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Geschichte von einer, die tat, was sie wollte

Das gibt vielleicht eine große Enttäuschung. Denn es sind so viel Menschen auf der Welt, die gern tun möchten, was sie wollen, und nun hoffen sie, daß hier gesagt werde, wie sie das gleichfalls tun können. Aber daraus wird nichts. Ich werde diese Geschichte nur gerade erzählen, wie sie sich zugetragen hat. Ich könnte mehr tun, aber ich will nicht. Und mehr tat Stine Habermann auch nicht. Das heißt, von ihrer ersten Jugend weiß ich das nicht so genau. Als sie ins Leben trat, fand sie außer Vater und Mutter noch drei Brüder und zwei Schwestern vor, deren Wille schon bestand, als der ihrige erst werden wollte. Da geht es meistens zuerst nicht so glatt ab, und jedenfalls weiß man aus dieser Zeit nichts Besonderes von ihr.

Die Geschichte beginnt für uns erst an dem Tag, als die fröhliche Ladenjungfer in C. Ch. Weidelehners gemischtem Warengeschäft im Vorratskeller auf einem umgestülpten Heringsfäßchen saß und ihre blau- und weißgestreifte Schürze naß weinte. Sie hatte einen Brief auf dem Schoß. Der mußte ja wohl schuld sein an ihrem Jammer. Sie war so ein frisches, junges Ding, und fast sprichwörtlich heiter. Außer ein paar Heimwehtränen am Anfang, als sie ihr heimatliches Schulhaus verlassen hatte und unter fremde Leute gekommen war, hatte sie hier noch niemand weinend gesehen. Und das war nun schon drei Jahre her. Aber jetzt, heute. Im Laden stand der Herr C. Ch. Weidelehner, die Feder hinter dem Ohr, und bediente eigenhändig einen Kunden mit Wollgarn und Hemdknöpfen, knurrte dabei vor sich hin, denn er konnte die rechte Sorte nicht gleich finden und stieß einmal ums andere die Worte heraus: »Einen Augenblick Geduld, wenn ich bitten darf, nur einen Augenblick. Das Fräulein muß gleich kommen, das Fräulein besorgt sonst dieses Genre.« Er versuchte ein wenig zu lachen, aber es ging nicht recht, denn er hatte sich schon seit einer halben Stunde geärgert. Und das Fräulein kam immer noch nicht. Der Lehrjunge kam, schwer beladen mit Kerzenbüscheln und keuchte hervor: »Drunten sitzt sie,« und der Kommis verließ die Arbeit des Zuckerabwägens, putzte sich die Hände an der blauen Schürze ab und half die Knöpfe suchen.

Es mußte eine wichtige Sache sein, das sieht man, die Stine verleiten konnte, so lang an ihrem Posten zu fehlen. Und das war es auch. Der Brief war von dem Bruder, der ihr im Alter am nächsten stand. Er war nur zwei Jahre älter und seither ihres Herzens Stolz gewesen. Denn er trug schon ein blondes Bärtchen und war Kaufmann in der Residenz. Und nun hatte er sich etwas zu Schulden kommen lassen! Er hatte seine Stelle verloren und konnte keine neue finden, hatte hundert Mark Schulden und wollte nach Amerika.

»Du mußt mir helfen, Stinele,« schrieb er. »Bei Vater und Mutter, daß sie nicht gar so bös auf mich sind. Und dann auch sonst. Es tut mir leid, ich mag es gar nicht sagen, aber es hat sonst niemand Geld als Du in der Familie. Du bist ja auch noch jung und hast eine gute Stelle. Du verläßst mich nicht, das weiß ich, und danken will ich Dir's mein Lebenlang.«

»Aber Stine, wo stecken Sie denn? Was ist denn das für eine Geschichte, daß Sie nicht hergehen?« Oben an der Treppe rief der Herr und dann stieg er selbst hinter seinen Worten drein, daß die Stufen dröhnten. Da trocknete sie ihr rundes, verweintes Gesicht und stand auf. Der Prinzipal stützte sich mit beiden Ellbogen auf eine aufrecht gestellte Käsekiste, machte gereizt: »Nun?« und erfuhr dann die ganze tränenreiche Geschichte.

Und da zeigte es sich denn zum erstenmal in einer Sache von Belang, daß Stine wußte, was sie wollte und es auch tat. Denn sie war mit sich einig geworden, ihre sorgsam gesparte Sparkasseneinlage ganz und gar herauszuholen und das Geld an ihren Bruder zu schicken. Es waren zweihundertsiebenundachtzig Mark, und sie sprach die Zahl ohne Beben aus, obgleich es ihr einen Augenblick durch den Kopf ging, wie viel entbehrte Jugendlust doch an diesem Schein hänge. Herr Weidelehner war dagegen und seine Frau fast noch mehr. Sie kam, als ihr die Unterredung gar zu lange dauerte, gleichfalls herunter, und das war hoch anzuschlagen, denn sie war sehr korpulent und das Treppensteigen geschah ihr sauer. Aber sie meinte es gut mit Stine, sie hatte sie so auf eine gewisse Art ins Herz geschlossen und sie wollte nicht dulden, daß sich das Mädchen arm mache »um des leichtsinnigen Burschen willen,« wie sie sagte. »Es muß heutzutag jeder auf sich selbst sehen, und es ist ein Unsinn, wenn du das tust,« sagte sie. »Außerdem ist das Opfer vielleicht rein weggeworfen an den jungen Menschen. Denn wer einen dummen Streich macht, der macht deren oft noch mehrere und dann kannst du ja zusehen, ob du oft genug Geld in der Sparkasse hast.« Aber Stine blieb fest, es half alles nichts. Das Geld mußte heraus und nun hieß es ganz von vorne anfangen in der Welt, die am Golde hängt. Es ist gar nichts so leichtes, wenn man schon einmal Kapitalist war, noch einmal ganz arm und bloß dazustehen, die ersten hundert Mark kommen dann schwer zusammen. Aber Stine ließ sich's nicht lang anfechten. Sie war viel zu frohsinnig, und auch zu jung, um einem Sparkassenschein nachzutrauern.

