Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Zwei Jahre stand Donat Zurbriggen schon der Leitung des Hotels Ewigschneehorn und seinem Ratsamte vor. Sein Name, als der eines Organisators, und sein Ruhm, als der anerkannte Führer des Fremdenverkehrswesens von Aufdenmatten, drangen über die Grenzen und ins weiteste Ausland hinaus. Das Glück blieb ihm und seinem Tale treu. Aber er war noch ärmer an Zeit und Ruhe geworden. Auch seine Besuche bei Vater und Schwester wurden seltener. Und wenn er kam, so kam sein eigentliches Ich nicht recht mit, blieb sein Geist draußen bei seinen Pflichten und seinem Werke. Erst beim Wiederweggange pflegte er jeweilen halb und halb zu merken, daß im Grunde seine Heimat doch bei den zwei stillen Leuten am Dorfende und dem kleinen Wesen war, das da in ein erstes Verständnis des Lebens sich mit einer lauten, gesunden Stimme hineinkreischte. Inzwischen hatte er jedoch einen neuen Umgangskreis gefunden. Er war verschieden von dem der schlichten väterlichen Kammern, von der ebenso schmucklosen Ratsstube, wo er als ein redegewandter Mann sehr bald eine Art Führung unter den Kollegen sich angeeignet hatte, verschieden auch von den Sälen und Fluren des Hotels mit ihrem Gästegewimsel.

