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Wie der Großvater das Lachen gelernt hat

Es ist nicht mein eigener Großvater, von dem ich erzählen will, wie er das Lachen gelernt hat. Das muß ich vorausschicken. Denn sonst mischen sich Leute, die meine Familienverhältnisse kennen, ein, und sagen, daß ich diese Geschichte erdichtet habe, und das wäre mir höchst unangenehm zu hören. Ich habe auch meine eigenen Großväter nicht gekannt; wenigstens nur den einen, und den nur sehr kurz und ungenau. Ich war erst drei Jahre alt, als er starb, und ich lief nachher einige Wochen lang in einem schwarzen Schürzchen umher. Das ist fast alles, dessen ich mich von ihm entsinne, und lange nicht genug, um eine Geschichte darüber zu schreiben.

Der Großvater, von dem hier die Rede ist, war der Herr Registrator Hinkel. Er sah zur Zeit, da ich ihn kennen lernte, gar nicht großväterlich aus. Ganz anders. Er war ein sehr feierlicher, ernsthafter, alter Herr, lang und dünn und sehr gerade. Seine Haushälterin sah ihm stets nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Denn es war ihr sehr erbaulich zu sehen, wie sauber und wohlgebürstet sie ihn entlassen hatte, wie er von allen Leuten, die etwa unter ihre Türen getreten waren, so achtungsvoll gegrüßt wurde und wie er wieder so passend grüßte. Ja, sie wußte dafür keinen andern Ausdruck als passend; der Herr Registrator war in allen Lagen passend, und es war ihr, als ob sie darum auch passend sein müßte, wenn sie unter die Leute komme. Und das war sie auch. Am wohlsten tat es der Haushälterin, daß die Kinder, die auf den Bürgersteigen spielten und ein großes Geschrei vollführten, aufhörten zu lärmen, wenn der Herr Registrator des Weges kam, und daß sie seine Nähe durch ein verlegenes Aufstehen von den Marmelgruben ehrten, über die sie sich noch eben mit erhitzten Köpfen gebeugt hatten.

»Denn,« sagte sie, »mein Herr ist ein solch rechter Herr, daß es sogar die Gassenbuben spüren. Er braucht gar nichts zu sagen, man darf ihn nur ansehen, das ist ganz genug. Was die guten Leute sind in der Stadt, die wissen es auch sonst. Ich brauch' ihn nicht zu loben, solch ein Wandel lobt sich selbst.«

Darin hatte sie auch ganz recht. Der Herr Registrator gehörte unter die guten, geachteten, wohlansehnlichen Leute der Stadt. Dazu hatte er von jeher gehört. Er war Ehrenmitglied sämtlicher Wohlfahrtsvereine, und außerdem noch Kassier des konservativen Vereins und stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Erziehung verwahrloster Kinder. Und er hatte alle guten, ehrbaren Eigenschaften, die man billigerweise von einem einzigen Menschen verlangen kann, »ja, mehr als das,« sagte Frau Scheuermann. Und sie mußte das wissen. Denn sie hatte ihm nun schon seit zehn Jahren Haus gehalten, und es sollte nicht an ihr liegen, wenn sie es nicht noch weitere Jahrzehnte lang tun würde.

Der Herr Registrator betrug sich auch gegen sie sehr passend, wie das ja nicht anders zu erwarten war. Er sprach in der dritten Person mit ihr und sie nahm das demütig hin. Denn er war ein gebildeter Herr und sie war eine einfache Frau, und sie kannte die Haustafel und darin den Abschnitt von den Pflichten der Herrschaften und Dienstboten wohl, und diente ihm, wie das befohlen ist, »in gebührender Furcht, Ehrerbietigkeit und Geduld«.

Es war nur ein einziges Mal in den zehn Jahren vorgekommen, daß der Herr Registrator zu dieser seiner getreuen Dienerin gesagt hatte: »Halte sie den Mund.« Das war gewesen, als sie von der Hochzeit der jüngsten Tochter des Herrn Registrators gehört und eine bescheidene Bemerkung darüber gemacht hatte, daß leider Gottes nicht alle Kinder, die in Zucht und Furcht erzogen seien, ihr Leben lang darin wandeln.

Frau Scheuermann hielt diese ihre Bemerkung auch dann noch für wahr, als sie der Aufforderung ihres Herrn nachkam und den Mund hielt. Und sie war einen Tag lang versucht gewesen, sich etwas darauf einzubilden, daß sie nicht nur den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen und strengen Herren zu folgen wisse. Aber das war nun schon lange her. Schon ganze sechs Jahre. Es fiel ihr nur wieder ein, weil jene jüngste Tochter neuerdings wieder so sehr in den Vordergrund trat. Sie war Witwe geworden und zwar in Amerika, und es war zu wetten, daß sie nun nach Hause kommen und dem alten Herrn zur Last fallen würde. Frau Scheuermann wollte nicht an sich selbst denken, bewahre. Es war ihr nur um den Herrn zu tun, dessen Bedürfnisse sie am allergenauesten kannte und dem die Ruhe, Sauberkeit und geregelte Ordnung seiner Häuslichkeit geradezu Lebensbedingung war.

Frau Scheuermann fühlte ein Ereignis herannahen, irgend eine Veränderung, und sie war leider nicht ganz so ergeben in dieses mögliche Schicksal, als es zu wünschen gewesen wäre.

Kummervoll bürstete sie ihrem Herrn Hut, Rock und Stiefeln, als dieser nach dem Abendessen seinen Weg nach dem Versammlungslokal des konservativen Vereins nahm, und kummervoll sah sie ihm nach, wie er im Schein der Straßenlaterne dahinwandelte, gesetzten und würdigen Schrittes.

Dem Herrn Registrator selbst war es auch nicht so geregelt zu Mute, als ihm zu gönnen gewesen wäre. Er schüttelte ein paarmal den Kopf und sagte: »hm, hm,« und nach einer Weile sagte er dasselbe nochmals. Das Ereignis, das Frau Scheuermann ahnend vorausempfand, war näher, als die brave Frau glaubte. Es knisterte bereits in Gestalt eines Briefes in der linken Rocktasche des Herrn Registrators, und es war umfangreicher, als die Haushälterin auch nur fürchtete. Die Tochter war bereits unterwegs, und zwar mit ihren beiden Kindern. Sie schrieb zwar nur von einem zeitweiligen Aufenthalt, den sie bei dem Vater nehmen wolle, und von einer ersprießlichen Tätigkeit, die sie in ihrem Heimatland zu finden hoffe, aber es war doch, hm, es war doch eine höchst, – ja eine höchst bedenkenswerte Sache. Natürlich wollte der Herr Registrator seine Vaterpflichten erfüllen. Er hatte sein Leben lang seine Pflichten erfüllt, das konnte er sich an seinem Lebensabend, ach nein, Lebensabend wollte er gerade nicht sagen, das konnte er sich an diesem Abend ruhig sagen. Die Straßenlaternen warfen ihr mildes Licht auf den würdigen Herrn, und er selbst warf das milde, aber ernste Licht der Selbstbetrachtung auf sein früheres Leben.

Er hatte fünf Kinder erzogen, ja, nun fiel es ihm ein, er hatte sie ja freilich in Gemeinschaft mit seiner lieben Frau erzogen. Aber, das durfte er sich ruhig sagen, er hatte doch den ausschlaggebenden Teil an ihrer Erziehung vollbracht. Seine liebe Frau war eine demütige, stille Gattin gewesen, die im Lauf der Jahre gelernt hatte, auch ohne besondere Aufforderung den Mund zu halten und ihren Wandel geräuschlos zu vollbringen. Sie war auch verhältnismäßig früh von ihm genommen worden, bald, nachdem sie seiner jüngsten Tochter das Leben gegeben hatte. Diese jüngste Tochter, ja, sie hatte es ihm nicht leicht gemacht, sein väterliches Amt auszuüben. Er hatte die Kinder alle streng erzogen, – wie Frau Scheuermann richtig bemerkt hatte, in Zucht und Furcht. Die älteste Tochter war so geordnet wie der Vater und so gehorsam wie die Mutter gewesen, da ging es kampflos ab. An den drei Knaben hatte er ein ernstes Werk vollbracht, nach den Worten: Züchtige deinen Sohn, so wird er dich ergötzen, und wird deiner Seele sanft tun; und: Bosheit steckt dem Knaben im Herzen, aber die Rute der Zucht wird sie ferne von ihm treiben. Sie waren alle wohlgeraten, brave Jünglinge und Männer geworden, und lebten alle vier, die Tochter und die Söhne, in geordneter, würdiger Häuslichkeit. Freilich, sie ließen nur selten von sich hören, aber der Herr Registrator konnte gewiß sein, daß es doch nur Gutes sein könne, was von ihnen zu ihm dringe. Er konnte sie alle beruhigt sich selbst überlassen.