Von dem Bruder kam lang keine Nachricht. Und als endlich ein Brief an die Eltern kam, da wollte er ihnen fast das Herz abdrücken. Denn August war Stiefelputzer in einem Hotel in Ohio geworden, »nur einstweilen, bis ich etwas Besseres finde,« schrieb er. Aber weder Vater noch Mutter hatten jemals einen Stiefelputzer in ihren Familien gehabt und sie schämten sich in ihres Sohnes Seele hinein. Da mußte Stine seine Sache führen, und sie führte sie gut. »Er gibt sich doch Mühe,« sagte sie. »Er wird schon vorwärts kommen. Dort kann er jedem kecklich ins Gesicht sehen, das hilft ihm auf. Hier hätte ihn jeder an seinen Leichtsinn gemahnt, das hätte ihn in den Boden hinein gedrückt. Ich kenne ihn.« Nein, es reute sie nicht, daß sie ihm geholfen hatte. Sie sparte von neuem und war so froh bei ihrer Arbeit, daß es in der Nachbarschaft ein Sprichwort gab, »der kann lachen, wie Weidelehners Stine.« Die Kinder hingen an ihr, wie die Kletten, und die Kunden wollten nur sie allein haben. Man wußte gar nicht, wozu sie am allerbesten paßte, denn sie war zu allem zu gebrauchen.

Ein junger Möbelschreiner wohnte in der Nähe, der schien darüber seine eigene Ansicht zu haben. Denn er fand, daß sie am besten vor allem zu seiner Frau passe und das sagte er ihr auch. Es war vier Jahre nach der Geschichte mit dem Bruder. Da lachte die lustige Stine ein paar Tage lang nicht mehr, sah tiefsinnig vor sich hin und beinah hätte es wieder Tränen gegeben. Aber es wurde ihr zum Glück gerade vorher noch klar, daß sie wirklich von ganzem Herzen wollte, und so brach die Fröhlichkeit wieder durch. C. Ch. Weidelehner und Frau waren nun zwar nicht erfreut, ihre Stütze zu verlieren. Aber da die Sache im allgemeinen Weltlauf lag, so fügten sie sich drein. Die Eltern hatten auch nichts dagegen, es ging alles seinen glatten Gang und sah sehr fröhlich und vielversprechend aus.

Der junge Ehemann hatte einen blonden Krauskopf und lustige, blaue Augen. Er war ein geschickter Arbeiter, ja, er hatte etwas vom Künstler. Er konnte so wunderfeine, eingelegte Arbeit machen, es tat es ihm so leicht keiner nach. Über einen alten Schrank mit künstlichen Säulen, Fächern und Türen konnte er in Entzückung geraten, und seine junge Frau sah bewundernd an ihm hinauf. Wenn es ihm nur nicht so oft zu langweilig gewesen wäre, die einfachere Arbeit, die nun einmal bestellt war, auszuführen. Es machte ihm viel mehr Spaß, irgend etwas Künstliches auszutüfteln. Vielleicht war ein Erfinder an ihm verloren gegangen, ein Genie. Er konnte vieles, aber ernstlich wollen, das konnte er nicht. Die Frau, die konnte das. Sie wollte allen Ernstes eine gute, fleißige, fröhliche, liebreiche Frau sein und sie tat alles, was dazu gehört. Sie hielt das Haus rein und mehr als rein. Die blitzblanken Fensterscheiben mit den kurzen Vorhängen dahinter und den Blumenbrettern davor lachten förmlich. So, als wollten sie sagen: Ja, seht uns nur an und dann ratet, wer uns in Pflege hat, uns und das ganze Haus. Der dicke Lehrjunge lachte und verzog sein breites Gesicht zu einem schiefen Vollmond, so oft zum Essen gerufen wurde. Daß der Mann immer gelacht hätte, kann man nun gerade nicht sagen. Er hatte viel zu oft andere Wünsche, als ihm das Leben gewähren konnte. Das stört dann den Frohsinn. Aber eines Tages, als er mißmutig und verdrossen in der Werkstatt stand und den ersten von sechs fertigen Stühlen zu polieren anfing, kam die Frau herein. »Weißt du, ich habe mir das überlegt,« sagte sie. »Du kannst mir wohl das Polieren zeigen. Ich bin gar nicht so ungeschickt. Und dann arbeiten wir um die Wette. Ich werde mit meiner Arbeit doch noch fertig. Frühaufstehen bekommt mir nur gut.« »Tausend noch einmal, das ist ein guter Gedanke, Frau,« sagte der Schreiner. Die Abwechslung gefiel ihm. Er war ein wenig ärgerlich auf seine Frau gewesen, weil sie ihn aus der sonnigen Wohnstube, wo er mit ihr scherzen und verliebt sein wollte, in die Werkstatt getrieben hatte. Daß sie nun mit ihm arbeiten wollte, gefiel ihm, das war doch unterhaltender als allein mit dem Lehrjungen. Und sie war ein guter Arbeitskamerad. Ich habe schon einmal gesagt, daß man gar nicht wissen konnte, wozu sie am allerbesten paßte. Nun fand ihr Mann heraus, daß sie zum Polieren ganz vorzüglich passe und nach und nach auch zum Leimen und allerlei solchen Hantierungen. Sie tat es auch gern, sie wollte ihn gern unterstützen, und er ging dann auch nicht so oft fort, um alte, seltene Möbel aufzustöbern, wenn sie mit ihm schaffte. Ja, und, es muß gesagt sein, um im roten Ochsen mit seinen Kameraden aus der ledigen Zeit lange Frühschoppen zu halten.

Nur, als das Kleine kam, das zarte, kleine Bübchen, das soviel Pflege brauchte, und nachher noch eins, da hätte sie sich gern in zwei Teile geteilt und den einen, und zwar eher den größeren, ganz und gar den Kindern gegeben. Ja, wenn hier davon die Rede, sein sollte, daß sie tat, was sie mochte, dann müßte ich erzählen, daß sie das Geschäft ganz und gar wieder dem Mann überließ, als einen hübschen Spaß, den sie nun gründlich ausgekostet habe und zu dem nun die Zeit absolut nicht mehr reichte. Aber da sie ebensowohl eine gute Frau sein wollte als eine gute Mutter, so mußte die Sache anders gehen. Wollen und mögen ist überhaupt in dieser Geschichte sehr zweierlei, das wird sich noch öfters zeigen. Es wurde ein kleines Mädchen fürs Haus angenommen, und Stine vollbrachte das Wunder, fast überall zugleich zu sein. Das Geschäft ging nicht schlecht, das kann man nicht sagen, aber der Mann hatte keine Freude daran. Seine hübschen, lustigen, leichtsinnigen Augen sahen jetzt oft so unstet drein, als suchten sie etwas in weiter Ferne.

