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I

Im Kirchendunkel flackerten golden die Kerzenflammen, Vitus Venloo stand ganz versunken. Um das Grab des Heilands, der alljährlich um diese Zeit von neuem gegeißelt und bespien wurde, um in bitterem Leiden und Sterben die sündige Menschheit zu erlösen, leuchteten die wassergefüllten Glaskugeln, von verborgenen Öllämpchenflammen durchglüht, stahlblau, feuergelb, violrot, mondweiß, scharlachen und smaragdgrün. Am Hochaltar funkelten fünfzehn Lichter auf einem dachartigen Ständer und neben der großen hölzernen Ratsche, die statt der stummgewordenen Glocken zur Andacht rief, hockte ein kleiner Mesnerbub im Chorrock und aß verstohlen Brot aus seiner Tasche. Von oben her zogen tiefe Orgelklänge durch das halbdunkle Schiff der Hofkirche. Die ehernen Ritter in Plattenpanzern und Kettenhemden, die Frauen mit gekrümmten, messingspiegelnden Fingern, Gugeln, Schneppen und Kronen auf dem Haar, wachten in ewiger Starrheit. Das Vorspiel der Orgel setzte aus und zu ihrer wieder erwachenden leisen Begleitung schwoll ein süßtrauriger, vielstimmiger Gesang von Knaben-, Frauen- und Männerstimmen: »A–a–a–aleph.« Vitus Venloo, auf den diese weinenden Töne mächtig wirkten, wußte, daß Aleph, der erste Buchstabe im Hebräischen, den Beginn der Klagelieder des Propheten Jeremias bedeute. Aber trotz dieses Wissens war es ihm, als ob diese steigende und fallende Tonfolge des Gesungenen kein Wort, sondern ein geheimnisvoller uralter Wehruf sei, ein jammernder Schrei aus entsetzlichster Not. In seinem Denken, das die gegen alle Vorschrift seines Glaubens deutsch gelesenen Stellen der Lutherbibel verworren aufbewahrt hatte, tauchte das Bild der Frauen Jerusalems auf und der geschändeten Jungfrauen, die mit nackten Brüsten und blutend in den engen Gassen lagen oder sich unter den rohen Griffen brauner, eisengepanzerter Legionssoldaten wanden, kreischend und mit gelöstem Haar. Er sah mitten unter ihnen das Gesicht der schönen Adelheid Weinschenk, die er heimlich anbetete, sah die Flechten auf dem Haupte einer jungen Magd im Elternhause und das Kindergesicht der Gretl Kluibenschild, deren rotblonder Zopf sich um die braune Faust eines Römers schlang. – Romanus – jener Aslaz hieß mit dem Vornamen Romanus, ein wegen sittlicher Verfehlungen aus dem Gymnasium entlassener Schüler, der ihn, Vitus Venloo, vor zwei Jahren an einem schwülen Sommerabend mit einem häßlichen Knabenlaster bekannt gemacht hatte, dem er freilich in immer längeren Abständen von Zeit zu Zeit wieder verfiel und dann tagelang von Abscheu und Selbstverachtung gequält wurde. Auch jetzt stieg dem Halberwachsenen Schamröte ins Gesicht. Tagelang litt Vitus unter der Vorstellung, als ein Unwürdiger den Leib des Herrn empfangen zu haben. Die Ankunft des Onkels Otto, eines Bruders der Mutter, brachte ihm neben der Ablenkung, die dieser Besuch für ihn bedeutete, auch sonstige Erleichterung. Denn der Onkel, ein weitgereister und vornehmer Mann, machte sich trotz aller Einreden der empörten Schwester vor Vitus über die fromme und frömmelnde Art der Leute hier und über das goldene, klingelnde und weihrauchduftende Beiwerk des Katholikentums in spottender Weise lustig. Die Verehrung, mit der Vitus an diesem Verwandten hing, die unbeschränkte Gewalt, die alle Erzählungen und Aussprüche dieses schönen und großen Mannes ausübten, eines Mannes, der in Amerika, Afrika und Australien gewesen war, zahlloser Zweikämpfe und Liebesgeschichten halber in der ganzen Sippe berühmt und heimlich bewundert war, wirkte förmlich befreiend auf den Knaben, der nun leichten Herzens den Glaubensballast aus seinem Schifflein warf.

