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Achtes Kapitel

Donat Zurbriggen hatte seit undenklicher Zeit nicht mehr heimgeschrieben. An ihm war keine Spur mehr von dem Bergburschen, als der er Aufdenmatten verlassen hatte. Er war jetzt ein ebenso anstelliger Kellner wie seine Kollegen Charles und Henry. Und heimlich war er mehr. Er hatte begonnen, in seinen Freistunden Sprachunterricht zu nehmen. Das Französische, das im Hotel gesprochen wurde, beherrschte er jetzt völlig. Nun hatte er sich auch dem Englischen zugewandt und daneben einen Kursus für Schönschreiben mitgemacht. Der Rat seines Nebenmannes Beaudrier, daß er sobald als möglich den Kellnerfrack ausziehen und versuchen müsse, in ein Hotelkontor zu kommen, spukte ihm im Kopf.

Sein Prinzipal erfuhr von seinem Eifer und ließ eines Tages die Bemerkung fallen, über kurz oder lang werde er ihn als Sekretärgehilfe nachrücken lassen. Er möge daher auch noch einen Buchhaltungskurs besuchen. Herr Louis Meister, der Hotelbesitzer, der selbst vom Kellner sich zu seiner jetzigen Unabhängigkeit aufgeschwungen, aber eine nur einseitige Bildung genossen und außer seiner gastronomischen Erfahrung wenig zu bestellen hatte, war nach und nach in eine ungewöhnliche Zuneigung zu Donat gefallen. Dieser übertraf an Anstelligkeit und Lebensart alle seine Mitangestellten, und es war nicht schwer, hinter der Beflissenheit, mit der er seinen Pflichten nachkam, den wilden Ehrgeiz zu entdecken, der ihn stachelte. Meister glaubte, an ihm eine Sondererwerbung gemacht zu haben, und plante, ihn zu einer Stütze seines Hauses heranzuziehen. Aber Donats Pläne zielten höher. Bei einem seiner Gespräche mit Beaudrier sagte dieser: »Du darfst hier nicht festkleben! Du mußt andere Länder kennenlernen. Wer mit denen zu tun hat, die in der Welt herumfahren, muß selbst etwas von ihr gesehen haben.« Dann nannte er ihm England als das für ihn zunächst erstrebenswerte Ziel. Seitdem studierte Donat die Karte dieses Landes, wandte besondere Aufmerksamkeit den englischen Gästen des Hotels zu und sparte, um die Reise nach London bestreiten und dort ein paar Wochen leben und warten zu können. Charles sagte, eine Stelle finde nur der, der im Lande selbst wohne. Mehr und mehr wuchs er aber aus der Reihe seiner Mitangestellten heraus. Man betrachtete ihn mit Mißtrauen und sagte ihm nach, daß er streberisch mehr zum Prinzipal als zur Kollegenschaft halte. Der hübsche Henry führte spitze Reden: »Du verkaufst noch deine Seele, damit du ein Herr wirst«, und ein andermal: »Wenn du einmal Direktor bist, Zurbriggen, kannst du mich als Ober einstellen«. Dabei sah ihm der Neid aus den Augen. Nur des alten Beaudrier Blick folgte ihm immer wieder mit einer sonderbaren Teilnahme. Manchmal lag ein Ausdruck fast eifervollen Suchens darin, als hänge für ihn etwas davon ab, daß Donat ihn nicht enttäusche. Sonderbare Äußerungen tat er manchmal. So sagte er einmal, aus langem Nachdenken heraus: »Du bist jemand. Du bist eine Karte, auf die man setzen kann.«

Donat wunderte sich, wag er meinte. Er wurde nie recht klug aus ihm, empfand seine heimlich beobachtende Art als Last und hörte doch plötzlich aus irgendeinem Wort wieder die Zuneigung heraus, die ihm das Herz wärmte. Und dann, ganz allmählich entdeckte er in dem sonderbaren, schablonenhaften Mann das heimliche und tiefe Eigenleben, das er führte.

