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Die Macht der Gewohnheit.

I.
Der Wettkampf

Arthur stampfte vor dem elterlichen Hause den Schnee von den Füßen, sprang die Treppe hinauf, stürmte in das Zimmer und rief: »Papa! hier ist mein Monatszeugnis! ich bin wieder der Zweite geworden!«

Während der Vater dasselbe aufmerksam durchging und nach den einzelnen Fächern prüfte, hafteten der Mutter Augen mit Wohlgefallen auf dem Knaben, dessen frisches Gesicht mit dem Ausdrucke des besten Bewußtseins zum Lesenden emporgerichtet war und dessen schlanke, kräftige Gestalt sich in dem kurzen, pelzverbrämten Röcklein und den hohen Stiefeln gar hübsch ausnahm.

Arthur war des Lobes ungemein sicher, das konnte man ihm an den glänzenden Augen absehen, welche fast gierig darauf warteten. Erstaunen, Enttäuschung, ja Verblüfftheit zeigte sich deshalb in seinem Gesichte, als der Vater sprach: »Der Zweite? – und wer ist der Erste geworden?«

Arthur entgegnete, als ob dies eine ganz sonderbare Frage sei: »Nun, natürlich Konrad Walter; er ist ja immer der Erste und war es auch im vorigen Jahre immer.«

Darauf erwiderte der Vater: »Richtig, dein Kamerad, der arme Knabe, welcher dort drüben im Nachbarhause wohnt, ich glaube, der Sohn einer Lehrerswitwe vom Lande. Freut mich für seine Mutter! Aber du sagst es in einem Tone, als ob Konrad auf den ersten Platz eine von Gott selber ausgefertigte und gestempelte Anweisung hätte. Mir ist es jedoch nicht so ganz klar, wie dir. Ihm hilft kein Hauslehrer, und er genießt beim Lernen nicht einmal die Wohlthat eines eigenen Stübchens. Ist er vielleicht viel talentvoller als du?«

Arthur schüttelte den Kopf und antwortete etwas kleinlaut: »Der Herr Professor meint, ich sei talentvoller. Aber weißt du, Papa, er ist so einer von den Stillen und thut gerade, als ob es kein größeres Vergnügen gäbe, als zu lernen. Er hat auch keine Schlittschuhe und keinen Schlitten, sein Rock ist nicht so warm wie der meinige; es würde ihn draußen nur frieren, und er hat keine lustigen Geschwister zum Spielen; da ist's leicht, der Erste werden!«

Nun nahm des Vaters Gesicht einen ernstern, fast traurigen Ausdruck an, indem er sprach: »Du redest von den Wohlthaten Gottes, welche du unverdienterweise vor Konrad voraus hast, als ob sie ebenso viele Nachteile wären!« Dann fügte er in milderem Tone bei: »Wie schon erwähnt, ich gönne der armen Witwe die Freude an ihrem fleißigen Sohne; aber ich möchte, daß der meinige mit ihm den Wettkampf anstellte; es wäre für beide Teile von Nutzen. Willst du es nicht einmal versuchen, Arthur? Es soll dich nicht gereuen, Knabe!« – Mit diesen Worten gab der Vater auf die krausen Haare des Sohnes mit dem Zeugnisheft einen leichten Schlag, stellte ihm dasselbe zurück und wendete sich zu seiner Arbeit. – Diese väterliche Anrede wirkte auf Arthur, der sich bisher mit dem zweiten Platze begnügt hatte. – Er sah nun selber nicht recht ein, warum er nicht so gut, wie Konrad, der Erste werden könne. Sein geistiger Stolz sträubte sich gegen dessen Überlegenheit, und ein anderer, niederer Stolz, auf seines Vaters bevorzugte Lebensstellung, stachelte ihn zum Wettkampfe an. Er nahm sich ernstlich vor, zu wollen und gleich morgen damit zu beginnen.

Des Vaters Ermahnungen begannen bereits am Abend des gleichen Tages zu wirken. Anstatt mit den Geschwistern wie ehedem zu spielen, zündete er seine kleine Studierlampe an und setzte sich im eignen Stübchen vor seine Bücher. Er konnte von dort aus auf Konrads Fenster blicken, das gewöhnlich dunkel war; heute abend jedoch erschien es im Lichtschimmer, und Arthur sah den fleißigen Knaben ebenfalls bei einer Lampe sitzend, über seine Hefte geneigt. Er wunderte sich höchlich darüber und grübelte in einem fort, woher Konrad wohl Oel und Holz nehme, oder ob er gar im eiskalten Stübchen friere? – Er vermochte nicht lange in das Buch zu sehen, immer wieder zog das hellerleuchtete Fenster seinen Blick an und seine Gedanken vom Studium ab. Endlich stand er auf und klopfte an die Scheibe; aber Konrad erhob weder das Haupt, noch regte er sich vom Platze. Jetzt öffnete Arthur das Fenster und rief des Kameraden Namen – vergebens!

