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An alle, die der Haß nicht bindet

1.

Ein Deutscher wendet sich an alle Nationen.

Mit welchem Recht?

Mit dem Recht eines, der den kommenden Krieg verkündete, der das Ende voraussah, die Katastrophe erkannte, der dem Spott, Hohn und Zweifel trotzte und vier lange Jahre den Machthabern zur Versöhnung riet. Mit dem Rechte eines, der das Vorgefühl des tiefsten Sturzes jahrzehntelang in sich trug und weiß, daß der Sturz tiefer ist, als Menschen, Freunde und Feinde, ahnen. Mit dem Rechte eines, der niemals ein einziges Unrecht seines Volkes verschwiegen hat und nun für das Recht seines Volkes eintreten darf.

Das deutsche Volk ist schuldlos.

Schuldlos hat es ein Unrecht begangen.

Schuldlos hat es aus alter, kindlicher Abhängigkeit seinen Herren und Machthabern gedient. Es wußte nicht, daß diese Herren und Machthaber, äußerlich unverändert, sich innerlich gewandelt hatten. Es wußte nichts von der Selbstverantwortung der Völker. Es kannte keine Revolutionen.

Es duldete den Militarismus und den Feudalismus, es ließ sich leiten und organisieren. Es ließ sich töten und tötete, wenn es befohlen war. Es glaubte, was seine angeborenen Führer ihm sagten.

Schuldlos hat es das Unrecht begangen: zu glauben.

Unser Unrecht wird schwer auf uns lasten. Unsere Schuldlosigkeit werden die Mächte erkennen, die in die Herzen blicken.

 

2.

Deutschland gleicht jenen künstlich fruchtbaren Ländern, die grünen, solange ein Netz von Kanälen sie bewässert. Zerbricht eine einzige Schleuse, so stirbt alles Leben, das Land vertrocknet zur Wüste.

Wir haben Nahrung für die Hälfte unserer Menschen. Die andere Hälfte muß Lohnarbeit für andere Völker leisten; Rohstoffe kaufen und Ware verkaufen. Nimmt man ihr die Arbeit oder den Ertrag der Arbeit, so stirbt sie oder wird heimatlos.

Mit der äußersten Arbeit, deren ein Volk fähig ist, ersparten wir im Jahre fünf bis sechs Milliarden. Die dienten dazu, Werkzeuge und Werkstätten zu bauen, Bahnen und Häfen zu schaffen, erwerbsfähig zu bleiben und uns in natürlicher Fruchtbarkeit zu vermehren.

Man nimmt uns die Kolonien, das Reichsland, die Erze und Schiffe, und wir werden ein machtloses, dürftiges Land. Mag das hingehen, auch unsere Vorfahren waren arm und machtlos und haben dem Geist der Erde besser gedient als wir.

Man beschränkt unsern Güteraustausch, man nimmt, wie man uns androht, entgegen dem Geiste der Wilsonschen Stipulationen, das Dreifache oder Vierfache der belgischen und nordfranzösischen Schäden, die sich auf etwa zwanzig Milliarden belaufen; was geschieht?

Unsere Wirtschaft wird ertraglos. Wir arbeiten, um kümmerlich, ersparnislos zu leben. Wir können nichts instand halten, nichts erneuern, nichts erweitern. Das Land, seine Bauten, Straßen, Einrichtungen verkommen. Die Technik wird rückständig, die Forschung hört auf. Wir haben die Wahl: Unfruchtbarkeit, Auswanderung oder tiefstes Elend.

Es ist die Vernichtung.

 

3.

Es ist die Vernichtung.

Wir werden nicht viel klagen, sondern unser Schicksal auf uns nehmen und schweigend zugrunde gehen.

Die Besten von uns werden nicht auswandern und sich nicht töten, sondern das Geschick ihrer Brüder teilen.

Die meisten kennen ihr Geschick noch nicht, sie wissen nicht, daß sie und ihre Kinder geopfert sind. Auch die Völker der Erde wissen noch nicht, daß es um das Leben eines Menschenvolkes geht. Vielleicht wissen es nicht einmal die, mit denen wir gekämpft haben.

Einzelne sagen: Gerechtigkeit. Andere sagen: Vergeltung. Es gibt auch welche, die sagen: Rache.

Wissen sie, daß das, was sie Gerechtigkeit, Vergeltung, Rache nennen, daß es der Mord ist?