Charles sagte: »Es gibt Dinge, über die ein Mensch sein Leben lang nicht hinwegkommt«, und ein andermal, murmelnd und wie nur für sich selbst gemeint: »Ich möchte doch wissen, ob sie und das Kind noch leben«.

Er hatte ihm nie mehr von der Frau erzählt, die er einmal erwähnt hatte, aber Donat konnte immer besser feststellen, daß die Erinnerung an sie in seiner Seele haftete. Dabei glitt sein Sinn dann unwillkürlich zu Ursula Dülberg hinaus, und die Tatsache, daß auch Beaudrier jemand hatte, den er nie ganz vergaß, brachte ihn ihm immer näher.

Darüber verging viel Zeit.

Donat hatte sich ein Sparbuch angelegt. Er rechnete eines Tages, daß er im Frühjahr seine Englandfahrt werde antreten können. Er sprach noch mit niemand davon. Eine abermalige Andeutung des Prinzipals, daß er ihm nächstes Jahr als Lehrling im Empfangskontor willkommen sein werde, steckte er ruhig wieder ein und verschwieg auch ihm, daß er andere Pläne hatte. Nur dem hübschen Henry gegenüber, dessen Zutunlichkeit ihn zuweilen ein wenig bezauberte, und der ihm eines Tages die Absicht verriet, im Frühjahr über den Kanal zu gehen, gestand er, daß das ja auch sein Plan sei.

Im Dezember desselben Jahres brach nach einer ungewöhnlich föhnigen und ungesund warmen Wetterperiode eine jähe Kälte ein. Noch lag kein Schnee, aber Stein und Bein gefror. Der Himmel zeigte jeden Tag die gleiche blasse, wolkenlose Bläue, an der man die Sonne, die nur noch einen kleinen Kreis im Süden beschrieb, vergeblich suchte. Die Straßen starrten von Härte. Selbst die Pflastersteine schienen von einer feindseligen Rauheit. Über den Asphalt der Fußsteige breitete sich ein Schleier trockenen widrigen Staubes. Da trat die tückische Grippe wieder ihre gehässige Wanderschaft an. Die Zeitungen hatten sie lange prophezeit. Und sie verschonte niemand in der Stadt. Die irgendwie Schwachen warf sie mit einem groben Stoß über den Haufen.

Eines Nachmittags kam Donat in die Kammer hinauf und fand den braunkopfigen Henry neben dem Bett des alten Beaudrier stehen, der am Morgen wie sonst aufgestanden, sich aber eben wieder gelegt hatte. Dieser lag auf dem Rücken und nahm scheinbar von keinem seiner Zimmergenossen Notiz. Sein Gesicht erschien sonderbar schmal wie ein Kindergesicht. Eine weiße Nase stand auf. Fieberflecken brannten auf den eingefallenen Wangen. Die Augen jedoch hingen groß und mit einem verlorenen Ausdruck an der Zimmerdecke. Zuweilen zitterten seine Lippen, als ob er mit sich selber flüstere.

Donat dämpfte den Schritt.

»Es hat ihn«, raunte Henry, weder überrascht noch besorgt; er hatte die Grippe vorige Woche auch gehabt.

Donat betrachtete den Kranken, erschrak über seine Teilnahmslosigkeit und meinte, man solle den Arzt rufen. Aber Henry zuckte die Achsel und sagte, bei ihm sei die Geschichte auch in zwei Tagen vorbei gewesen. Damit verließ er das Zimmer. Donat war mit dem Alten allein.

Er lehnte an der Wand und sah noch immer zu ihm hinüber. Es war ihm sonderbar zumut, als habe er eine Pflicht an ihm. Eine seltsame Besorgnis erfüllte ihn, als liege da ein Vater oder ganz naher Freund. Da wandte Charles ihm plötzlich die nachdenklichen Augen zu. Er fühlte sich von dem tiefen, durchdringenden Blick sonderbar gebannt.