Aber diese jüngste. Diese Lydia. Sie war vom Morgen ihres Lebens an so – so unnormal gewesen. Nicht in des Wortes trauriger Bedeutung, als ob sie am Leib oder Geist irgendwie verkürzt gewesen wäre. Im Gegenteil, sie war ein kluges, anmutreiches Kind gewesen und stets gesund und kräftig nach allen Richtungen hin. Aber, es war so schwer gewesen, ihr den Willen zu brechen. Ja, wenn der Herr Registrator ganz ehrlich gegen sich selbst sein wollte: es war ihm gar nicht gelungen, ihn zu brechen. Er war nach empfangenen Züchtigungen stets wieder emporgestiegen, wie ein kräftig niedergeschleuderter Gummiball desto höher fliegt. Und sie war immer so lebhaft gewesen und so – so ausgelassen. Der Herr Registrator blieb auf einmal stehen und sah unverwandt auf einen Punkt. Es gibt für diese Art konzentrierten Schauens, die meistens mit einer weitabliegenden Gedankenkonzentration zusammenhängt, eine volkstümliche Bezeichnung, die hier aber nicht angewendet werden soll. Er sah das kleine Mädchen vor sich, mit den festen, runden Gliedern, den blauen Augen und dem krausen, blonden Haar, an dem jede einzelne Spitze eigensinnig umgebogen war. Er sah sie mit lachendem Gesicht und einem hellen Aufschrei auf ihn zukommen und irgend eine Bitte stürmisch vortragen, wenn die andern ehrbar und sittig an ihren Plätzen saßen und nur sprachen, wenn sie gefragt wurden. Sie war eine Ausnahme gewesen, und sie hatte sich als Ausnahme durchgesetzt, aller Erziehungskunst zum Trotz. Und, er mußte es sich ferner eingestehen, in seinem Herzen hatte dieses Kind des öfteren ein Gefühl erregt, das mit Wohlgefallen und einer heimlichen Freude eine große Ähnlichkeit hatte. Er gestand es sich ungern ein. Denn das Resultat ihrer Erziehung war ein wunder Punkt in dem geordneten Innern des Herrn Registrators, gewissermaßen ein mangelhaftes Aktenbündel in der Registratur seines Lebens. Sie hatte es durchgesetzt, daß sie sich als Erzieherin ausbilden durfte, und als sie das war, da hatte sie es durchgesetzt, daß sie die Familie, bei der sie die Kinder unterrichtete, nach Amerika begleiten durfte. Dann hatte sie diese, – diese Heirat durchgesetzt. Hm, es schien ja ein ehrenhafter, ein gewissermaßen zu respektierender Mann gewesen zu sein. Aber er hatte ihr hier am Platz eine gute und passende Versorgung gewußt. Er hatte für alle seine Kinder gute und passende Versorgungen ausfindig gemacht und damit seine Vaterpflicht auch in diesem Punkt erfüllt. Er hatte sie auch an ihr erfüllen wollen, aber sie hatte ihren Willen durchgesetzt. Und nun hatte sie es durchgesetzt, daß, – ach nein, das war ja nun eine traurige Schickung, und sie war wohl nun schmerzlich betrübt und zerbrochen im fernen Lande. Aber immerhin, es war doch eine ganz und gar unnormale Sache, daß sie nun als junge Witwe aus Amerika kam, mit zwei Kindern. Der Herr Registrator kam aus seiner Versunkenheit zurück und setzte seinen Weg nach dem Versammlungslokal vollends fort. Wie gesagt, er wollte seine Vaterpflicht erfüllen, aber er wäre doch zum mindesten denkbar gewesen, wenn sie ihm nicht in dieser Form auferlegt worden wäre. Er hatte jetzt sehr viel anderes zu tun. Und wer konnte wissen, wie Lydia zurückkam? Und dann diese – Enkel.


Es war wenige Tage nach diesem nachdenksamen Abend. Die fernen Reisenden waren in diesen Tagen näher und näher gekommen, wie das so zu gehen pflegt. Frau Scheuermann hatte nur wenig Zeit gehabt, ihr Herz in Ergebung und Geduld zu fassen, es war so vieles zu tun gewesen in diesen Tagen, wie noch nie, seit sie des Herrn Registrators treue Dienerin war. Sie erzählte dem und jenem, der es hören wollte, daß sie ihre Knochen gar nicht mehr fühle, was die Zuhörer so aufnahmen, daß sie sie nur allzusehr fühle. Und wenn sie daran dachte, daß die Reisenden nun aus dem Schiff stiegen und nun im Schnellzug saßen, und näher, immer näher kamen, mit großer Schnelligkeit, da seufzte sie wohl tief, aber vorsichtig, daß es der Herr nicht höre. Denn sie wünschte nicht, daß dieser Herr es dem Seufzer anhöre, wie gar sehr auch sie sich geprüft fühle durch diese gänzliche Umänderung in der Lebensweise, und wie wenig sie der Zukunft vertraue, daß sie alles wieder ins alte Geleise bringen werde.

Und dann waren sie da. Ein Wagen kam die Straße entlang, hielt am Haus an und ward aufgetan. Koffer wurden abgeladen, Taschen herausgegeben, und die Reisenden stiegen aus. Der Herr Registrator stand am Schlag und sah zu, wie die junge Frau zuerst einen kleinen Jungen und dann noch ein kleineres Mädchen heraushob. Und dann fühlte er plötzlich ein paar Arme um seinen Hals. »Ach, Vater,« sagte eine weiche Frauenstimme. »Da sind wir nun in der Heimat.« »Hm, ja, jawohl. Kommt nur ins Haus. Grüße dich Gott, meine Tochter. Frau Scheuermann, schaffe sie nun das Gepäck hinauf und sorge sie für das übrige.« Es war dem Herrn Registrator ein wenig hilflos zu Mute. Es brach da solch eine ungewohnte Situation über ihn herein. An seinen Knieen krabbelten diese beiden Enkelkinder herum und begrüßten ihn mit hellen Stimmen. »Guten Tag, Großvater. Ist das nun dein Haus, Großvater?« Und dann diese Umarmung der Tochter. Sie hatte ihn gar auf den Mund geküßt. Nur einmal, aber fest und kräftig. Frau Scheuermann hatte es gesehen und sich mit einem Kopfschütteln ihren eigenen, breiten Mund an der Schürze abgewischt. Was kamen da für Zeiten herauf, helf Gott, das würde ihrem Herrn schön mitspielen. Der Herr Registrator hatte sich bald wieder gesammelt, und die junge Frau auch.

Er hatte sich eigentlich gedacht, daß sie zuerst so etwas wie Reue und um Verzeihungbitten vorbringen würde. Sie war ja doch eine eigensinnige und eigentlich eine ungehorsame Tochter gewesen. Dafür galt sie nun schon seit einer Reihe von Jahren, in der ganzen Familie und bei ihm selbst. Er hatte sie längst unter dieser Rubrik verzeichnet. Er hatte sich auch in diesen Tagen ausgedacht, daß er ihr natürlich alles vergeben und sie bei dieser Gelegenheit recht nachdrücklich und kräftig ermahnen wolle. Ja, wozu hatte er sie doch ermahnen wollen? Es kam ihm alles abhanden bei dieser ungewohnten Unruhe. Die Tochter sagte auch gar nichts dergleichen. Sie war einst ein schönes Mädchen gewesen und nun war sie eine schöne Frau. Sie neigte ein wenig zur Korpulenz, ein klein wenig, gerade genug, um ihren behenden, kräftigen Bewegungen etwas angenehm Frauenhaftes zu geben. In ihrem blonden, krausen Haar lagen ein paar silberne Streifen, ganz feine, das war das einzig äußere Zeichen außer der tiefen Trauerkleidung, daß sie so Schweres erlebt hatte. In den Augen lag es warm, mütterlich, weich, aber nichts Zerschlagenes, Zerbrochenes sprach daraus. Sie setzte die Kinder zu Tisch, legte ihnen zu essen vor, sorgte für das nötigste Auspacken und brachte die zwei müden, kleinen Reisenden zu Bett. Alles mit einer ruhigen, selbstverständlichen Sicherheit. »So, nun dürft ihr Großvater gute Nacht sagen.« Die blonden Lockenköpfchen in ihren weißen Nachtkleidern kamen heran und boten schlaftrunken ihre roten Mäulchen zum Kuß. Frau Scheuermann ging eben mit dem Tassenbrett hinaus und machte die Türe etwas härter hinter sich zu, als gewöhnlich. Es konnte gar nichts schaden, wenn diese Amerikaner merkten, daß ihr Herr solch ein Gehabe und Getue mit Küssen und Zärtlichkeiten nicht gewohnt sei. Sie merkten es aber nicht an dieser Kundgebung der wackeren Frau. Erst als sich der Großvater so ein bißchen verlegen räusperte und dann seinen Mund so eigentümlich reserviert zuspitzte, als wollte er damit anzeigen, daß er seine Persönlichkeit im ganzen für sich zu behalten wünsche, – da fielen der Mutter ihre eigenen Kindheitstage wieder ein. Sie hatte heut noch nicht recht Zeit gehabt, daran zu denken. Aber das war ja wahr, sie hatten damals dem Vater immer nur die Hand gereicht. »So, nun kommt, ihr Zwei,« sagte sie. »Seht, was das für prächtige Bettchen sind. Darin hat Mutter geschlafen, und darin Onkel Hermann, als sie beide noch Kinder waren.« Sie konnten kaum noch Zeit finden, ihre Glieder auszustrecken, da nahm sie schon der Schlaf in die Arme.

So, nun mußte aber doch etwas gesagt sein. Der Herr Registrator hatte, solang die Tochter bei ihren Kindern in der Schlafstube war, ernstlich nachgedacht. Und in dieser stillen Weile waren ihm die guten Gedanken wieder erschienen, in geordnetem Zug, die der unruhige Abend verscheucht hatte.

Sie kam in einem losen, weichen Hauskleid zu ihm ins Zimmer zurück und setzte sich in einen Korbstuhl, die Hände leicht im Schoß gefaltet. Sie sah jetzt müde aus und ihre Augen sahen ins Weite.

»Hm,« er legte die Zeitung nieder, die er eben aus alter Gewohnheit ergriffen hatte. Es stand ein interessanter Aufsatz darin, den er nachher noch lesen wollte. Aber dies ging nun vor. »Dies ist eine schwere Heimsuchung für dich, meine Tochter,« begann er. Er legte so viel Milde in seine Stimme, als er nur auftreiben konnte.

»Es ist gewiß nicht leicht, den Gatten zu verlieren, und zugleich den Vater der Kinder.« Sie sagte noch nichts, sie nickte nur, gedankenschwer. So konnte er fortfahren. Er wurde unwillkürlich ein bißchen strenger. »Aber ich hoffe, daß du dich dadurch zum Ernst und zur Demut leiten lässest, und, hm – ja, und auch zur Erkenntnis, zur Erkenntnis, daß du – du hast auch nicht immer recht getan, meine Tochter.«

Sie sah ihn mit so klaren, offenen Augen an, erwartungsvoll und ein bißchen verwundert, und sagte immer noch nichts. Offenbar dachte sie ihn nicht zu unterbrechen.

Und sein glatt aufgespulter Gedankenknäuel bekam auf einmal Knoten und wollte nicht weitergehen. Dieses Gesicht, dieses Gesicht! Nein, sie war nicht reumütig und demütig heimgekehrt; reumütig darüber, daß sie die gute Versorgung, die ihr der väterliche Wille zugedachte, verscherzt hatte, und demütig, gedemütigt vielmehr, daß sie nun als Witwe nach Hause kam und immerhin ihm, dem Vater, zur Last fallen mußte.

Dies verlief nun so gar nicht in der Ordnung. Aber wann war in Lydias Leben je etwas nach der Ordnung verlaufen?

Er schüttelte den Kopf und schwieg eine kurze Weile.

Da stand sie auf. So voll reifen, kräftigen, warmen Lebens stand sie vor ihm; trotz des schwarzen Kleides und der grauen Streifen im Haar so ungebrochen. »Vater,« sagte sie, »ich rede nicht gern davon; ich bin noch nicht ganz so weit, daß ich's kann, und ich rede überhaupt nicht gern von meinem Innern. Aber einmal, damit du es weißt: ich muß mein ganzes Leben lang dankbar und froh sein, daß ich meinen Wolfgang – ach, das kann man ja gar nicht sagen, daß ich ihn besessen habe. Daß wir so reich und glücklich zusammen waren. Und daß ich nun die Kinder habe, seine Kinder. Er hat mir vertraut, daß ich sie ihm erziehe, so wie er's getan hätte. Und siehst du, nun muß ich tapfer sein und mutig – für zwei. Und das will ich auch, das weiß Gott.«

Sie hielt inne, denn sie wollte sich jetzt nicht von einer großen, inneren Bewegung übermannen lassen.