Wir, die wir in unser Schicksal gehen, stumm, nicht blind: noch einmal erheben wir unsere Stimme, so daß die Welt sie hört, und klagen an:

Den Völkern der Erde, denen, die neutral, und denen, die befreundet waren, den freien überseeischen Staaten, den jungen Staatsgebilden, die neu entstanden sind, den Nationen unserer bisherigen Feinde, den Völkern, die sind, und denen, die nach uns kommen,

in tiefem, feierlichem Schmerz, in der Wehmut des Scheidens und in flammender Klage rufen wir das Wort in ihre Seelen:

Wir werden vernichtet. Deutschlands lebendiger Leib und Geist werden getötet. Millionen deutscher Menschen werden in Not und Tod, in Heimatlosigkeit, Sklaverei und Verzweiflung getrieben. Eines der geistigen Völker im Kreise der Erde verlischt. Seine Mütter, seine Kinder, seine Ungeborenen werden zu Tode getroffen.

Wir werden vernichtet, wissend und sehend, von Wissenden und Sehenden. Nicht wie dumpfe Völker des Altertums, die ahnungslos und stumpf in Verbannung und Sklaverei geführt wurden, nicht von fanatischen Götzendienern, die einen Moloch zu verherrlichen glauben.

Wir werden vernichtet von Brudervölkern europäischen Blutes, die sich zu Gott und zu Christus bekennen, deren Leben und Verfassung auf Sittlichkeit beruht, die sich auf Menschlichkeit, Ritterlichkeit und Zivilisation berufen, die um vergossenes Menschenblut trauern,

die den Frieden der Gerechtigkeit und den Völkerbund verkünden, die die Verantwortung für das Schicksal des Erdkreises tragen.

Wehe dem und seiner Seele, der es wagt, dieses Blutgericht Gerechtigkeit zu nennen. Habt den Mut, sprecht es aus, nennt es bei seinem Namen: es heißt Rache.

Euch aber frage ich, geistige Menschen aller Völker, Geistliche aller Konfessionen und Gelehrte, Staatsmänner und Künstler; euch frage ich, Arbeiter, Proletarier, Bürger aller Nationen; dich frage ich, ehrwürdiger Vater und höchster Herr der katholischen Kirche, dich frage ich im Namen Gottes:

darf um der Rache willen ein Volk der Erde von seinen Brudervölkern vernichtet werden, und wäre es das letzte und armseligste aller Völker?

darf ein lebendiges Volk geistiger, europäischer Menschen mit seinen Kindern und Ungeborenen seines geistigen und leiblichen Daseins beraubt, zur Fronarbeit verurteilt, ausgestrichen werden aus dem Kreise der Lebenden?

Wenn dieses Ungeheuerste geschieht, gegen das der schrecklichste aller Kriege nur ein Vorspiel war, so soll die Welt wissen, was geschieht, sie soll wissen, was sie zu tun im Begriffe steht. Sie soll niemals sagen dürfen: Wir haben es nicht gewußt, wir haben es nicht gewollt.

Sie soll vor dem Angesicht Gottes und vor der Verantwortung der Ewigkeit ruhig und kalt das Wort aussprechen: Wir wissen es, und wir wollen es.

 

4.

Milliarden! Fünfzig, hundert, zweihundert Milliarden – was ist das? Handelt es sich also um Geld?

Geld, Reichtum und Armut eines Menschen bedeutet wenig. Jeder einzelne von uns wird mit Freude und Stolz arm sein, wenn das Land gerettet wird.

Doch in der traurigen Sprache unseres wirtschaftlichen Denkens haben wir keinen andern Ausdruck für die lebendige Kraft eines Volkes als den armseligen Begriff der Milliarde.

Wir bemessen nicht die Lebenskraft eines Menschen nach den viertausend Gramm Blut, die er in sich hat; wir können die Lebenskraft eines Volkes nicht anders messen als nach den zwei- oder dreihundert Milliarden seines Besitzes.

Vermögenslosigkeit ist hier nicht nur Armut und Not, sondern Sklaverei, und doppelt für ein Volk, das die Hälfte seines notwendigen Lebensunterhaltes kaufen muß. Nicht die willkürliche, persönliche, grausame oder milde Sklaverei des Altertums, sondern die anonyme, systematische, wissenschaftliche Fronarbeit von Volk zu Volk.

In dem abstrakten Begriff der hundert Milliarden steckt nicht allein Geld und Wohlstand, sondern Blut und Freiheit. Die Forderung ist nicht die des Kaufmanns: Zahle mir Gold, sondern die Forderung Shylocks: Gib mir das Blut deines Leibes. Es ist nicht die Börse, sondern nach der Verstümmelung des Staatskörpers durch Abtretung von Land und Macht ist es das Leben.

Wer in zwanzig Jahren Deutschland betritt, das er als eines der blühendsten Länder der Erde gekannt hat, wird niedersinken vor Scham und Trauer.

