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Die Geschichte von dem buckeligen Ernst.

Auf einem ziemlich hohen Berge liegt ein großes Schloß mit vielen Türmen und Türmchen und blinkenden Zinnen, Waldburg genannt, von dem dichten Wald, der rings den Berg mit dem Schloß umgibt. Am Fuße des Berges liegt ein Dorf, das den gleichen Namen trägt, nach den Herren von Waldburg, denen es vor langen Jahren gehörte, als die Bauern den Gutsherren noch leibeigen waren.

Waldburg ist ein armes Dorf, seine Bewohner können nur mit mühsamer Arbeit bei den größeren Bauern oder der Gutsherrschaft oben auf dem Berge das Notwendigste zum Leben verdienen. Sie nähren sich meist von Kartoffeln, sehr schwarzem Brot und dünnem Kaffee, der mehr von Zichorien und gelben Wurzeln, die auf ihren mageren Feldern wachsen, gekocht wird, als von Kaffeebohnen, die man bei dem Kaufmann kaufen muß, aus denen die Mutter oder die Köchin unseren guten Kaffee kocht.

In diesem armen Dorfe wohnte ein Tagelöhner mit seiner Frau und seinen acht Kindern. Er und seine Frau mußten sauer arbeiten, um genug zu verdienen, damit sich die acht Kinder jeden Abend satt zu Bett legen konnten. Aber sie arbeiteten gern und hatten trotz der Mühe und Sorge, die ihnen die Kinder machten, ihre Freude an ihnen. Nur eins verursachte ihnen Kummer, weil es nämlich durch einen Fall in seinem ersten Lebensjahr buckelig und schwächlich geworden war und so die Arbeit nicht verrichten konnte, die es auf dem Lande zu tun gibt.

Ernst, so hieß der kleine Knabe, wurde von seinen Eltern nun wohl liebevoll behandelt; aber die Geschwister und Kinder des Dorfes, die nur das Lächerliche und Häßliche in der Erscheinung des Kleinen sahen, spotteten oft genug über ihn, und wenn sie alle tüchtig im Felde oder im Hof helfen mußten und er allein zusah, dann nannten sie ihn wohl gar einen unnützen, buckeligen Jungen. Das tat dem kleinen Ernst recht weh; ebenso, wenn er von den fröhlichen Spielen der Jugend ausgeschlossen war, da er mit seinem dicken Kopf und seinen dünnen Beinchen nicht flink mitlaufen konnte, wenn es im Hui über die Gräben, die Wiesen und Hecken ging. Oft saß er dann einsam und verlassen auf dem großen Stein unter der Dorflinde oder auf der Brücke über dem Bach, sah zu, wie sich die anderen Kinder fröhlich tummelten, und weinte, daß er nicht spielen konnte wie sie.

So saß er auch eines Tages; die Knaben und Mädchen spielten »schwarzer Mann«, jubelten und jauchzten um ihn her und waren alle vergnügt.

»He, buckeliger Ernst«, rief eins der kleinen Mädchen, »spiel mit!«

Da neigte der Knabe traurig den Kopf und machte ein Schippchen, obwohl es das Kind nicht so böse gemeint, sondern nur im Übermut einen Scherz gemacht hatte, der gerade nicht gut war.

»Geh aus dem Weg, du unnützer Junge!« schalt jetzt der größte der Knaben, der im Laufen an ihn prallte.

Da zog sich Ernst immer mehr in die Ecke zurück. Das Schippchen an seinem Munde wurde immer größer, er brach zuletzt in Tränen aus und weinte, daß er ein unnützer Junge sei, der auch nichts, gar nichts tun konnte und jedem im Wege war.

Da fiel ihm ein, daß der Lehrer am Morgen gesagt hatte, daß auch das unbedeutendste Geschöpf in der Welt von irgendeinem Nutzen zu sein vermöchte, daß jedes von ihnen doch suchen solle, etwas im Leben zu tun, das nützlich sei.

Und er hörte auf zu weinen und dachte darüber nach, was er tun könnte, – aber er fand nichts.

Da kam eine Dame über die Brücke. Sie blieb stehen und schaute sich um. »Kann mir wohl eins von euch sagen, wie ich auf das Schloß komme?« fragte sie die Kinder.

Aber die glotzten sie an – so recht neugierig – und fuhren dann fort in ihrem Spiel.

Die Dame wiederholte ihre Frage. »Da hinten herum!« rief Friedrich, der große Knabe, der Ernst einen unnützen Jungen gescholten. Und »hier, Hans, hier bin ich!« ging das Fangen und Laufen weiter.

