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Menschlichkeit im Vorübergehen

Um halb elf ist der Advokat Wildberg mit seinen Verhandlungen beim Civillandesgericht fertig. Er steigt die breite Treppe des Justizpalastes hinunter. Vor ihm liegt, in hellstem Licht, durchglänzt von der Vormittagssonne, die Ringstraße. Das bißchen Gartenanlage, nachmittags im Schatten nur ein armseliges, künstliches bißchen Grün mit drei, vier Paradebäumen, vor denen weiße botanische Titeltäfelchen in den Boden gesteckt sind, sieht jetzt im lichtreichen Gefunkel der Vormittagssonne wie eine wirkliche, helle, grüne Wiese, ein Stück Natur aus. Jedes Blatt der exotischen Bäume ist von Sonne durchleuchtet, jeder Grashalm strahlt im Licht ...

Selbst der Advokat Wildberg steht einen Moment ganz geblendet da. Schließlich ist aber das Bewußtsein, heute Vormittag keine Tagfahrt, keine Verhandlung, keine Konferenz mehr zu haben, angenehmer wie alle diese »Wunder des Lichts«, an die ein Autor, aber kein Hof- und Gerichtsadvokat denkt. Aber ein bißchen verändert werden auch die Advokaten in der flutenden Herbstsonne. Herr Dr. Wildberg geht unwillkürlich ganz langsam über den Franzensring. Er spürt, ohne daß er sich es sagt, daß ihm das Parlamentsgebäude heute, in der Grelle des Lichtes, strahlend weiß und die Tramwaywaggons brennend rot vorkommen. Dabei denkt er an diesen hübschen Fall, der morgen Nachmittag um ein Viertel vier oder um vier Uhr in der Causa Zelesny-Hofbauer vor die Berufungsinstanz kommt. Aber ebenso wie sein Gang langsam und beschaulich geworden ist – kompromittierend langsam, als ob er gestern erst seine Kanzlei eröffnet hätte – so kommen seine Gedanken in Causa Zelesny-Hofbauer nur ganz langsam vorwärts. Vor dem Rathauspark spuken sogar die herbstlich gelbroten Bäume – sie sind so auffallend – mitten in die Gedanken über die Causa Zelesny-Hofbauer hinein.

Vor der Universitätsrampe muß er einen Moment stehen bleiben. Da schreitet ein junges Mädchen in engem, dunkelblauem Tuchkleid, aber mit einem revoltierend weißen Strohhut herunter ... Die Gedanken an die morgige Berufungsverhandlung stürzen plötzlich in eine Gehirnversenkung. Das Fräulein im englischen, blauen Kleid marschiert darüber hinweg ... Unwillkürlich bleibt der Advokat Wildberg stehen, sieht ihr nach, wie sie schwebenden Schrittes in der Lichtwelt der Ringstraße verschwindet, sieht ihr blinzelnd nach, so gut man eben in dieses Meer von Sonnenlicht schauen kann – das violette Seidenband des Strohhutes strahlt noch herüber – kann sich gar nicht trennen, sieht hinaus und sieht ... Ganz allmählich rappelt sich wieder behutsam die Causa Zelesny-Hofbauer auf, steigt leise aus der Gehirnversenkung – das Fräulein ist schon ganz verloren im Gedränge der Entfernung – und beginnt sich breit zu machen. Jetzt erhebt sich deutlich der § 76 der Gewerbeordnung im Kopfe des Advokaten, und Herr Dr. Wildberg sieht sich plötzlich im Geiste schon in dem Verhandlungssaal Nr. 3 des Civillandesgerichtes. Vor ihm sitzen die fünf Richter, welche immer zu schlafen scheinen. Je leidenschaftlicher er, Dr. Wildberg, schreit, desto tiefer scheinen die Richter in sich zu versinken. »Meine Herren,« ruft er von seinem Anwaltstuhl aus, »der § 76 der Gewerbeordnung sagt ausdrücklich, daß eine vorzeitige Entlassung nur aus fünf, gesetzlich genau präcisierten Gründen erfolgen darf. Wenn daher Herr Hofbauer so frei war, den Kläger ...«

In diesem Moment erwacht der Advokat, denn jemand sagt hinter ihm:

»Servus, Dr. Wildberg!«

Wie mit einem Handstreich weggewischt, verschwindet der Fall Hofbauer.

»Servus, Herr Kollege!« antwortet Wildberg.

Die beiden Advokaten stehen am Schottenthor.

»Prachtvoller Tag,« sagt der Angekommene.

