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XX.
Olivia's Erinnerungen.

Erst Montag Mittag den 24. Oktober erhielten wir die erste Kunde von dem Gefecht bei Keinton, oder wie Andere sagen, der Schlacht von Edgehill. Kunde war es eigentlich kaum zu nennen, sondern es waren bloße Gerüchte, geheimnißvoll, ungewiß, wie das ferne Grollen des Donners in der schwülen Stille eines Sommernachmittags, kaum lauter als das Summen der Insekten im Sonnenscheine, und dennoch fast noch furchtbarer als das lauteste Donnergeroll über dem Haupte: »Kriege und Kriegsgeschrei.« Bis zu jenem Montag hatte ich keinen Begriff von der Bedeutung dieser Worte. Auf plötzliche Angriffe, auf unbarmherzige Verheerungen des Krieges war ich gefaßt gewesen; aber auf solche furchtbare Ungewißheit, solch bange Erwartung war ich nicht vorbereitet.

Um Mittag, als die wenigen Männer, die im Dorfe zurückgeblieben waren, auf dem Felde arbeiteten, kam ein herumziehender Kesselflicker vorbei, der an jenem Morgen mit Tagesanbruch in einem Bauernhause gearbeitet hatte. Dort hatte er von dem Schweinehirten erfahren, derselbe habe den Abend zuvor, während er einige Meilen südwärts am Rande eines Birkenwäldchens seine Schweine hütete, weit gegen Südwesten hin, in der Richtung von Oxford, etwas wie Kanonendonner und das Knallen von Gewehrfeuer vernommen.

Da Hiob Forster abwesend war, verrichtete der Kesselflicker alle in sein Fach einschlagende Arbeit im Dorfe, dann zog er wieder seiner Wege. Gleich nachdem er fort war, gingen Tante Gretchen und ich mit einander in's Dorf, um einigen alten, kranken Leuten übriges Fleisch und Suppe zu bringen; wir fanden alle Weiber um die stille, schwarze Schmiede, oder vielmehr um Rahel versammelt, welche ruhig flickend in ihrem Vorhause saß, dessen schmales vergittertes Fenster für eine Arbeit, welche Sorgfalt erheischte, zu wenig Helle einließ.

Es war eine lebhafte, aufgeregte Menge; der spärliche Text ließ den Bemerkungen einen desto weitern Spielraum. Rahel jedoch saß ruhig in der Mitte, wie eine Mutter unter einer Schaar unruhiger, schwatzender Kinder.

Als wir die Gruppe erreichten, sagte eben die arme Margarethe, Dickons junges Weib, ihr Kind auf den Armen, halb schluchzend:

»Ich begreife nicht, Rahel, wie Du so drauf los stupfen kannst! Seit die Nachricht kam, zittere ich an allen Gliedern im Gedanken an meinen Mann, der mit dem Deinigen fortgezogen ist. Mir wär's nicht möglich, eine Nadel zwischen meinen Fingern zu halten.«

»Und ich, Nachbarin, weiß nicht, wie ich's aushalten könnte ohne das Stupfen,« versetzte Rahel sanft. »Wenn ein Kummer über uns gekommen ist, dann können wir wohl ruhig hinsitzen und weinen. Es ist des Herrn Wille. Aber in Zeiten der Erwartung weiß ich nichts Besseres, als das Herz stark zu machen und zu arbeiten.«

Als wir kamen, wendeten sich Alle zu uns, um uns das schreckliche Gerücht mitzutheilen. Tante Gretchen erzählte ein Paar tröstliche Geschichten von wunderbarer Errettung durch die göttliche Vorsehung aus den Erfahrungen ihrer eigenen bewegten Jugend, und dann machten wir uns auf den Weg zu unsern Kranken; denn Tante Gretchen dachte, unser Beispiel ruhiger Pflichterfüllung werde die geängsteten Herzen besser beruhigen, als die weisesten Reden von der Welt.