Der kleine Ernst war ein schüchternes Kind; aber er dachte, da könnte er wohl endlich etwas tun; er faßte Mut, und obwohl sein Herzchen tüchtig klopfte, näherte er sich der fremden Dame und fragte: »Darf ich mit Ihnen gehen? Ich weiß den Weg.«

Die Dame war erst ein wenig zurückgeschreckt vor der kleinen, unansehnlichen, häßlichen Gestalt; dann aber, als sie den liebevollen Blick in den blauen Augen des kleinen Ernst gesehen und sein gutgemeintes Anerbieten gehört, sagte sie freundlich: »Ja, komm, mein liebes Kind, ich will dir dankbar sein.«

Und nun gingen sie zusammen. Ernst zeigte der Dame den Weg über die Brücke, vorbei an des Nachbars Garten, an der Kirche und dem Kirchhof, wo die alten Bäume standen, über die Wiese den Berg hinauf, erst durch eine Gruppe grüner Eichen, dann durch die Brombeerbüsche und zuletzt auf einem steinigen Pfad, der vor das Tor führte in der Mauer, die das Schloß umgab.

Da der Weg lang war und die Dame sehr freundlich mit Ernst gesprochen hatte, so hatte sie hier, am Ziel angekommen, schon das ganze Schicksal des Knaben erfahren. Das arme Kind dauerte sie und gefiel ihr auch, da es so sanft blieb bei seinen Klagen und niemals Böses von den Geschwistern und den Kindern im Dorf redete, obgleich sich diese doch oft unartig gegen Ernst erwiesen hatten.

»Geh' mit hinein und ruhe dich aus«, lud sie Ernst ein, und der Kleine folgte ihr, wenn auch ein wenig schüchtern, in das Schloß.

Die Dame hieß Frau von Stein; sie war eine reiche Witwe, ihr Mann und ihr einziges Töchterchen waren kürzlich gestorben.

Sie hatte Schloß Waldburg gekauft, um hier still auf dem Lande zu leben; erst gestern hier angekommen, waren ihr die Wege noch unbekannt, die vom Dorf nach dem Schloß führten.

Im Schloß nun bekam Ernst ein großes Butterbrot und schöne Kirschen. Der Knabe, an den selten solch ein Leckerbissen kam, machte sich hurtig daran; bald aber besann er sich anders und hielt sein Brot und seine Kirschen still in der Hand.

»Schmeckt's nicht?« fragte Frau von Stein.

»O doch«, lächelte Ernst verschämt, »aber –«

»Nun?«

»Ich möchte es den Geschwistern mitnehmen, die bekommen selten so etwas Gutes zu essen.«

Auch das gefiel der Frau von Stein; sie sagte dem Knaben, er solle es sich nur schmecken lassen, sie wolle ihm noch etwas für die Geschwister geben.

Und nun schmeckte es Ernst – o wie gut!

Frau von Stein plauderte mit ihm; sie fand, daß er ein gutes und kluges Kind war. Sie gab ihm ein Buch, das einst ihrem verstorbenen Töchterchen gehört hatte, damit er ihr daraus vorlesen möchte, und Ernst, der in der Schule immer fleißig gewesen war und darum auch lesen konnte, las flink und munter, deutlich und richtig die Geschichte, die sie ihm zu lesen aufgeschlagen.

So sah Frau von Stein, daß er auch ein fleißiges Kind war, er gefiel ihr immer besser. Sie wurden ganz gute Freunde, die beiden, und als Ernst nun endlich fortgehen mußte, lud ihn Frau von Stein ein, sie wieder zu besuchen, wenn er freie Zeit hätte.

Da Ernst keine Landarbeiten verrichten und auch nicht mit den Dorfkindern spielen konnte, hatte er viel freie Zeit und ging von nun an oft zu seiner neuen Freundin, der Frau von Stein. Sie spielte mit ihm andere Spiele als die, welche sie unten im Dorfe spielten, bei denen man nicht zu laufen und zu rennen brauchte; sie hatte auch andere Spielsachen als die, welche sie zu Hause kannten. Da war ein großer Baukasten mit schönen Klötzchen, langen und kurzen, dicken und dünnen, runden und eckigen; sogar bunte Fenster gab es darin, die man einsetzen konnte, wenn das Haus oder die Kirche fertig gebaut war. Da gab es ein Legespiel, mit dem sich herrlich Sterne und Vierecke und noch andere Figuren legen ließen, auch ein Flechtspiel, mit dem man allerliebste Dinge flechten konnte. Dann hatte Frau von Stein Geschichtenbücher mit wundervollen Bildern und prächtigen Geschichten. Ernst durfte darin lesen, soviel er wollte; oft mußte er ihr erzählen, was er gelesen hatte. Er ging auch mit ihr in den Garten. Da suchte er die welken Blätter von den Wegen und den Beeten; er durfte die Blumen gießen und hier und da einen schwachen Stengel, eine zarte Ranke anbinden, auf daß sie wachsen konnten. Dann sagte wohl Frau von Stein: »Es ist hübsch, daß du mir hilfst, denn das Bücken wird mir schwer.«

Und er freute sich, daß er jemand etwas helfen konnte.

So wurden die beiden immer bessere Freunde. Sie gewann den Knaben, der so viel durch seinen schwächlichen, mißgestalteten Körper entbehren mußte und dabei doch so sanft und geduldig war, täglich lieber, und Ernst, mit dem niemand außer ihr so gut und freundlich sprach, für den niemand im Dorfe Zeit hatte, der für niemand anderes etwas zu tun imstande war, hing jeden Tag mit mehr Liebe und Dankbarkeit an Frau von Stein.

