Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Staat und Vaterland

Der letzte Aufsatz vor der Revolution

 

1.

Die Frage, die eine Anzahl würdiger und bedeutender Männer mir vorgelegt hat, bringe ich auf die einfachste Formel. Dann lautet sie: Warum hat der deutsche Geist im Kriege versagt?

Die literarische Arbeit meiner letzten zehn Lebensjahre enthält die Beantwortung dieser Frage.

In der »Kritik der Zeit« habe ich die physische und geistige Lage des Abendlandes und seiner mechanisierten Zivilisation klargelegt. In der »Mechanik des Geistes« habe ich das Problem unseres neuzeitlichen Lebens vertieft und an die Grenzen des Reichs der Seele geführt. In den »Kommenden Dingen« habe ich der ungeistigen und unsittlichen Zeittendenz den Volksstaat und den sozialen Ausgleich entgegengestellt. In den Zeitungsaufsätzen, die vor Kriegsausbruch geschrieben und im ersten Bande meiner Schriften als »Mahnung und Warnung« zusammengestellt sind, habe ich die Irrtümer unserer Politik aufgedeckt und das drohende Schicksal verkündet. In der »Neuen Wirtschaft« habe ich das System einer versittlichten Wirtschaft aufgestellt. Im Aufruf an »Deutschlands Jugend« habe ich die Ursachen des Niedergangs ausgesprochen und das innerste Volksproblem, die Frage unseres Charakters behandelt.

Soll ich jetzt nochmals, in knappsten Worten, die Gründe unseres Schicksals zusammenfassen, so wird die Antwort nicht süß und milde sein wie das Gerede der Schmeichler und Lobredner der letzten vier Jahre, sondern hart. Hart wie das Problem und hart wie unser Schicksal.

 

2.

Wir Deutschen haben bisher weder wahres Staatsgefühl noch wahren Patriotismus gekannt.

Unser Staatsgefühl war bestenfalls die Freude an einer gewissen Machtentfaltung, an äußeren Erscheinungen der technischen Organisation und Zivilisation.

Diejenigen, die den Staat in der Hand hatten, benutzten ihn, diejenigen, die außen standen, mußten ihn dulden. Jeder war Vorgesetzter oder Untergebener oder beides, niemand war Civis Germanus, deutscher Bürger. Der Staat war nicht unsere Heimat, unser Haus, sondern eine zwingende Festung. Wir lebten im fortgesetzten Belagerungszustand und ließen es uns gefallen, weil jeder Geld verdiente, und weil ihm gesagt wurde, es könne nicht anders sein. Daß es anders sein könne, wußten nur die Ausgewanderten, deshalb kamen sie nicht zurück.

Wir haben Heimatsliebe, und meistens eine recht enge. Heimatsliebe ist aber nicht Vaterlandsliebe.

Das berühmte Bismarcksche Wort vom dynastischen Gefühl sagt, wenn man es im Volkston ausdrückt: An Stelle des Nationalgefühls hat der Deutsche die dynastische Anhänglichkeit aus Abhängigkeit im Leibe.

Die monarchische Staatsform ist gut und für uns vielleicht die beste. Die Anhänglichkeit an Fürstengeschlechter, die Großes geschaffen haben, ist gerechte Pietät und freier Menschen nicht unwürdig. Erbliche Untertänigkeitsgefühle aber sind nicht Sache eines erwachsenen Volkes. Staat und Monarchie sind nicht, wie die Professoren es wollen, gleichberechtigte Mächte, sondern die Fürsten sind nach Friedrichs Wort die ersten Diener ihrer Staaten. Unser Vater ist Gott, unsere Mutter das heimatliche Land. Landesväter und Landesmütter gibt es nicht, es gibt keine Untertanen, sondern Staatsbürger. Wer anmaßende Erlasse duldet, entwürdigt sich.

Unser Stolz gilt dem Lande und seinem Geist, sofern es einen Geist hat; er gilt unserer freien Manneswürde und gilt dem Monarchen, sofern er einer der Unsern ist, nicht, sofern er als Mitglied einer internationalen Familie und Vertreter eines eigenartigen Menschenschlages über unsern Häuptern thront und Dinge über uns beschließt, die wir angeblich nicht verstehen.