So war Vitus auch diesmal nicht in die Hofkirche gegangen, um einem Gott, von dem er sich abgewendet hatte, zu dienen. Er hatte hier ein Stelldichein mit seinem Mitschüler, dem jungen Fritz von Hochschreck verabredet, der ihn bei dem bestimmten Erzbild des Königs Artur treffen und abholen wollte. Vitus sah in der Wartezeit den Sagenkönig genau an und fand mit Befriedigung, daß der dem Onkel Otto Marlemont gewissermaßen ähnlich sah und unter dem metallenen Schnurrbart einen ebenso spöttischen und klugen Mund zu verbergen schien. Bei den weinenden Klängen der Lamentation Palestrin zuckte der alte Glaube dennoch auf – und einmal war es Vitus, als stünde der Heiland bleich und gütig lächelnd zwischen den schwarzen Gestalten und blickte ihn mit strahlenden, milden Augen an –, das war, als die Stimmen oben auf dem Chor den Kehrreim sangen und vorne auf dem Dreiecksleuchter wieder ein Licht gelöscht wurde: »Jerusalem, Jerusalem, bekehre dich zum Herrn, deinem Gott!« Weiche Trauer ging über das Herz des jungen Vitus Venloo. – –

Zwei schwerfällig auf Nagelschuhen stapfende Bauern, der Tracht nach aus dem oberen Inntal, weckten Vitus aus seiner Versunkenheit. Sie kamen zwischen den »schwarzen Manndern«, wie der Volksmund die Rittergestalten aus Erz hieß, hervor und der Jüngling erkannte in einem der beiden das Jesushaupt, das er früher zu sehen glaubte, ein feines, von alter und vornehmer Rasse zeugendes Gesicht mit schönem blonden Bart und hellen, von einem edlen Geiste durchsonnten blauen Augen. Dieses Antlitz hatte ihn angesehen und aus diesen Blicken hatte sich eine unbewußte und aus sich selbst strahlende Herzensgüte ihm mitgeteilt. Er sah diesem Bauern, der von einem plumperen und gewöhnlicher aussehenden Begleiter gefolgt war, so lange nach, bis ein großer und schlanker junger Mensch in hellem Überrock sich vor das Bild der Weggehenden schob. Das Erscheinen Fritz Hochschrecks, auf den er hier gewartet hatte, war für Vitus das Zeichen zu gehen.

Das Licht des Vorfrühlingsnachmittags blendete Vitus trotz des sinkenden Tagesscheins. Vor ihnen lag weiß, im Beginn von der gelben Hofburg und den Stadtsälen eingefaßt der Rennweg, und darüber hinaus erhob sich dräuend und alles Land nach Norden mit einer Riesenmauer sperrend die Bergwand mit vielen Spitzen und Graten und dem wappenartigen Steinbild der Frau Hitt. Über den düster grünen Nadelwäldern lagen graubraun die verlassenen Almen, waren die vielen Hüttlein des Höttinger Hochlagers zum Greifen nahe. Der warme Wind, der in langen Stößen über den Brenner kam, die zerfressenen Schneefelder in den Geröllhalden völlig zerschmolz und in gurgelnde Bergwasser verwandelte, machte die Luft so dünn und klar, daß der Eindruck der Entfernung auf eine zauberhafte Weise aufgehoben war. Alles war in nächster Nähe, Häuser, Berge, einzelne Schirmtannen und Steinblöcke. Der Breccia-Steinbruch bei der Hungerburg sah aus wie die braune Mauer eines zerfallenen Schlosses oder wie eine schwarze Wunde im Leib des Berges. Dünne, zerrissene, spitzenartige Wolkengewebe zogen in langen Strähnen über den Himmel. Der Inn ging sehr hoch, wie man aus seinem dumpfen, weithin hörbaren Rauschen schon entnehmen konnte. In dieser lauen, schweren und namentlich Vitus peinigenden Luft schwammen von einem freien Platz her Hornrufe und Trommelwirbel übender Spielleute. An solchen Tagen litt der Heimatlose, den die in ererbten andersartigen Blutgefäßen und Nerven begründete Widerstandslosigkeit gegen den erschlaffenden Südhauch niederdrückte, meist auch an halbseitigem Kopfschmerz und unbestimmbaren Gefühlen eines großen körperlichen Mißbehagens, genau wie seine Mutter, während dem Vater derartige Wetterlaunen nichts anzuhaben schienen. Sie gingen den Rennweg hinauf, mit dem »Allerwertesten« gegen das Schimpansium gewendet, wie Fritz bemerkte, und betrachteten die Entgegenkommenden, durchaus unbändig und derb in ihren Äußerungen, welche Art zu sprechen ihnen dem Ideal kraftvoller und den rauhen Sitten des Berglandes entsprechender Männlichkeit am nächsten zu kommen schien.