Dann begann Charles in einer merkwürdig unschlüssigen Weise zu sprechen. Er hatte vieles auf der Zunge und dem Herzen und sagte doch nur, gedehnt und als ob er zuerst auskundschaften müsse, ob er auch weiterreden könne: »Ja – ja!«

»Wo fehlt es?« fragte Donat fast verlegen.

»Das weiß ich nicht«, antwortete der andere mit derselben fernen, unwirklichen Stimme und dann, als besänne er sich auf sein Domestikentum: »Frag den Prinzipal! Vielleicht will er, daß der Arzt kommt.«

Donat wollte sogleich weglaufen und wäre irgendwie froh gewesen es zu können, aber eine Bewegung Beaudriers hielt ihn zurück. »Kann ich noch etwas für Sie tun?« fragte er unwillkürlich.

Der Alte schaute ihn an und an und sprach doch nicht. Er studierte an ihm herum: Bist du der, den ich meine? Kann man zu dir Vertrauen haben? Aber dieses Vertrauen war in ihm erst ein Sproß und wollte nicht wachsen. Endlich stieß er fast zornig heraus: »Geh nur! Sag's dem Alten bei Gelegenheit.«

Da verließ Donat eilig die Kammer und verständigte Herrn Louis Meister, daß Charles seinen Dienst nicht machen könne.

Der Hotelbesitzer begab sich in die Angestelltenkammer hinauf.

Charles veränderte seinetwegen seine Stellung nicht. Er sprach geradeso an die Diele hinauf, wie er das vorher seinen Zimmerkameraden gegenüber getan. Dennoch lag die Vertrautheit, die langes Beisammensein schafft, zwischen ihnen. Sie hatte bei Meister die Form eines Bedauerns, wie man es etwa über ein altes Möbelstück empfindet, in das der Wurm gekommen, und gewann bei Charles eine Schattierung des Anspruchsvollen, eigensinnig Fordernden, als könne das Grand-Hotel Beau Séjour ihn nicht entbehren.

»Der Doktor Favre wird kommen«, teilte Herr Louis Meister mit.

Charles zuckte geringschätzig die Achsel, als halte er von dem Wissen des Arztes nicht viel. Dann spritzte er im Ton eines Beleidigten den Satz über die Lippen: »Einmal wäre mir ja doch gekündigt worden.«

»Wann? Wieso? Sie alter Brummbär«, wies ihn der Prinzipal zurecht.

»Leute wie der kleine Zurbriggen sind brauchbarer«, zänkelte Beaudrier.

Meister schüttelte nur noch mißbilligend den Kopf. Er spürte, daß der alte Mensch da in ernster Gefahr stand. Zu lange Zeit waren Herr und Diener Seite an Seite gegangen, als daß er nicht durch des andern Krankheit an seine eigene Vergänglichkeit gemahnt worden wäre. »Pflegen Sie sich! Lassen Sie sich nichts abgehen! Ich werde Sorge tragen, daß jemand sich Ihrer annimmt«, ordnete er an, ehe er sich wieder entfernte.

Als eine Stunde später Donat bei Tisch aufwartete, sagte Meister zu ihm: »Passen Sie mir etwas auf den alten Charles auf. Er gefällt mir nicht. Ich hätte ihn ins Spital geschickt. Aber der Doktor will von einem Transport nichts wissen.«

Donat versprach das mit der Bereitwilligkeit, durch die er sich Meisters Zufriedenheit überhaupt gewonnen; aber eigentlich hätte ihn schon eine sonderbare innere Besorgnis zur Pflege gedrängt.

