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Zweites Kapitel.
Schneewittchens Geburtstag

So rasch als möglich war Käte nach Schluß der Nachmittagsschule dem Elternhause zugeeilt. Nun stellte sie Bücher und Nähkasten in den Schrank, wusch Gesicht und Hände und glättete die lockigen Haare, die sich immer wieder eigensinnig kräuselten. Dann guckte sie in den Spiegel und fand, daß sie ganz so aussah, wie es sich zu dem bevorstehenden Feste gehöre. Eine schöne, saubere Schürze hatte die gute Mutter ihr umgebunden und eine weiße Halskrause, und die Lederschuhe waren blitzblank geputzt, daß sie Leonoren heute wohl gefallen mußte.

Ihr Gesichtchen glühte vor Freude, aber auch vor Hitze, als sie in den Garten eilte, um einen passenden Platz zu der Geburtstagfeier zu finden. Es waren nur wenig Gäste heute da, denn die Hitze war fast unerträglich, und der Platz unter der mächtigen Kastanie, die am äußersten Ende des Gartens stand, ganz leer. Hier stellte Käte ihre Schätze auf und pflückte von der kleinen Wiese Maßliebchen und hübsche, grüne Blättchen zu einem Strauß für Schneewittchen. Dann eilte sie immer wieder an die Gartenpforte, um nach den Freundinnen auszuschauen, und endlich langte dann auch Elisabeth an, ein Körbchen am Arm tragend, in dem zwei Puppen und allerlei Naschwerk sich befanden.

Schneewittchens Anzug bestand aus weißer Seide, über und über mit blitzenden Flittern besetzt, so daß es aussah, als wenn im Winter der Schnee von der Sonne bestrahlt wird und wie Edelsteine schimmert. Gesicht und Arme waren von Wachs geformt und so fein und zart, daß Käte sich nicht getraute, sie anzurühren, und auf den blonden Löckchen, die von wirklichen Haaren waren, lag ein Kranz feiner, silberner Blüten; kurz, Schneewittchen war über alle Maßen schön, und Rosenrot, so hieß die zweite Puppe, womöglich noch schöner. Diese hatte dunkle Haare und rosenrote Schleifen darin, und das Kleid war von rosa Flor und hatte so viele Krausen und Kräuschen, daß das zarte Wachsköpfchen wie aus rosenrotem Gewölk schaute. Selbst die zierlichen Atlasschuhe waren rot, und rote Perlenschnüre zierten Hals und Arme.

Elisabeth freute sich über Kätchens Erstaunen und beide bemerkten es gar nicht, daß Leonore den Weg heraufkam, bis sie mit heller Stimme rief: »Liesel, Kätchen, guten Tag, guten Tag! Ihr seht und hört ja nichts! Was habt ihr denn?«

Elisabeth und Käte liefen ihr nun entgegen, und Jean setzte den großen Marktkorb nieder und packte die mitgebrachten Sachen aus. Der Tisch war viel zu klein, um alles darauf zu legen; ein zweiter mußte dazugerückt werden, und als alles schön geordnet war, schaute Leonore die Gespielinnen triumphierend an und fragte erwartungsvoll: »Nun, was sagt ihr dazu? Wird Schneewittchen mit ihrer Geburtstagsfeier zufrieden sein?«

Elisabeth sagte, daß sich Lorchen viel zuviel Mühe gemacht, und Jean auch, und daß alles sehr schön sei, aber was sollte Käte dazu sagen? So viel herrliche Spielsachen hatte sie ihr Lebtag nicht gesehen. Da waren zwei große Puppen im Ballanzug mit Schleppe und Fächer, eine kleine Wiege mit himmelblauer Decke und ein Schreikindchen darin, das die Augen auf und zu machte, ein reizender Wagen, in dem ein Herr und eine Dame im Mantel und Hut saßen, eine Küche mit Kochgeschirr und ein Porzellanservice, mit bunten Blumen bemalt, ganz so schön wie für große Leute, und von der Suppenterrine bis zu den kleinsten Kompottellerchen fehlte nichts; selbst ein kleines Tischtuch und Servietten für Puppen gab es. Und feine Butterschnitten und kalten Braten, Kuchen, Obst und Konfekt hatte Jean ausgepackt, und Elisabeth zeigte ihm Schneewittchen und Rosenrot und sagte, er möchte nur an Leonorens Mama bestellen, daß Schneewittchen sich bedanken ließe und daß sie alle miteinander sehr fröhlich sein würden, worauf Schneewittchen sich zierlich verneigen mußte und Jean lachend fortging.