»Mein Alter hat mich gestern schwer beschimpft,« sagte Hochschreck. »Er muß etwas gemerkt haben von der Hercynia. I hab alles abgelogen. Dann hat er mich auf Ehrenwort gefragt, ob ich bei einer Pennälerverbindung sei. Ich habe nein gesagt.«

»Du, das ist aber –« sagte Vitus. In diesem Augenblick zogen sie beide rasch und erschrocken den Hut, weil der Klassenvorstand, der Professor Karfreiter, mit Stock und Absätzen aufstampfend dicht an ihnen vorüber ging. Aus seinem gelben Gesicht mit dem ziegelroten Bärtchen stach ein schiefer, mißtrauischer Blick nach den beiden sehr mäßigen Schülern, die früher oder später ›auf die schiefe Ebene‹ kommen mußten. Er hob kaum den Zeigefinger zum Hutrand. »Ein alter Schuft!« schimpfte Fritz hinter ihm drein.

»Also das Ehrenwort. Paß auf. Erstens einmal haben wir doch beschlossen, daß jeder Hercyne, wenn er von Propheten oder Eltern gefragt wird, ob er bei der Verbindung sei, in diesem Augenblick als ausgesprungen und dem Bunde nicht mehr angehörig zu gelten hat. Also kann er auch ruhig sein Ehrenwort geben, daß er bei keiner Verbindung ist – verstehst du? Bei mir ist die Sache aber noch ganz anders. Einmal schon hat mir mein Alter etwas nicht geglaubt und da hab ich ihm mein Ehrenwort drauf gegeben. Weißt du, was er mir da gesagt hat? Ein Pennälerehrenwort gilt nur unter Pennälern! Also bitte! Wenn das Ehrenwort sowieso nichts gilt, dann ist es ja auch wurscht, wenn es falsch ist. Hab ich nicht recht?«

»Na ja – eigentlich schon,« sagte Vitus, »aber so – verdreht kommt mir das vor, und dann, wenn wir schon so gute und rechte Deutsche sein wollen« – –

»Aber geh! Das ist eben Politik. Und überhaupt, gegen die Gewalt hilft nur List. Übrigens denkt mein Alter nicht mehr daran. I werd lieber schauen, daß ich die Mali drankrieg – unser Dienstmädel. Ein wunderbares Weib, sag ich dir! So – –« Er machte eine eindeutige Handbewegung nach der Brust.

»Ach die Weiber – –« sagte Vitus mit inniger Verachtung.

»Was darfst denn du reden,« eiferte der andere, »hast ja noch keine gehabt – –«

»Du vielleicht?«

»Das glaub ich.«

»Ja, ich weiß schon, das Mensch in Sankt Nikolaus, das gilt nicht, die kann jeder haben, der will. Daß dir nicht gegraust hat?«

»A no! Die war ganz nett. Aber die Mali wär schon etwas anderes – oder die Kluibenschild, die da kommt!«

»Solche Mädeln, die sind doch nicht zu haben!« Vitus wurde rot und schaute scheu den Backfisch an, der ihnen entgegen kam, ein hübsches Kind mit Stupsnase und dickem rötlich-goldenen Zopf.

»Da schau, der Herucker steigt ihr nach!«

Und richtig ging in achtungsvoller Entfernung hinter dem jungen Ding ihr engerer Genosse und Mitschüler Johann Herucker, der Dichter, den Hut in der Hand und mit der Linken in seinem nach aufwärts gekämmten dunklen Haar wühlend. Auf der großen Hakennase saß eine Brille und ein Schnurrbärtchen beschattete die Oberlippe des langen und schmalbrüstigen Gymnasiumschülers, auf dessen abfallenden Schultern der lodene Wettermantel wie auf einem Kleiderstock hing.