Eines Abends, es war kurz nachdem das dritte Kind, ein Mädchen, geboren war, kam er spät heim, schwerfällig, polternd, mit glasigem Blick und stotternder Zunge. Das war das erste Mal. Es ist gut, daß man nicht in die Zukunft sehen kann, sonst möchte einem das Lachen wohl gleich ganz und für immer vergehen. Nicht jedem, aber manchem. Die Frau schlief nicht in jener Nacht. Sie trug das Kind herum, das nicht wohl war und schrie, sie drückte es heftiger an sich, als sonst ihre Art war. Am Morgen war sie wie sonst. »Der Braumeister ist dagewesen,« sagte sie, als der Mann zum Frühstück kam. »Er hat zwei nußbaumene Bettladen bestellt und will sie bald haben. Wir müssen uns dranhalten; gelt, Alter, das Geschäft blüht.«

Er strich sich über die Stirn, er hatte Kopfweh. Er schämte sich auch ein wenig. Das konnte er nur nicht so recht zeigen. Er lachte etwas gezwungen auf. »Bist doch ein braver Kerl, Stine,« sagte er, »daß du so vernünftig bist wegen gestern. Es war wohl nicht schön, was? Aber weißt du, so einmal, das macht ja nichts bei so einem Mann, wie ich bin. Ich hab' mich ja sonst in der Gewalt, denk' ich. Aber ich hab' schon lang mit dir reden wollen. Es leidet mich nicht mehr hier. Ich bin nicht am rechten Platz und könnte Besseres leisten als das, was ich jetzt tue. Da ist nun die Stelle eines Werkmeisters an einer großen Möbelfabrik in Berlin ausgeschrieben. Das ist für mich. Ich kann leisten, was verlangt wird, und mehr. Sollst sehen, was das für ein Leben gibt und wie froh wir da wieder werden, alle zwei. So sag' doch was, Weib! An dir hängt auch zuviel, das ist mir schon lang nicht recht. Wart nur, wie gut du's bekommst.«

Stine sagte nicht viel. Es graute ihr ein wenig vor all dem Neuen. Sie wäre ganz zufrieden und froh gewesen in den alten Verhältnissen, und sie meinte, einander lieb haben und pflichttreu sein und sich miteinander des Lebens freuen, das hätte man auch hier gekonnt. Aber wenn sie an gestern abend dachte und an manches andere, das sie oft bedrückt hatte in letzter Zeit, so dünkte es sie eine Erlösung, weit weg von den Wirtshausbrüdern zu kommen. Und den Mann froh und zufrieden zu sehen, das war am Ende noch das Beste. Er war doch so gut; und daß er sich nicht in alles schicken konnte, das war nun eben nicht seine Naturanlage. »In Gottes Namen halt, wenn man dich nimmt.« Ja, man nahm ihn.

Wie er auflebte, als er es erfuhr! Wie er elastisch wurde und umsichtig bei den Reisevorbereitungen, und wie heiter bei den verschiedenen Abschieden, die er noch mit den Freunden hielt. »Nimm's nicht übel, Schatz,« sagte er, als er ein paarmal nacheinander angeheitert heimkam. »Die Leute sollen nicht meinen, man ziehe ins Elend; ich muß doch den Kameraden zeigen, daß ich noch ein Kerl bin.« Nein, es graute ihr nicht mehr vor der Fremde, sie konnte den Tag nicht mehr erwarten, an dem es hinausging. »Und dann muß es anders anfangen,« sagte sie zu sich selbst und biß die Zähne übereinander. Die Leute sollten auch von ihr zum Abschied sehen, daß sie »noch ein Kerl« sei. Selbst Vater und Mutter staunten.

»Daß du's so leicht nimmst, aus dem Land zu gehen,« sagten sie. »Alle deine Geschwister sind im Land verheiratet, alle bis auf den August. Und sind da ansässig und leben schlecht und recht, und dich treibt's ja fast noch mehr hinaus, als den Mann. Wenn das nur gut geht. Wenn's nur kein Hochmut ist.«

»Ja,« sagte Frau C. Ch. Weidelehner zu ihrem Mann, »sie hat immer getan, was sie wollte, und das tut sie jetzt auch. Wenn sie ernstlich hätte hier bleiben wollen, er hätte es nicht durchgedrückt, denn er hat viel zu viel Respekt vor ihr. Aber nein, sie will ja gerade, und nun wird's.« Und die runde Frau trocknete die Hände ab, die sie während dieses Gesprächs mit Schmierseife gewaschen hatte, und hängte das Handtuch an den Nagel, und es konnte einem ordentlich vorkommen, als ob sie nun ihre Hände in Unschuld gewaschen habe und von den Folgen nichts wissen wolle.


Es war sieben Jahre später. Ich weiß wohl, daß es ein langer Zeitraum ist, aber ich wollte, ich könnte noch viel mehr überschlagen. Es gab ja wohl auch schöne, freundliche Tage in diesen sieben Jahren, aber wie viel mehr andere waren es. Wenn einer nicht wollen kann! Wenn einer nicht ernstlich wollen kann! Es gibt Leute, die den Mann der heiteren Stine so recht scharf verurteilten, so recht als Bösewicht und ganz und gar schlechtes Subjekt ansahen. Aber da sie selbst das nicht tat und so gar nicht wollte, daß es andere taten, so soll hier nur erzählt werden, wie es zuging. Denn sie selbst hätte ja doch das erste Recht dazu gehabt. Es ging so gut anfangs und alles hätte recht werden können. Sie hatten eine freundliche, hübsche Wohnung mit einem winzigen Gärtchen und kein schlechtes Gehalt. Was war es für eine gemütliche Häuslichkeit, die der Mann antraf, wenn er abends heimkam. Das Essen stand auf dem Tisch, und die Kinder warteten an der Gartentür und die Frau oben an der Treppe. Man sah es ihr nie an, daß sie den Tag über oft ein wenig Heimweh hatte. Das hätte sie sich nicht erlaubt. Es sollte ja hier heimatlich werden, gerade in den Verhältnissen, die nun bestanden. Man kann viel, wenn man ernstlich will. Man kann das Heimweh überwinden, die Sehnsucht nach der schwäbischen Sprache, nach der Aussicht auf den Stadtgraben und die beiden Kirchentürme, nach einem kleinen, behaglichen Schwatz mit den Nachbarsleuten. Wenn dafür der Mann zufrieden und froh ist und am rechten Platz. Das ist doch Glücks genug. Und so wollte sie denn glücklich sein. Man muß auch dazu den Willen haben. Man muß das andere drunten halten können, das aufsteigen will in einem und das Glück hindern, das warme, stille Genügen, die Fähigkeit, das Gute an dem Jetzt herauszufinden.