Und nach einer Weile fing sie an, ganz klar und ruhig von ihren Aussichten und Plänen zu sprechen. Sie war weder rat- noch hilflos, und daß sie nicht mutlos war, haben wir eben gesehen.

Sie kam sich ganz und gar nicht als verlorene Tochter vor. Dazu hatte sie sich ganz ohne ihr Wissen ausgewachsen und darum hielt sie die Bemerkungen ihres Vaters für etwas Allgemeines. Es war seine Art, solche Bemerkungen zu machen, und seine Art, etwas feierlich, ernsthaft und umständlich zu sein. So war er schon immer gewesen, er hatte auch in seinen seltenen Briefen – seit dem letzten war es übrigens lange her – immer solche Bemerkungen gehabt. Das wußte sie, daß er einst allen Ernstes verlangt hatte, sie solle nach Hause kommen, um einen – es war, glaub' ich, ein Seifenfabrikant gewesen – zu heiraten. Aber da hatte sie schon ihren Wolfgang gekannt und natürlich hatte sie das nach Hause geschrieben. Der Vater hatte das ein wenig schwer genommen und hatte ihr auch viele Bedenken und Ermahnungen geschrieben. Aber das war ja nun lange her. Er hatte ja nun sehen können, daß es für sie das Rechte gewesen war.

»Daß ich die Kinder in Deutschland erziehe, das hat Wolfgang gewollt,« sagte sie. »Er war so deutsch. Wir wären auch zusammen herausgekommen, später, wenn er am Leben geblieben wäre. Und nun werde ich mir einen Beruf suchen, bei dem ich die Kinder bei mir behalten kann. Ich bin nicht ganz arm, und ich kann Sprachen und Musik und habe viele Empfehlungen. Es wird schon gehen. Wir werden freilich in eine größere Stadt ziehen müssen. Aber nun freue ich mich einmal, daß ich zu Hause bin, Vater. Wie meinst du? Es habe dich einigermaßen überrascht, daß wir kamen? Aber das ist ja selbstverständlich, da wir nun doch in Deutschland sind. Du mußt doch deine Enkel kennen lernen. Du wirst schon Freude an ihnen haben, dessen bin ich sicher.«

Er hatte die Tochter ja auch noch ermahnen wollen, die Kinder gleich von Anfang an an strengen Gehorsam zu gewöhnen. Er hielt es für seine Pflicht, das zu tun. Er hatte es immer ernst genommen mit der Kindererziehung.

Als sie fortfuhr: »Es sind solch herzige Kinder, so voll Frohsinn, Gesundheit und Liebe,« ergriff er die passende Gelegenheit, zu sagen: »Dies warst du auch in deiner Kindheit, Lydia, und dennoch,« aber er sagte den Satz nicht zu Ende, denn sie fiel ihm erfreut ins Wort: »War ich das? Wie mich das freut. Du mußt mir noch davon erzählen. Wolfgang meinte immer, Lucie müsse ganz genau so sein, wie ich als Kind gewesen sei, während Markus mehr ihm gleiche, soviel er sich seiner selbst aus seiner Jugend entsinne.«

Nein, der Herr Registrator fand heute Abend keine Möglichkeit, durch ermahnende Worte auf seine Tochter einzuwirken. Es drückte ihn einigermaßen. Aber er gedachte das Versäumte noch hereinzuholen. Er wollte kein Eli sein, weder gegen sie, noch gegen ihre Kinder.

Und so fand diese Unterredung ihr Ende, ohne daß sie überhaupt stattgefunden hätte, und es wäre dies zwar nicht von jeder, aber doch von mancher Unterredung in ähnlicher Weise zu wünschen. Denn das Leben lehrt mehr, als viele Worte.


Frau Scheuermann war in einer Stimmung, die etwa der der alten Deutschen verglichen werden kann, als ihnen die Legionen der Römer im Land lagen und noch nicht abzusehen war, wann und auf welche Weise sie dasselbe wieder verlassen würden. Sie wagte nicht, gegen die Eindringlinge aufzumucken, aber sie hielt es auch nicht für recht, freundliche Gefühle zu heucheln, wo dieselben nicht vorhanden waren. Uns kann der Mangel an solchen Gefühlen ja nicht mehr überraschen; wir haben es kommen sehen, daß sie mit Pfannen und Deckeln in nicht ganz geräuschloser Weise hantieren und Selbstgespräche, nicht von der sonnigsten Art, dazu halten würde. Der kleine Markus hatte das nicht kommen sehen. Er stand in der Küche, die Hände auf dem Rücken, und sah mit großem Interesse zu, wie das Fleisch mit dem hölzernen Hammer mürbe geklopft wurde, und wie die Frau in den großen Selbandschuhen hin und her fuhr. Es war alles blank und sauber in der Küche. Die Kupferkessel und Messingpfannen glänzten, und der Wasserhahn glänzte, und als Frau Scheuermann den einen Kessel zur Seite rückte, da flammte das Feuer hell auf. Das sah alles zusammen sehr fröhlich aus und paßte ganz gut zu der Lebensanschauung des kleinen Buben. Frau Scheuermann allein sah nicht fröhlich aus. Sie hatte ein schwarzes Tüchlein heruntergebunden und die Lippen wie wie mit einem festen Entschluß, sie heute nicht mehr auseinanderzutun, zusammengekniffen. Markus hatte einmal eine Frau gesehen, die an Zahnweh gelitten hatte, die fiel ihm nun wieder ein.

»Hast du Zahnschmerzen?« fragte er mit seinem hellen Kinderstimmchen und sah sie dazu mitleidig an. Sie streifte mit einem ungnädigen Blick den ganzen kleinen Burschen, von dem hellen Lockenhaar an bis zu den festen, strammen Beinchen, die aus kurzen Söckchen rund und gebräunt vorguckten.

»Nein, ich habe kein Zahnweh,« sagte sie. »Das könnte ich gerade noch brauchen zu der vielen Arbeit, die ich nun habe. Und das weiß ich auch, wenn die Erziehung anders wäre, als sie nun leider ist, dann würden Kinder angehalten, zu einer achtbaren Frau Sie zu sagen und nicht Du. Und überhaupt, aber da ist ja gar nicht anzufangen. Aber ich schweige, ich schweige, ich will mir nicht wieder den Mund verbrennen.«

Man sieht an dieser Rede, daß auch der festeste Vorsatz, die Lippen zu schließen, in die Brüche gehen kann vor dem Übermaß des zusammengepreßten Gefühls. Der kleine Markus verstand die Rede nicht so recht, nur der Schluß, aus dem hervorging, daß sich die wackere Frau den Mund verbrannt habe, leuchtete ihm ein. »Hat es weh getan?« fragte er. »Mutter hat sich einmal die Hand verbrannt, da hat sie sie ins Mehl gesteckt, es tat sehr weh.«

Frau Scheuermann war unfähig, noch länger ihre Gefühle in sich hineinzudrücken. Das hatte sie nun seit Wochen getan, aber sie war doch auch nur ein Mensch. Sie stemmte die Arme in die Seite und sah Markus herausfordernd an.

»Darnach fragt ja niemand, ob's mir weh tut,« sagte sie. »Nun haben wir zehn Jahre zusammen gehaust, mein Herr und ich, und es war stets alles passend und richtig. Und nun soll ich das noch mitansehen. Dieses Gejachter und Gespiele und Gelärme, und nirgends keine Ordnung mehr. Und wenn das alles wäre; aber keine Ehrfurcht vor dem Alter! Ja wohl, vor meinem Herrn stehen sogar die Gassenbuben auf, wie man das auch vor einem grauen Haupte tun soll. Und nun soll er ja wohl noch mit kleinen Kindern spielen, Ball und Reifen und so was, nicht? Als ob er nicht ein Herr wäre, vor dem alles Respekt hat, von oben herunter bis zu den Niedersten. Aber ich sage nur: so ist unsre Zeit, und es ist eine traurige Zeit. Sonst sage ich nichts, denn ich will mir nicht wieder den Mund verbrennen.«

Das Beste an dieser ganzen Auslassung war, daß sie der kleine Markus nicht verstand, erstens, und zweitens, daß sie die Spannung in dem Gemüte der braven Frau ein wenig verminderte.

Draußen ließen sich trippelnde Schritte hören, ein helles Stimmchen rief: »Markus«, und dann steckte Lucie ihr lockiges Köpfchen zur Tür herein. »Wir wollen Dampfschiff spielen,« rief sie. »Ich habe schon drei Stühle und zwei Schemel umgelegt. Das sind die Kabinen. Und du mußt Kapitän sein.« Sie war vollends hereingekommen und stand nun neben dem Bruder, einen halben Kopf kleiner, aber ebenso kräftig, rosig und energisch als er. »Was tust du hier?« fragte sie. Denn je nachdem konnte sie ja auch hier bleiben. »O, nichts,« sagte Markus. »Ich sehe nur hier zu. Und wir haben so ein bischen zusammen gesprochen, Frau Scheuermann und ich.« »Dann will ich auch mit ihr zusammen sprechen,« erklärte Lucie. »Ich glaube, sie mag es nicht so gern,« sagte Markus. »Wir wollen lieber Schiff spielen, und dann gibt sie uns vielleicht den Messingtrichter hier über dem Küchentisch. Den brauchen wir als Sprechrohr.« »Ja, bitte, gib uns den,« Lucie streckte schon die Hand darnach aus, »und,« ihre Augen gingen suchend an den Wänden hin und her, »und den glänzenden Fisch hier könnten wir auch gebrauchen. Den werfen wir ins Wasser und dann schwimmt er hinter dem Schiff drein und ist ein Walfisch und frißt kleine Kinder, wenn sie hinausfallen.«

»Den Trichter und die Fischform?« Frau Scheuermann schnappte nach Luft. »So etwas kann nur ganz verdorbenen Kindern einfallen. Natürlich, es ist ja einerlei, ob sich alte Leute zu Tod putzen, daran denkt man nicht. Und gelärmt wird und mit den Stühlen gerumpelt, und nebenan ist der Herr Registrator und will arbeiten und muß es still haben um sich herum und kommt in Verzweiflung.« Die Kindergesichter waren ganz still und erstaunt geworden, und nun löste Lucie ihre Hand aus der des Bruders und marschierte mit tapferen Schritten auf die Tür zu, hinter der »der Herr Registrator« sitzen und in Verzweiflung kommen sollte. Sie klinkte auf und sah mit großen Augen im Zimmer herum. Der Großvater stand am Fenster, er hatte ein Heft in der Hand und murmelte vor sich hin, er las wohl.