Der Stolz und die Freude am eigenen Lande und am eigenen Geiste – sofern er ist – hat werbende Kraft. Erbliches Untertänigkeitsgefühl und der Wunsch, es auf andere zu übertragen, hat keine werbende Kraft, sondern ist andern ein Spott und ein Ärgernis.

Wo hat es bei uns eine unabhängige, mannsstolze Freude an der Würde und dem Geiste des eigenen Landes und Volkes gegeben? Bei sehr wenigen. Patriotische Kundgebungen gipfelten zumeist in einer Feindseligkeit oder in einer Untertänigkeit, so daß viele, und oft die besten, sich abwendeten.

 

3.

Gibt es überhaupt einen deutschen Geist?

Wohlgemerkt: Deutscher Geist besteht nicht in der Überzeugung von eigener, unübertrefflicher Vorzüglichkeit, nicht in der Freude an schönen Schiffen, Bauten und Armeen, an Technik und Disziplin, an Strammheit und Klappen, nicht einmal in der Erinnerung an die Taten der Vorfahren, am wenigsten im gemeinsamen Haß gegen das Fremde und im Wunsche, es durch Macht zu unterwerfen.

Deutscher Geist kann nur schaffender Geist sein. Geist der Sitte, der Erkenntnis, der Vertiefung, der schöpferischen Phantasie. Und da es sich hier und in greifbarer Zukunft um politische Aufgaben handelt, so ist es zu allererst die klare, festumschriebene Aufgabe des deutschen Geistes: den Staat und die Wirtschaft der Sittlichkeit und Gerechtigkeit zu schaffen und seine Schöpfung in den Verband der Völker vorbildlich einzufügen.

Seit dem Ende der großen Volksumschichtung, die in Deutschland die alte Oberschicht durchbrach, seit fast hundert Jahren hat es einen deutschen Geist nicht mehr gegeben.

Es gab deutsche Forschung, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Staatsorganisation und daneben ein breites, aber untiefes, einheitloses und machtloses Leben des Gedankens und der Kunst. Die Erbschaft unserer Großen haben wir verwaltet, nicht vermehrt.

Ob das neue deutsche Volk eines neuen deutschen Geistes fähig ist: davon hängt es ab, ob uns ein nationales Leben beschieden bleibt.

 

4.

Unser Leben war bislang ein Leben der Interessen.

Zwar nicht allein der materiellen Interessen; hinzu kamen Interessen des Standes, des Berufs, der Pflicht, der Forschung; doch unser Leben war ein Leben der Interessen, nicht der Ideen und Ideale.

Schrankenlos gaben wir uns der Mechanisierung hin. Von andern übernahmen wir die Formen der Wirtschaft der Technik, des Verkehrs, der Politik, erfüllten sie mit unablässiger Gründlichkeit und Pünktlichkeit und wurden zu Beherrschten und Besessenen dieser Dinge.

Doch liebten wir sie selten um ihrer selbst willen, meist um unserer Interessen willen.

Wir steigerten sie zu ihren Gipfeln, die unserem Wesen fremd waren: Imperialismus und Nationalismus, und nahmen begierig teil an den Kräften, die den Krieg und die Weltrevolution entfachten.

Wir glaubten, daß alles zu zwingen sei durch Technik, Disziplin, Wohlstand und Macht, und vergaßen den Geist. Der schien uns utopisch, gleichviel ob als sozialer, religiöser, denkerischer oder sittlicher Geist.

Selbst die beamtete Wissenschaft und Seelsorge verherrlichte die Macht, die technische Zivilisation (die sie Kultur nannte) und den Krieg.

über die Maßen waren wir gelehrt und kenntnisreich. Wir glaubten, Wissen könne Denken ersetzen. Wir erstickten im Wissen, verlernten Urteil, Denken, Unbefangenheit und Übersicht.

 

5.

Unsere Fehler waren Fehler des Charakters.

Leibeigenschaft saß uns im Blut; wir waren geflissentlich abhängig und autoritär.

Die herrschende Kaste besaß alle Macht. Sie verfiel dem sittlichen und geistigen Irrtum, uns mit allen Mitteln der Staatsgewalt und Pathetik in der Gebundenheit zu erhalten. Es wurde ihr leicht.