»Denn,« sagte sie, »sichere Nachrichten müssen erst noch kommen; und für manche werden sie traurig genug sein. Wie werden sie dieselben ertragen können, wenn sie schon im Voraus in vergeblichen und traurigen Vermuthungen alle Kraft erschöpfen?«

Der Erfolg zeigte, daß sie Recht gehabt hatte; denn als unsere Körbe leer waren, und Tante Gretchen nach Hause ging, während ich noch einmal Rahel besuchen wollte, fand ich, daß die aufgeregte Menge sich zerstreut hatte und jedes Weib ruhig in ihrem Hause arbeitete. Nur die arme Margarethe verweilte noch länger, da Rahel, in der Absicht sie zu beschäftigen, ihr aufgetragen hatte, Feuer anzumachen und das Abendessen zu bereiten, um nicht in ihre einsame Hütte zurückkehren zu müssen, während der Säugling auf dem Boden zu Rahels Füßen krähte und stampfte.

»Aber Rahel,« sagte ich, »würde es die Nachbarinnen nicht beruhigt haben, wenn Ihr mit ihnen gebetet hättet?«

»Mag sein, Herzchen!« sagte sie. »Aber ich konnte es nicht. Wenn die Nachricht wahr ist, so muß das Gefecht längst vorüber sein. Die Todten liegen starr und kalt, und kein Gebet kann ihnen mehr helfen. Die Lebenden sind in Sicherheit und danken Gott; und die Verwundeten winden sich in ihren Schmerzen; wir aber wissen nicht, wer todt, oder verwundet oder unversehrt ist. Und wenn wir zur Erde schauen, so ist's, als ob eine dunkle Wasserfluth wie durch einen durchbrochenen Damm über uns hereinbräche. Darum kann ich nichts thun, als gen Himmel schauen und arbeiten. Wo Er thront, da ist Licht und keine Finsterniß. Und hinter dem Donner und den Blitzen sorgt Er für uns aus der großen Ruhe des obersten Himmels herab. Er sorgt für uns, mein Herzblättchen, gerade wie die arme Mutter für diesen Säugling sorgt; Er ist nicht wie der König auf dem Bilde, der lächelnd auf seinem Throne sitzt und beide Hände voll hat von seinem Scepter und seinem Spielzeug, sondern Seine beiden Hände sind frei, um zu helfen und zu stützen. Daher suche ich nur das bischen Arbeit zu verrichten, das Er mir aufträgt und zu Ihm aufzuschauen und den Gedanken festzuhalten: Ich brauche nichts zu fürchten; Du wirst sicherlich das Werk ausführen, das Du Dir vorgenommen hast, nämlich für uns Alle zu sorgen. Und ich habe den Nachbarinnen gesagt, sie sollten es auch so machen.«

Kaum waren diese Worte über ihre Lippen, als ein Reiter durch das Dorf gesprengt kam und vor Hiobs wohlbekannter Schmiede anhielt.

»Was bringt Ihr für Nachrichten?« fragten wohl zwanzig Stimmen nach einander, indem die Frauen sich um ihn versammelten.

»Traurig genug für die Einen und herrlich für die Andern,« sagte er. »Das Heer des Königs und das des Grafen Essex stießen gestern auf einander. Lord Essex stand unten im Thale des Rothen Pferdes, und der König oben auf Edgehill. Prinz Ruprecht griff, von oben herabstürmend, die Reiterei des Parlaments unter dem Generalbevollmächtigten Ramsay an, durchbrach sie in einem Nu, und verfolgte sie bis Keinton, Alles unterwegs tödtend und plündernd. Ich erfuhr dies von einem der geschlagenen Reiter, der entkommen war. Lord Essex hat Alles verloren, und ich eile, diese Nachricht einem Freunde des Königs zu überbringen.

Hastig den Krug voll selbstgebrauten Bieres, den Rahel ihm darbot, leerend, sprengte er im Augenblick wieder von dannen und verschwand uns aus dem Gesichte.

Die verwirrtesten, widersprechendsten Gerüchte folgten an jenem Nachmittage auf einander. Allein erst den nächsten Tag (es war ein Dienstag) vermochten wir uns einen einigermaßen treuen Bericht von der Schlacht zusammenzustellen, wie den ganzen Mittag jenes Herbstsonntages die beiden Heere, zwei gräßlichen Raubthieren ähnlich, einander beobachtend gegenüber lagen; der König auf der Anhöhe und Essex in der Ebene, als ob sie sich scheuten mit dem mörderischen Kanonendonner den zweihundertjährigen Frieden Englands zu unterbrechen.