Sie grüßten, riefen »Servus« und drehten sich nach dem Mädchen um. Ihr Blut war voll von den Qualen unbefriedigter Reife. Die zehrende Sucht, es den Erwachsenen gleich zu tun, trieb sie schmutzige Redensarten zu gebrauchen und ihr Verlangen in Worte zu kleiden, die ebenso entstanden wie jene einfachen und schamlosen Inschriften und Bleistiftzeichnungen auf Planken und in öffentlichen Bedürfnisanstalten. Der heiße Wind, das unferne Tosen des Flusses, der herbe Geruch von frischer Ackererde und kreisendem Saft im Bast der Bäume und Sträucher regte sie auf und machte ihr Blut schwer. Und immer wieder stießen wie unsichtbare Raben die demütigen Gedanken an ihr Schuljungendasein, ihre Rechtlosigkeit und Schwäche, die Angst vor Entdeckung verbotener Heimlichkeiten, nicht gemachter Hausarbeiten und kleiner Schulden auf sie nieder. Vitus litt stärker unter diesen Gefühlen als der weniger empfindliche Fritz von Hochschreck, obwohl dieser in seinem von Natur aus kühlen, hochmütigen und in Standes- und Staatsrücksichten eingesponnenen Vater, einem hohen Regierungsbeamten, eher eine strenge Aufsichtsperson als einen einsichtsvollen liebenden Freund und Berater sehen mußte, im Gegensatz zum Freunde, den elterliche Güte wie ein warmer Mantel einhüllte.

»Hast du Geld?« fragte Fritz, »dann könnten wir ins Löwenhaus gehen. Das Bier ist gut und das Moidele ist ein fescher Besen.«

»Achtzig Kreuzer – wart, neunzig sind es. Das langt schon.« Vitus steckte die aus schwarz-rot-gelben Seidenfäden gehäkelte Börse wieder ein. Sie gingen dem Rauschen des Flusses zu, zwischen uralten, knorrigen Pappelstämmen, und sprachen über das, was ihnen das Wichtigste auf Erden schien, über die Verbindung »Hercynia«, den geheimen Verein am Obergymnasium, dem sie mit Leib und Seele angehörten, über drohende Gefahren, die namentlich in den beständigen Kundschaftergängen des Direktors Dr. Eierweiß bestanden und über die häuslichen Schicksale der Verbindungsgenossen. Da war einmal der Vinzenz Plöchhammer, der auf Wunsch seines Vaters, eines alten Schmiedes, nach Entdeckung seines Farbenbandes ausgetreten war, dann der Sohn des Oberlandesgerichtsrates Malzey, dem sein Vater auch das bescheidenste Taschengeld entzogen hatte und der nun auf Kosten der Verbindung die Kneipe besuchte. Fritz erinnerte Vitus an die bevorstehende Wahl der Chargierten, versicherte, daß er, Spadini, Herucker und Malzey ihm, Vitus, ihre Stimme bei der Seniorswahl geben würden und fügte dann in einem Atem hinzu, Vitus möge ihm einen Gulden leihen, damit er der Mali eine Brosche kaufen könne. Sie standen vor der Tür des Vereinszimmers.

»Weißt du, vielleicht pumpt dir deine Alte den Gulden,« sagte Fritz eindringlich, »am Ersten geb ich ihn dir sowieso zurück.« Sie traten in das halbdunkle, nach saurem Bier und kaltem Pfeifenrauch duftende holzgetäfelte Zimmer und setzten sich. Außer ihnen schien niemand anwesend zu sein. Eine alte häßliche Kellnerin erschien, maß die beiden jungen Leute geringschätzig von oben bis unten und fragte dann kurz:

»Wos kriagn's denn?«

»Zwei Halbe Bier und zwei Paar Würschtln mit Kremser Senf,« sagte Vitus.

»So? Würschtln?« sagte die Kellnerin und machte böse Augen. »Seid's koane Krischtn? I moan heint war Griendonnerschtag?«

Fritz fragte nach der sonst hier tätigen hübschen Kellnerin.

»Des secht's ja, daß die Moidl heint net do ischt.«

Gleich drauf brachte sie in zwei Glaskrügen mit bunt bemalten Deckeln das dunkle Bier, rechnete sofort ab und steckte ohne Dank das kleine Trinkgeld ein.

»Prost Blume!« sagten beide gleichzeitig und stießen die Gläser auf den Tisch.

»Immer muß ich an die verfluchte Mali denken,« seufzte Fritz. »Ich glaub, sie hält mich zum Narren. Aber den Gulden pumpst du mir, gelt?«

»Wenn's geht – ja,« sagte Vitus und sah im Geiste ein dickes Weib mit ungeheuren Brüsten vor sich. Aber dann erschien die gelbe verkniffene Fratze des Krax, des Klassenvorstandes, der ihm mitteilte, daß er, Vitus Venloo, sich bereits ›auf der schiefen Ebene‹ befinde. »Wenn er mich nur aus Griechisch nicht schmeißt!« sagte er laut.