Doktor Favre sprach von einer Pflegerin, die nötig sei. Aber Louis Meister war ein Geizhals. Er beeilte sich nicht, dem Wunsch des Arztes zu willfahren, und da am gleichen Tage eine große englische Reisegesellschaft im Hotel ankam und es bis unters Dach füllte, vergaß er über der vielen Arbeit das, was er zu besorgen gezögert hatte. Vielleicht fand er auch, Donat walte seines Amtes gut genug; denn dieser, weil er sah, daß niemand sonst sich um Beaudrier kümmerte, nahm den Auftrag des Prinzipals doppelt ernst. In jedem freien Augenblick eilte er in die Dachstube hinauf, wo Charles immer in derselben Apathie und Stummheit lag. Hatte anfänglich eine unerklärliche Befangenheit ihn gehemmt und ein schleichendes Mißtrauen Beaudriers sie nicht recht zusammenkommen lassen, so gewann ihr Verhältnis jetzt nach und nach ein anderes Gesicht. Noch studierte der Kranke an seinem Pfleger herum, noch sah es manchmal aus, als wolle er ihm irgend etwas anvertrauen und könne doch nicht, und noch verharrte Donat, der Grünling, in einer Art Abhängigkeit von dem viel erfahreneren Berufsgenossen, aber immer mehr begann er in der alten Maschine von einem Kellner den Menschen zu studieren. Und immer wieder ergriff es ihn seltsam, wenn er in den schönen, traurigen Augen Beaudriers einen Ausdruck merkwürdiger Zärtlichkeit aufglimmen sah. Er begann selbst dem Alten das Essen zu bringen, das bisher Henry heraufgetragen. Von einer plötzlichen Unruhe getrieben, unterbrach er sogar seine Arbeit und lief zu dem Kranken. Dann entdeckte Charles, daß Donat nachts nicht schlief, sondern in der Meinung, er selbst habe Schlaf gefunden, zeitweise heimlich an sein Bett trat, um ihn zu beobachten. Einmal sagte der Alte: »Wer sollte glauben, daß ein junger Springinsfeld so viel Zeit für einen alten Schleicher wie mich hätte!« Und ein andermal: »Es tut doch wohl, nicht ganz nur wie ein abgelegter Rock dazuliegen.«

Da ging es Donat auf, daß hier nicht mehr der ausgediente Kellner Charles lag, sondern ein Einsamer, der verwundert und verzagt zu fühlen begann, daß er nicht mehr ganz allein war, und dann merkte auch er erst, daß er selbst eigentlich ebenso seit vielen Monaten allein gewesen und sich manchmal so gefühlt hatte. Er hatte jeglichen Zusammenhang mit seinen eigenen Leuten verloren, hatte nie mehr heimgeschrieben, vom Vater überhaupt nie, aber auch von Anschi seit geraumer Zeit keine Nachricht mehr erhalten. Mehr als je blühte etwas in ihm dem alten Charles entgegen. Es war nicht eine hoffnungslose und unbestimmte und ein wenig überspannte Sehnsucht, wie sie noch lange das Bild der Ursula in ihm wacherhalten, sondern etwas Stilleres, Mitleid- und Staunenvolleres. Heute erschien er ihm wie ein zaghafter Bettler und morgen wie ein väterlicher Freund.

Die Wandlung, die sich in seinem Innern vollzog, blieb auch Charles nicht verborgen. Er wartete jetzt auf seinen Pfleger und wurde unruhig, wenn dieser einmal nicht zur gewohnten Zeit in der Kammer erschien. Aber sobald er dann eintrat, nach seinem Befinden fragte, sich einen Stuhl zum Bett rückte und von den kleinen Ereignissen des Alltags zu erzählen begann, wurde auch Charles gesprächiger. Sein Bedürfnis sich mitzuteilen nahm dann zuweilen etwas Aufgeregtes, Hastiges an, als müsse er sich rasch eine Menge Dinge vom Herzen reden. Aber Donat behielt noch immer den Eindruck, der andere rede und rede, ohne es fertig zu bringen, das zu sagen, was ihm eigentlich am Herzen liege.

Eines Tages schob sich des Alten schmale und gepflegte Hand unter der Decke hervor und legte sich auf die Donats, die auf dem Bettrand lag. Selbstvergessen spielten die Finger über Donats Handrücken und griffen in dem Augenblick zu, als dieser aufstehen und weggehen wollte. »Ich möchte –« stotterte er dabei. Donat wartete willig auf das, was der andere ihm sagen wollte.