Das höhere Bürgertum verdiente, lechzte nach Beziehung und Anerkennung, fürchtete den Sozialismus, nannte sich liberal und war konservativ. Es gab in unserer Politik durch die Macht seiner nationalliberalen Partei den Ausschlag.

Die ländlichen Abhängigen wurden bevormundet.

Die Politik der Arbeiterschaft war doktrinär.

Der Geist der Intellektuellen war anarchisch. Jeder wollte auf Kosten der ernstesten Dinge den Beweis seiner überlegenen Klugheit erbringen. Die Ansicht eines andern zu teilen war verpönt, vor dem Einfachen und Klaren hatte man Abscheu. Es gab soviel Meinungen wie Menschen.

Die größte Macht hatte der Interessent, wenn er die Staatsmaschine zu benutzen wußte.

Erörterung politischer Fernziele galt als utopisch, man wurstelte an Tagesfragen.

Alle politischen Parteien, selbst ein Teil der Sozialdemokratie, verabscheuten die Demokratie und den Parlamentarismus. Professoren erfanden eine deutsche Freiheit, die genau mit dem bestehenden Zustand übereinstimmte; wer für politische Mündigkeit und Freiheit eintrat, wurde verfolgt.

Das Bestehen einer militärisch-bureaukratisch-feudalen Klassenherrschaft wurde von fast allen bürgerlichen Politikern geleugnet.

Der Zustand des Vorgesetztentums, der gottgewollten Abhängigkeit, der patriarchalischen und groben Bevormundung wurde als preußisch-deutsche Tradition verherrlicht.

Erhaltung der Vorrechte des Standes und Besitzes galt als eine der vornehmsten Staatsaufgaben.

 

6.

Aus der geistigen Anarchie, in der keiner zum andern ein Vertrauen hatte, retteten sich die Gutgläubigen und Lenkbaren zu den sichtbaren Autoritäten. Denn da, wo der echte, der schöpferische und kritische Geist sich in Atome zersplittert und zur Wirkungslosigkeit auflöst, da siegt die triviale Autorität, weil sie allein die Macht hat, eine Partei zu sammeln, eine Partei, die überall vorhanden ist, die selbstgefälligste, überzeugteste und fanatischste aller Parteien: die der Urteilslosen.

So erklärt sich der scheinbar vollkommene Widerspruch: daß geistige Zersplitterung und blinder Autoritätsglaube nebeneinander bestehen können. Und es folgt daraus: daß bei einem Zustande geistiger Anarchie, der sich nicht aus wahrem Individualismus, sondern aus Zuchtlosigkeit, Originalitätssucht und Verwechslung von Wissen mit Urteil ergibt, daß bei einem solchen Zustand, der den Akademos zur Bierbank und zum Debattierklub entwürdigt, schrankenlos und unduldsam die Trivialität herrscht.

Bis zur Verzweiflung haben unter diesem Zustand vier Jahre lang die ganz wenigen gelitten, die ihr Urteil nicht preisgaben.

Hilflos mußten sie mit ansehen, wie der furchtbare Irrtum von den höchsten Spitzen bis zu den tiefsten Schichten ein ganzes Volk beherrschen konnte, der Irrtum über die Entstehung des Krieges, über seine Aussicht, über die jeweilige Lage. Während sonst die Beruhigung bleibt, daß die Meinung der Straße im Urteil der Leitenden und Wissenden ein Gegengewicht findet: hier war der Fall, daß die Leitung glaubte, was die Straße sagte, und daß die Straße beseligt war, jedesmal von den höchsten Autoritäten bestätigt zu bekommen, daß sie im Recht war.

Eine ähnliche Unduldsamkeit des verleiteten Urteils hat es seit dem Mittelalter nirgends mehr gegeben. Nicht nur, daß die Gelehrsamkeit, die Finanz, die Industrie, die Publizistik, die Gewerbe in politischer Einsicht völlig versagten, daß sie jede Zeitungsnachricht und offiziöse Behauptung als objektive, absolute Wahrheit wohlgemut hinausschrien; sie verbanden sich in der Abwehr, indem sie jede entgegenstehende Meinung und Äußerung verdächtigten, beschimpften und verfolgten.