»Bist du der Herr Registrator, Großvater?« fragte auf einmal die helle Kinderstimme. Er sah auf. Er war gerade an einem Bericht des Vereins für verwahrloste Kinder, und er hatte nicht die Gabe, sehr schnell von einem Gegenstand zum andern übergehen zu können. »Jawohl, mein Kind,« sagte er mit mildem Erstaunen. »Kommst du immer gleich in Verzweiflung, wenn wir spielen? Mußt du es ganz still um dich haben?« fragte Lucie weiter. Sie sah etwas enttäuscht aus, sie hatte sich irgend etwas Interessantes vorgestellt und nun war alles, wie sonst auch.

»Du mußt nicht so töricht reden, kleine Enkeltochter,« sagte der Großvater. »Große Leute kommen nie in Verzweiflung wegen eines Kinderspiels. Wenn Kinder lärmend und ungezogen sind, dann befehlen sie, daß das aufhöre, und dann hört das auch auf. Stille bin ich freilich gewöhnt. Aber bis zu einem gewissen Grade kann man sich auch schicken. Darum sind ja Große und Kleine zusammen auf der Welt, daß sie sich in einander schicken. Obgleich natürlich die Kinder mehr Verpflichtung haben, als die Großen, denn sie sollen« –

Das Weitere dieser Rede, die ebensowohl einen Gefühlsausbruch bedeuten konnte wie die der Frau Scheuermann, wenn auch in gemäßigteren Formen, kam nicht zum Austrag. Denn die kleine Enkeltochter war wieder zur Tür hinausgeschlüpft und nun rief sie draußen: »Markus, Markus, nun komm und laß uns Schiff spielen. Er hat etwas gesagt, aber ich weiß es nicht mehr, aber er kommt nie in Zweiflung wegen kleinen Kindern.«

Und daraufhin fingen sie an, einträchtig Lärm zu machen, so großen Lärm, daß Frau Scheuermann in ihrer Küche sowohl an der Gegenwart als an der Zukunft verzweifelte und nur noch die stille, geregelte, ungestörte Vergangenheit als schwachen Trost behielt. Der Großvater kam, wie er versprochen hatte, nicht in Verzweiflung. Er hörte auf das glückselige Gekreisch und Gelächter, kam ganz aus dem Geleise mit dem Bericht, den er las, sagte kopfschüttelnd, »hm, hm« und nach einer Weile, »ei, ei« und faßte darauf den Vorsatz, hinauszugehen und mit einem ernsten Wort Stille zu gebieten. Aber dieser Vorsatz wurde nicht ausgeführt, denn eh' er die Türklinke in die Hand bekam, ging draußen ein Freudengeschrei los. »Mutter, Mutter!« Und als er durch einen Spalt sah, da lagen die beiden Ruhestörer ganz fest in den Armen seiner Tochter und es gab ein Gezwitscher, ein Fragen und Antworten, als ob sie nicht zwei Stunden, sondern zwei Tage getrennt gewesen wären. »Seid ihr denn gute Kinder gewesen?« fragte die Mutter. Ja, das seien sie, sagten die Beiden. Aber Frau Scheuermann habe einen verbrannten Mund und der Großvater heiße Respirator und er komme nie in Zweiflung wegen kleinen Kindern.

Der Großvater schüttelte noch einmal den Kopf hinter seiner Türspalte und dachte, daß nach seinen Begriffen gute Kinder nicht lärmend seien, und daß in dieser neuen, hm, merkwürdigen Zeit alle Begriffe ins Fließen kommen, er aber sich nicht mitschwemmen lassen wolle. Ach, er hatte gut Vorsätze fassen. Daß er sie faßte, war ja nur ein Zeichen, daß er seine Füße bereits umspült fühlte von diesem Strom frischen Lebens, der ein so ganz anderes Wasser hatte, als der Teich von Grundsätzen und höchst achtbaren Ansichten, in dem er seither mit großen Schritten und ungebeugtem Rücken rundum gegangen war.

»Lydia.« »Ja, Vater.« Sie richtete eben den Tisch zum Abendbrot.

»Ich meine, das heißt, ich wollte dich schon lange fragen, ob du es mit deinem Gewissen vereinbaren könnest, die Kinder immer in weißen Kleidern gehen zu lassen?« »Mit meinem Gewissen? Ja, Vater, was hat denn die Farbe der Kinderkleider mit meinem Gewissen zu tun?«

»Ja, hm, siehst du, hier las ich soeben einen Bericht des Vereins für verwahrloste Kinder. Es wird darin besonders nachdrücklich darauf hingewiesen, daß man durch höchst einfache Kleider die Kinder in der Demut erhalten wolle und sie darum in braungelb gewürfelten Kattun zu kleiden gedenke.« »Ja, das mag ja wohl praktisch sein, bei so vielen. Aber weiß wäscht sich vorzüglich.«

»Ich rede ja aber von der Demut, meine Tochter. Du sollst doch deine Kinder auch in der Demut erziehen.« »Gewiß; das heißt, wir haben wohl verschiedene Begriffe von Demut. Aber das kann ich auch, wenn ich sie weiß kleide. Das ist ja doch eine Geschmackssache. Und,« ihr Gesicht nahm wieder jenen weitsichtigen Ausdruck an, »Wolfgang liebte es so, sie in weiß zu sehen. Ich denke fast bei allem, was er wohl sagte, wenn er sie nun sehen und hören könnte.« »War Wolfgang, das wollte ich schon lange fragen, war er entschieden, war er gläubig?« fragte der Vater.

»Wolfgang war ein frommer Mensch, und ich wollte, ich wäre wie er.« Damit war diese Frage ein für allemal erledigt.


Jetzt muß hier etwas vom Lachen geredet sein.

Es gibt so vielerlei Lachen in der Welt, und das häßliche Lachen hat dem schönen Lachen bei vielen Menschen, die gern gut sein möchten und darum alles fliehen, was nicht gut aussieht, den guten Ruf verdorben.

Und sie sind nun ängstlich und hüten sich vor dem Lachen. Sie kennen das spöttische Lachen, das sich über Schwächen und Mängel des Nächsten lustig macht und das schadenfrohe, das sich seines Mißgeschicks und seiner Fehltritte freut. Das Lachen des Leichtsinns kennen sie, das über alles Tiefe und Ernste hinweggaukelt, und das häßliche Lachen der Roheit, und das dumme, breite der Gedankenlosigkeit.

Aber das helle, herzliche, gesegnete Lachen der Kindheit kennen sie nicht. Das Lachen dessen, der ein Kind geblieben, oder wieder eins geworden ist. Das aus der Tiefe eines reinen, frohen Gemütes kommt und eine Gottesgabe ist in dieser Welt der Mühsal, der Klagen, des Hungers, und so vieler Unnatur. Das ein so wackerer Kämpe ist gegen viel unnötige Traurigkeit, Laune, Mutlosigkeit, Lebensschwere, und oft mehr ausrichtet, als eine lange Rede.

Man kann es nicht malen oder beschreiben, es muß einem begegnen, oder, was noch besser ist, man muß es besitzen, wenn man es recht kennen will. Es gibt Leute, die bekamen Hunger darnach, als es ihnen begegnete. Und das war ein feiner Hunger.

Der, dem es eigen ist, der ist ein gesegneter Mensch.

Frau Lydia war ein solcher. Und ihre Kinder sollten solche werden.

Das Leben hatte ihr viel gegeben und viel genommen. Sie hatte in Trauer und Tränen hingeben müssen, was ihres Herzens Reichtum und ihres Lebens Stolz und Schutz gewesen war. Dann war sie mit ihren Kindern fortgezogen, in das ernste, schwere Leben hinein. Der, welcher vorne gestanden war in den Reihen der Kämpfenden, hatte seinen Platz verlassen, und nun trat sie in die Lücke, mit ernstem, ehrlichem Wollen.

Sie hatte nicht Zeit zu einem Kultus des Toten, ihre Liebe und ihr Leid schloß sie fest in sich hinein, und dann nahm sie ihre Aufgabe entgegen. Sie sah dem Leben ins Auge, nicht, wie sie es gewünscht hätte, sondern wie es nun war, und es war nicht arm und leer, fürwahr. Und wie sie so ihre Schritte tat, gerade und tapfer, wissend, daß Aufgaben gute Gaben sind, und daß sie zu lösen Reichtum ist, da tat sich ihr die Schönheit des Lebens wieder auf. Da empfand sie sich als Kind eines, der dem Leben Sinn und Zweck gibt, und empfand eine Freude, die fromm war, weil sie aus einem gestillten Herzen kam. Und da wachte ihr Lachen wieder auf. Zuerst wohl schüchtern, wie ein erstes Vöglein in der Morgenfrühe seinen Laut gibt und wieder verstummt vor der Stille rings umher – wenn die Kinder gar so herzig waren in ihrem lieblichen Geschwätz. Aber nach und nach mit frohem, starkem Bewußtsein davon, daß Vorwärtsgehen recht sei und nicht Rückwärtssehen Pflicht und Muß. Das wußte sie: »Wolfgang würde froh sein, wenn er mich froh sähe.« Und sie hatte ihm versprochen, tapfer zu sein – für Zwei.


Der Großvater stand an der Schlafstubentür und horchte. Ja, das muß gerade herausgesagt sein, daß er horchte. Er tat es mit dem Ernst eines, der auf seinem Posten ist und der auf alle Fälle zu rechter Zeit eingreifen wird.

Aber er war nicht mehr so sicher, als er vor ein paar Wochen noch gewesen war.

Da drin ging es lebhaft zu, wie es nie zugegangen war, wenn des Herrn Registrators eigene Kinder zu Bett gebracht wurden. Die waren in den Ernst des Lebens nicht nur eingeführt, geradezu untergetaucht waren sie darin worden und darum waren sie auch ernsthaft geblieben. Alle bis auf Lydia. Und die erzog nun ihre Kinder auch nicht so, wie es ihm, dem Großvater, bisher festgestanden hatte, daß man Kinder erziehen müsse.

Er hatte all' sein Lebenlang gewußt, daß man Kinder drunten halten müsse. Daß man ihnen den Willen brechen, sie in Ehrfurcht gegen große Leute und deren Befehle üben, und sie ermahnen und strafen müsse.