Aber die Hand glitt gleich einer verhuschenden Eidechse wieder unter die Decke zurück, und der schmale Mund blieb still.

»Was meinten Sie?« fragte Donat.

»Nichts! Nichts! Was sollte ich wollen? Geh nur«, eiferte Beaudrier hastig.

Und wieder blieb es wie ein Rätsel zwischen ihnen.

Indessen nahm die Krankheit ihren Fortgang. Ein trockener, böser Husten begann den Alten zu quälen. Der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht. Die gleiche Bedenklichkeit erschien auch in den Zügen des Herrn Louis Meister. Dieser nahm Donat auf die Seite und trug ihm auf: »Widmen Sie sich ganz dem Kranken. Er hat den Narren an Ihnen gefressen. Ich entbinde Sie von Ihren Pflichten«. Er wäre jetzt bereit gewesen, die Pflegerin einzustellen, aber jetzt wollte Beaudrier von einer solchen nichts mehr wissen. Es hätte sich nun wohl gehört, daß Henry, der dritte Zimmergenosse, der ohnehin sich über zu häufig gestörte Nachtruhe beschwerte, ausquartiert worden wäre, allein das Hotel hatte in diesen Tagen so wenig freien Raum, daß er nach wie vor bei den andern bleiben mußte.

Ein Sonntag kam, dämmerig, müde, mit weißen Wolken im blassen Himmelsblau, durch Nachtniederschlag entstaubten Straßen und einer zuweilen um Dächer und Fenstergesimse fingernden hilflosen Sonne. Henry hatte Ausgang. Er hatte sich in Wichs begeben und war gleich nach Tisch weggegangen. »Ich bin froh, wenn ich einmal ein paar Stunden nichts von dem alten Stöhner weiß«, hatte er im Weggehen zu Donat gesagt.

Dieser war in einer sonderbar gedrückten Stimmung. Auch ihm fing die Wacht bei dem Schwerkranken an beschwerlich zu werden, allein, auch wenn Beaudrier nicht bei seinem Weggang jedesmal rastlos geworden wäre, hätte er sich nicht recht von ihm zu lösen gewußt.

Der Doktor war dagewesen. Donat fragte Charles, was er gesagt habe. Da schob der Alte sich gegen den Bettrand, und Donat sah plötzlich, wie abgezehrt und blutlos sein Körper geworden war. Sein Schädel mit dem weißen Haar glich dem eines Toten. Nur die dunkeln Augen unter der hochgewölbten Stirn hatten noch immer den halb hungrigen, halb gütigen Ausdruck.

»Er kommt heute noch einmal, der Doktor«, flüsterte Charles. »Man weiß, was das zu bedeuten hat.« Er selbst aber schien der Sache diese Bedeutung nicht zuzumessen. Dann aber verwandelte sich seine Gleichgültigkeit in Erregung. »Es geht zu Ende«, sagte er plötzlich, und dann brach aus dem schwachen, brüchigen Körper das gewaltsam hervor, was seit langem in ihm gebohrt und genagt hatte, aber immer wieder von Hemmungen erwürgt worden war. »Ich muß dir etwas sagen, Zurbriggen«, hob er an und fuhr zögernd weiter: »Niemand weiß es. Aber jemand muß ich es hinterlassen. Und – dir will ich es sagen.«

Noch jetzt legte Mißtrauen gleichsam jedem Worte einen Radschuh an. Aber dahinter stand eine verzweifelte Angst mit der Peitsche und trieb den Geist zu dem immer wieder zurückgehaltenen Geständnis an. Es kam wirr, ungeordnet und überstürzt heraus.