»Kommen Sie nur nicht zu früh, mich abzuholen«, rief ihm Leonore noch nach. »Nicht eher, als bis es ganz finster wird.«

Käte hatte indes mit freudestrahlendem Gesicht angefangen, in der Küche Töpfe und Tellerchen, die sich durch das Tragen verschoben hatten, geschäftig wieder zu ordnen, aber Leonore rief lebhaft und ziemlich herrisch: »Nein, nein, laß das! Ich bin die gnädige Frau, Liesel die Köchin und du das Kindermädchen. Und weißt du, diese unnützen Sachen wollen wir lieber auf die Erde setzen, es ist sonst zu eng auf der Tafel.« Ehe Käte nur ja oder nein sagen konnte, lagen Mörser, Reibeisen, Butterfaß, Bilderbogen und Ball auf der Erde, und sie selbst saß auf dem Fußbänkchen und erhielt strengen Befehl von der gnädigen Frau, das Kindchen in Schlaf zu singen, damit sie dann die andern Kinder spazierenfahren könne.

Einen Augenblick war es Kätchen zumute, als wolle sie die kleinen Hände ballen, mit den Füßen trampeln und schrecklich böse werden. Ihr Gesichtchen wurde noch röter, als es ohnehin schon war, und in die freundlichen Augen schossen Tränen, aber das gute Liesel mit den blonden Zöpfen und blauen Augen, die ein gar liebes, weiches Herz hatte und Kätchen zärtlich liebte, stand schon neben ihr, umfaßte sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Sie meint es nicht bös, warte, ich stelle alles hübsch in das Gras,« und dann nahm sie behutsam die verschmähten Sachen auf und trug sie seitwärts auf die Wiese, wo sie nicht beschädigt werden konnten. Käte aber trocknete verstohlen die Tränen, die sie nicht hatte zurückhalten können. Sie schämte sich, daß sie immer wieder vergaß, was sie so oft schon der lieben Mutter versprochen hatte, sich zu bezwingen, nicht bei jeder Gelegenheit heftig zu werden; sie sah ordentlich in Gedanken der Mutter vorwurfsvollen Blick und hörte sie sagen: »Ein Mädchen darf niemals ein Brauseköpfchen sein, sonst mag sie niemand leiden,« und ganz kleinlaut blieb sie still auf der Fußbank sitzen und sang leise und ernsthaft:

Schlaf, Kindchen mein,
bist wie ein Engelein.
Bleib fromm auf Gottes Erden,
dann sollst ein Engel werden.
Schlaf, Kindchen mein,
ich wieg' dich treulich ein.

»Aber Käte, das Lied ist nicht richtig. So mußt du nicht singen,« sagte Leonore, während sie Schüsseln und Tellerchen mit Speisen füllte.

»Eia, Popeia,
was raschelt im Stroh –«

so singt unsere Kinderfrau, und die weiß doch, was ein Wiegenlied ist. Dies taugt nichts.«

»Ja, es taugt wohl, und ich singe doch, wie ich will,« rief Käte trotzig. »Mein Großpapa hat mir dieses Lied geschenkt, er hat es selbst ausgedacht, und die Mutter sagt, es ist schön.«

»Ich finde es auch sehr schön,« ließ sich Elisabeth vernehmen, »und die Kindermädchen singen immer, wie sie wollen, Lorchen.«

Die gnädige Frau Leonore schien damit nicht ganz einverstanden, denn sie fragte ziemlich unfreundlich:

»Wer ist denn dein Großpapa?«

»Der ist längst tot,« sagte Kätchen; »in Obernigk ist er begraben, wo er Organist war.«

»Organist, was ist denn das?« fragte Leonore neugierig. »Mein Großpapa ist Kommerzienrat und hat ein großes Haus und sehr viel Geld. Hat ein Organist auch viel Geld?«

»Ein Organist ist ein Organist,« sagte Käte aufgeregt, »und ein schönes Haus hat mein Großpapa auch gehabt, dicht an der Kirche, daß du's weißt!«

»Ach, ich bin heut nicht du, ich bin die gnädige Frau,« erinnerte Leonore.

»Ein Organist kann auf der Orgel spielen,« erklärte altklug Elisabeth. »Er darf in die Kirche gehen, wann er will. Ich möchte gleich Organist sein.«

Leonore lachte lustig. »Nein, ich nicht,« sagte sie. »Auf der Orgel spielen möchte ich nicht; Mama spielt immer hübsche Tänze auf unserm Piano, und das will ich auch lernen, und wenn ich erst größer bin, dann werde ich in die Tanzstunde gehen. Wißt ihr, dann muß mir Mama einen solchen Anzug kaufen, wie Rosenrot ihn heute trägt, der gefällt mir zu gut.«

»Aber Schneewittchen ist doch noch schöner,« ließ sich Käte vernehmen und sang wieder: »Schlaf', Kindchen mein,« usw. »So, nun schläft es,« sagte sie dann ernsthaft und deckte die feine Decke über die Wiege.