So kam es, daß diese nach einiger Zeit zu seinen Eltern ging und ihnen sagte: »Liebe Leute, Ernst kann kein Bauer und kein Tagelöhner werden wie eure gesunden Kinder, denn er kann nicht arbeiten wie sie. Doch er ist klug und fleißig, er kann lernen eine andere Arbeit verrichten, die ihn ernährt und glücklich macht. Wenn ihr es zufrieden seid, will ich ihn zu mir nehmen und so erziehen, daß er diese andere Arbeit verrichten lernt.«

Die Eltern, die arm waren und sich oft geängstigt hatten, wer wohl für ihren Ernst sorgen sollte, wenn sie einmal tot wären, da er nicht für sich sorgen konnte, wie sie es als Dorfleute verstanden, waren über den Vorschlag erfreut. Sie riefen den Knaben und fragten ihn, ob er mit Frau von Stein gehen und bei ihr bleiben wolle.

Ernst mochte das schon, doch tat es ihm auch leid, Vater und Mutter, Geschwister und Heimat zu verlassen, und da er sich nicht entscheiden konnte, fragte er wieder die Eltern. Die sagten nun, er möge es doch tun, das sei am besten für sie alle. Und so sagte er ja und war es zufrieden.

So zog denn Ernst auf Schloß Waldburg, bekam hier schöne Kleider, ein schönes Zimmer, Spielsachen die Menge, gutes Essen und Trinken; doch er vergaß seine Eltern und Geschwister nicht. Sonntags durfte er ins Dorf hinuntergehen, sie zu besuchen. Stets brachte er ihnen etwas mit von all den Dingen, die er bekam, damit auch sie sich daran freuen sollten.

Aber er mußte auch noch anderes tun, als sich schön kleiden, spazieren gehen, spielen und gut essen und trinken. Frau von Stein ließ einen Lehrer kommen, der ihn unterrichtete, und er mußte fleißig sein und arbeiten. Oft, wenn die Knaben im Dorf unter der Linde spielten oder an dem Schloßberg herumkletterten und ihr fröhliches Rufen und Jauchzen bis an das Fenster oder den Garten drang, wo es Ernst hören konnte, saß er über seinen Büchern; denn Herr Meier, so hieß der Lehrer, war streng und nahm es genau mit den Aufgaben; Frau von Stein hatte gesagt, der Knabe solle ein ordentlicher, tüchtiger, nützlicher Mensch werden. Da mußte er auch ordentlich und tüchtig lernen.

Und Ernst tat es gern, war er doch froh, endlich etwas gefunden zu haben, das er tun konnte.

Die Jahre vergingen. – Das Kind war zum Manne erwachsen; freilich war auch der klein und buckelig geblieben, wenn sich auch seine Gesundheit gekräftigt hatte. Aber der Mann hatte viel gelernt, er war ein geschickter Advokat geworden, zu dem die Leute kamen von weit und breit, der viel, viel Geld verdiente und täglich reicher wurde. Aber auch in seinem Reichtum vergaß er die Heimat nicht, ebensowenig vergaß er, daß er ein armer Knabe gewesen, und wie Armut tut.

Immer von Zeit zu Zeit kam Doktor Ernst – so hieß jetzt der kleine, buckelige Knabe – nach Waldburg. Und dann kamen die Waldburger zu ihm, und er half den im Rechte Bedrängten mit seinem Wissen, den Armen mit seinem Geld. Und der erste, dem er zu seinem Rechte verhalf, war der lange Friedrich, der ihn einst einen unnützen, faulen Jungen gescholten hatte. Daran dachte Ernst nicht mehr; er war viel zu glücklich, daß er mit seinem Buckel und seinem unansehnlichen Körper doch nicht der unnütze Junge des Dorfes geblieben, sondern ein Mann geworden war, der den Leuten helfen konnte mit Rat und Tat.

Und die Leute staunten denn auch, wenn die blaue Equipage mit den prächtigen Schimmeln vorfuhr, und zogen artig die Kappen vor dem feingekleideten Herrn, der darin saß, in dem sie ohne seinen Buckel wohl kaum den Ernst erkannt hätten, für den sie einst oft genug nur Hohn und Spott gehabt, der ihnen so oft im Wege gewesen war. Jetzt waren sie stolz auf das Kind aus dem Dorfe und freuten sich an ihm.

»Hätte es doch nie gedacht, daß der Ernst etwas werden könnte!« meinte nun wohl der lange Friedrich ganz demütig, wenn er abends unter der Dorflinde bei den anderen saß.

»Es kann wohl jeder etwas werden, wenn er will«, sagte dann der Lehrer, der mit dabei war. »Unsere Arbeit hier«, fuhr er fort, »konnte Ernst mit seinen Kräften nicht verrichten, wohl aber eine andere, denn er war gut und fleißig. Wir können nicht alle gleich sein, noch alle das gleiche tun; aber es soll jeder nach der Arbeit suchen, die für ihn paßt, und wenn er sie gesucht und gefunden hat, dann kann er auch in ihr glücklich, geachtet und geliebt werden.«


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