Aber es kam etwas von außen her, das Macht hatte über das stille Glück, das sie daheim aufbaute. Es fing harmlos an. Zuerst ging der Mann nur einen Abend wöchentlich in den Gesangverein der Arbeiterschaft. Er hatte eine gute Stimme und ein so einnehmendes Wesen. »Siehst du, wie ich mich einlebe unter den Leuten?« sagte er zu seiner Frau. »So muß man's machen, um heimisch zu werden. Mitten drunter und sich nichts Besonderes dünken, weil man nun Werkführer ist. So bekommt man Einfluß.« Gegen den Gesangverein hätte die Frau auch gar nichts gehabt. Kein Mensch sang so gern wie sie. Am allerliebsten hätte sie mit Mann und Kindern daheim einen gemischten Chor eingerichtet. Aber sie wollte ihn nicht einspannen. Er mochte nur hingehen, wenn ihm das Freude machte. Nur das lange Sitzen nachher, wäre nur das nicht gewesen. Sie blieb dann auf, bis er kam, und begrüßte ihn freundlich. Aber es dauerte nicht lange, da kam er einmal sehr geräuschvoll an, sehr heiter und sehr zärtlich, nahm sie in den Arm und wollte sie küssen. Er roch nach Wein und hatte noch so einen unbestimmten Nebendunst, wie man ihn in übervollen Wirtslokalen bekommt. Und seine Augen flackerten, ihr graute. »Nein«, sagte sie und machte sich los, »so nicht. So sollst du mich nicht küssen. Auch nicht umarmen. Laß, du tust mir weh.« Er machte ein verdutztes Gesicht und hockte sich auf einen Stuhl. »Ach,« sagte er unsicher, »was hast du für ein Getue. Mit dir ist nichts zu haben. Du hast keinen Sinn für ein bischen Genuß.« Und dann tappte er wieder auf sie los. »Komm, Stinele, sei nicht so kratzig. Du sollst« – Da ging sie ins Schlafzimmer und machte die Tür hart hinter sich zu.

Das war einmal. Man darf nicht hinter die Kulissen sehen; manchem wäre es sonst wohl interessant, zu erfahren, was in ihrer Seele vorging. Mancher sagt auch wohl: »Ach, das kommt vor, das passiert immer einmal.« Möglich. Ich habe es auch nur erzählt, weil »es« damit anfing. Es kam noch der Kegelabend am Mittwoch dazu und dann noch der Arbeiter-Kranken- und Sterbekassen-Verein, der am Samstag seine Sitzung hatte. Und dann kamen ungezählte andere Veranlassungen. Stine konnte nichts dazu tun. Was sie selbst anging, tat sie. Sie wusch sich das Gesicht, wenn sie geweint hatte, damit es weder die Kinder sehen sollten, noch der Mann. Sie zog Blumen an den Fenstern und polsterte ihrem Mann zum Geburtstag einen Korbstuhl bequem aus. Sie kochte ihm, was er gern aß und besann sich, wenn er fort war, auf allerlei, mit dem sie ihn unterhalten konnte beim Heimkommen. Die Kinder lehrte sie Verschen und kleine Späße für ihn und lehrte sie, den Vater lieb haben. Wie es nur sein kann? Wie einer nur vor so viel Sonne und Liebe davonlaufen mag? Und andere hungern darnach.

Einmal kam das größte Bübchen heim. Es war immer noch ein zarter, kleiner Kerl. Er ging nun in die Schule und trug den Tornister auf dem Rücken. Der konnte ihn aber nicht so schwer drücken, daß er so daherschleichen mußte. Er hatte solch freudloses, kleines Gesicht. »Mutter,« sagte er, »die Jungen in der Schule haben gesagt, Vater hätte so oft einen Rausch. Ihre Väter hätten das gesagt. Und dann haben sie mich alle ausgelacht. Mutter, was ist das, ein Rausch? Ich habe auf sie losgeschlagen, denn das mußte ich doch. Und dann haben sie mich auch gehauen, noch viel mehr, und gesagt, wahr wär's doch.« Und er legte seinen blonden Kopf in ihre Schürze zu den Bohnen, die sie eben putzte und wollte sich trösten lassen, obgleich er nicht wußte, was ein Rausch sei. Es war gut, daß er so tat, so sah er doch nicht den Jammer in ihrem Gesicht. Ihr war, als sei das Ungeheuer, das trapp, trapp, näher kam, ins Haus, die Treppe herauf, in die Stube, als sei das nun neben ihnen, und lege seine Pratzen dem Kind in den Nacken und grinse sie selbst an und hänge ihr höhnisch die Zunge heraus. Sie war eine Weile still und würgte an dem Jammer, der ihr in die Kehle stieg. Dann strich sie sich übers Gesicht. »So, nun komm und hol' mir ein wenig Holz vom Boden in die Küche,« sagte sie. »Du mußt nicht hinhören, was die Buben sagen. Und deinen Vater mußt du sehr lieb haben.«

August ging. Aber getröstet war er diesmal nicht. Und was ein Rausch sei, wußte er auch nicht.

Das hat er bald erfahren.

Aber das kann man nicht alles erzählen.

Es ging herauf und hinunter. »Wie hat er sich gewehrt,« sagte Stine selbst später, wenn sie einmal an diese Zeit rührte. »Wie oft hat er geweint und mich um Verzeihung gebeten und sich das Trinken abgeschworen. Wie oft habe ich aufgeatmet und ihn noch viel lieber gehabt, als vorher, weil ich's glauben wollte, daß es anders komme. Und am Abend wars dasselbe Lied.« Wenn ein Mensch für den andern wollen könnte! Wenn er all' das brennende, heilige Wollen, das er für das Gute in seinem Nächsten in sich hätte, nun in ihn hineinimpfen könnte, so daß der dann selbst wollte, müßte und könnte! Aber das kann man nicht. Die Liebe kann nur weiter lieben, glauben, hoffen – und warten. Erzwingen kann sie nichts. Oder doch? Wenn ja, dann nur dadurch, daß sie nimmer aufhört und also das letzte Wort behält. Das behielt sie ja auch hier. Aber bis da war's noch lange hin.

In der Fabrik war's eine Zeit lang gut gegangen. »Das war's, das hat mir gefehlt,« sagte der Mann, und seine hübschen, blauen Augen strahlten. »So viel Neues, und solch großer Umtrieb, das paßt für mich. Was ein tüchtiger Kerl ist, der muß sich rühren können und Spielraum haben.« Aber es ging wie im Märchen »von dem Fischer und syne Fru«. Als sie ein Haus hatten, wollten sie ein Schloß, und dann König sein, und dann Kaiser, und dann der liebe Gott selbst. Nur daß hier nicht die Frau schuld hatte, sondern der Mann. »Es ist doch nicht so, wie ich gemeint habe,« hieß es nach einiger Zeit. »Die Herren sind Knauser und Kleinigkeitskrämer. Und dann, eigentlich ist's immer dasselbe in solcher Fabrik. Spezialitäten wollen sie führen, sich auf einzelne Sorten beschränken. Das paßt mir nicht.« Aber es ging noch. »Wenn ich nur Geld hätte, dann würde ich selbst Fabrikant, das ist erst das Rechte. So bleibt man immer Taglöhner und wird schließlich Maschine,« seufzte er. Sich etwas ersparen? Ach, das dauerte viel zu lang, und dann, woran sparen? Es blieb so viel Geld im Wirtshaus, und er hatte schon nicht mehr die Macht, daran abzubrechen. Im Gegenteil. Er trank jetzt auch im Geschäft, es zog ihn immer mit Macht zu dem Schrank hin, wo er seine Ausgangskleider hängen hatte. Dort stand immer eine Flasche. Es war Schnaps drin, und sie wurde sehr oft leer. Davon wurde seine Hand nicht sicherer und sein Kopf nicht klarer, und da kam denn eins aus dem andern.