Ohne Zweifel drangen durch diese Stille viele heiße Gebete zu dem Ohre Gottes; doch sicher wenig bessere als das des tapfern Sir Jacob Ashley, eines Generalmajors im Heere des Königs: »Herr, Du weißt, ich muß heute geschäftig sein; wenn ich Dich vergessen sollte, so vergiß Du meiner nicht!«

Wer endlich das Gefecht begann, konnten wir nicht herausbringen. Die Meisten sagten, es sei Lord Essex gewesen, der einen Angriff auf den Hügel anführte, worauf Prinz Ruprecht sich wie ein reißender Strom von der überlegenen Stellung des Königs in die Ebene hinab auf den linken Flügel der Parlamentsarmee stürzte. Vor seinem wüthenden Angriff fielen oder flohen die Leute von allen Seiten, und er verfolgte sie bis nach dem Dorfe Keinton, wo Lord Essex den Tag zuvor campirt hatte. Die Schlacht für gewonnen haltend, überließen sich seine Leute dem Plündern der Bagage und schlachteten die Fuhrleute und unbewaffnete Bauern. Indessen griff Sir William Balfour auf dem rechten Flügel den linken des Königs an, durchbrach ihn, eroberte und vernagelte viele Geschütze des Königs, nahm nach heftigem Kampfe, der auf einer sechzig Ellen großen Strecke sechzig tapfere Soldaten todt darnieder streckte, die königliche Standarte, und warf fast das ganze königliche Heer in seine vorige Stellung auf den Hügel zurück. Dort sammelten sie sich von Neuem. Prinz Ruprecht fand, als er mit seiner blutbefleckten Beute zurückkehrte, das Heer des Königs in Verwirrung. Allein die Dunkelheit brach an, dem Parlamentsheer begann es an Pulver zu mangeln, daher wurde kein fernerer Versuch zur Verfolgung gemacht, und Sonntag Nachts lagerten beide Heere auf derselben Stelle, von wo die Schlacht begonnen hatte. Auf dem Hügel loderten die Lagerfeuer des Königs, und die des Parlaments im Thale des Rothen Pferdes. Aber dazwischen lagen steif und hülflos viertausend todte Engländer, – welche, am Morgen noch muthig und lebensvoll, in dem tödtlichen Streit gefallen waren.

Die meisten derjenigen, welche auf der Seite des Königs fielen, sollen muthig kämpfend, die unsrigen aber im Fliehen getödtet worden sein; und das heißt wohl so viel, daß der König seine tapfersten und wir unsere feigsten Soldaten verloren.

Mein Vater, so wie die meisten Krieger, die ich kenne, sprach nicht gern von dem Schlachtfelde nach einer Schlacht. Vater und Roger konnten Stunden lang die Führung der Truppen, die Kriegskunst der Befehlshaber und Alles, was den Krieg als eine Kunst oder Wissenschaft betraf, besprechen und die Truppen nur wie Figuren auf einem Schachbrett betrachten. Aber von dem darauf folgenden Jammer, wenn die Aufregung und die geschickten Schwenkungen der Schlacht vorüber waren, und Truppen und Regimenter nichts Anderes mehr waren als ermüdete, verwundete und todte Menschen – hörte ich sie nie anders als in kurzen abgebrochenen Worten reden.

In den deutschen Kriegen verbarg, wie Vater sagte, die Verschiedenheit der Sprachen die gemeinsame Menschlichkeit ein wenig; aber in der alten Muttersprache die Gefallenen um Gnade, die Sterbenden Gott und theure, wohlbekannte Namen anrufen oder Verwundete um Hülfe bitten zu hören, welche ihnen im Getümmel der Schlacht nicht gewährt werden konnte, – das war hinreichend, sagte er, um den Krieg allen Glanzes und Ruhmes zu entkleiden und nichts daran zurückzulassen als seine Pein und seine Greuel.