Die großen Städte des Altertums, Babylon, Ninive, Theben, waren von weichem Lehm gebaut, die Natur ließ sie zerfallen und glättete Boden und Hügel. Die deutschen Städte werden nicht als Trümmer stehen, sondern als halberstorbene steinerne Blöcke, noch zum Teil bewohnt von kümmerlichen Menschen. Ein paar Stadtviertel sind belebt, aber aller Glanz und alle Heiterkeit ist gewichen. Müde Gefährte bewegen sich auf dem morschen Pflaster – Spelunken sind erleuchtet. Die Landstraßen sind zertreten, die Wälder sind abgeschlagen, auf den Feldern keimt dürftige Saat. Häfen, Bahnen, Kanäle verkommen, und überall stehen, traurige Mahnungen, die hohen verwitternden Bauten aus der Zeit der Größe.

Ringsumher blühen erstarkt alte und neue Länder im Glanz und Leben neuer Technik und Kraft, ernährt vom Blut des erstorbenen Landes, bedient von seinen vertriebenen Söhnen. Der deutsche Geist, der für die Welt gesungen und gedacht hat, wird Vergangenheit. Ein Volk, das Gott zum Leben geschaffen hat, das noch heute jung und stark ist, lebt und ist tot.

Es gibt Franzosen, die sagen: Dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen starken Nachbar haben.

Es gibt Engländer, die sagen: Dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen kontinentalen Nebenbuhler haben.

Es gibt Amerikaner, die sagen: Dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen Konkurrenten der Wirtschaft haben.

Sind diese Menschen die wahren Vertreter ihrer Nationen? Niemals! Alle starken Nationen werden die Stimmen der Furchtsamen und Neidischen verleugnen.

Sind die Rachedurstigen die wahren Vertreter ihrer Nationen? Niemals! Diese schreckliche Leidenschaft ist bei gesitteten Menschen nicht von Dauer.

Dennoch: wenn die Furchtsamen, die Neidischen und die Rachsüchtigen in einer einzigen Stunde, in der Stunde der Entscheidung, siegen und die drei großen Staatsmänner ihrer Nationen mit sich reißen, ist das Schicksal erfüllt.

Dann ist aus dem Gewölbe Europas der einstmals stärkste Stein zermalmt, dann ist die Grenze Asiens an den Rhein gerückt, dann reicht der Balkan bis zur Nordsee. Dann wird eine Horde von Verzweifelten, ein uneuropäischer Wirtschaftsgeist vor den Toren der westlichen Zivilisation lagern, der nicht mit Waffen, sondern mit Ansteckung die gesicherten Nationen bedroht.

 

5.

Nie kann aus Unrecht Recht und Glück entstehen.

Das Unrecht seiner Abhängigkeit und Unselbständigkeit, das Deutschland schuldlos auf sich lud, büßen wir, wie nie ein Unrecht gebüßt worden ist.

Wenn aber die westlichen Nationen in ruhiger, kalter Überlegung aus Vorsicht, Interesse oder Rachegefühl Deutschland langsam töten und diese Tat Gerechtigkeit nennen, indem sie ein neues Leben der Völker, einen ewigen Frieden der Versöhnung und einen Völkerbund verkünden, so wird Gerechtigkeit nie wieder sein, was sie ist, und niemals wieder wird die Menschheit froh werden, trotz aller Triumphe.

Ein Bleigewicht wird auf dem Planeten liegen, und die kommenden Geschlechter werden mit einem Gewissen geboren werden, das nicht mehr frei ist. Die Kette der Schuld, die jetzt noch zerschnitten werden kann, wird unzerreißbar und unendlich den Leib der Erde umschnüren. Der Zwist und Streit der künftigen Epoche wird bitterer und vielspältiger sein als je zuvor, weil er mit dem Gefühl gemeinsamen Unrechts getränkt ist.

Nie hat gleiche Macht und gleiche Verantwortung auf den Stirnen eines Triumvirats gelastet. Wenn die Geschichte der Menschheit, die sinnvoll ist, es gewollt hat, daß eine einzige Stunde durch den Entschluß dreier Männer über Jahrhunderte der Erde und eine Menschheit von Millionen entscheidet, so hat sie dies eine gewollt: eine einzige große Frage des Bekenntnisses sollte den siegreichen, zivilisierten und religiösen Nationen gestellt werden.

Diese Frage lautet: Menschlichkeit oder Gewalt? Versöhnung oder Rache? Freiheit oder Unterdrückung?

Menschen aller Völker, bedenkt es! Diese Stunde entscheidet nicht nur über uns Deutsche, sie entscheidet über uns und euch, über uns alle.

Entscheidet sie gegen uns, so werden wir unser Schicksal tragen und in die irdische Vernichtung gehen. Unsere Klage werdet ihr nicht hören. Dennoch wird sie da gehört werden, wo noch nie eine Klage aus Menschenbrust ungehört verhallte.

 

Veröffentlicht in der Presse des neutralen Auslandes,
Dezember 1918.


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

 


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