August fragte schon lang nicht mehr, ob's wahr sei, was die Kameraden sagen und was es bedeute. »Du, dein Vater fliegt bald,« sagten sie eines Tages. »Wenn's noch einmal vorkommt, daß er am hellen Tag einen Dusel hat, dann fliegt er.«

Der kleine Junge sagte es nicht seiner Mutter. Es mußte wohl etwas Schreckliches sein, dieses Fliegen, das fühlte er. Und sie war jetzt immer so still, und wenn sie abends mit den Kindern betete, dann hatte sie Tränen in der Stimme. Manchmal schloß sie sich auch ein, dann hörte er sie laut sprechen. Aber mit wem sie sprach, das wußte er nicht, er sah nur, daß sie dann allemal mit roten Augen herauskam. Nein, er wollte es ihr nicht sagen.

Sie erfuhr es auch ohnehin. Es kam einmal ein Tag, da wurde in der Fabrik eine große Partie schönen, kostbaren Holzes verdorben. Der Werkführer hatte die Maße falsch angegeben und nun war alles unrichtig zerschnitten. Er merkte es zuerst allein. Daß das das Ende sei, wußte er. Da wollte er es vertuschen und machte eine falsche Berechnung und suchte sich noch mit geringerem Holz auszuhelfen. Es kam aber heraus, und nun war der Betrug der größere Fehler von beiden. Denn nun verlor er nicht nur die Stelle, sondern bekam noch ein halbes Jahr Zuchthaus. Es gab Menschen, die ihn für Lebenszeit hineinwünschten. Sie meinten, er wäre dann gut und sicher aufgehoben, und seine Familie käme leichter ohne ihn durchs Leben. Aber das kann man nicht so nach Belieben einrichten, und jedenfalls geschah es nicht.

Es war eine traurige Heimkehr, die Stine mit ihren Kindern hielt, solang er noch seine Strafe absaß. Die Mutter lebte nicht mehr und der Vater lebte von seinem kleinen Ruhegehalt und war in die Stadt gezogen. Also ein Elternhaus fand sie nicht mehr, nur eine Unterkunft fürs erste. Mehr hatte sie aber auch nicht gewollt. »Nun geh' von ihm weg, laß dich scheiden,« sagten die Geschwister, und der Vater sagte es, und alle guten Freunde. »Grund genug hast du dazu. Wir wollen dir dann schon helfen, für die Kinder zu sorgen. Er ist ein Lump und ist deiner nicht wert.«

Stine war nicht mehr das heitere, blühende, jugendfrische Menschenkind von einst. Aber sie wußte immer noch, was sie wollte. Und nun wollte sie Treue halten, und das tat sie auch. »Nein, nun braucht er mich erst recht,« sagte sie. »Er wird sich bessern.« Sie hoffte es wirklich, daß er sich bessere. Und sie brachte den Leuten ihre Überzeugung bei, so warm und liebreich sprach sie für ihn. Sie zeigte seinen Brief aus dem Gefängnis, der überfloß von Bitte um Vergebung, von Liebe und guten Vorsätzen. Ihr ganzes Herz war bei ihm und schlug ihm entgegen, neu, viel mehr, als in der letzten Zeit, wo immer dieser Druck auf ihr gelegen hatte, diese Angst vor dem Kommenden. Im Gefängnis mußte er ja nüchtern sein, da war ein guter Anfang gemacht. Und nun wollte sie über ihm wachen, mehr als bisher. Ja, und sie wollte sogar streng sein. Er mußte sich's gefallen lassen.

Ja, also das waren nun sieben Jahre seit dem hoffnungsvollen Auszug. Sie hatten eine kleine Wohnung am Stadtgraben gemietet. Es gab da auch wieder Blumen und kurze Vorhängchen an den Fenstern und freundliche Kindergesichter dahinter. »Es muß alles wieder so freundlich und nett sein, wie einst. Es muß ordentlich der Mühe wert sein, neu anzufangen,« sagte Stine. »Wie einen Bräutigam empfängt sie ihn, nicht wie einen Nichtsnutz, der ihr Leben zerstört hat,« sagten die Leute; sie schüttelten den Kopf. Sie hatten sich mit Mitleid gerüstet für die arme Frau, mit Teilnahme, die in gute Ratschläge eingewickelt war, in wohlmeinende, gelinde Vorwürfe, und in viel, viel Verachtung und Zorn gegen den Urheber des Unglücks. Aber diese Art von Mitleid konnte Stine nicht brauchen. »Nein, nun müßt ihr mich nur machen lassen,« sagte sie. »Wenn ihr mir helfen wollt, müßt ihr ihm auch helfen, denn wir gehören zusammen, daran wird nichts geändert.«

Als er kam, stand seine Hobelbank in einer Fensterecke, und ein Bestellzettel lag dabei. Er sollte bei verschiedenen Leuten Möbel aufpolieren, und ein Altertumsfreund, der in allerlei Auktionen eingelegte, verschnörkelte, seltsame Stücke erstanden hatte, wollte diese von ihm hergerichtet haben. Das gab Arbeit und Verdienst auf Wochen und Monate hinaus. Es wird nicht jedem so gut. Er solle Gott danken und seiner Frau, meinten die Leute. Er aber fühlte, daß es einen bedeutenden Schritt abwärts gegangen sei mit seiner Stellung unter den Mitbürgern. Seine Frau hatte diesen Schritt tapfer getan. Ihr reines Wollen half ihr dazu. Es hätte auch ihm helfen können, wieder vorwärts, aufwärts zu kommen, wenn er sich hätte sagen können: ja nun will und will ich nichts anders sein, als was der Tag mir bringt. Heute will ich ein getreuer Mensch sein und morgen wieder. Er war so geschickt und so begabt, und sein Wesen war an guten Tagen immer noch so, daß man ihm leicht das Vergangene verzieh.