Arthurs Verwunderung ging nunmehr in Aerger über. Er schloß geräuschvoll das Fenster und setzte sich nieder mit dem grollenden Gedanken: »Es soll dich nichts nützen, Duckmäuser, wart' nur! Der Herr Professor hat ja selbst bestätigt, daß ich noch talentvoller sei, als du. Das wollen wir gleich haben, und morgen schon will ich dich mit einem Ruck von deinem Platze schieben, wie draußen auf der Schleifbahn.«

Arthur las eifrig in seinem Buche, doch kaum fünf Minuten, dann sah er wieder nach dem erleuchteten Fenster. Dort saß immer noch sein Kamerad, gegen den er keineswegs kameradschaftliche Gefühle hegte, und wenn er wieder zu lesen begann, dachte er zwischen hinein: »Sitzt er noch vor seinem Heft?« – und wußte gar nichts vom Inhalte des Gelesenen. Dann schaute er wieder hinüber und wieder ins Buch, und so waren zwei volle Stunden verflossen, als die Tischglocke ertönte. Verdrießlich folgte er ihrem Rufe; noch unter der Thüre blickte er auf das erleuchtete Fenster, und seine Augen trugen den düstern Ausdruck, während er betete: »Vater unser, der Du bist in dem Himmel!«

Bei Tische achtete er gar nicht auf das heitere Gespräch der Geschwister; plötzlich aber fesselten des Vaters Worte seine Aufmerksamkeit; denn dieser sagte: »Welch wackerer Knabe der Konrad ist! Eure Kameradschaft freut mich aufrichtig. Heute abend saß er bereits studierend vor der Lampe, die ich ihm schenkte. Da ist's eine Freude, solch kleine Wohlthat zu erweisen.«

Arthur hob hastig den Kopf empor: das Rätsel war zur Hälfte gelöst. Also vom Vater hat er die Lampe! Doch das eiskalte Stübchen? war es vielleicht erwärmt? wie kam er dazu? Er sagte rasch: »Den mag's ordentlich frieren in seiner Kammer!«

Der Vater entgegnete ruhig: »Das will ich nicht hoffen, denn ich versprach seiner Hausfrau, die Heizung zu bestreiten.«

Arthur brachte in höchster Verwunderung nur hervor: »Du, Papa?«

Dieser erwiderte: »Natürlich! wer sonst, als ich? Meinst du, ich werde meinen Sohn zum Wettkampfe mit dem Sohne einer armen Witwe ermuntern, ohne demselben die gleichen Waffen zu gewähren? Du hast ohnedies den Instruktor voraus!«

Arthur war ein herzensguter Knabe. Diese Worte des Vaters rührten ihn und feuchteten seine Augen; sein Verstand ließ ihn auch die Gerechtigkeit dieser Handlungsweise erkennen. Aller Verdruß und Groll verwandelte sich in Beschämung und in den festen Vorsatz, gleich Konrad tüchtig zu lernen und – wie der Vater sich ausdrückte – nur mit gleichen Waffen um den Sieg zu kämpfen.

Am nächsten Morgen war Arthur frühzeitig aus dem Bette und überlas noch beim Lampenscheine die Aufgabe. Freilich mußte es sehr rasch gehen, denn es verblieb ihm dazu nur eine halbe Stunde, und vom gestrigen Lesen wußte er kein Wörtlein. Doch er hatte ja solch' talentvollen Kopf, er faßte so schnell, und Konrad mußte alles wohl ein Dutzendmal überlesen, bis es ihm zum klaren Verständnis kam. Arthur nahm eilig das Frühstück zu sich, um rechtzeitig in die Lehranstalt zu kommen.

Alles ging heute vortrefflich! Plötzlich aber kam es anders; er mußte dem Herrn Professor eine Antwort schuldig bleiben. Ganz verwirrt sah er in des Fragenden Gesicht – nein – dies stand nicht im Buche! Doch Konrad kam ihm zu Hilfe und flüsterte ihm die Antwort leise zu; da Arthur aber gar nichts davon wußte, nützte es ihm nichts, er wurde dadurch vielmehr noch verwirrter. Arthur sagte fast ärgerlich: »Herr Professor, das steht nicht im Buche!«

»Doch, doch; unten in der Anmerkung, du hast es nur in deiner bekannten Flüchtigkeit übersehen!« erwiderte dieser. Dann rief er Konrad auf, es zu sagen. Derselbe antwortete geläufig und rückte mit allerlei heraus, wovon Arthur nicht eine blasse Ahnung hatte. O, wie er sich darüber ärgerte! Nein, er konnte auf dem Heimwege unmöglich an Konrads Seite gehen; derselbe kam ihm so hinterlistig und so undankbar vor. »War dies der Lohn für Papa's Geschenke, Holz, Oel und auch sogar noch die Lampe dazu?«

Diese Erfahrung bestärkte Arthur in seinem Vorsatze, es gelte, was es wolle, der Erste zu werden und tüchtig zu lernen. Aber was morgens ein löblicher Vorsatz gewesen, wurde jetzt von Bitterkeit gegen den unschuldigen Konrad verdunkelt; die Rührung verwandelte sich in Zorn.