»Ja – prachtvoll. Bin schon fertig mit meinen Verhandlungen. Wohin gehen Sie?«

»Ich? Ins Schwurgericht, will nur den Dr. Buchwald anhören. Früherer Concipient von mir. Kommen Sie mit!«

Ja, Dr. Wildberg geht mit. »Ist denn was los?«

»Nichts besonderes. Ich glaub' ein Kindesmord.«

Die Universitässtraße ist noch hell und licht. Erst von der Ecke an, wo das düstere Gebäude des Landesgerichtes in seiner massiven Wuchtigkeit sich erhebt, wird es schattig, enge, lichtlos ...

Der Justizsoldat läßt die Eintretenden nicht durchs Thor treten. Erst auf das Losungswort »Barreau« hin fährt er zurück: »Bitte sehr.«

Der Schwurgerichtssaal ... Grau und kahl liegt er im Zwielicht da, als ob diese Erde ohne Sonne wäre. Von Wundern des Lichtes kann da keine Rede sein, eher von der Pein der Dämmerung. Niemals – das ist keine dichterische Wendung! – kommt hierher echtes, ungebrochenes Sonnenlicht! Diese schwarzgrauen, kahlen Wände athmen Kälte aus.

Gleich in der Thüre hören die beiden Advokaten ein langanhaltendes Wimmern.

»Stimmt! Es ist die Kindesmörderin,« flüstert der Kollege dem Dr. Wildberg zu.

»Wir schreiten nunmehr zur Vernehmung der Zeugen.« Das ist die Stimme des vorsitzenden Landesgerichtsrates Riegl. Eine Stimme, kalt wie dieser fürchterliche Saal, geradezu die Stimme dieses Saales, in welchen niemals das ungebrochene Licht der Sonne dringt ...

»Nur keine Scenen!« ermahnt der Vorsitzende das kleine böhmische Weib auf der Anklagebank, »hätten Sie früher für Ihr Kind so viel Thränen gehabt, dann würden Sie heute diesen Überfluß an Thränen nicht benötigen!« Die kleine Böhmin schluchzt noch ärger. Offenbar hat sie von den scharfen Bemerkungen des Vorsitzenden nicht die Worte, sondern nur den spitzen Ton der Stimme verstanden. Diese spitze Stimme, welche sich einritzt in das Gehör des Zuschauers ...

»Also,« setzt der Vorsitzende mit absichtlichem Gleichmut fort, indem er sich über das endlose Schluchzen hinwegsetzt, »es handelt sich darum, ob dem Kinde der Hals mit dem Taschentuch zugeschnürt, das heißt also, ob das Kind von seiner Mutter erdrosselt wurde, oder ob das Halstuch dem Kinde nur einfach kräftig – allerdings ich muß schon sagen, sehr kräftig – umgebunden wurde. Für das eigentliche Aussetzen des armen Hascherls ist das natürlich fast bedeutungslos!«

Im Zuschauerraum sitzen keine zwanzig Leute. Es entsteht kein Gemurmel nach den pointierten Worten des Vorsitzenden. Die Berichterstatter können nicht »Bewegung im Publikum« notieren. Vielleicht geht der mitleidvolle Satz des Vorsitzenden ganz verloren für die Öffentlichkeit.

Auch die Advokatenbänke sind leer. Nur Dr. Wildberg und sein Kollege sind da.

»O je, wenn der Riegl Mitleid zeigt, dann geht's ihr schlecht,« flüstert der Kollege.

»Geben Sie zu, daß Sie dem Kinde das Tüchel umgebunden haben?« fragte der Vorsitzende die Angeklagte.

Diese blickt aus ihrem großen, bunten Bauernkopftuch in die Höhe, steht auf, fängt wieder zu plärren an.

»Ob Sie ihr das Tüchel um'bunden haben, sollen S' sagen!«

Um besser verstanden zu werden, redet er im Dialekt.

– »Ja,« sagt die Angeklagte.

»Na also! Sehen Sie, wir kommen der Wahrheit immer näher!« Seine Stimme klingt jetzt satt, voll Befriedigung, als ob er das große Geständnis schon am Zipfel hätte. »So, jetzt sagen Sie uns noch, war das Tüchel zusammengedreht oder nicht?«

Blöde blickte die Böhmin auf den Richter. Diesen Ton in der Stimme und also die ganze Frage versteht sie nicht. Was meint er denn mit der guten Stimme? ... Der Vorsitzende merkt, daß es jetzt mit dem Geständnis noch nichts ist.

»Antworten Sie doch!« Die Geschwornen sollen die hartnäckige Gereiztheit im Ton dieser Aufforderung bemerken.