Beide Parteien schrieben sich den Sieg zu, – Lord Essex, weil er das Feld behauptet, und der König (wie Einige sagten) wegen der Beute, die Prinz Ruprecht gemacht hatte.

Wie dem jedoch sein möge, Keines verfolgte den Vortheil, den es sich rühmte errungen zu haben.

Der König, welcher zwischen der Parlamentsarmee und London stand, das deshalb in großer Angst schwebte, rückte nicht vorwärts, sondern zog sich gegen Oxford zurück, obgleich die vom Parlament eingesetzte Garnison von Banbury sich ihm ohne Schwertstreich ergab.

Lord Essex machte keinen Versuch, ihn zu verfolgen, sondern zog sich nach London zurück und überließ das Land den Plünderungen des Prinzen Ruprecht.

Allein für uns Frauen in Netherby war Sieg oder Niederlage an jenem Tage nicht die wichtigste Frage.

Margarethe wurde zuerst aus ihrer Angst erlöst. Ihr Mann, Dickon, der bei dem Heer des Königs war, sandte ihr eine orangefarbene Schärpe, die er von einem Reiter des Parlaments erbeutet hatte, als Zeichen, daß er in Sicherheit sei.

Hierauf kam am Mittwoch der arme Tim, der halb blödsinnige Enkel von Gammer Grindle, der trotz allen Einreden darauf bestanden war, Roger in den Krieg zu folgen, abgezehrt, mit wunden Füßen und den Arm in der Schlinge tragend, in's Dorf gehinkt. An Rahel Forsters Thüre hielt er stille und erzählte stotternd und verwirrt, Junker Roger und Hiob lägen verwundet in Keinton; die Leute des Prinzen hätten mehrere Verwundete gemordet, Roger und Hiob aber gefesselt in einem Karren in den Kerker geführt; Tim habe versucht ihnen zu Fuße zu folgen; aber nachdem sein Arm durch einen Musketenschuß zerbrochen und er am Bein verwundet worden, habe er zurückbleiben müssen und es für's Beste gehalten, nach Hause zu hinken, um Fräulein Olivia Alles zu erzählen.

Wo aber der Kerker sich befinde, und ob Rogers und Hiobs Wunden gefährlich seien, war aus dem verwirrten Hirn und der stotternden Zunge des armen Burschen nicht herauszubringen. »Der arme Tim«, sagte er, sich in abgebrochenen Worten entschuldigend, wie ein treuer Hund, der ohne seinen Herrn zurückkäme, mit ausdrucksvollen Blicken um Verzeihung bitten würde, »der arme Tim gab sich viele Mühe, Junker Roger zu folgen – sehr viel Mühe! Junker Roger weiß, daß Tim ihn nicht verlassen wollte; Junker Roger weiß! Junker Roger sagt: ›Tim, Du hast Alles gethan, was Du konntest. Geh heim. Sage ihnen, Junker Roger sei wohl.‹« Als er Rahel zuerst sah, sagte er: »Der arme Hiob sagt: Trage Sorge!« und dann setzte er lächelnd und mit geballter Faust hinzu: »Der arme Tim trug Sorge!« Aber diese Worte wiederholte und erklärte er nie. Alles Fragen war vergebens. Sein armes Gehirn war nur von dem einzigen Wunsch, Roger zu gehorchen, erfüllt. Das arme Geschöpf war ganz erschöpft von Schmerzen, Müdigkeit und Blutverlust. Rahel wollte ihm ein Bett in ihrer Hütte machen, und Jedes von uns würde es für eine Ehre gehalten haben, ihn um seiner Liebe zu Roger willen, zu pflegen; allein er schüttelte nur mit dem Kopfe: »Junker Roger sagt, Tim, Du hast gethan, was Du konntest. Geh heim!« Und er ließ sichs nicht nehmen, noch bis zu der elenden Hütte am See zu gehen, wo seine Großmutter wohnte.