Und seine Tochter tat von dem allem fast nichts. Er war so sehr im Zweifel, ob sie eine Witwe »nach dem Herzen Gottes und des Apostels« sei, daß er fast aufatmete, wenn er daran dachte, daß sie in wenigen Wochen nach der Hauptstadt ziehe.

Es muß gestanden werden, es war ihm wohler bei den jetzigen Zuständen, als er für recht hielt. Es beschlich ihn öfters ein ganz fleischliches Wohlgefallen an den hübschen, kräftigen, lebhaften Kindern, an der stattlichen, frischen, fröhlichen Mutter derselben und an dem warmen, liebreichen Ton, der die ganze Wohnung mit Sonnenschein erfüllte.

Aber das durfte ja eigentlich nicht sein, so lang er nicht überzeugt sein konnte, daß alles zuging, wie es recht und Pflicht war. Und so stand er denn zwiespältiger, als er in langen Jahren seines geordneten Lebens je gewesen war, an dieser Tür. Was hatten sie nur zu lachen? Es mußte ja wohl etwas Besonderes vorgefallen sein. Obgleich, diese Kinder konnten um nichts lachen. Der Großvater hätte nicht ungern einen kleinen Spalt in der Tür entdeckt. Oder noch lieber einen triftigen Grund zum Hineingehen. Aber er fand weder das eine noch das andere; er hatte wirklich nichts in diesem Zimmer zu holen.

»So, nun seid still, nun wollen wir beten,« sagte die Mutter. Dann folgten die kleinen Kindergebete. Markus sagte das seinige langsam und deutlich, der Großvater mußte zufrieden mit dem Kopf nicken; da kam auch schon Lucie hintendrein. Sie hatte es sehr eilig. Sie konnte nur einen einzigen Atemzug darauf verwenden, denn sie hatte noch viel auf dem Herzen, das nun herunter mußte. »Amen; Mutter, muß der liebe Gott die Frau Scheuermann auch segnen?« »Ja, natürlich, alle Menschen muß er.« »Aber, Mutter, sie ist nicht so sehr freundlich, sie hat gesagt, Markus sei ein Bengel; Mutter, was ist ein Bengel?« »Das will ich nicht hoffen, daß er das ist; Bengel sind ganz unartige Jungen. Warst du unartig, Markus?« »Nein, – ich glaube nicht, ich habe nur gesagt, daß sie der Krähe in meinem Bilderbuch ein bißchen gleich sähe.« »Aber, Kind, das darf man auch nicht sagen. Das muß sie ja erzürnen.« »Aber, Mutter, du hast auch gesagt, daß ich ein Spatz sei, und Vater hat einmal gesagt, daß Lucie einer kleinen Maus gleiche. Und das hat uns nicht erzürnt.« »Nein, mich auch nicht,« rief Lucie.

Das war nun freilich ein schwieriger Fall. Der Großvater vergaß ganz, daß er nicht zur Gesellschaft gehörte, und stieß ein lautes »Hm« aus; und als in diesem Augenblick Frau Scheuermann zur Türe hereinkam und ihren Herrn mit einem unbeschreiblich erstaunten Blick streifte, da wurde er wahrhaftig noch auf seine alten Tage rot wie ein Schulknabe und ging eilig – nicht etwa in seine eigene Stube, um noch etwas zu arbeiten – sondern geradeswegs in die Schlafstube hinein. Er mußte das vollends zu hören bekommen. Er wurde aber ganz verlegen, als er sich drinnen sah und sagte, ein wenig stotternd und unsicher: »Du könntest mir vielleicht nachher – ja, was konnte sie nur nachher tun? Du könntest mir vielleicht diese Krawatte ein wenig ausbessern.« Es war ungeschickt, er wußte wirklich nicht mehr sicher, ob die Krawatte beschädigt sei, die er anhatte.

»Ja,« sagte Lydia, »natürlich.« Sie machte sich einen Augenblick mit dem Kissen des kleinen Markus zu schaffen, um ein Lächeln zu verbergen. »Muß es gleich sein, Vater? Oder nimmst du einen Augenblick Platz? Ich komme nun gleich, es ist da nur noch etwas in Ordnung zu bringen.« Ja, er nahm Platz, und zwar dicht neben Lucie, die ihm sehr erfreut zunickte. Es war ganz nach dem Geschmack der kleinen Person, daß sich die Sache noch ein wenig in die Länge zog.

Und dann hörte er die Unterweisung darüber, daß kleine Kinder nicht dasselbe zu großen Leuten sagen dürften, wie umgekehrt, und daß sie lieber allemal Mutter fragen sollten, eh' sie mit dem Bilderbuch zu Frau Scheuermann gingen. Unartig sei das aber nicht gewesen, bloß ein bißchen dumm. Und sie sollten nur immer alles der Mutter erzählen, auch das Dumme, die bringe es dann schon wieder zurecht. Und nun sollten sie einschlafen, »ganz fröhlich«.

»Nur noch einmal beten,« flehte Lucie. Der Großvater sah sie erstaunt und erfreut an. Da setzte sie sich im Bett auf, faltete die Hände und sagte: »Lieber Gott, und du mußt also auch die Frau Scheuermann segnen, aber nicht so sehr, bloß ein bißchen. Amen.« Sprach's und legte sich wieder in die Kissen. Nun war für heut alles in Ordnung.

Was sollte der Großvater nun davon wieder halten? Es wurde ihm wirbelig. Zu sagen wußte er schon gar nichts mehr. Das war ja aber auch kein Schaden.


Es regnete. So sachte, gleichmäßig und eintönig herunter, etwa mit der Wirkung eines langweiligen Redners. Man kann ihn nicht unterbrechen, man läßt ihn so über sich ergehen und hofft, daß er ja doch auch einmal aufhören müsse.

Der Herr Registrator machte aber heut eine rühmliche Ausnahme von den vielen, verdrossenen Regenwettergesichtern, die man auf der Straße sah. Ordentlich leichtfüßig, soweit ihm das möglich war, schritt er unter seinem Schirm dahin; mutig trug er ihn wie eine Fahne, und sein Gesicht sah so aufgehellt aus, als ob es bei ihm bereits ausgeregnet hätte. Aber das kommt davon, wenn man einen inneren Leitgedanken hat, und er hatte einen.

Seine Tochter war vorhin für zwei Tage verreist. Nach der Hauptstadt war sie gereist, warum, das war eine Sache für sich und kommt nachher noch daran. Aber nun hatte er, der Großvater, einmal die Kinder zwei Tage für sich. Das war ihm eine Lösung; kein Mensch wußte, wie unruhig und aufgestöbert das ganze Gemütsleben des alten Herrn war. Er hatte bisher in einem festgefügten Hause gewohnt, und nun bröckelte ein Stein um den andern davon ab. Was half's, daß durch die Lücken hinein die helle Sonne schien? Sie war so warm und lieblich. Aber sollte aus der Aktenstube seines Herzens, in der göttliches und menschliches Recht so schön in Fächern an seinem Platz lag, eine Wohnstube für kleine Kinder werden? Er war froh, daß die Mutter einmal verreiste, sie war ihm ein wenig im Wege; er konnte niemals sein altes, gewohntes Selbst wieder finden, wenn sie da war. Nun wollte er es wieder einmal auf seine Art probieren. Er freute sich darauf; das hatte er früher nie getan, aber er merkte den Unterschied nicht. Er war viel zu tief in seinen Gedanken befangen, als daß er sich selbst noch hätte beobachten können.

Da war er nun an der Kanzlei, und es dauerte vier Stunden, bis er sie wieder verließ. Aber dann ging es nach Hause, und dann wollte er seine Enkel erziehen. »Es wird ja doch nichts daraus,« sagte irgend ein Stimmlein in ihm. Aber er schloß die Ohren dagegen, stellte seinen triefenden Regenschirm in den Ständer und sagte, so hart er nur konnte: » Doch

Derweilen standen die zwei kleinen Erziehungsobjekte am Fenster und sahen in den Regen hinaus. Sie wußten nicht, was ihnen bevorstand, es war ihnen langweilig und ein wenig trübsinnig zu Mute.

Sie waren auch in einer Pflichtenkollision. Der Mutter hatten sie in die Hand hinein versprechen müssen, »ganz fröhlich« zu sein und kein Heimweh zu haben. Und sie hatten das als zwei brave kleine Leute auch ehrlich halten wollen, hatten einen Tunnel aus Stühlen gebaut und waren hintereinander drein hindurch gekrochen. Das war etwas sehr Fröhliches, man mußte auch so lachen dabei, daß man gar nicht wieder aufhören konnte. Nur fielen dabei die Stühle um und polterten etwas, und da kam Frau Scheuermann herein und zankte wie noch nie und sagte, daß sie ganz erschrecklich böse Kinder seien und daß sie, Frau Scheuermann, einmal sehen wolle, ob nun nicht Ruhe werde. Ganz still sollten sie sein, mäuschenstill, und etwas Vernünftiges spielen, wie andere gute Kinder auch.

Da sollten denn die Zwei nun ganz fröhlich und ganz still sein; sie wußten gar nicht recht, wie man das zusammen machte.

»Wenn nur Mutter da wäre,« sagte Lucie und seufzte ein wenig. »Das sollen wir ja nicht,« sagte Markus, der sich nicht anstecken lassen wollte. Und dann fingen sie tapfer an, mit den Puppen zu spielen, als zwei kleine Helden, die versprochen haben, kein Heimweh zu bekommen.

Das bleibt nicht aus, um was man sich ernstlich Mühe gibt, so recht mit festem Willen, das überwindet man auch.

Nach einer Weile waren sie so vergnügt, daß man nichts daran aussetzen konnte. Das Stillsein war ja auch das zweite Gebot, an dem durfte man schon ein klein bißchen abzwicken.

Frau Scheuermann dachte in ihrer Küche Ähnliches, wie ihr Herr unterwegs, nur etwas gröber dachte sie es. »Wir sollten sie in der Hand haben, mein Herr und ich,« dachte sie. »Da sollte etwas draus werden. Wir wollten sie schon Mores lehren. Sind sie nun nicht brav, seit ich sie abgekanzelt habe? Jawohl, die Erziehung, die macht alles.«

Sie ärgerte sich auch nicht so besonders, als es drinnen neuerdings anfing, ein wenig lebhaft zu werden. Sie hatte ja nun die Erziehung in der Hand, und es stand in ihrer Macht, jeglichem Mutwillen ein Ende zu machen. Sie dachte wohl nicht an die Fabel vom Löwen und der Maus, aber es war ihr ähnlich zu Mute, wie dem Löwen. Herrschern fällt es nicht so schwer, ein wenig Langmut zu üben.