Sie hatten es leicht. Der Rest des deutschen Geistes war mit Kriegsbeginn verebbt. Bis in die Fensterauslagen und Beiblätter herrschte der Gegengeist und die Gegenkunst. Die Ranküne und Rache des Ungeistes, der Sklavenaufstand des Philisters gegen das ihm Unverständliche und Verhaßte breitete sich aus. Die schroffste Zensur unterdrückte jede freie Regung. Eine Berichterstattung von unten nach oben, die nur das Gewünschte durchließ und das Bedenkliche aussiebte, eine Berichterstattung von oben nach unten, zu der fast alle Gebildeten sich propagandistisch hergaben, und die immer wieder das gleiche, falsche Gesamtbild bekräftigte, stützte die befohlene und leider so gern geduldete Einförmigkeit der Meinung.

Die Gebildeten wetteiferten in gefälligen Gutachten, im schamlosen Selbstlob der Nation, in der Umschmeichelung der populären Stimmung.

Das schlimmste aber war, daß offenkundig der Krieg und seine Ereignisse benutzt wurden, um alles, was den herkömmlichen Autoritäten mißfällig und ungefügig war, zu widerlegen und zu entkräften.

Das Gottesurteil des Gewaltsieges sollte den Beweis für das Recht des Bestehenden bringen. Geist, Freiheit und Fortschritt sollten widerlegt werden zugunsten der Autorität, der Gewalt, des militärischen Feudalismus. Es sollte den unzufriedenen Stänkern gezeigt werden, daß sie nur von Gnaden der gepanzerten Faust leben.

Der Krieg war gedacht als die absichtliche, stärkste antidemokratische Demonstration aller Zeiten.

Er wurde das Gegenteil. Zunächst zeigte sich, daß alle geheimen, autoritativen Vorbereitungen versagt hatten. Alle geheime autoritative Politik und Diplomatie hatte versagt und versagte weiter. Alle Staatsmänner und die meisten vorgesehenen Heerführer mußten ersetzt werden. Die bunte Paradearmee des Mlitärstaates wich dem improvisierten Volksheer.

Der Krieg wurde ausgefochten vom Volk und nur vom Volk; an der Front und in der Heimat.

Er konnte nicht gewonnen, er durfte nicht verloren werden. Nie wäre er verloren worden hätte man einsichtiger Opposition Gehör geschenkt, statt sie zu vernichten. Die Zeit wird kommen, wo gesagt werden kann, wie rechtzeitig und nachhaltig gewarnt, wie leichtherzig die Warnung in den Wind geschlagen wurde.

Aus Anarchie hat der deutsche Geist versagt, aus Mangel an Charakter hat er sich entmannen lassen, aus dem Willen zur Unterdrückung des Geistes wurde der Krieg verloren.

 

7.

Und August 1914? War er nicht eine Kundgebung deutschen Geistes?

Das Ereignis war groß und ist unvergeßlich. Es war der rauschende Eingangsakkord zum unsterblichen Gesänge von Opfer, Treue und Heldentum. Es war jedoch eine Kundgebung nicht des deutschen Geistes, sondern des deutschen Willens. Die Einheit eines großen Willens war das Erlebnis.

Niemand soll gefragt werden, wieviel primitiver Kriegswille, wieviel ahnungslose Abenteuerlust, wieviel Wunsch nach Betätigung, Beförderung, Bereicherung, Korrektur der Lebenslaufbahn sich in den Gemeinwillen gemischt hat. Sicher ist, daß die Liebe zur Heimat und das Aufgehen in einem Einheitswillen, daß die gefühlte Abkehr vom Kleinen, Gesonderten, Alltäglichen die stärkste treibende Kraft war.

Der Geist aber schlief. Vergessen war die dreißigjährige Politik des Irrsinns, vergessen das Ultimatum und die Kriegserklärung Österreichs an Serbien, vergessen jedes Kraftmaß und die Schwäche der Leitung.

Man ließ sich sagen und glaubte, weil man glauben wollte, wir seien von vier Nationen überfallen.