»Sie und das Kind. Ich habe es dir schon einmal gesagt. Ich möchte wissen, ob sie noch leben. Ich weiß, wie auch dir ein Mädchen zu schaffen gemacht hat; so wirst du mich verstehen. Freilich soll man sich nicht in Prinzessinnen verschauen wie du. Die Meine war nicht mehr als du und ich, trug nur den Nacken steifer und das Näschen höher. Gott, war sie schön! Das Kind – das ihr nach der vorbeigeratenen Ehe blieb, war das meine. Sie denkt vielleicht, ich habe es ihr nachgetragen, daß sie den andern, vornehmeren für mich eintauschte. Darum möchte ich, daß sie wüßte, ich tat es nicht.«

Er begann zu zittern. Seine Hände nestelten an seinem Halse herum und brachten einen kleinen Schlüssel zum Vorschein. »Hole mir meine Kasse und mein Paket«, gebot er.

Donat wußte Bescheid. In dem Koffer, wo sein Erspartes lag, hatte er Beaudrier immer wieder hantieren sehen. Er fand auch bald, wohlverborgen unter Kleidungsstücken und Wäsche, das Verlangte.

Beaudrier saß aufrecht im Bett, als er damit zurückkam. Sein Leib bebte in Fieber und seine Zähne schlugen aufeinander. Aber er warf sich Donat förmlich entgegen und nahm ihm Kasse und Paket hastig aus den Händen. Mit fliegenden Fingern löste er an diesem die Schnur und entnahm ihm eine Anzahl Dokumente. Auch die eiserne Kassette schloß er auf. Sie war mit Banknoten gefüllt. Alle die Zeit redete er: »Im Elsaß hat sie gewohnt. Wenn du hier weg und nach England fährst, kannst du leicht einen oder zwei Tage sparen und den Ort finden, der hier auf diesem Briefe steht. Wenn sie selber – tot sein sollte, wird doch das Kind zu finden sein. Sonst soll die Sache der Gemeinde gehören, wo sie gewohnt hat und begraben liegt. Hier – ich habe alles aufgeschrieben. Auch meine Vollmacht für dich liegt bei. Und die zwei Banken sind verständigt. Viel Worte brauchst du nicht zu machen, wenn du sie antriffst. Sage eben: ›Von Charles!‹ Das genügt. Sie wird wissen, was sie wissen muß.«

Er stockte. Dann fügte er mühsamer, zögernder hinzu: »Du sollst auch deinen Lohn haben. Nimm dir fünfhundert Franken aus dem Bargeld. Ich weiß, daß du es zu etwas bringen wirst, und ich freue mich, dir einen Anfangsbatzen in die Hand zu geben.«

Donat wußte zunächst nicht, was er antworten und tun sollte. Er spürte die geheimnisvolle und übermächtige Gewalt einer immer zurückgedämmten Liebe, die dieser sonderbare Mensch mit sich herumgetragen, aber noch mehr wühlte ihn die Erkenntnis auf, daß dieser Beaudrier ihm ein mächtiges Vertrauen schenkte. Seine Zuneigung zu ihm wuchs. Über alles andere hinaus erwachte in ihm eine wirkliche und plötzliche Angst um sein Leben. Da aber Charles immer drängender seine Habseligkeiten vor ihm ausbreitete, gab er sich Mühe, alles zu verstehen und nachzuzählen. Dabei gewahrte er mit wachsendem Erstaunen, daß das Vermögen, das der alte Kellner sich erspart und jetzt bedenkenlos in seine Hände legte, einige fünfzigtausend Franken betrug. Die Höhe der Summe erschreckte ihn. Er wollte sie zurückweisen, scheute die Last des Auftrags, empfand eine plötzliche unbestimmte Angst. Dann suchte er einen Ausweg und verfolgte ihn mit jäh aufleuchtender Freude: »Sie werden noch lange leben. Sie werden bald wieder gesund sein«, sagte er eilig und schob die Kasse Charles wieder zu.

Aber die Erregung des andern steigerte sich noch. »Nicht doch!« wehrte er ab. »Laß mich nicht im Stich. Ich habe keinen Sterbensmenschen sonst in der Welt. Ich habe auch noch keinem getraut!«

Alles Gute stieg in Donat hoch. Das war doch allerhand, daß der andere soviel Vertrauen hatte! Er änderte seine Meinung. Es war am Ende eine ehrenvolle Sache! Es gelüstete ihn, zu zeigen, daß Charles sich nicht in ihm getäuscht haben sollte. Schon dachte er an die Möglichkeiten der Ausführung des ihm zugedachten Auftrags. Schon ging er in Gedanken auf die Suche nach Adrienne Schelbert, der Freundin von Beaudrier.