»Lucie.« »Ja, was hast du da?« »Riech' einmal, fein, nicht?« Markus stand auf den Zehen an einem Eckschränkchen und zog mit der Hand einen großen, runden Pappteller heran, der obendrauf lag. Der Pappteller war ein wenig klebrig von Zucker und in der Mitte lag etwas. Eine runde, weiße Scheibe, um deren Rand ein rosafarbiges Kränzchen lief und in deren Mitte eine gleichfalls rosafarbige Zahl 65 prangte. Das Ganze sah aus wie von Zucker, und wenn man das Näschen ganz nahe daran brachte, konnte man einen schwachen, süßen Duft verspüren. Lucie kam heran und dann staunten sie zu zweit eine kleine Weile auf den Teller hin. »Das ist von Großvaters Geburtstagstorte,« sagte die Schwester. Der Geburtstag war vor ein paar Tagen gewesen und die Torte war verzehrt. »Ja, und nun liegt das noch hier.« Markus hatte das Mittelstück immer angestaunt, als die Torte noch ganz war. Das sah so ungemein verlockend aus. Nun hielt er es in der Hand, und der Reiz war größer als nur je. Und dann geschah die Geschichte von Adam und Eva wieder einmal. Ich schreibe es so ungern, sie waren so gar nicht gewöhnt zu naschen, aber nun taten sie es doch. Zuerst riechen und dann mit der Zunge dran lecken, ganz spitz und fein, dann erschrecken und einander ansehen, dabei die Platte fallen lassen, so ging das nacheinander. Da lag sie am Boden in vielen Stückchen, und die aßen sie auf. Es schmeckte nicht gut, es war gar kein Genuß mehr, aber sie aßen sie doch. Es war ein unfrohes Essen, so eine Art von Muß des Sündigens. »Du, das ist gar kein Zucker,« sagte Markus, als er das letzte Stück im Munde hatte. »Es ist schlecht und klebt so.« Lucie konnte nicht antworten. Sie hatte einen klebrigen Brei im Munde, den sie betrübt hin- und herzog. Nein, es war kein Zucker. Es war so schlecht, es wurde ihr so eigen zu Mute darnach. Und es war wohl auch sehr unartig, daß sie die Platte gegessen hatten. Die beiden Gesichter verzogen sich kläglich, und dann fingen alle beide an, jämmerlich zu weinen. Dazwischen hinein guckten die kleinen Sünder einander an und lasen einander ihr Elend vom Gesicht ab, und dann schluchzten sie um so erbärmlicher.

Da ging die Tür auf und der Großvater kam herein. Er konnte ja gar nicht geschickter kommen. Denn nun konnte er sogleich mit seiner Erziehungsmethode beginnen. Wenn ihm nur ein bißchen Zeit geblieben wäre, hätte er das sicher auch getan. Aber er stand noch verdutzt an der Tür und schaute auf die beiden Tränenbächlein, da sprang schon Lucie auf und auf ihn zu, und Markus kam hintendrein. Und dann umfaßten die betrübten Missetäter seine Beine, daß er keinen Schritt machen konnte, und erzählten ihm unter Schluchzen, daß »es« so schlecht gewesen sei, und daß sie auch unartig gewesen seien und es nicht wieder tun wollten. Er hielt den Hut in der Hand und ein Buch unter dem Arm, konnte weder das eine noch das andere ablegen und schüttelte dazu in gänzlicher Unwissenheit den Kopf. Es gehört Talent und Übung dazu, aus solchen Berichten eine rechte Kenntnis des Sachverhalts zu gewinnen. Und der Herr Registrator hatte beides nicht. Dies war überhaupt ein ganz eigener Fall in seiner Praxis. Denn wo wäre es seinen Kindern jemals eingefallen, ihn mit der Verkündigung eines Unrechts, das sie begangen hatten, zu überfallen? Sie hatten scheu und stumm auf ihre Strafe gewartet, und die hatten sie auch bekommen, ohne Zweifel hatten sie die bekommen.

»Markus, mein Kind, nun lasse mich los. Und du auch, kleine Lucie. Ich will nun diese Sachen ablegen und dann – ich verstehe noch nicht recht, was ihr mißgehandelt habt.«

Und als er dann auf dem Richtstuhl saß und so recht hätte schwelgen können in strafender und ermahnender Gerechtigkeit, da lehnten sich die beiden Übeltäter so vertrauensvoll an seine Kniee und gaben sich alle Mühe, die ganze Untat von vorne an zu erzählen und ja nichts zu vergessen, und dann krochen sie mit den tränennassen Gesichtern in seine Rockschöße hinein.

Da kam plötzlich so ein sonderbarer, knarrender Laut, und dann noch einer. Der Großvater hatte ihn ausgestoßen. Die Kinder guckten aus den Rockschößen auf, und Frau Scheuermann, die eben das Abendbrot auftrug, sah ihren Herrn an, daß es einen Stein erbarmen mochte. Der strich sich eilig mit der Hand über sein glattrasiertes Gesicht, hustete ein wenig, gab sich alle Mühe, ernsthaft auszusehen, und holte schließlich sein Taschentuch heraus, in das er nun gleichfalls sein Gesicht verbarg, bis er es wieder in der Gewalt hatte. Aber das konnte ihm alles nichts helfen. Wenn auch die Kinder in ihrer Unschuld zu täuschen waren und Frau Scheuermann nichts zu sagen hatte, vor sich selbst konnte er's doch nicht verbergen. Er hatte gelacht, laut und aus unwiderstehlichem Drang, gelacht über die reumütige Erzählung der zwei schuldbeladenen Enkelkinder. Wie konnte er sie nun strafen? Er konnte es nicht. Er hatte sogar große Lust, noch einmal zu lachen. Solch ein schwacher, grundsatzloser Greis war er geworden. In seinen eigenen Augen war er das geworden. Er beugte sich hinunter, hob zuerst den Buben und dann das Mädel auf seine Kniee und sagte: »So, so, hm, nicht mehr weinen. Das ist – das ist ja freilich böse. Das werdet ihr ja nicht wieder tun.« Sie schüttelten energisch die Köpfe, alle zwei, und Lucie sagte: »Es ist auch kein Mittelstück mehr da, nicht, Großvater? Dann kann man keins mehr essen,« und Markus ergänzte mit rührend ernstem Gesichtchen: »ja und es war auch gar nicht gut.«

So sehr tief ging das eigentliche Schuldgefühl noch nicht, es war sehr vermischt mit der ganz weltlichen Traurigkeit über den schlechten Nachgeschmack, den die Sünde gehabt hatte.

Aber das kommt auch bei ganz wohlerzogenen, großen Leuten vor. Es ist noch nicht am schlimmsten, wenn es wenigstens schlecht geschmeckt hat. Sünden, die süß eingegangen sind, vermeidet man schwerer ein zweites Mal, auch wenn »kein Mittelstück mehr da ist.«

Der Großvater ging heute mit angenehm durchwärmtem Herzen und schlechtem Gewissen zu Bett und wagte nicht recht, gute Vorsätze für den kommenden Tag zu fassen. »Es wird ja doch nichts draus,« sagte das Stimmlein wieder, das ihn am Morgen geneckt hatte. Da ließ er's. Er wurde selbst erzogen, aber das wußte er nicht. »Sie fürchten sich auch gar nicht und gar nicht. Sie haben keine Scheu vor ihm, vor so einem rechten Herrn mit grauem Haar. Da hängen sie sich an ihn wie die Kletten und merken nicht, daß ihm das eine Last ist. Und nun laufen sie gar die Treppe hinunter und warten auf ihn. Aber das sind so Amerikaner, denen ist nichts heilig.« Frau Scheuermann hielt wieder einmal ein grimmiges Selbstgespräch. Und wenn nun jemand sagen will, daß dieses Selbstgespräch, soweit es die Amerikaner betrifft, weder richtig, noch logisch, noch treffend ausgedrückt sei, so bestreitet ihm das niemand.

Nein, sie hatten keine Scheu vor ihm, sie wußten gar nicht, was das sei. Lieb hatten sie ihn, so recht mit ihren warmen, weichen Herzlein. Sie trippelten die Treppe hinunter, denn es war nun Zeit, daß er bald nach Hause kam. Daß er ganz anders war als Vater und Mutter, daß er nicht spielen konnte und öfters etwas langes sagte, das man nicht recht verstand, und so allerlei, das war nun einmal so. So waren eben Großväter. Darüber waren ihnen noch keine Fragen aufgestiegen. Gestern abend hatte er sie auch geküßt, als sie im Bett lagen. Zum erstenmal. Ganz sachte und heimlich. Ja, wohl hatten sie ihn lieb. Und nun saßen sie auf der untersten Treppenstufe und warteten. Die große Puppe Irene saß zwischen ihnen und machte große Augen und wartete auch. Aber auf einmal glitt sie aus, schlug mit dem Kopf auf die Steinplatte des Hausflurs, und als sie sie aufhoben, da lagen ihre blauen Augen tief im Kopf und die leeren Höhlen starrten grausig drein.

Es war nur gut, daß der Großvater heut keine Vorsätze gefaßt hatte. Denn was hätte er damit beginnen sollen, als er nun ins Haus trat und das rosige, kleine Mädchen in tiefem Mutterschmerz vorfand? Hätte er etwa sagen sollen, daß es nicht recht sei, um Puppen zu weinen? Und daß sie später im Leben noch reichlich Gelegenheit finden würde, Tränen zu vergießen?

Er sagte etwas anderes, aber zu sich selbst, später, als er über diesen Morgen nachdachte. Als er wieder allein war.

»Wenn es nicht unpassend wäre, so etwas zu vergleichen,« sagte er, »so möchte man sagen, daß das unbedingte Vertrauen der Kinder zu den Erwachsenen, die sie lieb haben, lehrreich für die Großen sei, die auch eine Macht kennen, welche alles wieder zurechtbringen kann.«

Denn Markus sagte tröstlich: »Sei still, Lucie, da ist ja nun Großvater, der macht dir das wieder zurecht.«

Und das Kind wischte sich die Tränen weg, streckte ihm die Puppe hin und sagte entschlossen: »Also.« Sonst nichts. Denn Lucie zweifelte weder an seiner Geschicklichkeit, noch an seinem guten Willen.

Wenn es die Wohlfahrtsvereine der Stadt und ihre Vorstände hätten sehen können; und die Straßenjugend, die aufhörte zu spielen, wann der Herr Registrator des Weges kam; und Frau Scheuermann, die ihren Herrn ohnehin mit Kummer und Sorgen betrachtete!

