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Soldatenmißhandlung

Der Opernsänger Reichel und der Hausherrnssohn Zwierina waren auf vier Wochen zur Reserve einberufen. Am zweiten Samstag konnten sie endlich um 7 Uhr aus der Kaserne gehen. Sie eilten nach Hause, warfen sich in ihre eleganten Civilkleider – im bürgerlichen Leben waren sie ja keine »Gemeinen« oder »Gefreiten«, sondern füllten höhere Chargen der bürgerlichen Gesellschaft aus –, besuchten das Variété der kleinen Stadt und landeten gegen 11 Uhr nachts in dem kleinen Kaffeehaus, das neben dem Variété war. Da sitzen sie in einer Nische, strecken die müden Beine von sich, rauchen und plaudern.

»So ein Leutnant in einer kleinen Stadt,« sagt der Opernsänger, »ist unter diesen Kleinstädtern doch der einzige bessere Mensch, da hält er sich gleich für einen Herrgott und maltätiert also alle. Aber das heute mit dem Bartuschek, das war wirklich schon das Niederträchtigste. Hundert Kniebeugen hat er den Bartuschek machen lassen! Hundert!! ... Ein elender Kerl!«

»Aber, bitt' Dich, dem Zierer hat er vor drei Tagen mit dem Säbel einen Hieb über die Hand gegeben, daß der kleine Finger nur so herunterhing. Ich halte ihn übrigens für wahnsinnig. Er ist nicht einmal schlecht, er ist nur einfach wahnsinnig. Deshalb ist er ja dann, wie er zur Besinnung gekommen ist, zum Zierer hingegangen, hat ihn förmlich um Verzeihung gebeten und hat dem armen Hund drei Zehner geschenkt.«

»Larifari, er hat eben eine Anzeige gefürchtet.«

»Siehst, das glaub' ich nicht,« sagt Zwierina lächelnd. »Davor braucht er sich nicht besonders zu fürchten, und dann hab' ich auch sein Gesicht bemerkt, wie er den herunterhängenden, blutüberströmten Finger Zierers ansah. Er war wirklich bestürzt, es hat ihn wirklich leid gethan, das hat man ihm angesehen. Deshalb hat er auch drei Zehner gegeben, obwohl er doch mit einem Fünfer diesen armen Hund hätte kaufen können.«

In das Café tritt jetzt eine große Gesellschaft. Die Glasthür bleibt fünf Minuten ununterbrochen offen, immer neue Gäste strömen herein, Herren und Damen. Die Damen in lichten Sommerkleidern mit Riesenstrohhüten am Kopf. Alle sehr laut, lachend, durcheinander schwätzend, ohne sich um das Aufsehen zu bekümmern, das sie in dem kleinen Café hervorrufen. Eine auffallende Gesellschaft, die man gleich als Theaterleute erkennt.

Zwierina und Reichel schauen zu, wie die Gesellschaft in der Mitte des Cafés Platz nimmt. Sie prüfen die »Weiber«, entkleiden sie förmlich in einem Augenblick und einigen sich, ehe sie's noch sagen, auf eine große, schlanke, in einem englischen Drapkleid.

Plötzlich flüstert der Hausherrnssohn dem Reichel ins Ohr: »Du, schau einmal dort vis-à-vis ins Fenster. Kennst ihn?« Da sitzt, man erkennt ihn nicht gleich, denn auch er ist in Civilkleidern, der Leutnant. Er hat Briefpapier und Tinte vor sich, die Feder in der Hand, schreibt und schreibt. Jetzt blickt er auf, erhebt sich und verneigt sich vor der großen, schlanken im englischen Drapkleid. Im nächsten Moment sitzt er wieder, schreibt und schreibt.

»Dieser Schuft!« sagt der Opernsänger, »er erinnert sich gewiß nicht, daß der Baumgartner jetzt im Einzelarrest sitzt.«

Der Leutnant ist mit dem Brief fertig, schiebt ihn in ein Couvert, klebt es zu und ruft den Piccolo.

Die Theatergesellschaft macht einen fürchterlichen Lärm. Ein besoffener Komiker will Couplet singen, besinnt sich aber nicht auf den Text und brüllt nur die Melodie. Das ganze Lokal wird erfüllt von dem Gläserklirren, Lachen und Schwätzen der Schauspieler.

Bei dem Leutnant steht der Piccolo und hat schon den Brief in der Hand.

»Da bin ich aber doch neugierig. Paß auf!« Bei diesen Worten zupft der Opernsänger seinen Freund am Ärmel: »Da geht etwas vor!« Gespannt blicken die Reservisten auf die Große, Schlanke im englischen Drapkleid. Richtig kommt der Kellnerjunge zu ihr hin, übergiebt ihr den Brief und wispelt ihr etwas zu. Gleichmütig nimmt sie den Brief und steckt ihn ungelesen in die Tasche.

