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I.
Die Revolution am Firmament.

Es war im Spätsommer des Jahres 1899. Als ob das sterbende Jahrhundert allen übrigen noch in letzter Stunde den Rang ablaufen wollte, hatten sich die Ereignisse in den Neunziger-Jahren in fieberhafter Hast gejagt. Das Flugproblem war endgültig gelöst. Die Beförderungsweise war zwar noch etwas kostspielig; dennoch unternahm man schon waghalsige Expeditionen und plante sogar einen Entdeckungsflug nach dem Nordpol. Fast mehr noch als die überraschenden Erfolge auf dem Gebiete der technischen Wissenschaften wurde die Menschheit von den Fragen der politischen und socialen Gesellschaftsordnung in Atem gehalten. Seit Monaten schwebte schon das Damoclesschwert eines aller Voraussicht spottenden, in seinen verheerenden Wirkungen unabsehbaren Weltkrieges über der Menschheit.

Die europäischen Großmächte hatten die Steuerkräfte der Völker aufs höchste angespannt, um die ungeheuerlichen Summen aufzubringen, welche die Heeresausrüstungen verschlangen.

Auch auf diesem Gebiete brachte fast jeder Tag neue Entdeckungen. Die Heeresausrüstungen der einzelnen Staaten waren in ewiger Umwandlung begriffen. Mit Eifersucht wachte ein Staat über den anderen, in der Schlagfertigkeit seiner Armee nicht überholt zu werden, und die Parlamente hatten schon längst das Murren über die fabelhaften Geldopfer verlernt. Mit fatalistischem Gleichmut votierten sie immer neue Millionen für neuartige Kaliber, für widerstandsfähigere Panzer, für rasantere Projektile. Wagte sich je eine schüchterne Einwendung hervor, so genügte ein Hinweis auf die furchtbare Verantwortung, dem Vaterland die Mittel für den Entscheidungskampf versagt zu haben, um den Zweifler verstummen zu machen.

Während so Millionen von arbeitstüchtigen Männern unter den Waffen standen, gährte es in der großen Masse des Volkes. Die aberwitzigsten Umsturzprobleme wurden offen und im geheimen als das einzige Heil der gehetzten Menschheit erklärt und fanden Tausende von fanatischen Bekennern. Schon längst hätten die Regierungen diesem unerträglichen Zustand durch einen zwar furchtbar blutigen, doch für den Fall des Sieges erlösenden Krieg ein Ende gemacht. Aber was dann, wenn die decimierten Heeressäulen im eigenen Lande von den aufgehetzten, blutgierigen Massen als Verräter verfolgt, erdrückt, zerschmettert würden?

Die Sache stand so: Die alliierten Mächte Österreich, Deutschland, Italien hatten an Rußland und Frankreich energische Noten abgesendet. Rußland hatte im mittelländischen Meere Flottenstationen errichtet und einen Handstreich auf Kandia unternommen. Frankreich hatte, zum großen Ärger Italiens, einen Teil von Tripolis annectiert. Drohende Noten flogen hinüber und herüber. Auf beiden Seiten wurde mobilisiert. Rumänien, Griechenland und die Türkei erklärten sich als Anhänger der Tripelallianz. In Russisch-Polen wuchs die Aufregung von Tag zu Tag. Die Grausamkeiten, welche die Russen zur Unterdrückung der Bewegung ausübten, beschleunigten den Entschluß der unglücklichen Nation, einen letzten blutigen Verzweiflungskampf zu wagen. England erklärte zwar, neutral zu bleiben, knüpfte aber daran gewisse Bedingungen, welche die Machtsphäre Rußlands im Mittelmeere beschränkten. Skandinavien war für den Dreibund; nur Dänemark liebäugelte mit Rußland und Frankreich. In Rußland hatten die neuerlichen nihilistischen Attentate eine despotische Polizeiherrschaft hervorgerufen, während in Frankreich Volk und Regierung immer mehr dem communistischen Staatswesen zusteuerten. Trotzdem wuchs die Begeisterung beider Nationen füreinander mit jedem Tage, der die Gefahr einer allgemeinen Conflagration näher erscheinen ließ.