»Mir geht's beim Kotz schlecht!« Kojnar hieß so, der Professor aus Mathematik, in Wahrheit ein namhafter Gelehrter, der auf seine Berufung an eine Hochschule rechnete. Er war leberleidend und es machte ihm wenig Freude, sich mit dem dürftigen Lehrstoff und lernunlustigen Buben abzugeben. Hochschreck war in Mathematik einer der Schwächsten.

Umständlich zog Hochschreck eine neue Porzellanpfeife aus seiner Tasche und genoß die Bewunderung, die Vitus dem Kunstwerk eines Jenenser Wappenmalers entgegenbrachte. »Hercynia sei's Panier!« stand über dem fahnenumwallten, helmgekrönten Schild, das vier Felder umschloß, ein blau-rot-goldenes, eines mit dem Gründungstag und dem Wahlspruch, ein blaues Feld mit einer goldenen Leier und ein rotes mit einer silbernen Brücke, dem Wahrzeichen der Stadt. Die jungen Leute berauschten sich an dieser Pracht von Farben und Gold, und Hochschreck, der mit gehobenen Gefühlen beizende Rauchwolken von sich blies, sah immer wieder seine schöne Pfeife an, die in einer postlagernden Nachnahmesendung angekommen war.

»Das weißt du ja, daß der Eierwecke gesagt hat, er wird die Anstalt schon reinigen von den Preußenseuchlern und Deutschnationalen,« sagte Vitus und zündete sich eine Zigarette an, »damals, wie er dem Spadini acht Stunden Karzer gegeben hat, wegen dem Bismarckkopf an der Uhrkette – –«

»Der Wex, der Esel, ist wie mein Alter. Wenn er den Namen Bismarck hört, kriegt er Bauchweh und verrichtet eine Reinigungsandacht vor seinem Ritterkreuz am roten Bande. Der Zeindl ist weit anständiger. Der hat gesagt, auch beim Gegner dürfte man nicht versuchen, durch Schmähworte seine Bedeutung herabzusetzen. Da hat er den Luther gemeint.«

Es wurde dunkler im Zimmer. Vitus, dessen niederdeutsches Blut einen Schuß romanischer Fähigkeit zum raschen Aufbrausen und Überschäumen hatte, erging sich in kräftigen Worten, mit denen er seine sehr jugendlichen und unverständigen Ansichten über Religion, Staat und Liebe verfocht und dabei Ausdrücke gebrauchte, die seinen sofortigen Ausschluß aus sämtlichen Mittelschulen des in dieser Hinsicht wohlüberwachten Staates zur Folge gehabt hätten. Auch hier waren solche Reden unvorsichtig genug, denn hinter einem Pfeiler, ganz im Halbdunkel des Raumes verborgen, hatte ein erst wohl unfreiwilliger, später aber offenbar aufmerksamer Lauscher gesessen, dessen bäuerliches Gemüt durch die ihm als Lästerungen erscheinenden Reden so junger Burschen in Erregung geriet. Auf einmal hob er sich schwer und finster aus dem Dunkel ab und rief:

»Ös Rotzbuabn! In Hintern sollt man enk verplöschn! Schaugts, daß außifindetst beim Loch, sunscht hilf i enk auße!« Und die alte Kellnerin stürzte herein. »Jesses Maria – wos ischt denn gor mit de zwoa, Zeindl – wos ischt denn?«

Vitus und Fritz verließen eilig das Zimmer. Sie wußten ohne Überlegung, was ihnen bevorstand, wenn sie erkannt oder festgehalten wurden.

Erst in einiger Entfernung vom Brauhaus drehte sich Hochschreck um und rief: »So ein Schweinekerl!«

Sehr niedergedrückt von dem leichtsinnig heraufbeschworenen Auftritt und nicht ohne Angst vor den immerhin möglichen Folgen gingen die beiden den Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Luft, die ihnen entgegenwehte, schien aus einem Backofen zu kommen, Staub und allerlei leichter Abfall flog ihnen in Gesicht und Augen. Sie betrachteten die Mädchen, in deren Röcken sich der Wind verfing, wurden leutselig vom Vandalen-Fuchsmajor Höllberth angesprochen, der zugleich »Alter Herr« ihrer Schülerverbindung war und freuten sich, daß andere Gymnasiasten sie mit dieser rosa Mütze stehen sahen.