Es ist zu spät und zu früh, von der Vorgeschichte des Krieges zu reden; wer es damals wagte, wurde verhöhnt oder bestraft.

Der Krieg mußte kommen als Weltrevolution, als Gewitterschlag aus der überspannten Atmosphäre der Mechanisierung, des Imperialismus und Nationalismus. Er mußte für Deutschland kommen als der letzte mögliche Schicksalsschlag, um das Volk aus politischer Indolenz, Rückständigkeit und Abhängigkeit emporzureißen. Daß er im unglückseligsten Augenblick, halb gewollt, halb ungewollt, hoffnungslos und verhängnisdrohend ausbrach, war Folge des Systems und seiner dreißigjährigen Politik.

Daß nichts von diesen Wahrzeichen und Vorbedeutungen erkannt wurde, daß man den frischen, fröhlichen Reiterkrieg bis längstens Weihnachten, das wohlgemute Verdreschen der Feinde glaubte; daß man den Respekt vor dem inneren Sinn der Historie verlor und wähnte, Wilhelm mit seinen Paladinen, auf weißen Rossen durch das Brandenburger Tor einreitend, sei berufen, Alexander, Cäsar, Friedrich und Bonaparte in den Schatten zu stellen: das war tiefstes Versagen des deutschen Geistes.

 

8.

Als man vor Jahren über Köpenick lachte, über Zabern spottete, sagte ich: Wehe uns. Das sind jene Epigramme, die in furchtbarem Sarkasmus, in shakespearischer Ironie Klio an die Türen der Gezeichneten heftet.

Jedes der berühmten Kaiserworte war eine Schicksalsdrohung.

Die Vorzeichen gingen weiter, niemand deutete sie. Im Kriege begann das sardonische Lachen der Überhebung.

Selbstlob wurde ausgebreitet, schrankenloser als die Franzosen es in den Zeiten der Überhebung beliebten, undeutsches Selbstlob, das den Nachkommen Schamröte auf die Wangen brennen wird.

Nur wir hatten Kultur. Welche Kultur? Die Kultur jener alten Bürger- und Patrizierwelt, deren Nachkommen man sich wähnte, weil man sie zu verstehen begann, Kultur, die seit hundert Jahren beendet ist und keine Fortsetzung gefunden hat.

Nur wir waren Helden, alle übrigen waren Händler, Krämer, Neidlinge. Nur wir, die politisch rückständigsten von allen, hatten eine Freiheit, eine deutsche Freiheit, die im gewollten Feudalismus und Militarismus bestand. Wir waren berufen, die Welt zu beherrschen, um ihr den Segen dieser deutschen Freiheit mitzuteilen, an dem sie genesen sollte.

Von wem ließen wir uns über all diese Dinge belehren? Natürlich von den Professoren, die in pomphaften Erklärungen die Früchte ihrer Zeitungslektüre als absolute Wahrheit verkündeten und dem alten deutschen Forschergeist ins Gesicht schlugen. Von enttäuschten Kaufleuten und Agenten, von gemieteten Schreibern und einigen zum Umlernen berufenen Denkern.

Der deutsche Geist, der einstmals war, der war ein Geist des Verstehens, der Gerechtigkeit, der wunschlosen, unbestechlichen Wahrheit, ein schaffender, heißer, liebender Geist, der nur eine Gefahr kannte, zu hoch und zu selbstvergessen über der Wirklichkeit zu schweben. Er war kein Geist der Interessen, des Machtwillens, der Selbstverherrlichung, des Vorgesetztentums und der Untergebenheit. Der kommende Geist aber muß Ideal und Wirklichkeit versöhnen, die Idee an die Erde ketten und das Gemeine adeln.

Was den Geist von damals in den Geist von heute verwandelt hat, ist das Versagen des Charakters.

Die alten Unterschichten, die seit hundert Jahren emporgestiegen den größten Teil unseres Landes geistig erfüllen und beherrschen, haben jetzt erst die letzte Probe ihres Wesens gegeben.

