt, in dem gemessenen, graziösen Gang, in dem einfachen Schnitt des Kleides, in dem matten Duft des Parfüms, in den weißgrauen Handschuhen mir den breiten schwarzen Nähten. So erschien sie am Morgen auf der Veranda und des Mittags zur Table d'hote und des Abends, wenn drüben am Ufer die kleine Musikkapelle ihre alten, oft gehörten Lieder spielte. Sie sprach mit keinem der übrigen Gäste, und nur der gelbe Holländer mit den kleinen Füßen, der auf der anderen Seite des Korridors wohnte und den die Leute »Monsieur Pantalon« nannten – ich weiß nicht, warum – machte ihr ein wenig den Hof. Aber auch das ganz diskret und ganz geräuschlos.

Und nun begegnete ich ihr dort am See, wohl eine 190 halbe Stunde abseits vom Hotel. Sie stand zehn Schritte von mir entfernt und sah in das Wasser. Sie hatte mich nicht bemerkt, und erst, als neben mir ein dürrer Strauch, ärgerlich über die Störung, mit seinem Blätterwerk raschelte, sah sie auf. Ich grüßte, und sie nickte mit dem Kopf. Der Schleier bedeckte die obere Hälfte des Gesichts, aber man sah doch die dunkeln Augen und die blonden, fast rotblonden Löckchen, die sich auf die Stirn hinabkräuselten.

Auf der Fläche des Sees lagen platt und rund die Blätter der Wasserrosen, wie Fettaugen auf der Suppe. Und dazwischen sah man hurtige Wasserkäfer auf und nieder tauchen, und jedesmal, wenn ein Käfer sich zeigte, entstand eine Unruhe im Wasser, und kleine Wellenkreise, die sich immer mehr erweiterten und dann zerrannen, zitterten über den Spiegel. Rings um den See stand der schlafende Wald, und die Bäume am Ufer bogen ihre Kronen weit über die Wasserfläche hinüber und senkten ihre Arme bis auf den Spiegel hinab. Das war eine dunkle, reglose Landschaft, fast geheimnisvoll. Nur an einer Stelle, drüben auf der anderen Seite des Sees, gab es eine Unterbrechung in dem ruhigen, finsteren Einerlei. Dort standen im Wasser, dicht am Ufer, weiße, leuchtend weiße Sumpfblüten, eng aneinander gedrängt, ein dichter Busch. Das glänzte und sprühte und funkelte in Licht und Helle und trat aus dem Schwarz des Ufers fast blendend heraus.

Und zu diesen weißen Blumen sah die schöne Frau hinüber. Ob sie den Namen der seltsamen Blüte zu wissen begehrte, oder ob nur das Bild sie fesselte, dieser merkwürdige Kampf zwischen den Gegensätzen, zwischen 191 der dunklen Nacht und dem leuchtenden Tag? Dann, plötzlich, sagte ich, und ich wußte nicht recht, warum ich es eigentlich sagte: »Ich glaube, gnädige Frau, das sind die Seelen der Seenixen. Immer, wenn eine Nixe stirbt, steigt die Seele hinauf und wird zur weißen Blüte.«

Sie sah mich an. »Ein sehr schöner Tod,« sagte sie dann, »aber ein langweiliges Leben. Immer in diesem kleinen See, wo wenig Gesellschaft ist. Und draußen, hinter den dunklen Bäumen, liegt die Welt. Nein, ich möchte hier nicht Nixe sein!«

»Aber doch anderswo?«

Sie blickte ein wenig verwundert auf. »Warum fragen Sie das?«

Ich köpfte mit dem Spazierstock die langen Halme, die neben uns aufschossen. Und dann sagte ich zögernd: »Die Nixen dieses Sees sind nicht sündig. Hier ist alles so friedlich. Die Welt bleibt hinter den Bäumen, aber auch die Sünde bleibt dort –«

»Sind Sie Theologe?«

»Nein, dann würde ich nicht so sprechen. Aber ich denke mir, daß es ganz schön sein muß, vor allen Sünden so durch eine Mauer gesichert zu sein. Zu Zeiten wenigstens.«

»Und woher wissen Sie, daß die Nixen hier so tugendhaft sind?« fragte sie.