Dann kam Herucker wieder den Rennweg herauf und schloß sich ihnen an. Ob sie schon wüßten, daß der alte Malzey seinen Sohn mit der Hundspeitsche durchgeprügelt habe? Der Naturgeschichtsprofessor di Grappa, Graps benannt, habe dem Alten ein Heft Malzeys zugesendet, in dem sei die Austria gezeichnet gewesen, die als geschminkte Dirne mit einem ungarisch verschnürten vielgeflickten Janker, einem italienischen Banditenhut, den zweischwanzigen, mit einer umgekehrten Leimpfanne gekrönten böhmischen Löwen als Schoßhündchen streichelnd, und mit Opanken an den Füßen kehrt daneben der deutsche Michel in zerrissenen Kleidern trübselig den Fußboden, und darunter stand eine Inschrift, in der die Frauensperson den Michel auffordert, nur sauber zu fegen, damit die fremden Herren, für die sie sich schön gemacht, recht zufrieden seien.

»Sie werde sie son sehen, Sie kecke Bursch!« habe di Grappa gerufen. »Ihr err Vater wird Ihnen son austreiben!« Herucker war von tiefer Bitterkeit bewegt, als er dies erzählte.

Dann griff er in die Tasche und zog eine Federzeichnung heraus, die ihm Malzey geschenkt hatte. Sie stellte eine nackte jugendliche Elfe dar, die von einem Waldschrat ins Dickicht gezerrt wird und sich halb lachend, halb ängstlich gegen den Bocksfuß wehrt. Das Bildchen hätte einem Kunstkenner einen Ausruf des Entsetzens entlockt, so wundervoll waren die Gestalten belebt. »Sehr schön – Herrgott, der Malzey!« sagten Vitus und Fritz und hielten fast den Atem an. Herucker steckte das Bild wieder ein.

»Die Elfe sieht aus wie die Kluibenschild Gretl,« sagte Hochschreck, »der ihre Gestalt muß so ähnlich sein.«

Herucker bekam einen feuerroten Kopf und stieß einen zischenden Laut aus, focht mit den Händen in der Luft und erklärte, er verbiete sich solche Äußerungen. – – Er lasse nicht an seine Liebe rühren – sie stehe zu hoch, um in solcher Weise befleckt zu werden. Wer dies tue, müsse ihm Rechenschaft geben – – auf Leben und Tod. Er würde gern für Margarete sterben.

Die hellen Tränen standen ihm in den Augen. Trotz der beruhigenden Worte lief er den Freunden davon, die Universitätsstraße hinauf, mit seinem flatternden Wettermantel wie ein großer magerer Vogel anzusehen.

»Das ist doch seine Flamme,« sagte Vitus vorwurfsvoll. »Jetzt rennt er davon und ich brauch das Bild vom Malzey für die Maly,« rief Fritz. »Du vergiß auch den Gulden nicht!« und schon war er hinter dem gekränkten Herucker her.