Es war ein Mittwoch, dessen nachmittägliche Freistunden Arthur gewöhnlich benutzte, um seinem liebsten Vergnügen, dem Schlittschuhlaufen auf dem See, nachzugehen. Wie sehr hatte er sich immer darauf gefreut! Heute zum erstenmale nahm er sich vor, zu Hause zu bleiben und zu studieren, denn Konrad pflegte ja auch daheim zu sitzen; natürlich um ihm in der Schule voranzukommen. Als er seinen Vorsatz ausführte und den Kopf verdrießlich in die Hand stützte, hätte er lieber dem alten Buche einen Stoß versetzt, daß es, wie auf einer Schleifbahn, in die fernste Ecke geflogen wäre, doch am liebsten hätte er den armen Konrad gepufft. Wer anders, als dieser, brachte ihn um das prächtige Vergnügen, das man nur diese kurze Winterszeit hindurch haben konnte! und die Sonne schien so flimmernd auf den Schnee, gewiß taute es schon bis zum nächsten Sonntage!

Es war kein freudiges Studium, welches Arthur eine Stunde lang trieb, und mancher Blick schweifte auf die Straße, wo die Kameraden mit Pelzmützen und Pelzhandschuhen, die Schlittschuhe an Riemen tragend, zum See hinauseilten. Endlich konnte er's nicht mehr aushalten. Er warf das Buch zur Seite und dachte: »Abends ist's auch noch Zeit!« Schnell stak er im kurzen Pelzröcklein und eilte, als ob er das Versäumte einbringen müßte, von dannen.

Hei! wie er, ein geübter Schlittschuhläufer, vom Ufer aus unter die Kameraden hineinsauste! An diesem Nachmittage legte er's darauf an, allen zuvorzukommen, denn sein aufgeregter Geist hatte sich noch nicht beruhigt, und er sah in allen nur den armen Konrad auf der Schulbank.

»Du bist doch ein recht wilder Knabe!« sagte der Vater scherzend beim Abendessen, denn er hatte eine Weile unter den Zuschauern am Ufer gestanden; aber Arthurs Gelenkigkeit, Kraft und Frische gefiel ihm, es gehörte ja auch zum künftigen Manne. Dann fügte er die Frage bei: »Wo war denn Konrad? ich habe ihn nicht unter den Schlittschuhläufern erblickt.«

Arthur antwortete fast wegwerfend: »O, das ist ein Stubenhocker; er hat auch gar keine Schlittschuhe.«

»Dem kann abgeholfen werden! er soll bis nächsten Samstag welche haben. Solch fleißiger Knabe verdient auch ein Vergnügen, und ich sehe dich am liebsten in seiner Gesellschaft.«

Diese väterlichen Worte kamen Arthur ganz gelegen, und wieder regten sich in seinem Herzen die besseren, gutmütigen Gefühle. Aber Nebengedanken schossen doch auch dazwischen auf. Nun konnte er einmal den Meister spielen, den ungeschickten Kameraden unterrichten, und, was das Beste von allem war, ohne Sorge sich dem köstlichen Vergnügen hingeben; auch war es viel lustiger zu zwei, als allein, und Konrad hatte auch so gute, nette Einfälle – er gehörte nicht zu den Langweiligen.

Der Vater hatte das beste Mittel gefunden, die beiden Kameraden wieder zu vereinigen. An jedem freien Nachmittage gingen sie nun gemeinsam zum festgefrorenen See, und wenn dort Arthur sich in körperlicher Gewandtheit Konrad überlegen gezeigt, ja, denselben darin unterwiesen hatte, ging er um so mutiger und auch unverdrossener, frei von Beschämung, zum geistigen Wettlaufe über. Die beiden hatten ordentlich Respekt vor einander. Arthur bewunderte seines Freundes geistige, und Konrad wiederum Arthurs leibliche Ueberlegenheit; die gegenseitige Achtung ist aber auch schon in jungen Jahren die sicherste Grundlage der Freundschaft.

Inzwischen studierten die beiden wacker darauf los; Konrad saß jedoch immer noch, wie angenietet, auf seinem ersten Platze. Arthur konnte es nicht begreifen; er sagte oftmals: »Papa, es ist nicht anders, Konrad muß einen Talisman haben, anders ist's nicht möglich! Ich lerne doch so eifrig drauf los.« Der Vater lächelte nur ermunternd, aber im stillen dachte er: »Den Talisman kenn' ich; er heißt Ausdauer.« – So war es auch.

Wenn Arthur eine halbe Stunde recht eifrig gelesen hatte, war dieser Abschnitt des Buches auch bereits in sein Gedächtnis übergegangen und dann sprang er jubelnd auf; seine jüngeren Geschwister warteten auch bereits vor der Thüre, er hatte sie bis auf diese Zeit dahin bestellt, oder sie klopften auch wohl leise daran, und lustig ging's von dannen! Konrad dagegen brauchte viel länger; der Inhalt des Buches flog nicht in seinen Kopf hinein, aber er flog deshalb auch nicht wieder hinaus: er hatte sich vielmehr ein sicheres, warmes Nestchen gebaut, wo er heimisch wurde und haften blieb. Nach Wochen und Monaten war alles noch darinnen, er konnte es hervorrufen, wenn er seiner bedurfte. – Bei Arthur verhielt es sich gerade gegenteilig; nach einer Woche wußte er von allem nichts mehr; das Neue hatte das Alte verdrängt. Dann wurde er sehr ärgerlich und sagte: »Wie könnte denn alles im Kopfe Platz haben, wenn nichts hinausginge! Beim Papa ist's auch nicht anders. Was ich ihm heute erzähle, weiß er morgen nicht mehr.« Dann kam Arthur wieder auf seine Behauptung zurück, Konrad müsse einen geheimen Talisman besitzen, und wenn er den entdecken könnte, wär's gewonnenes Spiel.