»Dann fahre nun gleich die Kinder nach der Promenade,« befahl die kleine gnädige Frau, »ich werde mit der Köchin das Mittagessen besorgen, und bleibe nur nicht zu lange fort, und daß nicht etwa der Wagen umstürzt und die Kinder sich beschädigen.«

»Nein, gnädige Frau, ich werde mich sehr in acht nehmen,« versicherte Käte, die nun wieder ganz fröhlich geworden war, und zog das Wägelein flink durch die kiesbestreuten Wege des Gartens und kam sich höchst wichtig vor, daß sie die Kinder fahren durfte.

Als sie wieder unter dem Kastanienbaum anlangte, da wartete die gnädige Frau schon mit dem Essen, und alle setzten sich nun an den Tisch, Schneewittchen und Rosenrot, und die beiden Balldamen obenan und die kleinen Kinder daneben.

Bei ihrem fröhlichen Schmausen und Plaudern hatten die Kinder es gar nicht bemerkt, daß sich der Himmel immer mehr verdunkelt hatte. Sie schauten verwundert auf, als plötzlich ein Wirbelwind durch den Garten brauste, der ganze Staubwolken aufjagte.

»Die Sonne ist verschwunden,« sagte Elisabeth ängstlich; »seht nur die großen, dunkeln Wolken. Alle Leute sind aus dem Garten fortgegangen, denn es wird gewiß gleich regnen.«

»Dann können wir ja in unser Haus gehen,« sagte Käte.

Sie lief voraus, die beiden andern folgten; aber – Himmel, was war das? Es blitzte hier und da und überall. Der ganze Garten stand plötzlich in einem Feuermeer, und ringsum knatterte und krachte es, als ob die Welt unterginge, so daß Käte vor Schreck stolperte und niederfiel und die beiden andern sich entsetzt aneinanderklammerten und die Augen schlossen. In dem Krachen des Donners und dem Sausen und Brausen ringsum ertönten von der Straße her ängstliche Rufe: »Feuer! Feuer! Es brennt!« Ja, es brannte das liebe, kleine Haus, in dem Käte gestern abend so glückselig gesessen hatte, in dem der Vater krank daniederlag und die Mutter an seinem Lager saß; es brannte, denn ein Blitzstrahl hatte es entzündet, und die hellen Flammen brachen aus dem Dach. Und als Käte mit zitternden Gliedern aufsprang und das Ungeahnte, Schreckliche sah, da schrie sie laut auf: »Vater! Mutter!« und dann fiel sie wieder zu Boden, denn es war plötzlich Nacht vor ihren Augen geworden, und sie wußte nichts mehr von sich und von allem, was um sie her vorging.

Der gewaltsam herniederrauschende Regen hatte das Feuer zwar schnell wieder gelöscht, aber als das Gewitter vorüber war und am klar gewordenen Himmel wie am Abend vorher die goldne Mondsichel schimmerte, als die Graspferdchen zirpten und die Sperlinge in den Baumkronen zwitscherten, da sah es gar öde und wüst in dem traulichen Garten aus. Der alte, hölzerne Zaun war umgebrochen, Bäume und Strauchwerk waren beschädigt, Tische und Stühle lagen umgeworfen neben- und übereinander, und die Gänge waren völlig erweicht und bildeten förmliche Wasserlachen. Und das ärmliche, kleine Haus, wie sah es traurig aus mit dem halb zerstörten Dach, mit den rauchgeschwärzten Wänden und zerbrochenen Fenstern.

Ein Zimmerchen nur war ziemlich verschont geblieben, und in diesem gingen gutherzige Nachbarn ein und aus, um Hermann und Kätchen zu trösten über den Verlust der Eltern, die Gott im gleichen Augenblick durch den flammenden Himmelsstrahl von der Erde abgerufen hatte.

Die Kinder aber saßen dicht aneinandergeschmiegt, lautlos und tränenlos da. Zu unbegreiflich, zu plötzlich war der erste herbste Schmerz des Lebens über sie gekommen. Sie waren wie vernichtet, und alle Worte, die man ihnen sagte, klangen ihnen unverständlich. Erst dann, als das kleine Zimmer von Teilnehmenden leer wurde und nur noch der alte, gute Franz bei ihnen war, die Tür zuriegelte und mit von Tränen erstickter Stimme sagte: »Kinder, ich verlaß' euch nicht, und der Vater im Himmel verläßt euch erst recht nicht,« da brachen die lindernden Tränen aus ihren Augen.


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