An das Kontor Allmendingers stieß eine Hinterstube. In ihr nahm der Hotelbesitzer mit Frau und Tochter die Mahlzeiten ein und gähnten sie abends, müde vom Tagesgetrieb, der Schlafstunde entgegen. Es war eine langweilige Stube, ein Raum ohne irgendwelchen Vorzug. Ein blumenloses Fenster ging auf eine Art Hof hinaus, wo leere Kisten aufgestapelt waren. Manchmal blitzte da das Blech einer fortgeworfenen Konservenbüchse auf oder streute aus der gegenüberliegenden Küche jemand den Spatzen Futter hin. In einer Ecke des Allmendingerschen Privatzimmers stand eine Nähmaschine. Vor ihr oder dem ans Fenster gerückten Nähtisch saß häufig die kleine blonde Frau Rosa. Sie trug trotz ihrer fünfundfünfzig Jahre noch kein graues Haar im Scheitel, vielleicht, weil sie das Leben nahm wie es kam und ging und bei nichts mitzusprechen, aber auch bei nichts mitzutragen wünschte. Viele Stunden saß sie hier allein. Dann polterte manchmal ihr Mann herein, warf sich mit einer Zeitung in der Hand auf einen der harten Stühle oder ließ sich von einem Kellner eine Flasche schweren Weines auftischen. Viel seltener zeigte sich Rosmarie, die Tochter, trippelte auf hohen Tanzabsätzen oder schob sich in schweren Sportschuhen herein, etwa um schnell in den kleinen Wandspiegel zu sehen, Puder und Rot aufzulegen oder sich von der Mutter am Kleid etwas nähen zu lassen. Die Mahlzeiten allerdings versammelten die ganze Familie. Ein weißes Tuch bedeckte dann den Tisch und verhüllte die Platte, deren Farbe zum Teil abgekratzt und die mit Messerschnitten und Brandflecken übel durchmartert war. Ein Kellner in weißen Handschuhen trug das Essen auf, wie er das an der Fremdentafel zu tun hatte. Die Tochter tat bei Tisch vornehm und führte mit der ihr willig folgenden Mutter Gespräche, wie sie sie von Hotelgästen hörte, während Allmendinger manchmal mit einem wenig gewählten Ausdruck dazwischen fuhr. An diesem Tische nun hatte seit einiger Zeit, von dem mit ihm zufriedenen und über ihn erstaunten Prinzipal eingeladen, auch Donat Zurbriggen seinen Platz. Er erschien sehr unregelmäßig, wie er eben sich vom Betriebe gerade losmachen konnte. Irgendwie aber saßen die Allmendingers immer noch da, wenn er kam, als ob sie auf ihn gewartet hätten. Sie zeigten ihm eine beflissene Freundlichkeit und hatten Gelegenheit, auch hier zu bemerken, wie Donat zur Seele des Geschäftes geworden war, verging doch kein Tag, an dem er nicht von der Mahlzeit weggerufen wurde, weil man seiner irgendwo im Hause bedurfte. Er pflegte hastig das Geschäft des Essens zu erledigen und war sichtlich mit seinen Gedanken immer mehr bei seinen Tagespflichten als bei seinen Tischgenossen. Er unterhielt sich mit diesen stets in einer fast geistesabwesenden Art. Ihn interessierte weder der Protz Allmendinger noch seine kleinlaute Frau mehr groß, lernte er sie doch tagsüber gründlich genug im Betriebe kennen. Vielleicht war es Zufall, daß er eines Tages bemerkte, wie Frau Rosa ihn mit gespannten, fast besorgten Blicken verfolgte, als habe er irgendeine Erwartung, die sie auf ihn setzte, bisher nicht erfüllt. Dann stellte er fest, daß die wasserblauen, ängstlichen Augen der Mutter häufig von seinem Gesicht zu dem der Tochter hinüberglitten, und einmal aufmerksam geworden, erriet er, daß er wohl schon mehrfach Gegenstand der Unterhaltung für Mutter und Tochter gewesen sein mußte. Unwillkürlich begann er von der blonden Rosmarie nähere Kenntnis als bis jetzt zu nehmen. Sie stellte sich ihm als eine etwas eigenartige junge Dame dar mit zierlichen, aber etwas steifen Beinen und der Eigentümlichkeit eines stelzenden Aufdenzehengehens. Wie ihr Gang dem Hüpfen eines Vogels ähnelte, so sprang sie selbst gleichsam auch mit Worten und Gedanken durch den Tag. Ihr Gespräch galt lauter Belanglosigkeiten, Dingen, die mit Vergnügen und Lebensfreude zu tun hatten. Es gab für sie kein Verweilen bei irgendeinem ernsten Gegenstand. Vor irgendwelchen Verantwortlichkeiten flüchtete sie sich gern in einen Scherz. Aber sie tat das zierlich, manchmal auch geziert. Das würde Donat nun nicht weiter gekümmert haben, wenn er nicht auch allmählich bemerkt hätte, daß die hübsche, spritzige, unbedeutende, kleine Person in all ihrer Flüchtigkeit Zeit fand, ihm Augen und dann und wann ein Wortkompliment zu machen und dann gleich der Mutter mit auffallender Neugier auf die Wirkung zu warten.

Eines Tages traf er Mutter und Tochter allein im Zimmer. Gleich darauf glitt Frau Rosa mit der anspruchslosen Art, mit der sie sich selbst aus dem Weg zu räumen verstand, aus der Tür. Rosmarie aber, die am Fenster stand, pflanzte sich, sichtlich bereit, ihm beim Essen, zu dem er sich niederließ, Gesellschaft zu leisten, behaglicher ans Gesims.

»Sie haben es wirklich streng und kaum zum Essen Zeit«, sprach sie ihn an, und als Donat erwiderte, das sei nicht so gefährlich, fügte sie hinzu: »Sie sollten sich aber auch nicht so abhetzen.«

»Das Geld fällt einem nicht von selbst in den Schoß«, erwiderte Donat.

Da entgegnete sie großsprecherisch: »Ihnen und dem Vater schon.«

Donat überlegte sich in diesem Augenblick, daß Allmendinger und er erst so weit waren, daß sie mühsam ihren Verbindlichkeiten wieder nachkommen konnten. »Stellen Sie sich nicht zuviel vor, Fräulein Rosmarie«, mahnte er.