Gammer Grindle war ein armes, eingeschrumpftes altes Weib, das durch Unglück und den beständigen Kampf eines heftigen und empfindlichen Gemüths gegen Armuth und Unrecht nach und nach so erbittert war, daß Wenige im Dorfe sich ihr nähern mochten. In der That waren dunkle Gerüchte über sie im Umlauf. Mancher Tagelöhner hätte lieber einen meilenweiten Umweg gemacht, als in der Dunkelheit an ihrer Thüre vorüber zu gehen, und mancher Pächter und manche Bäuerin, die eine ungewöhnliche Anzahl Schafe oder Hühner verloren hatten, suchten durch das Geschenk eines Lammes oder eines fetten Hühnchens ihre Gunst zu gewinnen. Ueberhaupt sprach man in der ganzen Nachbarschaft mit einer gewissen ehrerbietigen Bangigkeit von ihr; wie jener Mann, der, nachdem er in der Uebereilung den Namen des Teufels ausgesprochen hatte, sich bekreuzte und sagte: »Möge er mir verzeihen, daß ich seinen heiligen Namen mißbraucht habe.«

Allein Roger und ich hatten sie von einer ganz andern Seite kennen gelernt. Ihr Enkel Tim hatte uns oft bei unsern Exkursionen an dem See, wo wir zu fischen pflegten, begleitet und uns den Korb oder die Geräthschaften nachgetragen, und Rogers freundliche Stimme und Worte, im seltenen Gegensatze zu den Spöttereien der rohen Burschen des Dorfes, hatte ihm in Tims Herz eine innige, uneigennützige, von allem Anspruch auf Erwiderung, aller Hoffnung auf Belohnung gänzlich freie Zuneigung gewonnen, welche mehr der Anhänglichkeit eines treuen Hundes, als der Liebe eines selbständigen menschlichen Wesens glich.

Dadurch hatten wir Zutritt in die Hütte seiner Großmutter erlangt, und oft hatte sie mich vor den Folgen von Tante Dorotheens gerechtem Unwillen geschützt, indem sie ihre spärliche Gluth anfachte, um meine durchnäßten Schuhe zu trocknen, und meine Kleider vom Schmutze reinigte. Kleine, einfache Liebesdienste, die es aber Roger und mir unmöglich machten zu glauben, daß die armen, runzligen Hände, welche sie geleistet, einen Pakt mit dem Satan unterzeichnet hätten. Sahen wir nicht überdies, wie gut sie trotz all ihrem Schelten gegen Tim war, und wußten wir nicht aus manchen ihr hin und wieder entfallenen Worten, wie innig sie ihre einzige Tochter, Cäciliens und Tims Mutter, geliebt hatte, wie sie sich um das arme, verlorene Mädchen grämte, und welch eine Macht enttäuschter und gekränkter Liebe unter den scharfen bittern Worten, die sie sprach, gährte.

Roger und ich hatten uns mit unsern eigenen Augen überzeugt, daß Gammer Grindle keine aus den Schranken der Menschheit Geächtete war; und Rahel Forster wußte es, glaube ich, weil sie auf Den sah, zu dessen Füßen so manche von menschlicher Theilnahme Ausgeschlossene liebreiche Aufnahme gefunden. Daher kam es, daß von dem ganzen Dorfe nur Rahel, Roger und ich Zutritt zu Gammer Grindle's Hütte suchten und auch erlangten, so daß Rahel Tim heim begleitete, und von seiner Großmutter die Erlaubniß erhielt, diese Nacht seine Pflege zu theilen.

Denn bald schlug Tims Erschöpfung in ein hitziges Fieber um, als seine Wunde sich zu entzünden begann, und kaum vermochten die beiden Frauen ihn abzuhalten, aus der Hütte zu stürzen um »Junker Roger zu folgen.«

Die ganze Zeit über bemerkten Beide, daß er in der Hand seines gesunden Armes einen Gegenstand fest umschlossen hielt. Aber alle Bitten und selbst alle Befehle seiner Großmutter, der er zu gehorchen gewohnt war, vermochten ihn nicht, die Hand zu öffnen oder den Gegenstand loszulassen.

Die ganze Nacht und den folgenden Tag wachten die beiden Frauen bei dem armen Jungen, machten ihm kalte Umschläge um den Kopf, und suchten vergebens ihn ruhig zu halten. Allein gegen Abend begannen seine Kräfte abzunehmen, und man sah deutlich, daß das Fieber, nachdem es sein Werk vollbracht hatte, ihn der kalten Hand eines Stärkeren überließ.