»Sehen Sie die weißen Blumen – so licht, so unschuldig? Können das unreine Seelen sein?«

»Glückliche Nixen! – hören Sie, jetzt nenne ich selbst Ihre Schützlinge glücklich. Es ist doch sehr angenehm, solch ein Denkmal zu erhalten, wenn man sündenfrei ist. 192 Wer gibt uns das? Aus unsern Gräbern steigen keine weißen Blüten auf, die für uns Zeugnis ablegen – – auch dann nicht, wenn wir tugendrein bleiben.«

»Es ist wahr,« sagte ich, »die irdischen Frauen haben keine Zeugen für ihre Tugend. Nur für die Sünden finden sich bisweilen die Beweise.« –

Es fielen ein paar große, schwere Tropfen vom Himmel herab. Dort oben war alles mit grauem Schleier umhüllt. Die Bäume schüttelten die dunklen Kronen, und auf dem Wasserspiegel schlug der Regen in zahllosen kleinen Punkten auf. Die weißen Blumen drüben am Ufer bogen sich hin und her und wußten nicht, wo sie unterkriechen sollten. Und es rauschte und raschelte, und mit einem Male lebte die ganze Welt. Aber es war ein recht unbehagliches Leben.

Die schöne Frau spannte den Schirm auf und hob ein wenig das glatte braune Kleid, das am unteren Saum mit modefarbigem Lila umrändert war. Ich las das »Was nun?« in dem Blick, mit dem sie mich, halb lächelnd und halb hilfesuchend, ansah.

»Ja« – und ich schüttelte dabei den Kopf – »es ist eine gute halbe Stunde bis zum Hotel. Und bei Regenwetter, in dem aufgeweichten Weg, wird's eine Stunde. Aber dort durch den Wald, an der Landstraße, wo die Eutiner Post vorüberfährt, kenn' ich ein kleines Wirtshaus, ganz einfach, aber doch regenfest –.«

»Gut,« sagte sie, »so wollen wir dorthin.« Ich bot ihr den Arm, aber sie dankte. »Es geht besser so,« meinte sie. Nach fünf Minuten waren wir angelangt.

Dann saßen wir in der viereckigen, kahlen Stube 193 an dem Tisch, auf dessen Platte die Fliegen in den Gläserspuren summten. Eine dumpfige, schwere Bierluft hing in dem Zimmer. Die Wirtin, ein häßlich üppiges Weibsbild, kam und versuchte mit einem schmutzigen Lappen den Tisch zu reinigen. Dann bot sie uns geschnitzte und gemalte Handschuhkasten und Uhrständer als Andenken an, aber wir dankten und bestellten nur Tee. Die Üppige ging hinaus, um den Trank zu bereiten.

Nun waren wir allein. Nur der Regen, der draußen wuchtig und kräftig herniederfiel und lautprasselnd aufschlug, ließ sich hören, aber er sauste so atemlos am Fenster vorüber, daß er nicht Zeit hatte, ins Zimmer hineinzuschauen. In silbergrauen, endlosen Fäden zog er nieder, und die Blätter an den Chausseebäumen zappelten und sprangen von rechts nach links, der Regen schlug sie und peitschte sie, und sie sprangen vor Angst in den merkwürdigsten Sprüngen.

Die schöne Frau zog die Handschuhe ab; sie hatte schmale Hände, durch deren mattglänzende Haut man das Blut schimmern zu sehen glaubte, und die zarten Nägel an den Fingerspitzen waren rund und kunstvoll geschnitten.

»Meinem Retter,« sagte sie und reichte mir lächelnd die Rechte.