Sie aber lachte mit glänzenden Augen ihm ins Gesicht und seufzte nicht ganz ohne Gefühl: »Ach, was sind Sie für ein gewissenhafter Mensch!«

Donat wurde ein wenig schwül zumut; irgendwie war ihm, die Kleine wäre bereit, ihm an den Hals zu fliegen. Er schlang hastig ein paar Bissen hinunter. Unterdessen aber arbeiteten seine Gedanken. Die Rosmarie war ein ganz hübsches Ding, stellte er fest. Sie war die einzige Erbin des Unternehmens, das er im Begriff stand, wieder auf frühere Höhe zu führen! Es schmeichelte ihm, zu denken, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um – – Mit gelassenem Behagen betrachtete er den neuen Weg in die Zukunft, der sich ihm da unversehens öffnete. Andererseits fühlte er eine ärgerliche kleine Abneigung gegen die zutunliche junge Dame und hatte keine rechte Zeit für sie. Er drückte sich auch bald wieder, obwohl Rosmarie ihn bat, doch nicht schon wieder fortzulaufen, und er einen deutlichen Ausdruck der Enttäuschung in ihrem feinen Gesichtlein erscheinen sah.

In der Folge wiederholten sich diese Begegnungen. Das wachsende Entgegenkommen der Tochter und gewisse Andeutungen der Mutter würden Donat vielleicht vor eine Wahl gestellt haben, wenn nicht ein anderer Vorfall ihn plötzlich auf andere Gedanken gebracht hätte.

Es war inzwischen wieder Winter geworden. Die Aussichten für den Fremdenverkehr in Aufdenmatten waren auch in diesem Jahre glänzend. Schon um Weihnachten setzte der Besuch der ausländischen Gäste ein. Und als im Hotel Ewigschneehorn eine Gesellschaft von etwa zwanzig jungen Herren und Damen aus Deutschland für einen vierzehntägigen Sportaufenthalt eintrafen, blieb hier nur noch wenig verfügbarer Platz.

Donat hatte wie gewöhnlich die Ankömmlinge in der Halle des Hotels empfangen und ihnen ihre Zimmer angewiesen. Sie schienen einer oberen Gesellschaftsschicht anzugehören und waren eine muntere, aber durch Zurückhaltung und gute Manieren auffallende Schar. Durcheinanderlaufend, redend und lachend, schenkten sie ihm selbst ebensowenig Aufmerksamkeit, wie er imstande war, sich vom einzelnen unter ihnen einen Begriff zu machen. Es dauerte einige Tage, bis er eines und das andere Mitglied etwas näher kennenlernte, wenn es mit irgendeinem Anliegen zum Empfangsdiener oder in sein Kontor trat.

Eines Nachts goß der Vollmond sein Licht ins Tal. Das war ein Fest, wie von vielen tausenden heimlichen, silbernen Kerzen. Ein blauweißer, geheimnisvoller Schein spann sich hier über eine Wiese, dort über eine Felswand und dort über die in Wellenlinien hinstrebenden Tannenspitzen eines Waldes. Es war mehr Duft als Licht. Kühle haftete ihm an. Und dann stand mitten im Weiß ein Haus oder ein Baum oder ein klotziger Berg und zeichnete in harten Umrissen seinen Schatten in die helle Nacht hinein.

Über die märchenhafte Unwirklichkeit des Talgrundes spannte sich der Himmel als ein zweites Wunder. Er glich einem schwer hereinhängenden Teppich aus schwarzblauem Sammet. In ihn hineingestickt standen, wie an den Rand gescheucht vom herrischen Mond, ein paar glitzernde Sterne. Der Mond selbst aber hatte ein eisiges Gelb, und er flirrte so stark, daß er in dem dunkeln Grund zu schwanken schien.