So standen die Mächte einander schon geraume Zeit gerüstet gegenüber, den Arm zum Schlage erhoben. Aber der Arm fiel nicht auf den Gegner nieder, weil keine von beiden Parteien den Mut fand, eine entsetzenschwangere Zukunft heraufzubeschwören, die für den ganzen Weltteil verderbenbringend werden konnte. Man sprach von einem Schiedsgericht, von einem Friedens-Congreß, von allgemeiner Abrüstung, und die öffentliche Meinung verarbeitete alle diese Nachrichten mit leidenschaftlichem Interesse.

Da erschien eines Tages in den Blättern eine Mitteilung, die fast unbeachtet vorübergegangen wäre, wenn sich nicht die Witzblätter des dankbaren Stoffes bemächtigt hätten. In dieser Notiz war zu lesen, daß Mr. Oliver Brown auf der Sternwarte in Philadelphia die Beobachtung gemacht habe, daß am 11. September die Sonne um ein Sechzehntel einer Sekunde später als um die normale Zeit aufgegangen sei. Man belächelte diese Nachricht. Amerikanischer Humbug, erklärten die Blätter. Vielleicht eine schlaue Reklame für einen Uhrmacher, um zu beweisen, daß seine Uhren zuverlässiger als die Sonne sind. Die Witzblätter bildeten die Sonne als fidelen Bruder Studio ab, der von Vater Chronos geweckt wird. In den »Fliegenden Blättern« war Mr. Brown abgebildet, wie er mißbilligend die Sonne betrachtet und dabei in der Hand eine Uhr mit Wasmuth's Hühneraugenringen hält. So gingen die Scherze eine Weile fort, bis die Sache wieder vergessen war.

Einige Wochen später jedoch kam die gleiche Nachricht von der Sternwarte in Neapel; der dortige Gelehrte hatte aber gefunden, daß die Zeitdifferenz bereits ein Zwölftel einer Sekunde betrage. Jetzt stutzten die Leute. Die Zeitungen brachten lange Artikel für und gegen die Sache. Die einen behaupteten, es gäbe keine ausgesuchte Narrheit, die nicht in kurzer Zeit Nachahmer fände, die anderen erklärten die Entdeckung für einen Irrtum der betreffenden Gelehrten. Andere wieder meinten, solche kleine Störungen wären vermutlich schon öfter vorgekommen; sie würden aber immer wieder reguliert, da die ausgleichenden Kräfte des Gravitationsgesetzes keine dauernden Unregelmäßigkeiten aufkommen ließen. Es sei ja bekannt, daß auch die Erdachse oscillierende Bewegungen mache, pendelartige Schwingungen, die jedoch nach einem ebenso strengen Gesetze wie der ganze wundervolle Weltmechanismus zu Stande kämen. Man habe dergleichen bis jetzt nur zu wenig beobachtet, und ein eingehendes Studium werde auch in diesem Falle wieder den glänzenden Beweis erbringen, daß die Natur keine Sprünge liebt und derlei Veränderungen höchstens in einem Zeitraum von Jahrmillionen vor sich gingen.

Als aber die unheimliche Entdeckung von allen kompetenten Stellen ihre Bestätigung fand, änderte sich das Bild wie mit einem Schlage. Obwohl der Himmelsmechanismus noch immer wie sonst zu funktionieren schien, war es doch wie eine dumpfe Betäubung über die Menschheit gekommen.

All die übrigen Fragen und Verwicklungen, Ereignisse und Katastrophen, ja Krankheit und Tod traten jetzt in zweite Linie vor der furchtbaren Ungewißheit, der bangen Frage: Was wird aus unserem Erdball werden? In unheimlicher Stille bereitet sich ein ungeheuerliches, mit keinem Maßstab des Unglückes und der Verheerung, der Seuchen und des Krieges, der Erdbeben und der versunkenen Städte zu messendes Schicksal vor. Er war ja unfaßbar, der Gedanke, daß unsere schöne Erde, der erhabene Schauplatz der wunderbarsten Lebensentfaltung, der altehrwürdige Wohnort des zur höchsten Erkenntnisstufe emporstrebenden Menschengeschlechtes, wie ein steuerloses Fahrzeug im Weltenraum zerschellen sollte, daß, wie Einzelne zu behaupten wagten, den übrigen Sonnenkindern nur ein schwach leuchtender Punkt, ein chaotisch durcheinander wirbelnder Ball von glühenden Gasen ihr Dasein künden würde!