Es waren jetzt sechs Kinder. Und es kam immer wieder eins. Aber er hätte für alle sorgen können, wenn – ja, wenn. Eine Zeit lang tat es gut. Er stand noch unter dem Einfluß der Strafzeit, und unter dem Einfluß der großen Liebe, die ihn umgab. Auch interessierte es ihn, wenn es Altertümer herzurichten gab. Er spürte auf Auktionen herum und entdeckte wurmstichiges Gerümpel, das er um billigen Preis kaufte und mit glänzenden Augen heimschaffte. Das richtete er dann mit Liebe her und verdiente ein schönes Stück Geld damit. Stine hatte ja nun streng sein und über ihn wachen wollen. Das tat sie auch. Sie bat die Leute, das Geld ihr zu geben, sie ließ es ihm ja an nichts Nötigem fehlen. Er ließ es sich auch gefallen, das mußte er wohl. Aber es geschah, daß er in den Häusern, wo er Möbel polierte, den Spiritus, der zum Polieren nötig war, austrank und in einem halbfertigen Kleiderschrank einschlief. Die Kinder verlernten, sich mit Worten oder Fäusten für ihren Vater zu wehren. Sie wuchsen heran, Jahr um Jahr, unter viel Sorge, Mühe und Not. Und unter den Augen der Schande, die ihnen der Vater machte. Das gibt keine freien, frohen Menschen. Sie waren gut geartet und gut begabt und hatten einen Abscheu vor dem Trinken. Aber sie hatten etwas Gedrücktes, Bitteres, und so bald sie konnten, verließen sie die Stadt und suchten sich draußen ihr Brot. Denn da waren sie Menschen, an sich, und niemand sah sie um ihren Vater an.

Die Mutter mußte sie ziehen lassen. Das war hart, aber sie durfte sie nicht halten. Sie hatte schon lang verlernt, etwas für sich zu wollen, und für die Kinder war es überall besser als daheim. Von einer Wohnung in die andere, immer eine enger und ärmlicher als die vorige, und den Kampf mit dem Ungeheuer dazu, das gibt kein Heimatgefühl. Einmal kam der zweite Sohn nach Hause. Er war in einer Goldwarenfabrik, in einer andern Stadt, und wollte die Pfingsttage daheim zubringen. Er freute sich auf die Mutter und auf die Geschwister. Am Ende war es auch besser mit dem Vater. Diese Hoffnung hatten die Kinder von der Mutter überkommen, die sie immer und immer wieder hochhielt. »Es wird besser, er ändert sich noch.« – Da hörte er unterwegs ein Gejohle der Straßenjugend, immer neue Scharen drängten sich um irgend eine Person zusammen. »Nun torkelt er wieder, nun fällt er nochmals hin! Ach, er ist gerade in den Kot gefallen! Nun steht er wieder auf!« Janhagel brach in hellen Jubel aus, und der Knäuel wälzte sich weiter, um die Ecke. Da wohnten sie! Der junge, sauber gekleidete, nette Mensch drückte sich an eine Hauswand. Das war ja sein Vater, der da hin torkelte. Er war über und über bespritzt, verschmiert und hängte den Kopf mit dem verglasten Gesicht auf die Brust. Unter der Haustür saßen die beiden jüngsten Geschwister. Die standen erschreckt und beschämt auf, und eine magere, verhärmte Frau langte zur Tür heraus, zog die Kinder hinein und nahm dann den Mann in Empfang. Sie sagte nichts, keinen Ton. Aber der Janhagel wurde still, als er ihr Gesicht sah. Nachher ging das Schwatzen und Summen wieder an, denn der Hausbesitzer kam aus seiner Werkstatt, ballte die Faust und sagte ingrimmig: »Der Wirtschaft mache ich ein Ende und das bald. Das dulde ich nicht in meinem Hause.«

Nein, der junge Mensch konnte nicht nach Hause, jetzt nicht. Es schüttelte ihn vor Ekel, Jammer und Schande. Ganz still kehrte er wieder um. Nur niemand sehen und von niemanden gesehen werden. Und die Mutter wartete am andern Tag umsonst auf den Sohn. Sie hatte ihre Kinder so lieb wie nur eine Mutter kann. Sie hätte sie gern mit allem Guten, Reinen umgeben, mit allem Frohen, Schönen der Welt. Und es war ihr größter Schmerz, daß sie teilen mußte zwischen Mann und Kindern, den Mann vor ihrem Zorn und ihrer Verachtung schützen, und die Kinder vor seinem Beispiel. »Was soll daraus werden?« seufzte sie in mutlosen Stunden, die in keinem Leben fehlen. Dann kam ihr's vor, als ob ihr ganzes Lebenswerk nutzlos sei und verfehlt, weil sie ja den Mann nicht halten konnte und dazu noch die Kinder nicht so erziehen, wie sie das gewünscht hätte. Das wußte sie ja nicht, daß sie selber in ihrer unentwegt getreuen Art ihren Kindern zum Lichtträger ward. Vielleicht wußten es diese selber nicht, lange nicht wenigstens. Sie waren keine Idealmenschen, sie mußten sich durch viel Verbitterung, durch manchen verirrten Lust- und Liebeshunger durchwinden, und ihre Mutter konnte sie nicht vor Schmerz und nicht vor Sünde hüten. Aber wer einmal in seinem Leben eine große, starke Liebe kennen gelernt hat, die nicht das Ihre sucht und rein ist im Wollen, wenn auch nicht ohne Fehl im Vollbringen, der kann viel Böses dagegen sehen und bleibt doch nicht ganz im Dunkel. Und der lernt an viel Vergeben glauben. So gab sie ihnen vielleicht mehr als eine tadellose Erziehung. Aber solche Früchte kommen erst spät zur Reife, man muß lang warten können und mancher sieht sie nie mit Augen. –


Es ist nun nicht leicht, für uns beide, für Stine und für mich. Denn es möchte vielleicht manchem gehen, wie es einigen Leuten aus ihrer Bekanntschaft ging, die nicht wußten, woher sie ihren ungebrochenen Mut, ihren Glauben ans Besserwerden und ihre stille Geduld nahm. Die nicht wußten, woher sie ihr Wollen hatte. Sie dachten vielleicht nicht daran, daß einmal einer gesagt hat: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Und wir sind's doch alle beide nicht gewöhnt, Stine und ich, viel davon zu reden, was in der stillen Werkstatt der Seele vor sich geht. Sie konnte ihrem Haus nicht das Gepräge geben, das sie ihm gern gegeben hätte, und das ward ihr oft verübelt. Sie mußte das zum andern hin tragen und sie trug es auch. Vielleicht spürte doch der und jener, wes Geistes Kind sie sei, und dachte dabei daran, daß dieser Geist das Wollen wirkt so gut als das Vollbringen.