Donat entdeckte von einem Zimmer aus, dessen offenes Fenster er eben schloß, die Schönheit der Nacht und machte nachher in der Halle einige Gäste auf sie aufmerksam. Sie traten ins Freie hinaus. Und als er sich später allein und ohne dringende Arbeit sah, folgte er ihrem Beispiel. Die große Stille, die vor dem Hoteleingang herrschte, das Gefühl, daß einen Augenblick lang alle Last der Pflichten und Sorgen ihm abgenommen sei, ließ ihn hoch aufatmen. Allmählich geriet er in eine fast wehmütige Stimmung, die vielleicht der Erkenntnis entsprang, er habe eigentlich kaum je Zeit, sich auf sein Innerstes zu besinnen. Geweckt von der Ähnlichkeit des Naturspiels trat ihm die Erinnerung an die weit zurückliegende Begegnung mit Ursula Dülberg wieder einmal neu ins Gedächtnis. Er verlor sich in diese Erinnerung und lehnte sich, den Blick am nahen bergbegrenzten Horizont, an eine Seitensäule des Vorbaus, der unter seiner Leitung zum Schutz der in Schnee und Sturm heimkehrenden Sportsleute erstellt worden war.

Niemand sonst war mehr in der Nähe, aber eine kleine Weile später setzte sich die Schwingtür des Eingangs abermals in Bewegung. Eine junge Dame in buntem Sportkleid trat hinter Donat aus der Tür. Sie schien irgendeiner Gesellschaft eilig entronnen zu sein, blieb aber, überwältigt von dem Bild der Nacht, stehen.

Donat schaute sich um und trat, von einer jähen Überraschung überwältigt, auf die Fremde zu. Sie trug auf kurzgeschnittenem, blondem Haar eine Mütze von gleichem hellem Stoff wie das bis knapp an die Knöchel reichende Kleid. Er erkannte Ursula Dülberg. Nur wenig gewachsen, glich sie noch so sehr dem halben Kinde von damals, daß er einen Augenblick ganz benommen sich besann, ob auch er noch der Lehrling Donat sei. Im Licht des Eingangs erkannte nun aber auch sie ihn, obwohl sie es vielleicht schwerer hatte, in dem Mann im schwarzen Gehrock den Kellner von damals wiederzufinden. Ihm immer noch an Lebensart überlegen, trat sie mit rascher und sicherer Freundlichkeit auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Sieh da, Herr – Donat«, sagte sie. »Was für eine Überraschung!«

Donat verbeugte sich stumm, und während sie sich wohl überlegte, was sie aus ihm und seinem verwandelten Äußern machen sollte, wunderte er sich ebenso, daß ihm ihre Ankunft entgangen war.

Sie setzte ihn sogleich aufs laufende. »Ich bin mit einer ganzen Schar von Kameraden und Freundinnen hier«, erzählte sie, und Donat erriet, daß sie der Sportgesellschaft zuzähle, die er selbst vor kurzem empfangen hatte. Er fühlte sich sonderbar erregt und in etwas aufgewühlt, was sonst alle die Jahre kaum zu Leben gekommen war. Er wußte auch nicht recht, wie er sich aus dem Hoteldirektor in den bloßen Menschen Donat verwandeln solle, der mit seinem Gegenüber gern auf gleich und gleich gesprochen hätte.

Da nahm wieder Ursula das Wort: »Sie scheinen schon erreicht zu haben, was Sie sich vorgenommen hatten, als wir uns kennenlernten.«

Er entgegnete, daß er hier der Direktor sei.

»Alle Achtung,« lobte sie. »So rasch kommt nur zum Ziel, wer einen festen Willen hat.« Sie war jetzt ein wenig unsicher geworden. Sie hatte ihn näher betrachtet. Er hatte noch immer das hübsche, gescheite Gesicht, die steile, willenskräftige Stirn! Kleider und Stellung von damals und jetzt machten keinen Unterschied. Da war nur der Mensch; und vor diesem fühlte sie sich auf einmal wieder zugleich befangen und ein wenig beglückt.

Donat, um Worte verlegen, fragte, was er die Hotelgäste Dutzende von Malen fragte: »Sind Sie hier nach Wunsch aufgehoben?«

Sie bejahte lebhaft.