Das liebe Frühjahr war wieder eingezogen, und statt des gefrorenen, im Sonnenglanz gleich Silber schimmernden See's widerspiegelten seine grünen Fluten die kleinen Kähne, welche darauf schwammen; der Englische Garten wurde wieder zur grünen Laubhalle, die Wiesen glänzten im Gras- und Blumenschmucke, Holunder und Jasmin dufteten lieblich, besonders morgens und abends. Die Sonne ging früh an ihre Tagesarbeit, sie hatte ja nun soviel zu verrichten, und die Vögel begrüßten den Morgen mit Gesang und Gezwitscher; selbst die Spatzen auf dem Dache hatten einander gar mancherlei zu sagen. Sie weckten Konrad oft schon um vier Uhr; dann sprang er aus dem Bette, nahm sein Buch, eilte hinaus zur Bank am Wasserfalle, und dessen Rauschen war Musik zum Lernen. Der Kopf fühlte sich gestärkt durch die frische, köstliche Luft; es war nicht anders, als ob das Gedankenthor sich erschlossen habe und den Inhalt des Buches zu fröhlichem Einzuge lade.

Konrad erzählte seinem Freunde sogleich davon und forderte ihn zur Begleitung auf. Aber dieser war zu spät schlafen gegangen, um früh genug munter zu sein. Als er jedoch nach einigen Tagen Konrads Fortschritte bemerkte, schloß er sich demselben an.

Ja, es war schön draußen im Englischen Garten! Die Vögel sangen und hüpften von einem Zweige zum andern; sie schienen alle Menschenfurcht verloren zu haben und völlig zahm geworden zu sein; sie kamen den beiden Knaben so nah, als wollten sie mit ihren hellen Aeuglein vom nächsten Zweige aus in ihre Bücher sehen und alles davon absingen; man brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu fangen. Arthur machte den Versuch, aber nein – fangen ließen sie sich doch nicht – husch – waren sie wieder fort und pfiffen ihm vom nächsten Baume. Sie brauchten nicht zweimal zu pfeifen – Arthur warf sein Buch zur Seite und folgte ihnen mit den Blicken von Baum zu Baum. O, wie sie mit ihm Versteckens spielten, die Hälschen bogen und drehten! Andere Vögelchen gesellten sich dazu und immer weiter ging's, immer vergnüglicher war's. Die kleinen Schelme warfen aus ihren Schnäbelchen dünne Reiser zu ihm herab, dann schienen sie ihn plötzlich auszulachen und schwangen sich singend in die blauen Lüfte empor.

Längst hatte Arthur seinen Begleiter und sein Buch vergessen, und hätte nicht die Uhr der Ludwigskirche so laut geschlagen, er würde auch Frühstück und Schule vergessen haben. Nun war es allerhöchste Zeit zur Heimkehr; er konnte nicht einmal mehr zum Wasserfall zurücklaufen, er mußte sein Buch im Stiche lassen; aber er that es mit der vollen Ueberzeugung, die ihn auch nicht betrog, daß Konrad es ihm schon mitbringen werde.

An diesem Vormittage kam Arthur völlig unvorbereitet in die Schule; während Konrad ein Lob des Professors erntete, mußte Arthur dessen strengen Tadel hinnehmen. Dieses Mal setzte es zwischen den beiden Kameraden beinahe Streit ab. Arthur sagte in höchstem Zorne: »Daran ist niemand schuld, als du! Warum hast du mich in den Englischen Garten verlockt?« Jetzt kochte es auch in Konrads unschuldigem Herzen und er antwortete: »Wer hat dich geheißen, den Vögeln nachzulaufen?« Aber Arthur hörte nicht darauf, sondern brummte vor sich hin: »Es geht nicht mit rechten Dingen zu! er hat einen Talisman! den muß ich entdecken! aber dann wart, Bürschlein!«

II.
Der Talisman

Arthur hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, »es gehe nicht mit rechten Dingen zu;« – es war so viel angenehmer, die Ursache in unnatürlichen Dingen, als in natürlichen – seiner eignen Flüchtigkeit und Konrads ausdauerndem Fleiße – zu suchen. Gewiß trug dieser ein Amulett, das ihm sein sterbender Vater gegeben. Arthur suchte den Freund zu überraschen, wenn dieser bei heißen Sommertagen ohne Rock im Stübchen saß; doch vergebens! es war nichts von einem Amulett zu entdecken. Vielleicht trug er es in der Westentasche? – auch diese barg nichts dergleichen. Arthur wußte es einzurichten, daß Konrad sie nach der Schule und einem errungenen Siege völlig umwandte; nur ein Bleistift und ein Griffelendchen kamen zum Vorscheine.

Arthur zerbrach sich unablässig den Kopf über diese geheimnisvolle Sache; er wandte keinen Blick mehr von Konrad, anstatt auf den Professor zu achten. Dies hatte eine gar üble Folge: bei der nächsten Monatsversetzung mußte er mit dem Dritten den Platz wechseln.