Der Leutnant macht ein Gesicht – »wie Zierer, als ihm der kleine Finger abgeschlagen wurde,« sagt der Opernsänger.

»Du, bitt' Dich, schau nicht fortwährend hin,« rät Zwierina, »er wird's bemerken.«

»Jetzt?« lacht der Opernsänger, »jetzt traue ich mich, vor ihm auszuspucken, und er bemerkt es nicht! Siehst Du denn nicht, wie der auf die Große, Schlanke schaut? Er kann ja gar nicht wegschauen!!«

Zwei Minuten später fällt vom Tisch des Leutnants eine Bierflasche krachend zu Boden. »Hast Du's bemerkt?« flüstert Zwierina dem Reichel zu, »er hat sie absichtlich hinuntergeworfen.« Reichel nickt und lacht. Selbstverständlich, nicht das Geringste entgeht ihm heute Abend. Er ruft den Piccolo und drückt ihm eine Krone in die Hand.

»Sie, nicht wahr, sonst kommt der Leutnant gewöhnlich mit der Großen, Schlanken her?«

»Ja.«

Mehr braucht Reichel nicht zu wissen. Er reibt sich die Hände: »Na ja, recht hat er, daß er sich gift'! Wenn sie nicht einmal seinen Brief liest!«

Das Gelächter war schon nicht mehr zum Aushalten. Jetzt schreitet der Komiker, sein Champagnerglas in der Hand, auf die Große, Schlanke zu – die ganze Gesellschaft horcht gespannt –, beugt das Knie und sagt in komisch-pathetischem Ton: »Mizzi, wollen wir die Bruderschaft mit einem Kuß besiegeln?« Blitzschnell richtet er sich auf und drückt ihr einen Kuß auf die Wange. Wieder ungeheures Gelächter.

Der Leutnant liest Witzblätter. Sehr rasch, in drei Sekunden hat er eine Zeitung durchflogen und schmeißt sie auf einen Sessel neben sich hin. Nach einiger Zeit erhebt er sich, geht auf die Theatergesellschaft zu, lüftet den Hut und fragt, ob er da Platz nehmen dürfe.

»Dorthin!« ruft die Schlanke rasch und deutet mit dem langen Zeigefinger auf einen Platz am anderen Ende des Tisches. Folgsam setzt sich der Leutnant hin, mit einem Gesicht ...

»Wie Zierer,« sagt der Opernsänger und kann mit dem Lachen über den Vergleich der beiden Gesichter gar nicht aufhören.

Der Leutnant nimmt an dem allgemeinen Gespräch nicht teil.

»Na ja, mit dem Komiker nimmt er's nicht auf.« Förmlich mitleidig wird der Hausherrnssohn.

Immer neues Gelächter ruft der Komiker, der jetzt neben der Großen, Schlanken sitzt, hervor ... Der Leutnant ist ein bißchen blasser als sonst.

Die Theatergesellschaft ruft: »Zahlen!« Allgemeines Sesselrücken, Aufstehen, Hutaufsetzen. Im Trubel nähert der Leutnant sich der Schlanken, flüstert ihr etwas zu. Auf ihrer Stirn entsteht eine große Zornfalte. Sehr laut sagt sie: »Nein!« Noch etwas flüstert der Leutnant. Da stampft die Schlanke zornig auf den Boden, der harte Holzstöckel klingt durchs ganze Lokal, ihr ganzes wütendes Gesicht sagt dazu: »Justament! Ich mag nicht!!« Jetzt gehen alle fort, die Große, Schlanke hängt sich in den Arm des Komikers. Wieder bleibt die Glasthür des Cafés fünf Minuten lang ununterbrochen offen, wieder blickt alles auf die Abziehenden ...

Der Leutnant ist nicht mitgegangen. Er hat sich wieder in die Nische gesetzt. Briefpapier und Tinte stehen vor ihm. Er hält die Feder in der Hand, aber er schreibt keine Zeile. Wie geistesabwesend sitzt er da.

Reichel sagt: »Jetzt sieht er schon nicht mehr wie Zierer aus, sondern schon so wie Bartuschek, der hundert tiefe Kniebeugen machen mußte.«

Auch Reichel und Zwierina gehen. Der Leutnant sitzt noch immer in seiner Nische, die Feder in der Hand, und vermag keinen Buchstaben zu schreiben ...

Am nächsten Tage aber erhielt ein Reservist vom Leutnant einen so heftigen Stoß mit dem Stiefelabsatz in die Magengegend, daß er ohnmächtig fortgetragen werden mußte. Diesmal bat der Leutnant nachträglich nicht einmal um Entschuldigung.

 


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