Mutlos sanken auch die werkthätigsten Hände in den Schoß, die Theater und Vergnügungslokale blieben leer; nur in den Straßen wogte bis in den frühen Morgen eine ängstlich bewegte Menge und teilte sich flüsternd ihre Besorgnisse mit. Kein helles Lachen, kein schriller Ton durchdrang die Luft.

Eine ehrfürchtige Stille herrschte in dem Sterbehause der Allmutter Erde. Nur wenn die Morgenzeitungen erschienen, ging eine lebhafte Bewegung durch die Menge. Man riß sich um die ausgebotenen Blätter, man umdrängte die Plakate, welche die Beobachtungen der einzelnen Sternwarten enthielten, man horchte auf jeden, der eine neue Nachricht zu bringen wußte. Aber sie lauteten alle gleich düster und geheimnisvoll; und dennoch zeigte die Erde keine wahrnehmbaren, beunruhigenden Veränderungen; die Herbsttage waren von entzückender Milde und elegischer Schönheit.

Jeden Tag stieg die Sonne am fleckenlosen Firmament empor und vergoldete den überreichen Herbstsegen mit ihrem verklärenden Schimmer, und die lauen Nächte mit der schimmernden Mondscheibe schienen die Tage noch überbieten zu wollen an majestätischer Pracht und heimlichem Liebreiz.

Und dennoch blickte die Menschheit voll banger Erwartung, voll unsagbarer Verwirrung zur Allerhalterin und Allernährerin empor; denn die einstimmige Aussage aller Himmelskundigen ließ keinen Zweifel darüber bestehen, daß die Gesetze unseres Weltmechanismus durch einen unerklärlichen, vielleicht aus ungeheueren Fernen stammenden Einfluß gestört worden waren. Das Unerklärliche, Unfaßbare, das nie da war, und das keines Menschen Hirn ausdenken kann, sollte nun Wirklichkeit sein? Das Ewige, Unveränderliche, die erhabene Gesetzmäßigkeit – all die Begriffe, an denen der Mensch seinen Maßstab anlegte, um seine kleine, beschränkte Endlichkeit an der Allmacht zu messen, sollten nun mit einem Male ihres Zaubers entkleidet sein – Sonnenbälle und Weltsysteme sollten den letzten, ephemeren Staubgeborenen die Lehre aufweisen, daß auch sie nichts sind vor dem einen allmächtigen Willen, als tanzende Stäubchen, emporgewirbelt und versinkend in meßbaren Zeiträumen?

Zu Anfang Oktober kam die Nachricht von der Sternwarte in Kairo, daß man am südöstlichen Himmel in der Nähe des Sternes Beteigeuze im Sternbilde Orion einen Kometen entdeckt habe, der gegenwärtig dem freien Auge zwar nicht sichtbar sei, doch nach den Berechnungen, die in der kurzen Zeit der Beobachtung möglich waren, seine Bahn mit fabelhafter Schnelligkeit durchfliege und sich unserem Sonnensystem nähere. Es sei kein Zweifel, daß dieses Gestirn die Ursache der Störungen sei, die sich auf unserer Erde in so verhängnisvoller Weise manifestierten. Die Gefahr eines Zusammenstoßes mit diesem Himmelskörper sei zwar verschwindend klein; er werde der Erde auf beiläufig zwei Millionen Kilometer nahe kommen; aber das sei eben bei der ungeheueren, die Erde um das Tausendfache übertreffenden Größe dieses Gestirnes nahe genug, um den unheilvollsten Einfluß auszuüben.

Wenige Tage später wurde der furchtbare Feind mit freiem Auge sichtbar, und nun wuchs er von Tag zu Tag, und sein unheimlich rötlicher Glanz gab selbst den hellen Mondnächten einen nie dagewesenen magischen Schimmer. Zuletzt dehnte sich seine ungeheuere Rute über mehr als ein Drittel des Firmamentes hin. Bei Tage, wenn die Sonne schien, war alles wie sonst. Aber kaum war der letzte Dämmerschein verglommen, so stieg das grauenhafte Phänomen empor und erfüllte die hilflose, verzweifelte Menschheit mit unsagbarem Entsetzen.

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