Wie traurig der gutmütige Konrad darüber wurde und mit welch niedergeschlagener Miene er auf dem Heimwege neben dem teuren Kameraden einherging! Seine Liebe zu ihm hatte sich seit dem Wettkampfe nur noch mehr vermehrt. Arthur legte diese sichtbare Traurigkeit aber ganz anders aus; er sah darin nur das böse Gewissen und dachte: »Holla! jetzt wird er sich bald verraten!« und seine Blicke hafteten noch lauernder auf dem Freunde.

Eines Vormittags, als Konrad im mündlichen Vortrage eben eine schwierige Frage zu lösen hatte und mit Eifer, die Augen zum Professor erhoben, seine Rede hielt, lächelte dieser mit Wohlgefallen und sagte nach Beendigung derselben: »Geht's nicht ohne den Rockkragen, he? Mich dauert nur der kleine Knopf dahinter! gewiß sitzt er nur noch an einem Faden.«

Ein tiefes Erröten flog über Konrads sonst bleiches Gesicht, und er stotterte: »Mein Vater –«

Dann senkte er sogleich die Hände, denn es war nicht das erste Mal, daß der Professor ihn auf diese Gewohnheit aufmerksam gemacht hatte, nämlich beim eifrigen Sprechen die beiden Enden des Rockkragens zu ergreifen, dann mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand den kleinen Knopf dahinter zu fassen und gleichsam aus ihm herauszudrehen, was doch im Kopfe lag und gesagt werden mußte. Ach! so hatte es sein lieber, guter Vater gemacht, und dessen Gewohnheit hatte sich auf den Sohn vererbt. Die gute Frau, bei welcher er sich in Pflege befand, konnte sich oft gar nicht genug wundern, daß die Fäden gerade bei diesem Knopfe nicht halten wollten. Aber sie war unverdrossen, und wenn sie des Morgens beim Ausklopfen des Röckleins den Knopf wieder lose fand, versäumte sie niemals, denselben zu befestigen; so blieb das Röcklein in gutem Zustande, und die kleinen Finger fanden stets den gewohnten Halt.

Des Professors Worte: »Es geht gewiß nicht ohne den Rockkragen, he? Mich dauert nur der Knopf dahinter; gewiß hängt er nur noch an einem Faden« und Konrads Entgegnung: »Mein Vater –« das plötzliche Stocken in der Rede – trafen das Ohr des lauernden Arthur, und wie ein Blitz fuhr es durch seinen Sinn: »Es geht nicht ohne den Knopf! der Knopf ist sein vom Vater vererbter Talisman

Von dieser Stunde an dachte Arthur unaufhörlich an den geheimnisvollen Knopf und sann auf eine erlaubte Kriegslist: »Ja, eine erlaubte«, dachte er bei sich. »Man gibt nicht einem verzauberten Knopfe, sondern dem natürlichen Fleiß die Belohnung des ersten Platzes.«

Vielleicht hätte Arthur sich dadurch zu Feindseligkeiten gegen den guten Kameraden verleiten lassen, denn böse Gedanken sind ein Unkrautsamen; aber dieselben wichen der Freude. Sein Vater hatte ihm nämlich für die Ferien im Gebirge einen netten Tiroler-Anzug machen lassen: kurze Beinkleider, Joppe und Gebirgshütlein, mit einem Gemsbart darauf. Diese Freude wirkte auf sein Gemüt gleich Sonnenschein auf den Nebel, es wurde wieder klar darin. Eher lassen sich Schmerz und Verdruß in die Seele verschließen, als die Freude; sie verlangt einen liebevollen Teilnehmer. Arthur eilte zu Konrad und lud ihn ein, doch gewiß nach der Schule zu ihm zu kommen, um seinen Anzug zu bewundern, aber nicht erst bis zum Abend zu warten; von elf bis zwölf Uhr hätten sie keine Aufgaben zu machen. Konrad begleitete also den Freund nach Hause und konnte sich an dem netten Kostüme gar nicht satt sehen. Da rief Arthur: »Weißt du was? probier' einmal den Anzug! das ist für mich besser als ein Spiegel.«

Gesagt, gethan. Während Konrad sich umkleidete, kam Arthur, der etwas größer war, der lustige Gedanke, sich in seines armen Kameraden Röcklein zu stecken, dessen Aermel ihm kaum zum Handgelenk reichten und als wandernder Handwerksbursche vor die Mutter zu treten. Dies war augenblicklich geschehen und er eilte in der Verkleidung hinaus. Plötzlich fuhr es durch seinen Sinn: » Der Knopf!« – Anstatt den harmlosen Scherz auszuführen, griff er nach dem Federmesser in seiner Westentasche und – geschehen war's! Mit zwei Schnitten hatte er den »Talisman« losgetrennt, rasch die Fäden ausgezupft und den Knopf in seine eigene Tasche gesteckt. Mit unbefangener Miene eilte er zum Freunde zurück, bewunderte denselben, und erst als es zwölf Uhr schlug, wurde wieder der Kleidertausch vorgenommen. Mit herzlichem Danke reichte Konrad dem Freunde die Hand, unwillkürlich zog dieser die seinige zurück – etwas im Herzen that ihm weh. Beim Mittagessen schmeckte ihm weder die Suppe noch das Fleisch; sogar die Mehlspeise kam ihm heute widerlich vor.