»Ist es nicht fraglich, gnädige Frau,« sagte ich dann, »wer von uns den andern gerettet? Ich führte Sie hierher, aber Sie entrissen mich den schwärzesten Gedanken –«

»Sie übertreiben –«

»Ich übertreibe nicht – ich hatte Gedanken. Ich dachte mich auf den Grund des Sees hinab –«

194 »Zu den Nixen?«

»Ja, zu ihnen. Und das soll gefährlich sein. In allen Märchen fängt das Nixenunheil mit der stillen Sehnsucht des Ritters an. Man träumt sich so lange hinab, wiegt sich so lange in diesen Wonnen ein, bis man umschlungen und umwunden ist und leise hinabgleitet, halb noch im Traume, und doch schon ganz wirklich.«

»Und sind Sie mir tatsächlich dankbar, daß ich Sie dieser Seligkeit entrissen habe –«

»Incidit in Scyllam –«

»Oh,« sagte sie, »Sie sind ungalant.« Und dann wandte sie sich dem Fenster zu, hinter dessen schmutzigen, beräucherten Scheiben der Regen rauschte und klatschte, während vereinzelte große Tropfen langsam an dem Glase herunterzogen.

»Nein,« lenkte ich ein, um sie zu versöhnen. »Ich bin Ihnen dankbar. Und wär's auch nur im Interesse der Touristen, die nach uns kommen. Nun werden die weißen Blüten am See nicht aussterben.«

Sie lachte. »Ich habe jetzt wirklich einen Ehrgeiz,« sagte sie, »ich möchte, daß eine weiße Blume aus meinem Grabe wächst. Dahin möchte ich streben. Es muß so schön sein, wenn dann die Vorübergehenden sagen, wie drüben die Touristen am See: ›Hier liegt eine, die sündenrein ist‹.«

Ich bedauerte ein wenig die Wendung, die das Gespräch genommen, und äußerte die Hoffnung, daß sie sich nicht erkältet haben werde. Aber sie schüttelte den Kopf. Nur die Füße seien ein wenig naß geworden – vielleicht könne man die Schuhe draußen am Herde 195 trocknen? Das war ein guter Einfall. Sie hob wieder ein wenig das glatte braune Kleid mit dem modelila Saum empor und streckte mir die Füßchen entgegen. Ich kniete vor ihr und zog ihr die Schuhe ab. Es waren schwarze, zierliche, glanzlose Schuhe, allerliebst geschweift, mit lackledernen Spitzen. Ich nahm sie und betrachtete sie bewundernd, dann gab ich sie der Wirtin hinaus.

Es wurde warm in dem Zimmer, noch wärmer als vorher, und die großen schwarzen summenden Fliegen tanzten auf dem Fensterbrett umher, und draußen zitterten die Bäume im Regenschauer.

Sie saß im Stuhl zurückgelehnt und hatte ihre Füße auf meine Knie gelegt. Ich hielt die kleinen, warmen Füße zwischen den Händen und streichelte sie. Der braune Seidenstrumpf war ein wenig feucht geworden, er war so fein und dünn, daß man die weiße Haut hindurch leuchten sah; dann und wann krümmten sich die Zehen ein wenig und bogen sich vor, als wollten sie ihre Verbeugung vor mir machen. Das mußte ein Fuß sein, der sich unter dem braunen Seidenstrumpf barg! schimmernd und weich wie Schnee, wie mit Blütenstaub überhaucht, und gewiß mit einem ganz kleinen braunen Leberfleckchen auf dem Rücken oder an den Knöcheln.

Sie hatte den Hut und den Schleier abgelegt und die goldblonden Löckchen, die im Schatten fast rotblond schienen, waren da und dort in Verwirrung geraten. Die Augen sahen mir zu, die Lippen hatten sich ein wenig gewölbt, und der leise geöffnete Mund war in den Winkeln ein ganz klein wenig emporgezogen.

All das Kühne und Gewagte der Situation schwand durch die ruhige Sicherheit dieser Frau. Kein Wort 196 ward gesprochen, das jenseits der Grenze lag, welche die Gesellschaft gezogen, und es schien ganz unmöglich, daß ein solches Wort gesprochen werden könnte.