Da ging die Kammertür. Henry kam unversehens zurück. Ein richtiger Fitzer, Hut schräg auf dem Lockenkopf, die Zigarette zwischen den blanken Zähnen, in der äußeren Brusttasche seines dunkeln Jackettanzuges ein auffallendes, weit heraushängendes Taschentuch, kam er hereingespritzt. »Ich habe etwas vergessen«, entschuldigte er sich.

Charles war zusammengefahren gleich dem Geizhals, der den Überfall von Räubern fürchtet. Er schob seine Sachen Donat zu: »Nimm«, drängte er flüsternd. »Schließ alles in deinen Koffer! Der ist so sicher wie meiner. Mach vorwärts! Ich will nicht, daß der Mensch, der Henry, etwas sieht.«

Donat ließ sich überrumpeln. Es war auch ihm, als müsse alles vor Henry geheimgehalten werden. Mit mehr Eile als Geschick brachte er die ihm übergebenen Schätze in seinem eigenen Koffer unter.

Die stillen, dunkeln Augen des Kranken verfolgten jede seiner Bewegungen, obgleich er selbst in sein Kissen zurückgesunken war und mit einem fahlen, fast leblosen Gesicht dalag.

Henry drückte sich immer noch in der Kammer herum. Es war ihm nicht entgangen, daß irgend etwas Wichtiges zwischen den beiden Zimmergefährten verhandelt worden war. Seine Augen spionierten herum. Seine Ohren lauschten angestrengt.

Beaudrier wurde ungeduldig. Er drehte sich im Bett. »Du wolltest doch einen Ausflug machen, Mensch«, stieß er hervor. Aber die Worte hatten keinen Ton. Keiner verstand sie. Donat sah nur an dem gequälten Ausdruck des bleichen Gesichtes, wie unlieb Charles die Anwesenheit Henrys war. »Komm!« forderte er diesen auf. »Charles braucht Ruhe.« Dabei winkte er Henry zur Tür.

»Ich habe hier soviel Recht wie ihr«, tat dieser beleidigt. Er wollte wissen, was eigentlich los wär. Schließlich folgte er Donat dennoch auf die Schwelle. Vielleicht würde der ihm draußen erzählen, was geschehen war.

Aber Beaudrier rief: »Donat!« Und als Henry Miene machte, ebenfalls zurückzukommen, fauchte er ihn an: »Geh!« Er krallte die gelben Hände ins Leintuch. Sein Haar schimmerte von Blässe, als sei jede Kraft in ihm erstorben.

Henry, der Lockige, zog sich verdrossen aus der Tür.

Donat, verwirrt, erschrocken, eilte wieder an das Bett.

Beaudrier packte mit beiden Händen die seinen. Sie waren feucht, aber kalt wie Eis.

»Du hast mir noch nichts versprochen. Du mußt tun, was ich dir aufgetragen habe«, bestürmte er ihn keuchend.

»Ja, ich verspreche es Ihnen«, antwortete Donat, gewillt, zu erfüllen, was er versprach, aber auch bestrebt, loszukommen.

Noch hielten die kalten Hände fest und zuckten. Die schmalen Lippen schlossen und öffneten sich, als würge der Kranke die Schwäche hinunter, die ihn nicht einmal sprechen ließ. Und hinter der Stirn jagten einander die Gedanken. Henry, der Windbeutel, durfte nichts wissen! Diesem aber, dem Donat, dem traute er! Dem würde er immer wieder sagen, daß er nichts versäume, alles wage!