Die Nachmittagsschulzeit rückte heran; die beiden Knaben schoben frühzeitig ihre Bücher unter den Arm und eilten hoffnungsreich zur Schule. Konrad hatte am vorigen Abend sich tüchtig vorbereitet; Arthur dagegen wußte ihn ohne seinen Talisman, ja, er trug denselben in der eigenen Westentasche und hatte zudem auch seine Aufgabe wacker gelernt. Konrad fühlte sich tief innerlich glücklich und ruhig; sein blaues Auge widerstrahlte diese Zufriedenheit. Er ging mit gleichmäßigem Schritte seiner Wege und freundliche Grüße flogen nach allen Seiten. Arthur meinte glücklich zu sein, er hatte ja das lang Erstrebte erreicht; aber seine Seele warf unruhige Wogen; er eilte dahin und schenkte keinem Mitschüler die geringste Beachtung.

Die Unterrichtsstunden begannen; alle Bücher lagen geschlossen unter der Bank, denn es galt gewisse Regeln aufzusagen. Um den andern ein gutes Beispiel und zugleich eine Wiederholung zu gewähren, kam zuerst Konrad zum Aufrufe. Seiner Sache gewiß, erhob er sich fröhlich, schaute zum Lehrer empor und begann festen und deutlichen Tones, klar, innehaltend bei jedem Unterscheidungszeichen, sein Verständnis bekundend. Kaum hatte er einige Sätze vollendet, als die Hände auch schon den Rockkragen festhielten und Daumen und Zeigefinger der linken Hand wie gewöhnlich zu seinem Knopfe fuhren. Aber die Stelle war leer, die Finger fanden den Halt nicht; Verwirrung zog über den jungen Geist, der Gedankengang war gestört, die Erinnerung in dichten Nebel gehüllt; er stottert, – hält inne, glühende Röte überfliegt sein Antlitz und es flimmert vor seinen Augen.

Erstaunt blickt der Professor auf den Knaben. Konrad, der fleißige, pünktliche Kamerad, unvorbereitet, und dazu noch bei einer Prüfung! »Es muß etwas mit dem Knaben sein!« denkt er und ermutigt den Schüler, heißt ihn von neuem beginnen. – Vergebens! Wer hat es nicht schon erfahren, wie unlenkbar das augenblicklich gestörte Gedächtnis ist?

Was war da zu machen? Fast traurig klang des Professors Stimme, als sie den Knaben niedersitzen hieß und zur Prüfung der übrigen schritt. Es ging vortrefflich; besonders zeichnete sich heute Arthur aus, und es konnte kein Zweifel bestehen, wem der erste Platz gebühre. Es wurde dem Professor schwer, also zu entscheiden; aber würden sich nicht die andern Knaben in ihrem Rechtsgefühle verletzt finden, wenn der Erste nicht für einen Fehler büßen müßte, für den sie alle schon oft bestraft worden waren?

Die Schulzeit war zu Ende, die Knaben eilten nach Hause, die einen fröhlich, die andern betrübt und ein Teil völlig gleichgültig, indem sie es »ein Pech« nannten und tausenderlei Ausreden wußten. Konrad aber ging seiner Wege einsam, schlich ins Haus und in sein Stübchen. Dort setzte er sich an das Tischlein, legte den Kopf in die Hände und weinte, daß die Thränen zwischen den Fingern herniedertröpfelten, bis er endlich sich bis zur Platte niederbeugte in tiefstem Weh, und seiner armen Mutter gedachte. O, wenn er den ersten Platz verlöre, was sollte sie anfangen? Er bezog für diesen ersten Platz ja eine Unterstützung des Magistrates, die ihn ganz allein in den Stand setzte, sich dem Studium zu widmen!

III.
Reue und Sühne

Inzwischen war Arthur als einer der Fröhlichsten nach Hause geeilt und verkündete seinem Vater die Sieges- und Ruhmesbotschaft. Dieser ahnte nicht im entferntesten den traurigen Zusammenhang der Sache und lobte den Sohn. – Warum senkten sich plötzlich dabei dessen Augenlider, und warum ging er stillschweigend und mit einem demütigen Gefühle in sein Zimmer? Nach einer kurzen Weile trat der Vater bei ihm ein und sprach: »Hast du noch etwas für morgen zu lernen, so thu es jetzt. Sobald du Feierabend machen kannst, soll es fröhlich zugehen. Inzwischen besorgt die Mutter Schokolade; deine Geschwister freuen sich schon auf das Siegesfest.«

Nach einer Stunde trat Arthur in den Familienkreis und wurde mit Jubel empfangen. Er war jedoch der stillste von allen und vermochte nicht, zu einem rechten Freudengefühle zu kommen. Sein Herz fühlte sich zusammengeschnürt, uneins und bedrückt; er geriet oftmals in Aerger, hofmeisterte seine Geschwister, und kaum hatten sie ein Spiel begonnen, so war es ihm auch schon wieder entleidet; es drängte ihn von einem Wechsel zum andern. Oftmals lief er zum Fenster und schaute nach Konrads Stübchen. Deutlich unterschied er daselbst alle Gegenstände; es war solch ein armseliger kleiner Raum; aber wie seelenvergnügt hatte ihm oftmals von dort herüber der Freund zugelächelt! Heute saß er, den Kopf in die Hand gestützt, müßig am kleinen Tische, und als Arthur wieder hinüberschaute, hatte sich das Haupt darauf geneigt. – Immer von neuem zog es sein Auge hinüber, immer sah es das gleiche traurige Bild.