Ich weiß gar nicht, wie lange wir so saßen und wie oft ich die kleinen schmalen Füße streichelte – hinauf und hinunter. Ich weiß nur noch, daß der Tee schlecht war, den wir tranken, und daß wir dann und wann auch miteinander sprachen, von den Nixen und von anderen Dingen, aber doch nur mit Unterbrechungen. Und schließlich hörte der Regen auf, und die Schuhe waren getrocknet; ich zog sie wieder auf die kleinen warmen Füße und bewunderte sie noch einmal und prägte mir jede Naht und jeden Zug ins Gedächtnis. Dann sprang die schöne Frau auf, tat Hut und Schleier an, und wir gingen hinaus. Das Grün am Wege dampfte noch von der Regennässe, aber die Blätter hingen jetzt still und ließen langsam die schweren Tropfen hinabgleiten, in die nun die Sonne ihre Strahlen hineinschoß. Und so kamen wir zum Hotel, und mit ruhiger Abschiedsverbeugung trennten wir uns.

Aber ich mußte immer an die kleinen Füße denken. Sie standen so lebhaft vor mir und lagen mir im Schoß, und ich empfand noch das weiche, warme Gefühl in meiner Hand, das ich gespürt hatte, als ich sie in dem Wirtshaus an der regennassen Landstraße gestreichelt.

Und auch an die weißen Blüten mußte ich denken. Was hatte sie doch gesagt? »Ich möchte, daß eine weiße Blume aus meinem Grabe wächst.«

Dann kam der Abend, langsam, mit ruhigem, lindem Flügelschlag, und die grauen Schatten fielen auf den See, dichter und dichter, bis die Nacht da war und das 197 Heer der Sterne am Himmel aufging. Nun schwieg das ganze Land, und die Wälder träumten und die Wasser und drüben die Nixen, bei denen der Spuk begonnen hatte. Nur ich konnte nicht schlafen, aber ich träumte mit wachendem Auge. Und schließlich ging ich hinunter ans Ufer und sah zu dem ersten Stock des Hotels hinauf, zu dem Zimmer, das sie bewohnte. Ein Licht leuchtete dort matt und gedämpft durch den Vorhang; dort ruhte sie nun.

Und dann kam wieder das Sehnen nach den kleinen, wundersamen Füßen, und ich trat ins Haus und schlich in den Korridor hinauf, bis vor ihre Tür. Richtig, da standen vor dem Zimmer die beiden Schuhe; der Hausknecht hatte sie noch nicht abgeholt. Ich lauschte – es kam niemand. Ich bückte mich und betrachtete die schwarzledernen Dinger, die mich an so vieles erinnerten. Sie standen nicht in Reih und Glied, nicht korrekt und streng nebeneinander, sie standen, der eine hier, der andere dort, als hätte man sie schnell und achtlos hinausgelegt, mit einer reizenden, launischen Unordentlichkeit. War die Herrin müde gewesen, müde von dem Spaziergang im Regen, von unserem gemeinsamen Erlebnis –? Und träumte sie nun von den Nixen im See und dem schmutzigen Wirtshaus und den weißen Blüten, die aus ihrem Grabe wachsen sollten?

Aber Himmel, was war das? War das Täuschung? Der Schein aus der Flurlampe fiel hell auf die beiden Schuhe. Nein, es war richtig – der eine paßte nicht zum andern, der linke nicht zum rechten! Der rechte war ein wenig größer, in der Tat, aber sonst zum Verwechseln ähnlich! Kein Zweifel, das war nicht der Schuh von 198 Madame! Oh, ich kannte ihre Schuhe genau, jede Naht, jeden Zug, jedes Teilchen des Leders! Ein fürchterlicher Verdacht stieg in mir auf. Und schnell nahm ich einen Blaustift aus der Tasche und schrieb auf die Sohle des falschen Schuhs, was mir gerade durch den Sinn fuhr –

Am nächsten Morgen schritt ich über die Veranda. An einem der kleinen Tischchen saß der gelbe Holländer und trank seine Schokolade. Er las im »Figaro« und hatte die Beine übereinandergelegt, das rechte über das linke. Zwei kleine Jungen standen ein paar Schritt davon und buchstabierten ein Wort, das mit blauem Stift auf die Sohle des Gelben geschrieben stand. Und dann hatte der ältere von beiden ausbuchstabiert und sprang triumphierend in die Höhe und fuhr mit dem Arm durch die Luft und rief: »Verräter!« 199

 


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