Und er fragte wieder: »Werden Sie eine Weile bleiben?«

»Noch zehn Tage, wie wir alle,« bestätigte Ursula, was er schon wußte.

Da aber jetzt einer ihrer Kameraden aus der Tür trat und sie suchte, nickte sie Donat zu »Auf Wiedersehen, Herr Direktor« und folgte ihrem Sportgenossen ins Haus zurück. – –

War es möglich, daß in einem menschengefüllten und lauten Hause und während sie auf Schritt und Tritt andern begegneten und auf andere Gedanken gerissen wurden, zwei Leute allein miteinander waren, als wohnten nur sie in all diesen Räumen? Donat und Ursula fielen beide in diesen merkwürdigen Zustand des Nureinanderfühlens und Nurumeinanderwissens. Donat ging seinem Berufe, seinem Gastwirtsamt und seinen Ratsherrnpflichten nach. Der Mann des Ehrgeizes war so rastlos und so eifrig wie immer, aber ein anderer in ihm lauschte und schaute nach Ursula Dülberg aus, fuhr zusammen, wenn er sie erblickte, suchte unwillkürlich eine Begegnung herbeizuführen und mochte sich nicht trennen, wenn eine solche zustande kam. Wenn in der Nacht das Leben in dem großen, weiten Hotelhause still wurde, war dieser Drang nach ihr oft so stark, daß er unter dem Vorwand einer letzten Hausrunde nach dem Stockwerk stieg, in dem Ursula wohnte, mehr, um ihre Nähe noch einmal zu fühlen, als weil er sie nochmals anzutreffen hoffte.

Auch Ursula war in Unruhe geraten. Hatte sich ihr das frühe Erlebnis mit dem kleinen Kellner Donat nie zu völliger Wirklichkeit gestaltet, so war doch in ihr der Boden vorbereitet gewesen für eine Zuneigung, die sich nun unter dem Eindruck von Donats inneren und äußeren Vorzügen rasch entwickelte. Es war die Zeit, da das allgemeine Gerede von Donats Tatkraft, seinen Verdiensten um die Talschaft und seinem Ehrgeiz auf der Höhe stand. Es drang auch zu Ursulas Ohren und fachte das kleine Feuer, das in ihr aufgegangen, so an, daß ihr heiß und bang dabei wurde.

Zweimal führte der Zufall die beiden allein zusammen, einmal im stillen, verlassenen Musikzimmer, in dem ein altes Klavier das ganze Jahr über umsonst auf einen wartete, der seinen Deckel aufschlug, und einmal in der kleinen Waldanlage, durch die der Fußweg von den Skihalden nach dem Hotel zurückführte. Die erste Begegnung war nicht ganz zufällig. Ursula war auf dem Wege ins Freie. Da gewahrte sie Donat, wie er im Flur mit einem andern Gast sprach, zögerte, an ihm vorüberzugehen, fühlte ihr Herz klopfen und trat, von einem jähen Impuls geleitet, in das Musikzimmer. Die Glastür fiel hinter ihr ins Schloß. Und nun stockte ihr erst recht der Atem. Sie hoffte, daß Donat ihr folgen würde, und wußte plötzlich, daß sie das tat. Gleichzeitig aber erkannte sie, daß sie sich eine Blöße gegeben und daß sie in eine Falle geraten, aus der sie unbemerkt nicht mehr entweichen konnte. Sie trat ans Klavier und gab sich den Anschein, als blättere sie in dem Stoß alter Noten, die dort lagen.

Donat hatte sie wohl bemerkt. Zerstreut und hastig führte er die Unterhaltung mit dem Gast zu Ende. Er fürchtete, Ursula möchte den Musikraum ebenso rasch wieder verlassen, wie sie ihn betreten. Er zwang sich aber zu Ruhe und scheinbarer Gleichgültigkeit und trat wie zufällig und zur Kontrolle der Ordnung bei ihr ein. Dann grüßte er.