Und die Jahre gingen und die Last wich nicht von ihrem Hause. Manchmal war Brot da, manchmal auch nicht. »Du hättest's besser haben können, das muß ich nun sagen,« bemerkte Frau C. Ch. Weidelehner, als Stine eines Tags mit einem vollgeladenen Handwägelchen am Haus vorbeifuhr. Es waren Bürstenhölzer darauf, die sie zum Polieren nach Hause bekam. Stine war heut froh und hoffnungsvoll. Denn ihr Mann hatte ihr heut versprochen, fleißig mitzuschaffen, wenn sie Arbeit nach Haus bringe. Selber welche zu suchen, dazu kam er nicht mehr. So ließ sie sich den Zuruf nicht drücken. »Man muß zufrieden sein,« sagte sie. »Ich bin nur froh, daß es den Kindern gut geht. Denken Sie, bei meinem August ist ein Büblein gekommen.« Und sie zog ihren Wagen weiter. Es war doch noch so viel zu freuen in ihrem Leben. Da hatte sie nun die Bürstenhölzer zu polieren. Es war eine mühsame Arbeit und gut bezahlt war sie auch nicht. Aber sie brachte doch Brot ins Haus, und der Mann konnte unter ihren Augen daran mitschaffen. Auch würde es einzurichten sein, daß aus dem Erlös nach und nach, groschenweise, ein ganz kleines Sümmchen erübrigt werde, davon wollte sie dann dem neugeborenen Enkelkind etwas kaufen. Irgend etwas Weiches, Warmes. Denn sie war ja nun Großmutter. Das war ein neues Glück.

Das wurde sie noch oft, Großmutter nämlich. Immer wieder, da und dort im Land. Was das für einen Reichtum an Sorgen und Freuden in ihr Leben brachte! Die Kinder waren alle verheiratet, und man stritt sich darum, wer dann die Mutter ins Haus bekomme, wann sie endlich einmal zu haben sei. »Es braucht mir nicht angst zu sein,« sagte Stine, und ihre Augen strahlten. »Sie möchten mich alle haben. Aber man muß zuerst tun, was vorne dran ist.« Es war immer noch das Gleiche vorne dran. Sie war oft recht müde. Sie hatte die Last schon so lang getragen, es wäre ihr lieb gewesen, wenn jetzt einmal eine Zeit des Ausruhens vorne dran gewesen wäre. Aber es galt, ums tägliche Brot zu arbeiten, und das für zwei. Und die Last auf dem Gemüt war noch größer, als die für den müden Leib.

Da geschah etwas Schönes.

Es sah nicht schön aus, man mußte Stines Augen haben, um es schön zu finden.

Der Mann kam einmal eine Nacht lang nicht heim. Am Morgen brachten sie ihn auf einem Handkarren daher. Er hatte in einem Straßengraben gelegen und sah nicht recht einem Menschen ähnlich, als sie ihn abluden. Es gehörte etwas dazu, ihn anzurühren. Er wurde nicht wach, als er gereinigt und ins Bett gebracht wurde. Dann schlief er lange, lange. Im Schlaf löste sich die Starrheit seiner Züge, und nach und nach wurde sein Gesichtsausdruck weich und friedlich. Seine Frau stand vor ihm und sah ihn an. Es war ihr, als ob sie doch wohl vergeblich gehofft habe, und als ob sie zu müde sei, ihre Aufgabe zu vollbringen. Es war Zeit, daß etwas anders wurde. Darum wurde es auch anders. Er stand nicht mehr auf. Er konnte ihr nicht mehr aus den Händen schlüpfen, um sich zu betrinken. Vielleicht hatte er sich bei dem Liegen im Straßengraben erkältet; nun lag er da und konnte kein Glied rühren. Das ist das Schöne, von dem ich vorhin sagte. Denn nun kam die Zeit, da die Liebe das letzte Wort behielt und Raum hatte, sich auszuleben. Wie lang hatte sie darauf warten müssen! Aber nun war ihre Zeit gekommen. Was war doch Stine für eine glückliche Frau in dieser Zeit. Sie hegte und pflegte ihn, sie vergaß ihre Müdigkeit und schaffte das nötige Brot für sie beide, ja und für ihn noch ein Gläschen Wein. Und wo aus der Schlaffheit und Stumpfheit seines versumpften Lebens ein Stückchen Seele herausguckte, da grüßte sie es, wie die Sonne ein Gräslein grüßt, das aus dem Winterboden herausguckt. Da wagt sich leicht mehr an die Oberfläche. Er wurde schwach und schwächer. Sein schönes Gesicht, das in der Jugend ihr Stolz gewesen war, das war nun schlaff und voller Falten, das Haar grau und dünn.

Aber in die Augen kam noch einmal ein Leben. Das stieg aus der Tiefe der Seele, die nicht mehr von dem Dämon in Bande geschlagen war. Und nun konnte Stine erst einmal recht und ungehindert tun, was sie wollte. Es war immer so vieles dazwischen gestanden, wenn sie Liebe üben und überhaupt so recht nach ihres Herzens Lust tun wollte. Das war nun alles weg. Es werde nicht jedem so gut, schien es ihr; es kam eine weiche, dankbare Freude über ihr ganzes Wesen. Die Leute verstanden sie wieder einmal nicht. Sie meinten, der Mann müsse im Spital untergebracht werden, da sei er wohl aufgehoben, und die Frau bekomme es dann leicht. Sie könne zu ihrem Sohn ziehen. Sie glaubten es gut zu meinen mit Stine, die so zusammengeschafft aussah, so schmal und elend. »Man kann auch gar zu gut sein,« sagten die Freunde. »Allzugutmütig ist liederlich,« führten sie ein altes Sprichwort an. »Du hast nun das Deinige getan.« Aber die Leute hatten Stine nie ganz verstanden. Sie wußten nicht, daß nun ihre Erntezeit sei, daß ihre goldene Treue nun endlich, endlich Früchte trug. Und die hätte sie ins Spital geben sollen? Sie hatte gehungert nach dieser Zeit. Nein, davon konnte keine Rede sein. Es ist früher einmal gesagt worden, daß man nicht gewußt habe, wozu sie am allerbesten passe. Aber nun paßte sie so gut, wie sonst niemand, dazu, ihren Mann mit sachter Hand nach der dunkeln Tür zu geleiten, der er entgegenging.