Die lebhaften Phantasien des armen Burschen, seine ungestümen Bitten, ihn fort zu lassen, hörten auf, und er lag so still und ruhig da, daß Rahel das sanfte Kräuseln des Sees zwischen den im Nachtwinde säuselnden Binsen vernehmen konnte; und es klang ihr wie das leise Rauschen der Wasser des Todes.

Nur hin und wieder sagte er, wie ein mit sich selbst girrendes Kind: »Armer Tim! Junker Roger weiß es. Junker Roger hat gesagt, Du hast Alles gethan, was Du konntest. Geh heim.«

Einmal gewann sein Auge einen ganz ungewohnten Glanz und er sagte: »Cäcilie! Schwester Cäcilchen! Sag ihr, daß sie bald kommen soll, recht bald! Ich habe so lange auf sie gewartet.«

Rahel versuchte von unserm lieben Herrn Jesus mit ihm zu reden; er hatte nichts dagegen; ob er sie aber verstand oder nicht, das vermochte sie nicht zu sagen. Er änderte nichts an den Worten, welche seinem armen treuen Herzen so tief eingegraben waren. Nur wurden sie schwächer und schwächer, und immer seltener und gebrochener, bis endlich der arme schwache Geist mit dem Seufzer: »Junker – heim!« entfloh und der arme, schwache Leib zur Ruhe kam.

Allein Rahel sagte, sie glaube, der hochgelobte Heiland werde sicher den armen Burschen wohl verstanden haben, der zwar nichts von Ihm verstehen konnte, aber dem Besten, welchen er kannte, so treu gedient habe. Und sie glaubte fast eine Stimme vom Himmel zu hören, welche sagte: »Armer Tim! Der Herr weiß es. Du hast Alles gethan, was Du konntest. Komm heim!«

Erst nachdem der arme Bursche verschieden war, fanden sie, was er so fest in seiner Hand gehalten hatte.

Es war ein Stückchen Papier, das einige von Hiob Forster geschriebene Worte enthielt, für welche Tim in der That Sorge getragen hatte, wie seine noch im Tode geschlossene Hand nur zu deutlich bewies.

Die Worte lauteten:

»Rahel, sei guten Muthes, wie ich es bin. Ich bin an der Schulter verwundet, aber nicht so schlimm. Man führt mich mit Junker Roger nach Oxford in's Gefängniß. Seine Wunde ist in der Seite, Anfangs schmerzlich; aber Dr. Antonius hat die Kugel herausgenommen und sagt, er werde wieder geheilt werden. Du mußt Dich nicht grämen, noch versuchen, zu uns zu kommen. Es würde Dir schaden und uns nichts helfen. Der Herr sorgt.«

Rahel las diesen Brief, und die Gewißheit, daß Hiob jede Noth so leicht als möglich schildern werde, der Gedanke, daß ihn nicht wenig kostete, die Feder zu führen, und das Bewußtsein, was sie unter ähnlichen Umständen gethan haben würde, gab jedem seiner Worte einen besondern Nachdruck.

»Rahel!« Dieses Wort zu buchstabiren, hatte ihn ein Paar Minuten gekostet, und es sagte so viel wie ein ganzes Buch voll Betheuerungen der Liebe und Hochachtung. »Verwundet« bedeutete nach demselben Maßstab »Invalide«; und »nicht so schlimm« einfach nicht in augenblicklicher Lebensgefahr; und »Du mußt nicht kommen,« hieß für ihr Herz so viel als: »Komm, wenn Du kannst; obgleich ich es Dir nicht zumuthen möchte.«