Immer und immer noch versuchte der Mund Worte zu formen, aber im Gesicht schien Muskel um Muskel zu schrumpfen, und plötzlich gewahrte Donat ein Zittern der Lider. Er bog sich näher. Seltsame Dinge gingen in Beaudriers Augen vor. Sie blickten, als ob ein Schrecken sie erfüllte, weil etwas kam, was zu früh kam, und nahmen dann plötzlich einen Ausdruck unendlichen Verlangens nach Ruhe an. Auch dieser Blick erlosch dann, wie ein Licht, das ausgeht. Etwas Leeres blieb.

Noch immer war draußen der müde und doch in seiner Reglosigkeit klare Tag. Eine blaue Insel stand im grauen Gewölk gerade über dem Fenster der Dachkammer. Sie war wie eine ganz feine Scheibe, durch die man ins Unendliche sieht. Und ohne den leisen Schimmer von Licht, den sie ins Zimmer warf, wäre der Kopf des Sterbenden, mit seinem farblosen Haar und den schmalen, kalkigen Wangen in den weißen Kissen kaum mehr zu erkennen gewesen; denn die dunkeln Augen waren jetzt auch zugefallen, und die Lider, die sie deckten, waren wie kleine bleiche herabgefallene Jalousien.

Donat wurde plötzlich inne, wie still es in der Kammer war. Er war noch nie allein mit einem Toten gewesen, und eine plötzliche Beklemmung befiel ihn. Er wußte nicht, was er zunächst beginnen sollte. Warum sprach Charles nicht mehr? fragte er sich in einer seltsamen Unbeholfenheit, und dabei kam ihm stärker als je zum Bewußtsein, daß der alte Mann eigentlich der einzige gewesen, der ihn in diesem großen fremden Hause innerlich irgend etwas angegangen war. Wieder mußte er dabei an Vater und Schwester denken, und wieder schienen sie ihm ferner als dieser Charles, der eben noch mit ihm geredet hatte. Ein plötzlicher Einfall: Du müßtest ihnen wieder einmal schreiben, verpuffte auch diesmal, ehe er Entschluß geworden, weil er nicht wußte, wo er mit so einem Briefe beginnen sollte. Endlich stand er auf, näherte sich der Tür, vom Gefühl geleitet, daß er dem Prinzipal vom Tode Beaudriers Mitteilung machen müsse. Und doch zögerte er immer wieder, fühlte sich ans Bett zurückgezogen, als müsse er sich noch und noch einmal überzeugen, daß Charles nicht doch wieder erwachen werde. Dabei fiel sein Blick auf die kleine Kasse und die Papierhülle, in die die Bankquittungen und die Bevollmächtigungen eingewickelt gewesen. Sie waren auf der Decke gegen die Wand gerutscht. Irgendwie erschrak er darüber. Es schien ihm, das dürfte dort nicht liegenbleiben. Hastig trat er zum Bett zurück, raffte das Papier zusammen, zerknüllte es und schaffte es beiseite. Die kleine Kasse aber trug er zu Beaudriers Koffer, an dem der Schlüssel noch steckte. Während er sie an die alte Stelle legte, fiel ihm ein, daß ihr Inhalt und die Dokumente nun in seiner Verwahrung lagen. Und plötzlich drückte ihn die Verantwortung. Schon dachte er daran, all das ihm Anvertraute gleich mit und zu Herrn Meister hinunterzunehmen. Warum sollte nicht dem alles Weitere überlassen werden? Da vergegenwärtigte er sich wieder die letzte Stunde des Beaudrier. Hatte er nicht ihm allein den Auftrag überbunden? Stolz über das ihm entgegengebrachte Vertrauen regte sich wieder in ihm und ein eifersüchtiger Ehrgeiz, es zu rechtfertigen und niemand etwas zu verraten, wie er auch allein eingeweiht worden war. Mit heimlicher Vorsicht schloß er Beaudriers Koffer. Noch einmal glitt sein Blick, seltsam befangen, nach seinem eigenen Gepäckstück hinüber, dann begab er sich hinunter, um den Tod seines Zimmergenossen anzuzeigen.


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