Jetzt fühlt die Böhmin, daß der Vorsitzende wieder ganz böse redet und bricht aufs neue in Thränen aus.

»Sie müssen nämlich, meine Herren Geschwornen, wissen, daß man auch ein Tuch als Strangulierungsmittel benützen kann!« Bei diesen Worten nimmt der Vorsitzende ein rotes Halstuch vom Gerichtstisch und beginnt es mit brillanter Schnelligkeit zu falten, zu winden, zu drehen, bis ein ganz erstaunlich dünner Strang, Strick könnte man sagen, daraus geworden ist.

»Produzieren könnte er sich mit diesem Kunststück!« flüstert der eine Advokat dem Dr. Wildberg zu.

»Hat das Tüchel also so ausgesehen?« fragt der Vorsitzende, indem er seine Stimme auf »harmlose Neugier« instrumentiert.

Aber das ist auch der kleinen Krowotin zu viel: »Na! Nicht wohr!! Nicht so!!!« schreit sie heftig.

»Sie brauchen gar nicht so zu schreien,« unterbricht sie hart der Vorsitzende, »wir verstehen Sie auch so! In diesem Saal wird nicht geschrieen! Verstanden?!«

» Dr. Wildberg, entschuldigen Sie, ich muß gehen. Halb eins ist es!« flüstert der eine Advokat.

»Halb eins? Schon? Da gehe ich mit Ihnen! ... Aber warten Sie ein bissel. Jetzt will ich nicht gehen!«

Sie bleiben noch.

Von nun an ist die Angeklagte für den Vorsitzenden nur mehr Luft. Er sieht über sie hinweg, bemerkt nicht, wenn sie aufstehen will, um etwas zu sagen. Aus! Sie existiert nicht mehr ...

Der erste Zeuge wird vorgerufen. Er hat das Kind im Gebüsch der Praterauen bemerkt.

Die kleine Krowotin spürt, daß niemand mehr sich um sie kümmert und bricht deshalb wieder in Thränen aus.

»Jetzt gehen wir! Das ewige Platzen ist ja nicht anzuhören,« flüsterte der eine Advokat dem Dr. Wildberg energisch zu.

Die Advokaten treten in die Alserstraße hinaus. Diese dumpfe, von Zinskasernen beschattete Straße scheint einem luftig und licht, wenn man aus dem Schwurgericht kommt.

»Justament bin ich nicht weggegangen, wie er sie einfangen wollte!« sagt Dr. Wildberg.

»Was haben Sie davon? Gerettet haben Sie sie nicht. Glauben Sie, die kommt ihm aus?«

»Na ja, das ist richtig. Dieser Riegl ist doch der ärgste. Man hätte eigentlich gar nicht weggehen sollen.«

»Schön ... Sie sind ein Idealist und haben keinen Hunger. Aber ich! Gehen Sie in den Riedhof speisen?«

»Nein. Volksgarten. Im Sommer! Es ist beinahe wie am Land dorten.«

»Schön. Auf Wiedersehen, Herr Kollega!«

Dr. Wildberg geht allein über den Franzensring. Dieser Riegl geht ihm doch im Kopf herum. Wenn er den einmal erwischt! Mit dem wird's noch was geben! ... Wie würde er sich dieser böhmischen Bäuerin angenommen haben! Wenn sie aufstand, blöde um sich schaute und etwas sagen wollte, wäre er, sofort, auch aufgesprungen: »Bitte, Herr Präsident, meine Klientin will etwas sagen ...« Das Halstüchelkunststück hätte protokolliert werden können! Na, wenn er einmal mit dem Riegl zusammenkommt! ...

In diesem Moment kam zufällig wieder dieses junge Mädel von Vormittag im blauen englischen Kleid, mit dem revoltierend hellen Strohhut samt violettem Seidenband an ihm vorüber! Sie schwebt vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Aber konnte ihr voll ins Gesicht sehen, ins ovale, vom Alpensommer gerötete Gesicht. Übrigens raffte sie straff anliegend ihren Rock mit der Rechten zusammen, die Linie war nicht übel; Schnallenschuhe, schwarzseidene Strümpfe, ein fast allzu zarter Knöchel ... Ein Air von Gepflegtheit, Wohlstand, Reinheit ging von diesem Mädchen aus ...

Wieder verankerte sich sein Blick an ihr, unwillkürlich mußte er ihr im Lichtmeer nachsehen, solang er konnte. Als sie ihm endlich entschwand, fiel ihm sofort wieder die Causa Zelesny-Hofbauer ein, die morgige Berufungsverhandlung und der § 76 der Gewerbeordnung.


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