In Ausdauer, Duldung, Opfer, Zucht und Bravheit haben sie Unvergängliches geleistet. In Bildsamkeit, Sachlichkeit, Fassungsgabe, Wissensdrang und Unermüdlichkeit haben sie vor dem Kriege die mechanische Zivilisation des Landes auf die Höhe getrieben. Schöpferischen Geist haben sie bisher nicht entfaltet und den Charakter einer führenden Nation nicht erschwungen.

Es ist kein Zufall, daß es uns an Staatsmännern fehlt, daß wir keine öffentliche Meinung haben, keine nationale Idee, keine Überzeugungskraft des Gedankens. Schwächen unseres Charakters sprechen aus uns, die wir in halbgefühlter Unsicherheit mit Flittern aus Macht- und Rassenstolz, aus mythologischem, geschichtlichem und kulturellem Erbteil zu bedecken suchten.

 

9.

Diese Schwächen sind: Mangel an Menschentum und Mangel an Menschenadel.

Mangel an Menschentum hat uns zu Interessenten, das heißt zu Bruderfeinden gemacht, hat uns restlos der Mechanisierung und ihren vergifteten Freuden hingegeben, hat unsere Augen vor Menschenart und Menschenwert verschlossen und uns dem Macher und Schieber ausgeliefert. Wir haben unsere Seele gering geachtet und unsern Geist ausgenutzt.

Mangel an Menschenadel und Herrentum hat uns das Gleichgewicht, die Freiheit, die Würde und die Unbefangenheit genommen. Wir wurden autoritär, untertänig, indolent, respektlos und duldeten als einzige Freiheit die Knechtsfreiheit der geistigen Anarchie.

Tiefer als 1806 sind wir gefallen, weil wir aus der Übersteigerung und Überhebung fielen. Tiefer als 1806 müssen wir in uns selbst hinabtauchen, um uns zu erheben.

Damals genügte es, Quellen der Bildung, der bürgerlichen Freiheit, des Nationalbewußtseins zu erschließen. Diesmal müssen wir niederdringen bis zu den Quellen unseres Lebens und Charakters. Wir müssen nicht weiser, reicher, stärker, wir müssen, was das schwerste ist, anders werden, als wir waren.

 

10.

Wir werden es erzwingen.

Denn es gibt in der Welt eine Aufgabe, die so dringend, so bitter nötig, so gottgewollt und menschenmöglich ist, daß sie auf Erden gelöst, unverzüglich gelöst werden muß, eine Aufgabe des Geistes.

So schwer und so hart ist sie, so entsagend und so selbstverleugnend, daß sie nur von uns Deutschen gelöst werden kann.

Nur von uns kann sie gelöst werden, und nur, weil wir geschwächt und geschlagen sind. Um deswillen sind wir geschwächt und geschlagen, damit wir sie lösen können und dürfen.

Die Welt bedarf eines Menschenreiches als Abbild des Gottesreiches, des Reiches der Seele.

Das Menschenreich ist das Reich der Freiheit und der Gerechtigkeit. Im Menschenreich herrscht nicht Reichtum und Erbteils nicht Willkür und Unterwerfung, nicht Gewalt und nicht Anarchie, sondern Solidarität; es führen nicht die Bevorrechteten, die Streber und Macher, sondern befähigte Menschen; das höchste Gesetz ist nicht Interesse, sondern Schöpfung, das letzte Ziel nicht Reichtum und Macht, sondern Geist. Die Knechtschaft der Menschen, der Stände, der Altersstufen und Geschlechter hört auf.

Das ist weder Kommunismus noch Bolschewismus noch Utopismus, sondern Vergeistigung und Versittlichung von Staat und Gesellschaft. An die Stelle des zufälligen Vorrechts tritt die gewollte Ordnung. Die Abschaffung der Sklaverei und Leibeigenschaft war schwerer als diese Forderung.

Ist sie erfüllt, in Deutschland erfüllt, wo allein sie erfüllt werden kann und soll, so hat Deutschland den Völkern geschenkt, was zu schenken es fähig und schuldig war. Dann wird nicht Gewalt unser Mittel, Macht unser Bedürfnis, sondern Autorität unsere Stellung sein.

Um sie zu erfüllen, dürfen wir nicht sein, was wir sind, sondern sein, wozu wir befähigt, gesandt und gebunden sind.

Oktober 1918


 << zurück weiter >>