Endlich nahte die Dämmerung und hüllte alles in ihren Schleier. Nein, Arthur sieht den Kameraden noch in schwachen Umrissen. Ungeduldig läßt er den Vorhang hernieder; die Mutter hatte ja die Lampe gebracht. Nun atmet er frei auf, und ein neues Spiel beginnt, ein recht lautes, tobendes. Er ist der tollste von allen; aber bald ist es ihm wieder entleidet und er eilt zum Vorhang, hebt ihn ein wenig empor, um zu sehen, ob Konrad auch Licht habe. Nein, es ist dunkel da drüben, und Arthur sieht in seiner Vorstellung immer noch das Haupt auf die Tischplatte gesenkt. Das ist unerträglich, er will dieser ungewohnten Stimmung entfliehen, schützt Kopfweh vor und begibt sich zu Bette. Der Schlaf ist ein Freund der Jugend, und auch über Arthurs Geist streute er seine Mohnkörner. Doch der Traum ist minder barmherzig; er malt die Ereignisse des Tages in Zerrbildern, wirft sie durcheinander und jagt sie im Wirbeltanze durch den Geist; der kleine Knopf ist wie ein Kobold überall, bald in der Schokolade, bald schwebt er vor ihm in der Luft an einem langen Faden, bald stolpert Arthur über ihn, und bald rollt er vor des Professors Füße. Endlich, endlich schwinden alle diese quälenden Traumbilder, Arthur schläft tief und ruhig, bis das Morgenlicht wie ein milder Engelsblick sich auf seine Augenlider senkt und sie zum neuen Tage öffnet.

Der Morgen hat etwas gar Stärkendes und Heiteres. Er verjagt viele traurigen Gedanken, und was am Abende oder in der Nacht als Riese erschien, schrumpft im Lichte des neuen Tages zur Zwerggestalt zusammen. Auch Arthur hatte diesen Einfluß gefühlt: er ist wieder froh und trotzig geworden und sagt zu sich selbst: »Was geht es mich an, wenn der alberne Junge eines elenden Knopfes wegen in seiner Rede stecken bleibt? Geschieht ihm gerade recht, was hat er so dumme Gewohnheiten! Ich habe meine Aufgabe gelernt, kein Mensch hat mir eingesagt; ich verdiene meinen Platz, damit basta!«

Mit solchen Gedanken suchte Arthur sein Gewissen zu beschwichtigen und setzte sich um so selbstbewußter auf den ersten Platz, als sie heute in der Arithmetik geprüft wurden, und er darin Meister war. Der Unterricht begann, da vermißte er seine Stahlfeder; doch der Bleistift genügte ebenfalls und er trug denselben in der Westentasche. Als er aber danach griff, hielt er den abgeschnittenen Knopf zwischen seinen beiden Fingern.

Nun war die Verwirrung über Arthur gekommen. Angst, Beschämung, Gewissenspein, alles drängte sich zusammen und raubte ihm die klare Ueberlegung. Er verrechnete sich unaufhörlich und dazwischen klopfte es in seinem Gewissen: »Es ist ein gestohlener Platz.« – Der Professor schüttelte bedenklich den Kopf und durchstrich Arthurs Rechnung von oben bis unten. Um so glänzender ging heute Konrad aus der Prüfung hervor; die Nachtruhe hatte ihn erquickt und sein Morgengebet die Seele zur Ruhe gebracht.

Zu Ende war die Schulzeit, die Knaben schlenderten in Gruppen nach Hause, nur Arthur ging heute allein; aber nicht lange, denn bald befand sich Konrad an des Freundes Seite. Er wußte ja aus eigener Erfahrung, wie gar wehe solche Niederlage thue. Freundlich suchte er ihn zu trösten, indem er ihn an gestern erinnerte und wie er sich im gleichen Falle befunden habe, heute aber zum Glücke keine Versetzung sei.

Das schuldige Gewissen findet leicht im Harmlosesten Worte eine Stachelrede. Arthur wollte zornig aufbrausen; als er jedoch in des Freundes treuherzige Augen blickte, las er darin wahres Mitgefühl und wurde davon augenblicklich besänftigt.

Und wieder kam der Abend, und wieder stand ein Bild vor Arthurs Seele. Heute war es jedoch nicht das in Kummer gesenkte Haupt des Freundes, sondern dessen gutmütige tröstende Begleitung auf dem Nachhausweg von der Schule. Dieses Bild belebte zwar sein Schuldbewußtsein, aber seine Stimmung war nicht so herb und verdüstert wie tags zuvor; er hatte ja bereits seinen Fehler gebüßt und betete nun inbrünstig zu Gott, daß ihm verziehen werde, und daß der arme Konrad nicht um seinen wohlverdienten Platz komme. Dann fiel er in tiefen Schlummer und erwachte erst beim neuen Morgenlichte.

Als Arthur sich wieder der letzten Ereignisse klar erinnerte, stand sein Entschluß fest, Buße zu thun. Aber es war kein leichter Entschluß; er sah im Geiste den erzürnten Professor, den strafenden Vater, die spottenden Mitschüler und den schwergekränkten Freund, dessen fernere Liebe er natürlich verscherzt hatte. Wie herzinnig liebte er jetzt diesen Freund! Keiner kam demselben gleich, keiner war so nachgiebig, freundlich, gefällig, heiter, liebevoll! Und diesen Freund sollte er durch eigene Schuld verlieren! – Ja, es bedurfte einer stärkeren Kraft, als der eignen, um seinen Entschluß durchzuführen; das fühlte Arthur, und diese Kraft suchte er im Gebete, und je inniger er betete, desto mehr erstarkte sein Vorsatz.