Aber sie konnten es nicht sehen, niemand sah zu, als er in seinem Zimmer den Puppenkopf lostrennte und die Augen mit einem Federmesser und mit vieler Mühe an die rechte Stelle brachte, und dann die Mechanik wieder zurechtbog und den Kopf wieder aufleimte. Sie hätten sich vielleicht gewundert oder hätten sie gelacht, oder hätten sein Tun für eine Kinderei gehalten, und niemand hätte gewußt, was für ein redliches, gutes Werk es war, das er tat.

Er wußte es selbst nicht, und das war fast das Beste daran. Er konnte nur das Kind nicht in seinem Vertrauen täuschen, er wollte es nur gern wieder froh sehen. Es machte ihn fast verlegen vor sich selbst, denn er hatte sich nie im Leben mit so »kleinen Dingen« abgegeben, er hatte immer Wichtigeres zu tun gehabt. Aber wie Großes dieses »kleine Ding« in seinem Leben bedeutete, das wußte er nicht.

»Mutter,« rief Lucie aus ihrem Bett, als sie die wohlbekannte Stimme noch ins Einschlafen hinein hörte, »Mutter, da bist du wieder! Wir sind auch unartig gewesen, aber vorher haben wir's nicht gewußt, erst nachher. Gute Nacht, Mutter, der Großvater hat meine Irene wieder gemacht.« Und Markus sagte schlaftrunken: »Mutter, es ist nicht gut gewesen, und wir haben auch geweint, aber nur zweimal, sonst gar nicht.«

»O ihr Kinder.« Sie beugte sich über die Bettchen; »das waren zwei lange Tage. Aber nun bleiben wir wieder zusammen.«

Der Großvater stand neben ihr, leuchtete mit der Lampe über die zwei kleinen Schläfer hin, die schon wieder tief und ruhig atmeten. Die Lampe klirrte ein wenig in seiner Hand. »Nun bleiben wir wieder zusammen,« hatte sie gesagt. Und er? Die Tochter erzählte von den Erfolgen, die sie gehabt habe. Daß sie Schülerinnen bekommen und noch mehrere in Aussicht habe. »Es wird schon gehen,« sagte sie. »Freilich, ganz den Kindern zu leben, wäre schöner. Aber daran will ich nun lieber nicht denken. Man muß sich schicken können, nicht, Vater?«

Sie wollte mutig sein und war es auch. Aber so auf eigenen Füßen zu stehen ist zwar etwas sehr Achtbares, aber durchaus nichts Leichtes, Behagliches.


Er hatte das Wort nicht gesprochen, das Tag und Nacht mit ihm umgegangen war. Und nun war es zu spät dazu. Nun ging Frau Scheuermann wieder durch die Räume, putzte, polierte, stäubte ab, und ihn selbst bürstete sie um und um. So recht wie man sein Eigentum bürstet, daß man es jedermann sehen lassen kann in seiner strahlenden Sauberkeit.

Es trabten keine kleinen Füße mehr durch die Zimmer, keine Stühle wurden umgeworfen, kein Lärm wurde gemacht; es ging alles in schönster Ordnung zu, wie einst.

Und nun hätten ja die beiden alten Leute zufrieden sein können, diese unruhige Zwischenzeit vergessen und im alten Geleise weitertraben. Aber das ging nicht nur so. Man kann nicht einfach ein paar Folioseiten seines Lebensbuches ausreißen, das weiß jeder. Und radieren ist mühsam und hinterläßt gleichfalls Spuren.

Frau Scheuermann probierte es mit dem Radieren. Nicht bei sich selbst, sie hatte das nicht nötig. Aber bei ihrem Herrn.

»Der Herr Registrator sehen schlecht aus,« sagte sie eines Tags, als sie lang genug mit dem Staubtuch an den Möbeln herumgewischt hatte. »Es war aber auch eine angreifende Zeit. Ich habe den Herrn Registrator oft bedauert.«

Der Herr Registrator sagte nichts. Er hatte ein Zeitungsblatt in der Hand und sah über dasselbe hinweg seine alte getreue Dienerin an – als sähe er sie nicht.

»Ja,« fuhr diese mutiger fort, »es ist eine Wohltat, daß es nun damit zu Ende ist. Ich sage nichts von mir, denn warum? Wenn es der Herr Registrator aushalten, muß ich es auch können, aber« – Die brave Frau brachte ihre Rede nicht zu Ende. Denn der Herr Registrator wollte kein Tüpfelchen von der vergangenen Zeit aus seinem Innern ausradieren lassen. Er nahm das Zeitungsblatt vors Gesicht und sagte hinter demselben vor das Wort, das uns aus früheren Tagen her bekannt ist, neuerdings: »Halte sie den Mund, Scheuermännin; sie ist nicht gefragt und nimmt sich zuviel heraus.« Dann – tat er wenigstens, als ob er weiter lese.

Da machte Frau Scheuermann einen zweiten Schnitt in das Kerbholz der Frau Lydia, und schüttelte im Geist die Faust gegen diese Amerikaner, diese Ruhe- und Friedensstörer. Mehr konnte sie nicht tun. Sie hatte die gute alte Zeit wieder in ihr Recht einsetzen wollen. Und nun mußte sie die Erfahrung vieler andern Menschen teilen, daß da kein Zwingen hilft und kein Dräuen; die Zeit geht ihren Weg und die Menschen gehen ihn mit. Und wer nicht mitgehen will, der wird – mindestens auf die Seite geschoben.

Es war eine herbe, aber eine gesunde Lehre. Wenn sie dieselbe nicht ausnützen wollte, war sie selbst schuld daran.

Der Herr Registrator las nicht, so tief er sich hinter sein Zeitungsblatt versteckte.

Er gedachte auch einer Zeit, die nicht mehr war. Aber sie war erst jüngst vergangen. Und er haderte mit sich selbst, daß er nicht festgehalten hatte, was sie ihm brachte. Es hätte ihn nur ein Wort gekostet, aber das hatte er nicht gesprochen.

»Hm, hm,« er schüttelte den Kopf, und diesmal über sich selbst. Das war noch nicht leicht vorgekommen in seinem Leben. Aber nun tat er es öfters. Es war ihm, als sei er in eine Putzmühle geraten, und sein ganzes, würdevolles, passendes, ehrenwertes Leben fliege ratsch, ratsch, ratsch, als Spreu und Kleie umher.

Er stand auf und nahm Hut und Stock, um ein wenig spazieren zu gehen. Auf der Straße spielte die frohe Jugend, wie sonst auch, und hielt an und grüßte höflich oder starrte verlegen, je nach der Weise ihrer Erziehung. Aber der alte Herr tat nicht, wie er sonst getan hatte. Er blieb stehen und faßte einen kleinen Bengel mit wirren Locken am Grips. »Ei, ei, nun erschrickst du ja. Ich tue dir nichts, mein Sohn. Wie heißt du, he?«

Der Bub konnte noch nicht reden vor Überraschung, und die andern gaben den Fluchtplan, den sie anfangs gefaßt hatten, auf und schrieen im Chor: »Gottlob Hasenmayer« und waren bereit, noch mehreres zu schreien, wenn sich Gelegenheit dazu bot.

Die Straßenjugend war nicht schuld gewesen, daß ihr Verhältnis zu dem alten Herrn bisher kein intimes zu nennen gewesen war, das konnte man nun deutlich sehen. Als er weiter wandelte, lachte sie aus vollem Halse, wozu sie ja stets bereit ist. Denn der Herr Registrator hatte einem aus ihrer Mitte mit dem Stock auf die Achsel geklopft und gesagt: »Du scheinst mir ein munterer Junge zu sein.«

Und wer nun nicht begreift, daß die Straßenjugend über dieses Wort aus dem Munde des Herrn, den sie bisher nur schweigend, feierlich, aufrecht hatte daherwandeln sehen, aus vollem Halse lachte, der beweist damit nur, daß er mit den Gepflogenheiten der Straßenjugend nicht auf dem Laufenden ist.

Am Fenster der verlassenen Wohnung aber stand Frau Scheuermann, sah ihrem Herrn nach, sah ihn stehen bleiben, sah und hörte die Jugend in ihrer Heiterkeit. Und sie nahm ihren Schürzenzipfel, fuhr sich damit über das Angesicht und mit einem Seufzer, der tief war, sagte sie: »Er treibt's nicht mehr lang. Denn warum? Er ist ein anderer geworden. Und ich weiß, was ich weiß.« Von da an studierte sie, wo sie es ohne Aufsehen konnte, die Stellenangebote, und je und je sagte sie sich, und es war ihr Ernst damit: »Eine solche Stelle finde ich nicht wieder. Obgleich auch diese ihre Fehler hatte.«


Es war die erste wirkliche Wiedersehensfreude, die der Großvater in seinem Leben empfunden hatte. Er hätte eine solche Freude ja wohl schon früher haben können, aber beides, Sichfreuenkönnen und Lachenkönnen, muß gelernt sein für den, der es nicht von Haus aus kann. Und es gibt Leute, die es Beides nicht eher lernen, als bis sie »umkehren und werden wie die Kinder«.

Es war ihm gegangen wie damals, als er vor der Schlafstubentür stand. Er hatte so gar keinen triftigen Grund gehabt, in die Hauptstadt zu reisen, keinen, als sein verlangendes, armes, ausgetrocknetes Herz. Und es war ihm so ungewohnt, sein Herz reden zu lassen. Es hatte früher fast nie geredet. Darum hatte er lange gezögert.

Aber nun war er da. Die Kinder drängten sich an ihn und seine Tochter saß neben ihm auf dem Sofa. Im Nebenzimmer übte eine Schülerin auf dem Klavier und Frau Lydia ging hie und da hin zu ihr und sagte ihr ein paar Worte, und dann kam sie wieder und fügte sich in die kleine Gruppe ein.

»Du siehst müd aus, Vater. Du bist doch nicht krank gewesen?« Nein, das sei er nicht. Indessen, er fühle das Alter neuerdings sehr, ja, und dann noch verschiedenes. Es lag ihm etwas obenauf, aber er konnte sich nur schwer aussprechen. Das war auch etwas, an das er nicht gewöhnt war.

Die Kinder sahen zu ihm auf und horchten aufmerksam zu. »Großvater, was ist das, verschiedenes?« fragte Lucie. »Ach,« er sagte es verlegen, »da bin ich nun allein mit dieser Frau Scheuermann, und sie ist, sie ist ja eine wackere Frau, indessen« –

»Ist sie auch so zu dir?« Markus fragte es gespannt. »So, wie sie manchmal zu uns war, wenn sie uns nicht lieb hatte?« »Hat sie dich nicht lieb, Großvater?« fiel Lucie ein.