Ursula drehte sich um.

»Wollen Sie musizieren?« fragte Donat.

»O nein«, lächelte sie, ohne zu erklären, was sie sonst hier suchte. Dann ernster, ein wenig traurig fast, fügte sie hinzu: »Nun ist bald eine Woche um.«

Donat war sich bewußt, wie oft er selbst an das gedacht, was sie da sagte. Jeden Morgen empfand er doch, wie rasch die Zeit ging. Und jeden Morgen zitterte die Unruhe in ihm, daß er es bis in die Fingerspitzen fühlte. Nun war aber plötzlich alles Konventionelle zwischen ihnen fortgeblasen, und es bestand nur das gegenseitige Bewußtsein und Bedauern der Flüchtigkeit der Zeit.

»Ich hoffe, Sie bleiben länger als anfänglich beabsichtigt«, sagte er. Im Ton der Stimme lag mehr als im Wort.

Der Ausdruck der Betrübnis blieb in Ursulas Blick. »Das liegt nicht bei mir«, antwortete sie mit derselben verhaltenen Vertraulichkeit, mit der er gesprochen hatte. »Ich muß mich nach den übrigen richten.«

»Nur ein paar Tage«, bat Donat.

Ursula erriet unschwer, daß er jetzt für sich und nicht für sein Gasthaus warb. »Was würde es nützen?« fragte sie ein wenig hilflos.

»Sie kommen dann vielleicht nie mehr.«

»Vielleicht würde ich Sie dann als Eigentümer dieses Hotels antreffen«, lenkte sie ab. »Man sagt, daß Sie hier im Tale der Mann sind, der alles macht.«

Donat zuckte die Achseln. »Deswegen wäre ich doch noch weit von Ihnen entfernt«, erwiderte er.

Sekundenlang sprachen ihre einander ausweichenden Augen mehr als der Mund. Dann sagte Ursula: »Es kommt doch schließlich auf die innere Nähe an.« Dabei strich ihre Hand über die Lehne des Stuhls, auf der die Donats ruhte. In der Bewegung lag eine Art Selbstvergessenheit; es hätte vielleicht wenig geändert, wenn ihre Finger die Hand selbst berührt hätten.

Donat fühlte sich emporgerissen. Wie schon oft war in seinem Innern ein Feuer, das ihm gleichsam über den Kopf loderte. »Wenn es einen Weg gibt, weiß ich, daß ich ihn finden werde«, sagte er; und dabei war ihm, als könnte man Ursula erstürmen.

Sie aber wich ein wenig zurück, zitterte und hatte Mühe, weiterzusprechen. »Ich muß Ihnen etwas sagen«, sprach sie dann.

Donat stutzte. Es war ihm, als greife ihm eine kalte Hand ins Genick.

Ursula fuhr fort: »Ich bin seit Monaten verlobt. Mein Bräutigam wohnt in Berlin.«

In diesem Augenblick, während Donat, der Mensch, Mühe hatte, sich in den Hoteldirektor Donat Zurbriggen zurückzuverwandeln, kam ihm zu Bewußtsein, daß das Zimmer, in dem sie sich befanden, eine Glastür hatte, also überhaupt kein Ort für Vertraulichkeiten war. Und nun sagte er in der Art einer Maschine, die man durch einen Knopfdruck tönen lassen kann: »Ich gratuliere Ihnen, Fräulein Ursula.« Als jetzt ein Page eintrat und Zeitungen auf den großen Tisch in der Mitte des Zimmers niederlegte, fügte er hinzu: »Unterhalten Sie sich noch gut, Fräulein von Dülberg.« Damit verabschiedete er sich, um den vorhin unterbrochenen Gang durchs Haus fortzusetzen.