Vitus ging langsam und betrübt durch das Burgtor und blieb eine Weile vor einer Kunsthandlung stehen, bis ein Ladendiener die Auslagen schloß. In der Maria-Theresienstraße brannten die ersten Lichter und im Westen lag ein trübes Rot. Eine Glocke begann zu brummen, eine zweite fiel mit tiefen und zitternden Klängen ein und eine dritte und vierte, und dieses schöne, traurige Geläut der Stadt, in der er geboren war, bewegte Vitus immer aufs neue mit seltsamen, unklaren und sehnsüchtigen Stimmungen, die kein Ziel hatten und vielleicht nur Anklänge an verwischte Erinnerungen waren, wie sie jeder Mensch aus den unendlichen Reihen seiner Vorfahren erbt und zeitlebens mit sich herumträgt, ohne zu wissen. Diese Stadt, die er doch von den frühesten Tagen seines Daseins an kannte, schien ihm plötzlich fremd und feindlich, rätselhaft in allem. Da stand an einer Ecke ein einäugiger Italiener, der mit aufgespießten, zuckerüberglasten Früchten und welschen Süßigkeiten handelte und sprach flüsternd mit dem Straßenkehrer Gizi, der einer Sage nach einst Gymnasiast gewesen sein sollte und in tobende Wut geriet, wenn die Bubenschar ihm ihr Spottverslein nachrief: » Venividivici, der Straßenkehrer Gizi.« Wie zwei Verschwörer standen sie im Abenddunkel. Ein Schatten glitt an Vitus vorüber, der Professor Dr. Summerfeld, die Hände mit Stock und Hut auf dem Rücken wie immer, und den buschigen Graukopf mit dem umbarteten, feinen und leidenden Gesicht zur Erde geneigt. Ein Gelehrter, dessen freimütige und wahrheitsliebende Forschungen über gewisse geheiligte Sagen, wie etwa die vom Engel, der den Kaiser Max von der Martinswand rettete, oder vom Ritter Milser, der beim ungebärdigen Verlangen nach der großen Hostie des Priesters bis an die Knie in die Erde sank, übel genug vermerkt worden waren an hoher Stelle und der Erringung eines höheren Lehrstuhles bedenklich im Wege standen. Aber seine Schüler, die sein über den Durchschnitt der Lehrer stehendes geistiges Wesen sehr wohl erkannten, liebten ihn, lachten nur gutmütig über seine kleinen Absonderlichkeiten, vermieden aber alles, was ihn hätte kränken können. Seine Stunden verliefen immer ruhig, freundlich und friedlich. Vitus sah ihm nach, in der Nähe der Triumphpforte stieß er mit einer dicken Magd zusammen, die Bier in einem Glaskrug geholt hatte und nun kreischend aufschrie. Der kropfige Aufseher der Verzehrungssteuer blies den Rauch seiner langen Pfeife in die Luft, und ihm schräg gegenüber lehnte mit blauer Schürze umgürtet und Schlapfen an den bloßen Füßen der feiste Bäcker Ruhsam, der Vitus, den Sohn einer guten Kundschaft freundlich grüßte. Professor Dr. Venloo bewohnte mit seiner Frau und dem einzigen Sprößling ein kleines einfaches Haus, das ziemlich weit von der Stadt und dem angeschlossenen Wilten entfernt, mitten in einem großen, von den Feldern und Wiesen ringsum durch ein hohes Holzgitter abgegrenzten Garten lag. Hier war für Vitus eine andere und ganz eigene Welt, eine Welt, in der selbst eine besondere Sprache gesprochen, anders gegessen und anders gelebt wurde als irgendwo da draußen. Denn Vitus' Vater, der Professor der Kunstgeschichte Venloo, stammte aus Lüneburg und war von der Universität Gießen, an der er sich als Privatdozent einen wissenschaftlichen Namen gemacht hatte, hierher an die österreichische Hochschule berufen worden. Die Mutter war eine Tochter des Kölner Fabriksherrn Francois Marlemont, dessen Vater aus Lille nach Deutschland eingewandert war. Vitus war nun wohl in dieser Gebirgsstadt geboren und aufgewachsen und hatte die Tiroler Mundart, reich an harten Kehllauten und eigentümlichen Worten erlernt, wie eben ein Kind von Dienstboten und Mitschülern sich jede Sprache rasch aneignet, dennoch fühlte er sich immer als Fremder, auch unter wohlgesinnten Freunden. Er fühlte, daß sie anders empfanden und anders dachten als er und er machte schon als ganz kleiner Bub mehr als einmal die schmerzliche Wahrnehmung, daß die anderen ihn erst mit verständnisvollem Staunen, dann aber mit feindseligem Spott behandelten, wenn er die Gefühlswelt, die Bräuche oder Meinungen seines Elternhauses nach außen hin zur Schau trug. Die in jener Zeit noch sehr mißtrauische und allem Fremden von vorneherein abgeneigte Art des Tiroler Volkes, die vielfach in der Abgeschlossenheit der Täler und in unverständiger Verhetzung der gutmütigen, ehrlichen und weltfremden