Es war zwischen dem Herrn Registrator und seiner Haushälterin nie von Liebe die Rede gewesen. Nein, er glaube nicht, daß sie ihn lieb habe, sagte der Großvater. Was man so lieb haben heiße. Frau Lydia stand wieder einmal auf und machte sich im Nebenzimmer zu tun. Sie mußte ein Lächeln verbergen. Ihr Vater war zehn Jahre lang mit dieser Frau Scheuermann allein gewesen, und es war noch nicht lange her, da hatte es ausgesehen, als ob er vorgezogen hätte, den ganzen noch übrigen Rest seines Lebens mit ihr allein zu bleiben. Sie wußte wohl, was ihn so verändert hatte. Er hatte stark gealtert in diesem halben Jahr. Sie empfand eine mütterliche Regung für ihn, obgleich er ihr Vater war. Aber da durfte sie nicht eingreifen, das mußte ohne ihr Zutun vor sich gehen, was da geschehen sollte.

»Werden lassen, kommen lassen,« dachte sie. Aber es war ihr weich und warm ums Herz.

Die Kinder waren so nachdenklich geworden. Sie konnten noch nicht verstehen, daß jemand jemanden nicht lieb habe. Und nun gar ihren Großvater.

»Es ist schade, daß dein Haus nicht hier ist,« sagte Markus und schmiegte sich an ihn. »Ja, das ist schade,« echote Lucie. »Es wäre viel schöner, wenn du hier wärest.« »Wäre es das?« Des Großvaters Gesicht leuchtete auf. »Ja, nicht, Mutter? Das wäre viel schöner.« Sie sagte nichts, sie nickte nur, sehr einverstanden.

»Hm, das muß ich euch sagen, Kinder, ich habe ja kein eigenes Haus. Ich wohne ja zur Miete. Das« – er zögerte, »das kann man überall.« Er sah so verlegen und hilflos seine Tochter an; wenn ihm doch nur jemand geholfen hätte, seine Gedanken los zu werden! Sie mußte nun doch ein bißchen nachschieben. »Ja,« sagte sie. »Natürlich, das kann man überall. Dich hält nur eben das Amt – und dann, deine vielen Vereine und Verbindungen. Das verstehen die Kinder nicht, das ist so begreiflich. Du bist diese Art von Leben nun so gewöhnt. Wir hatten dich so gestört darin.«

Nein, das war es nicht, was er hören wollte.

»Das Amt,« sagte er unsicher, »ich bin nun doch allmählich alt geworden. Würdest du es für Müßiggängerei halten, wenn ich« – Er brach ab, er war doch noch ein bißchen überrascht, daß er seine Tochter um ihre Meinung fragte.

Aber dann fuhr er fort: »Und die Vereine. Ich kann nicht mehr so wie früher, nein, hm, ja, ich mag auch nicht mehr so. Es hat sich da allerlei geändert. Ich meine, ich selbst bin so ein bißchen anders geworden, älter, und, – es verlangt mich gar nicht mehr nach Einfluß.«

Er hatte die größte Hauptsache immer noch nicht herunter, er sah noch nicht befreit aus.

»Ja, Vater, wenn es dir zuviel wird, dann setze dich doch ja zur Ruhe. Du hast ein so tätiges Leben hinter dir. Es ist dir ja so sehr zu gönnen, wenn du noch ein bißchen Ruhe bekommst.«

»Das ist nicht alles, meine Tochter, das ist nicht alles.« Er stand auf und ging unruhig hin und her, und dann blieb er vor Lucie stehen und strich mit einer Hand, die vor innerer Erregung zitterte, über das lockige Haar des Kindes.

»Was ist es denn sonst noch?« Frau Lydia sah ihn an und das Herz ging ihr über. »Markus, geh' hin und frag' den Großvater, was es sonst noch sei?« Nein, nun durfte sie nicht mehr länger warten; er fand den Weg nicht. Er war solch ein hungriger, alter Mann, und er hatte sich sein Leben lang nicht recht satt gegessen. Aber das sollte er nun tun.

»Sag's, Großvater.« Markus stand vor ihm und sah ihm ins Gesicht, und sein ehrliches, offenes Kindergesicht war so voll von Ermutigung, Liebe und Bereitwilligkeit zu allem Guten, ihm konnte sich der Großvater schon anvertrauen.

Er hob ihn auf den Arm. »O, nichts,« sagte er. »Nur Sehnsucht nach euch. Nur daß ich gar nicht mehr in meine Stuben hinein mag, in denen es so leer ist und so still.«

»O,« rief Lucie, »Mutter, es ist ganz leer und still in seinen Stuben. Er mag gar nicht mehr hinein. Mutter, wir müssen wieder zum Großvater gehen; müssen wir?«

»Frag' ihn lieber, ob er nicht zu uns komme, ganz und für immer.« Sie lächelte, aber sie hatte nasse Augen dabei. Da stürzte die energische, kleine Person auf den alten Mann los. »Hörst du's? Sie hat's gesagt, und nun mußt du kommen.«

»Lucie, Großväter müssen nichts, so sollst du nicht sagen.«

»Doch, sie müssen; ich muß, meine Tochter, ich muß.« Der Großvater war ganz aus der Fassung, er stellte Markus auf den Boden und setzte sich. Wie das einfach zuging. Wie er sich mit dem allem gequält hatte. Und nun war es das Natürlichste von der Welt. Da drangen die zwei auch schon auf ihn ein. Sie bearbeiteten seine Beine mit den Füßen, im Eifer, an ihm hochzukommen; er hatte sicherlich blaue Flecken daran. Aber was tat das? Er war so glücklich, so ganz ohne Vorbehalt und Bedenken froh. Er war so froh, wie ein frohes Kind. Er mußte einmal lachen, sie sagten so drollige Dinge. Nein, und aus innerem Glück heraus mußte er lachen.

Das hatte noch niemand gesehen und gehört; das war etwas ganz Neues. Und er verkroch sich nicht und wurde nicht verlegen, und es tat der Freude seines alten, verjüngten Herzens keinen Eintrag, daß ihm unters Lachen hinein ein paar dicke Tränen über die Wangen liefen.

»Großvater.« Lucie war auf einmal ein bißchen bedenklich. »Großvater, aber bringst du die Frau Scheuermann auch mit hierher?«

»Nein, das werde ich wohl nicht tun, sie wird ja wohl eine andere Stelle finden, mein Kind.«

Sie war nicht so ganz sicher. Das warf einen Schatten auf die Freude.

Und am Abend fügte sie ihrem Nachtgebet hinzu: »Lieber Gott, und laß auch die Frau Scheuermann einen anderen Großvater finden, denn wir brauchen unsern Großvater selber, und die Mutter besorgt schon alles. Amen.«

Nun konnte es nicht mehr fehlen.


Eigentlich sind wir nicht verpflichtet, noch von Frau Scheuermann Abschied zu nehmen. Die Formalitäten besorgte der Herr Registrator schon selbst, und wir haben uns nicht so nah mit ihr befreundet, daß es Anstandspflicht für uns wäre. Aber, wie sagt die Weisheit auf der Gasse? »Mancher rauft den toten Löwen am Bart, der ihn lebend nicht anzusehen wagte.« Und das müssen wir noch miterleben. Sie leerte ihr gekränktes und belastetes Herz am Tage des Abschieds noch gründlich und bitterlich aus, und fürchtete sich nicht vor einem etwaigen Sprechverbot. »Einmal muß der Mensch etwas sagen dürfen,« sagte sie. Lohn und Zeugnis hatte sie in der Tasche und eine neue Stelle hatte sie auch. Sie hatte nichts Übles mehr von ihrem alten Herrn zu befahren. »Ich sag' nicht von mir,« sagte sie. »Mir geht's, mag leicht sein, grad so gut wieder. Aber von dem Herrn Registrator sag' ich. Denn der Herr Registrator waren hier, mit allem schuldigen Respekt zu sagen, so angesehen wie der Graf Göckele und noch mehr. Und nun gehen Sie hin und lassen Ihr Amt im Stich und den Jünglingsverein und alles. Von mir will ich ja nicht reden. Und werden Kindsmagd, jawohl, Kindsmagd, in Ihren alten Tagen, bei diesen Amerikanerskindern, und so etwas kommt vor in dieser letztbetrübten Zeit.« Sie hielt sich, da ihr kein passender Schluß einfiel, die Schürze vors Gesicht, und dann nahm sie noch einmal allen Mut zusammen und sagte, aus der Schürze heraus: »Aber einem, der nicht sehen will, hilft keine Kerz' und keine Brill'.« Und daran kann man nun zum Abschied noch deutlich sehen, daß Frau Scheuermanns Bemerkungen, gelind gesagt, sehr oft der Richtigkeit entbehrten. Denn der Herr Registrator hatte sein Leben lang eine Brille vor den Augen gehabt, und nun war sie abgefallen, und er sah das Leben in seiner ganzen Schönheit, gerade, solang es noch Zeit war, mit hellen, natürlichen Augen, mit Kinderaugen, je nachdem man das auffassen will.


Es kam einmal einer von den alten Bekannten aus des Großvaters Vereinstätigkeit nach der Hauptstadt. Es war ein Vereinsfest, und der Bekannte hatte sich gewundert, daß der pensionierte Registrator Hinkel nicht auch dabei zu finden sei. »Nun, wo er Zeit hätte,« sagte er kopfschüttelnd, und machte sich auf, ihn zu besuchen.

Er fand auch das Haus und die Tür, und als ihm auf sein Klopfen niemand herein rief, machte er sie auf. Da saß diese Säule der allgemeinen Wohlfahrtsbestrebungen mit untergeschlagenen Beinen am Boden und neben ihm zwei helle, rosige Blondköpfe. Sie bauten einen Turm aus Klötzchen und schossen mit Erbsen darnach, und es gab viel zu lachen dabei. Das klang weder besonders würdig, noch passend, noch sonst etwas ähnliches, nur sehr lustig klang es und so sah das Ganze auch aus.

»Da sehen Sie, daß ich eben nicht mit am Großen, Ganzen bauen kann,« sagte der Großvater heiter. »Ich muß hier Türme bauen, und ich habe noch soviel anderes zu bauen, das ich mein Leben lang versäumt habe.«

»Das reine Kind ist er geworden,« sagte der Bekannte den andern Bekannten, als er wieder zu Haus war. »Wie ausgetauscht. Es tut mir leid. Aber es ist wahr.«

Ja, da hatte er ganz recht, das war ja auch wahr.


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