Nach allen Seiten in Anspruch genommen, kam er dann eine Weile nicht zu sich selbst. Erst allmählich befiel ihn die Erkenntnis einer merkwürdigen inneren Ausgebranntheit und einer Müdigkeit der Glieder, einer Gebremstheit aller Arbeitslust. Erst am späten Abend in seinem Zimmer aber gipfelte das alles wieder in einer Art Verzweiflung, wie sie ihn öfters befallen und fragen ließ, wozu denn schließlich all sein bisheriges Leben nütz gewesen.

In den nächsten Tagen mieden sich Donat und Ursula. Wenn sie sich zufällig doch begegneten, erröteten beide und lauschten einander doch nach. Donat aber machte sich keine neuen Hoffnungen. Ursula dagegen sandte die Gedanken auf eine unwillige Reise. Sie machten bei ihrem Bräutigam Besuch, langweilten sich dabei ein wenig, obgleich sie sich sonst zu dem jungen Mann ganz kameradschaftlich gestellt hatte, stellten fest, daß die Wiedervereinigung mit ihm nicht mehr lang anstehen werde, und erwärmten sich nicht, wenn sie auch niemals erwogen, das Wiedersehen könnte hinausgeschoben werden.

Dann – am Tage vor ihrer Abreise, trafen Ursula und Donat im Tannengehölz hinter dem Hotel aufeinander. Es war die dritte Mondnacht, die ihnen leuchtete. Der schmale Pfad, hartgetreten und wie gebohnt, glänzte weiß. Aber die Tannen zu seinen beiden Seiten waren kohlschwarz und standen reglos da, wie riesige Frauen in Trauerkleidern, die ihre Röcke auseinanderbreiten, um etwas zu verbergen, was nicht gesehen sein will.

Ursula Dülberg kam vom Sport. Sie hatte die Kameraden früher verlassen und näherte sich zögernd und unsicher dem Hotel. Sie dachte an ihre Abreise. Sie dachte auch an Donat. Morgen würde er nicht mehr um den Weg sein, um ihren Weg! Warum quälte sie sich deswegen? Was ging er sie an, der ihr einmal, als sie noch ein Kind gewesen, als Kellner über den Weg gelaufen? Sie wollte sich zwingen, über ihn zu lächeln. Aber sie brachte es nicht fertig. Es tat ihr zu leid, daß – sie ihn vielleicht nie mehr sehen würde.

In diesem Augenblick erschien Donat auf dem Pfad, auf dem sie daherkam.

Er wollte nach den Ställen hinüber, die zum Betriebe Allmendingers gehörten. Nun wurde er Ursulas so plötzlich ansichtig, daß er nicht zurückweichen konnte. Und der Weg war schmal; es ging auch nicht leicht, daß eines das andere vorbeiließ. Unwillkürlich standen sie still.

»War die Fahrt gut?« fragte Donat.

Ursula nickte.

Dann dachten wohl beide daran, daß das vielleicht das letzte Zusammentreffen sei, und sie schwiegen, suchten nach Worten, wußten, wie lächerlich es sei, hier zu stehen und nichts zu sagen, und verfielen dann doch in eine heimliche Freude an diesem stummen Beieinanderstehen. Und allmählich merkte eines am andern diese Freude und glaubte etwas zu vernehmen, was wie des andern Herzklopfen war.

Endlich sagte Ursula mit einer leisen, dunklen Stimme: »Morgen ist nun mein Reisetag.«

Donat fühlte wieder, daß sie lieber nicht gehen würde. »Schade«, sagte er und dann, die Hand ausstreckend, ein wenig traurig: »Ade, Fräulein Ursula.«

Sie gab ihm auch ihre Hand. Und dann beugten sie sich beide gegeneinander, fast steif, fast, als ob es nur eine Zeremonie sei, und küßten sich. Die Lippen streiften sich nur. Aber der Kuß war ihnen wie ein Symbol: Nun hatten sie sich gerade noch einmal gesehen, gestreift im Vorübergehen. Nun würden sie wohl einander nicht mehr begegnen.


 << zurück weiter >>