Es war gar nicht Rahels Art, sich durch den Kummer hülflos machen oder sich abhalten zu lassen, Andern beizustehen, wo man ihrer bedurfte. Sie war überzeugt, daß Gott ihn nicht dazu geschickt hatte. Sie lebte beständig an der Thüre des Hauses Gottes und bedurfte daher bei diesem plötzlichen Schrecken keiner langen Pilgerfahrt auf ungebahnten Wegen, um das Heiligthum zu erreichen. Ein Augenblick genügte ihr, um die Last niederzulegen, durch die offene Thüre einzutreten, dort das Herz empor zu heben und dann zu Erfüllung der nächsten Pflicht zu schreiten. Daher blieb sie bei Gammer Grindle, bis der arme treue Junge ins Leichentuch gehüllt war; besorgte dann alles Nöthige zu seinem Begräbniß, und setzte sich erst bei einbrechender Dämmerung in ihrer Hütte nieder, um ruhig zu überlegen, wie sie den Plan ausführen sollte, den sie gefaßt, sobald sie den Brief ihres Gatten erblickt hatte.

Eine halbe Stunde genügte ihr zum Ueberlegen, oder »Raths erholen«, wie sie sagte; eine andere halbe Stunde um ihre Vorbereitungen zu treffen und ganz entschlossen und völlig gerüstet zu uns nach Netherby zu kommen.

Im Herrnhause angelangt, übergab sie Tante Dorotheen Hiobs Brief.

»Was ist da zu machen?« sagte Tante Dorothea. »Wie mag es nur kommen, daß wir weder von meinem Bruder noch von Dr. Antonius Nachricht erhalten haben? Höchst wahrscheinlich befinden sich die Streitkräfte des Königs zwischen uns und Oxford, und die Briefe sind durch sie aufgefangen worden. Allein, seid unbesorgt, Rahel,« setzte sie in tröstendem Tone hinzu. »Zuerst sprachen sie davon, daß alle Gefangenen des Parlamentheeres als Verräther behandelt werden sollten. Allein das wird nie geschehen. Man wird sie sicher loskaufen oder auswechseln. Bleibt bei uns über Nacht; es wird Euch weniger einsam sein. Wir können mit einander rathschlagen, und morgen können wir beschließen, was zu thun ist.«

»Ich habe schon Rath geschlagen, Fräulein Dorothea, und ich bin entschlossen. Morgen mit Tagesanbruch gehe ich nach Oxford; und ich kam nur, um zu fragen, ob ich etwas für Sie thun oder eine Botschaft an Junker Roger mitnehmen kann.«

»Wie?« rief Tante Dorothea. »Wer wird denn mit Euch gehen? Wer will sich in den Bereich dieser Plünderer wagen?«

»Ich habe Niemand darum angesprochen, Fräulein Dorothea. Ich werde allein auf unserm alten Ackerpferde reiten.«

»Ihr wolltet so viele Meilen allein, mitten durch das Heer des Königs reisen, Rahel!« rief Tante Dorothea.

»Ich bin zu Rath gegangen, Fräulein Dorothea,« versetzte Rahel ruhig, und als Tante Dorothea aufblickte, leuchtete ihr aus Rahels sanften Augen ein Gedanke entgegen, den sie verstand, und sie stand von allen fernern Gegenvorstellungen ab.

»Wir wollen an Roger schreiben,« sagte sie nach einer Pause.

In kurzer Zeit waren unsere Briefe an Roger und einer von mir an Lätitia Davenant fertig.

Wir schliefen wenig in dieser Nacht. Meine Tanten und ich machten Pläne, eine jede ohne von der andern zu wissen, wie wir Rahel helfen könnten.

Mir war der Gedanke gekommen, an einen Freund meines Vaters, der halbwegs zwischen uns und Oxford lebte, zu schreiben, und ich stand mitten in der Nacht auf, ohne Jemand davon zu sagen, und schrieb den Brief. Denn seitdem er fort war, bewohnte ich Rogers Zimmer; mir schien es, als ob ich ihm so näher sei.

Vor Tagesanbruch schlich ich mich aus dem Hause fort, um zu Rahel zu gehen, da ich wohl wußte, daß sie nur auf den ersten Lichtschimmer wartete, um ihre Reise anzutreten.

Sie war angekleidet und wickelte eben die große Bibel ein, die immer auf ihrem Tische lag, und legte sie in das Speiseschränkchen.