Es kam einmal ein Methodistenprediger ins Haus, der dachte, nun sei es Zeit, einzuwirken, und redete viel davon, daß es freilich jetzt nicht schwer sei, wach und nüchtern zu sein. Wenn einem die Gelegenheit zu allem andern abgeschnitten sei. Man könne nicht wissen, ob er nicht wieder in die alten Fehler verfalle, wenn er gesund würde. Und er wollte gern eine große Bewegung herbeiführen, einen endgültigen Schlußsatz zu allem Früheren. Da sagte der Kranke: »Ja, das ist wahr, das kann man nicht wissen. Es hat mir oft genug gegraust vor mir selber, und das tut es jetzt auch. Ob ich anders sein könnte? Ich mag nicht daran denken. Meine Frau sagt, Gott meine es gut mit mir, und mir ist, sie habe recht. Denn ihr habe ich am allermeisten Leids getan, und sie ist mir doch noch gut. Es wird wohl so gut sein, wie es ist, wenn ich nicht mehr gesund werde. Meine Frau ist so barmherzig gegen mich, und sie sagt, Gott sei es noch viel mehr.« Da war denn eigentlich gar nichts zu bekehren für andere Menschen. Es schien ihnen nicht ganz in der Ordnung zuzugehen. So leicht, dachten sie, brauchte es einem solchen Sünder nicht gemacht zu werden. Aber Stine tat ja immer, was sie wollte, und so geschah es, daß ihr Mann von lauter Liebe und Verzeihung umgeben war und auch glaubte, daß hinter der dunkeln Tür, durch die die Gerechten und die Sünder gehen müssen am Ende ihrer Tage, noch Liebe und Verzeihung auf ihn warte. Und so ging er dann, als es Zeit war, durch diese Tür, wie ein Kindlein, dem die Mutter in die Christtagsstube hineinwinkt, und die Liebe hatte das letzte Wort behalten, und die andern mochten nun sagen, was sie wollten. Denn in das, was hinter dieser Tür geschieht, haben sie nichts mehr hineinzureden.

Da saß nun Stine in der leeren Stube, sah auf die Hobelbank am Fenster und den Leimtopf, und horchte nach der Kammer, ob nicht wieder eine Stimme nach ihr rufe. Sie war müde und alt, und es wäre ihr am liebsten gewesen, wenn es Feierabend gegeben hätte. Aber nun kamen die Kinder. »So, Mutter, nun komm,« sagte der älteste Sohn. »Herrlich und prächtig ist's nicht bei uns. Aber du sollst ein stilles Eckchen haben und dich an deinen Enkeln freuen. Komm.« Ach ja, das war auch schön, das hätte Stine nun doch gern gemocht. Sie hatte immer noch ein freudefähiges Herz. Da kam die Tochter dazwischen. Sie war eine Wirtsfrau und hatte das Haus voller Kinder. »Ach, Mutter, was habe ich doch auf dich gewartet. Es ist eine Sünde, zu wünschen, daß ein Mensch früher stirbt. Aber ich habe es, verzeih' mir's Gott, fast nicht erwarten können, bis du frei warst. Ich weiß mir fast nicht zu helfen vor Arbeit, muß den ganzen Tag in der Gaststube stehen. Tu' ich's nicht, so schilt der Mann, tu' ich's, so verkommen mir die Kinder. Es sind doch sieben, und alle noch so klein. Aber nun wird's besser, denn nun kommst du.« Und die Kinder standen dabei und lachten sie an. »Ja, ja, ihr Schelme,« sagte die Mutter, »so gut wie ihr möcht' ich's auch haben. Denn nun bekommt ihr eine Großmutter und habt sie den ganzen Tag.«

Da war denn nichts zu machen. Natürlich kam die Großmutter zu ihnen. Der Großvaterstuhl beim Sohn und das stille Eckchen – nein, daran wollte sie nun nicht denken. Es waren so herzige Kinder und nun konnte sie ja ungestört tun, wie sie bei den eigenen gern gewollt hätte. Und das tat sie auch. Nein, daß ich's recht sage, das tut sie immer noch. Es ist gar keine Aussicht, daß sich Stine noch ändert in ihrem Alter. Der Schwiegersohn ist manchmal nicht recht einig mit ihr. Er fürchtet, sie mache ihm die Kinder zu fromm, zu altmodisch überhaupt. Denn seine Ansichten sind ganz neumodisch, sehr verschieden von den ihrigen, und er möchte doch gern, daß die seinigen gelten. Und die Kinder hängen doch so an ihr, es ist wohl Gefahr, daß sie etwas von ihr annehmen. Sie sucht ja keinen Einfluß, sie ist zu einfach, um daran zu denken. Aber der ungewollte ist um so mehr zu fürchten, das weiß der Mann wohl. Indessen, da ist nichts zu machen, denn man ist sonst so froh an der Großmutter. Wie hat nur früher das Haus ohne sie bestehen können? Daran mag kein Mensch mehr denken. Der Sohn ist auch nicht mit ihr zufrieden und allerlei Freunde nicht. Denn sie wünschen alle, daß sie sich's endlich ruhig mache, »und,« sagen etliche, »an sich selber denke und in die Stille komme, denn dazu sei es nun hohe Zeit.« Aber wenn einer sein Leben lang getan hat, was er wollte, so ist ihm das schwer abzugewöhnen.

Ich sah sie neulich am Fenster sitzen mit dem jüngsten Kind auf dem Schoß. Die andern spielten um sie herum und machten einen großen Lärm. Und sie lehnte ihre faltige Wange an das warme, weiche Kinderköpfchen und schloß müde die Augen eine kleine Weile. Da kam ihre Tochter herein, die Mutter der Kinder. Von unten drang heiserer Gesang, verworrener Lärm durch die Türspalte. Sie schloß sie schnell wieder. Dann zog sie eine Fußbank heran, setzte sich drauf und legte ihren Kopf in den Schoß der Alten. »Nur einen Augenblick,« sagte sie. »Es geht wüst her drunten. Ich kann nicht lang dableiben. Ach, was ist's hier schön und gut, hier oben. Wie in der Kirche ist's. Man muß doch hie und da spüren, daß man ein Mensch ist und eine Seele hat.« Die kleinen Buben warfen eben einen Stuhl um, daß es dröhnte, und ein kleines Mädchen weinte, weil ein Stuhlbein seine Puppe getroffen hatte. Die Großmutter lächelte, daß es hier sei wie in einer Kirche. Sie war eben mit ihren Gedanken ein wenig in einer andern Gegend gewesen. Die glänzte von weitem zu ihr herein und war sonnig und still und lieblich, und man konnte da ausruhen. Jetzt sah sie wieder die unruhigen Wege, durch die jeder hindurchmuß, und sagte still und tröstlich: »Ja, das ist's, das braucht man. Hie und da einen Augenblick Luft schöpfen, daß man spürt, was innen drin lebt. Und dann in Gottes Namen tun, was vorne dran ist. Wenn's Zeit ist, hört die Unruhe auf und dann ist das Schöne vorne dran, die Freude und die Stille.« – Und ich dachte: »Wenn sie das so gewiß weiß, daß es so ausgeht, so kann man sie ja vollends gewähren lassen.«

 


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