Die Knaben eilten die Gänge entlang dem Schulzimmer zu. Langsam beschloß Arthur den Zug und sogleich gesellte sich Konrad zu ihm. Als die Schüler alle hinter den Thüren verschwunden waren, hielt Arthur den Freund zurück und mit heftig pochendem Herzen, mit bewegter Stimme sprach er:

»Halt, Konrad, halt! Ich muß dir etwas sagen. O verzeih mir, ich hab dir Böses gethan; ich bin ganz allein schuld an deiner gestrigen Verwirrung. Ich habe den Knopf von deinem Rocke getrennt, weil ich meinte, es sei dein Talisman, und weil ich der Erste sein wollte. O Konrad, verzeih mir! es reut mich so, daß ich gar keine Ruhe mehr habe.« Dabei weinte Arthur heftig und seine letzten Worte erstarben in lautem Schluchzen.

Erstaunt, bestürzt und anfangs heftig erzürnt, hatte Konrad zu gehört. Als aber Arthurs Thränen flossen, als das heftige Schluchzen die Worte erstickte, war mit einem Mal des guten Knaben Zorn besänftigt; Liebe, nichts als Liebe wogte in seinem Herzen. Er faßte des Freundes Hand und sprach:

»So weine und schluchze doch nicht so! Sei ruhig, ich bin dir nicht mehr bös. Sei doch nur zufrieden, es thut ja nichts, ich werde schon wieder vorwärts kommen. Wisch deine Augen ab; eile dich, wir kommen sonst zu spät.«

Er gab nicht eher Ruhe, als bis Arthur besänftigt an seiner Hand die Schulstube betrat.

Der Professor war noch gar nicht anwesend; er hatte vielmehr im Gange den ganzen Auftritt belauscht und tiefe Rührung empfunden. Kaum wußte er im gegenwärtigen Augenblicke, wen er mehr liebe: den Bereuenden oder den Vergebenden.

Nun trat der Professor ins Schulzimmer und sprach: »Laßt einmal hören, ihr Knaben, was ihr ohne Vorbereitung zu stande bringt. Wir wollen heute die Prüfung im Deutschen vornehmen. Rasch Feder und Papier zur Hand, und mache jeder einen schönen Aufsatz über die Worte des Vaterunsers: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern.«

Sogleich war jeder an seiner Arbeit, aber die meisten stützten nachdenkend den Kopf in die Hand, oder kauten an der Feder; nur Arthur und Konrad schrieben bereits emsig; aus den Augen des erstern rannen sogar einige Thränen aufs Papier. Nach einer Stunde waren sämtliche Schüler fertig, und der Professor rief zuerst Arthur auf, um seine Arbeit vorzulesen. Wie erstaunten alle Knaben, als derselbe in den rührendsten Ausdrücken seinen Fehler bekannte, Gott und seinen betrogenen Freund um Vergebung anflehte und gelobte, jedem zu vergeben, der ihn beleidigt habe und beleidigen werde. Nicht minder rührend war Konrads Aufsatz, der auch zum Vorlesen kam. Er handelte über die Fehlerhaftigkeit des eigenen Herzens und über die Wonne, eine Beleidigung zu vergeben, wodurch man die erstere einigermaßen wieder gutmache.

Es waren unstreitig die besten und gelungensten Aufsätze; alle Schüler anerkannten sie als solche, räumten Konrad den ersten und Arthur den zweiten Platz ein, und ein herzlicher Knabenjubel herrschte im Schulzimmer, als die beiden ihre alten Plätze einnahmen. Freilich war dies alles ganz außer der Ordnung. Der Lehrer sagte auch lächelnd: »Wir müssen schon nochmal eine deutsche Skription halten; diese aber wird gewiß notiert im Buche des Lebens.«

Aber noch eine weitere Sühne leistete Arthur. Er legte vor seinem Vater ein offenes Bekenntnis ab und bat denselben, Konrad in sein Haus aufzunehmen. Gerne willigte der tiefbewegte Vater ein; er hatte früher selbst schon den Gedanken gehabt, Konrad zu Arthurs Zimmer- und Studiengenossen zu machen. Die Uebersiedlung geschah noch an demselben Tage, und am nächsten wurde der Schneider bestellt, um Konrad Maß für einen neuen Anzug und eine Gebirgstracht zu nehmen; den erstern aber bezahlte Arthur aus seiner Sparbüchse, und als Konrad ihn anzog, flüsterte er: »Weißt, das ist für den abgetrennten Knopf.«

Die beiden Knaben lebten in voller Eintracht und Freude, einer durch den andern zum Fleiße ermuntert und im Guten befestigt. Später sprachen sie manchmal von dem erzählten Vorfalle, und Konrad endete jedesmal damit: »Ich segne ihn! Er hat mir eine zweite Heimat und den liebsten Freund eingetragen und mich zugleich belehrt, daß man sich vor albernen Gewohnheiten zu hüten habe


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