»Glückliche Rahel!« sagte ich sie küssend, »die Ihr alt genug seid, um die Reise wagen zu dürfen!«

»Für jede Jahrszeit gibt es etwas zu thun, mein Herzblättchen, das man nicht vorher oder nachher thun kann. Deshalb braucht uns vor dem Altwerden nicht bange zu sein.«

Ich übergab ihr meinen Brief. Sie nahm ihn dankbar an, sagte aber:

»Das sind zu vornehme Leute für ein so einfaches Weib wie ich, Fräulein Olivia. Gott lohne Ihnen die gute Absicht. Aber in einem Dorf, durch welches ich kommen muß, wohnt ein schlichter, gottseliger Mann, der oft bei uns übernachtet und uns das Wort ausgelegt hat, und dieser wird mich ohne Zweifel zu einem andern weisen. Und wenn dies auch nicht so wäre, so sind die sieben Tausend doch immer dem Herrn bekannt. Der Prophet Elias freilich wußte nichts davon; aber seitdem es ihm ein für alle Mal gesagt worden, sollte keines von uns mehr sagen: ›Ich bin allein übrig geblieben.‹«

»Wie wollt Ihr es denn anfangen, wenn Ihr nach Oxford kommt?« fragte ich.

»Gott behüte, daß ich mir's herausnehmen sollte, dies zu sagen, mein Herzblättchen,« erwiderte sie. »Es sind viele Schritte bis Oxford. Und der Herr hat mir den nächsten Schritt gezeigt. Hiob ist verwundet und gefangen und bedarf meiner. Wird da mein Gott und der seine mir nicht zeigen, wie ich zu ihm gelangen solle?«

Und die Gewalt ihrer mühsam zurückgehaltenen Gefühle und ihres siegreichen Glaubens verlieh ihrer Stimme solch ungewohnte Tiefe, daß sie mir wie eine fremde, der ihrigen antwortende Stimme klang.

In diesem Augenblick kam Tante Gretchen mit einem kleinen Korbe voll gewürzhafter Stärkungsmittel und kalten Fleisches an zu Rahels Labung auf der Reise.

Kaum eine Stunde später erschien Tante Dorothea zu Pferde, um Rahel eine Strecke Weges das Geleite zu geben.

Und zuletzt erschien, auf Rahels ausdrücklichen Wunsch, Margarethe mit ihrem Kinde.

Ehe sie ihr Pferd bestieg, sagte Rahel:

»Sie haben sich doch wohl vorgenommen, dem Begräbniß des armen Tim beizuwohnen, Fräulein Olivia?«

Wir versprachen Alle, gegenwärtig zu sein.

Und von den Stufen vor ihrem Hause aus bestieg Rahel das alte, geduldige Pferd und war alsbald verschwunden, nachdem sie sich nur noch einmal nach uns umgeschaut und uns zugelächelt hatte.

Sie war nicht die Frau, welche sich hintendrein Gedanken machte, oder noch viel zu sagen hatte. Was ihr auf dem Herzen lag, hatte sie stets vor den Abschiedsworten gesagt.

Sie hatte uns den schweren Schlüssel ihrer Hütte dagelassen, damit wir die kleinen Vorräthe, welche sie während der Nacht vertheilt hatte, ihren armen Nachbarn übergeben möchten. Sie hatte Margarethe damit beauftragen wollen; da wir aber zuerst ankamen, so übernahmen wir diese Sorge.

Wie einfach und ohne sich vorher anzukünden kommen oft Ereignisse im Leben, welche unsern gewohnten Tischen und Zimmern eine rührende Feierlichkeit verleihen, und sie zu Stätten des Gottesdienstes oder der Beerdigung weihen. Kaum war der Hufschlag von Rahels Pferd in der Ferne verhallt, als ihre Hütte für uns zum Heiligthume geworden war. Die kleinen Päckchen, welche ihre reinen Hände so sorgfältig eingewickelt, waren in unsern Augen nicht gemeine Brode oder Fleisch, sondern gleichsam heilige, durch ihre Berührung geweihte Reliquien. Und wir vermochten fast nicht ohne Thränen das Brennholz anzusehen, das Hiob für sie an dem Herde aufgehäuft, und die steinerne Rinne, die er gemacht hatte, um das Wasser bis vor ihre Thüre zu leiten.


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