Menschen, teilweise aber auch in der natürlichen Anlage aller Gebirgsvölker zur Eigenbrötelei ihren Grund hatte, schuf in Vitus ein mitunter quälendes Gefühl der Heimatlosigkeit. Um so inniger und wärmer schloß man sich in dem kleinen, aber doch geräumigen und nach eigenen behaglichen Plänen erbauten Hause aneinander an. Hier lag schon in der Sprache eine Welt für sich. Vater und Mutter sprachen ein reines Deutsch, das beim Vater einen leicht nordischen Beiklang, bei der Mutter eine Färbung von singendem Rheinisch hatte. Die Feste des Jahres, die Spiele, die Küche, alle Dinge des täglichen Gebrauches, wie die Einrichtung und Ausschmückung der Zimmer – alles war ganz und gar anders als man es hier zu Lande kannte. Die beständige Berührung mit Verwandten aus dem Reiche, die auf Besuch kamen, Ferienreisen in die Heimatstädte der Eltern und zu Bekannten in Belgien, Frankreich und Holland, zu denen Vitus mitgenommen wurde, ließen dem Knaben die Stadt, in der er lebte, bei aller Vertrautheit doch stets als fremd erscheinen. Dazu kamen noch Überlieferungen aus Großvaterzeiten, die in der Familie heilig gehalten wurden. Außerordentlich wurde auch das geheimnisvolle Band, das den Knaben an die elterliche Heimat fesselte, verstärkt durch die zu allen Zeiten des Jahres eintreffenden Sendungen von geräucherten Gänsebrüsten, deutschen Würsten, Westfäler Schinken, Pumpernickel, Lebkuchen, eigentümlich gewürzten Weihnachtsbäckereien, Kräuterkäsen, Marzipantorten, violettrotem Apfelmus in Fässern und durch manche hier unbekannte Zubereitungsarten des täglichen Essens, die dem Geschmack der Eltern entsprachen. Die Einteilung der Kirchenfeste nach bestimmten Speisen und Leckereien, die in Vitus' jungen Tagen eine große Rolle spielte, trug besonders dazu bei, ihm das Elternhaus als eine ganz besonders köstliche, heimliche und anderen Menschen unzugängliche und verborgene Burg in fremdem Land erscheinen zu lassen, über deren liebe Absonderlichkeiten er mit niemandem sprach. Dazu kam noch die bunte, hier gänzlich fremdartige, dem Knaben aber warm gewohnte Vorstellungswelt, die sich aus Liedern und Märchen zwei verschiedener deutscher Gaue, aus Spielen und Büchern, die schon in der Kinderstube der Eltern gewesen waren, aus Geschichten, plattdeutschen Versen, Erinnerungen, rheinischen Fastnachtsfreuden zusammensetzte. Das ganze Haus war voll von Altertümern, von Gemälden, Silbersachen, geätzten und bunten Gläsern, Tabakspfeifen und Porzellanfiguren, die teilweise noch auf die Zeit des Aldermans Veit Pieter Venloo, der im Jahre 1621 von Brügge nach Hamburg und von dort nach Lüneburg gezogen war, und auf das uralte Seidenweberhaus der Marlemonts in Lille hinwiesen. Die Schule mit ihrer kalten und lieblosen Erziehungsstümperei wirkte vom Anfang an widerwärtig und roh auf den sehr empfindlichen Knaben und erschien ihm als ein schmerzender Eingriff in das stille glückliche Leben, das er bisher bei seinen ungemein zärtlichen Eltern genossen hatte. Eine beständige Angst, die mit den Jahren des Gymnasiums und mit den Schwierigkeiten, die in seinem Entwicklungsalter begründet waren, immer größer und dumpfer wurde, war, wie er manchmal blitzartig erkannte, nichts anderes als die Furcht vor dem unaufhaltsamen Hereinbrechen des Außenlebens mit allen seinen Häßlichkeiten in das Dornröschenschloß dieses Hauses und in die holden Heimlichkeiten seiner dem Jungen so teuren und unersetzlichen Eigenart.

Vitus klinkte die grüne Gartentür auf und ging rasch über den knirschenden Kies.

»Aber so spät, Herr Vitus,« sagte Susanne, das Stubenmädchen. Aus der offenen Küchentür fiel gelbes Licht auf ihr Antlitz. Vitus sah sie zum erstenmal anders an als sonst und erkannte, daß sie ein Muttergottesgesicht und eine sehr zierliche Gestalt hatte. Sie lächelte mit kleinen weißen Zähnen und hob die Hände grüßend an den Kranz dunkler dicker Zöpfe auf ihrem Kopf.

»Hör mal Junge,« sagte Professor Venloo, als Vitus zwischen Vater und Mutter beim Abendessen saß, »du mußt dir etwas mehr Mühe in der Schule geben, wenn wir gute Freunde bleiben sollen.«

»Ich steh ja ganz gut,« sagte Vitus kleinlaut und stocherte mit der Gabel im Essen. Die Brillen des Vaters blitzten.

»Nein, mein Sohn, in Mathematik und Griechisch steht die Sache faul. Also nur keine Redensarten, sondern fest auf die Hosen gesetzt und gelernt.«

»Ja, Papa,« sagte Vitus und kam sich ganz klein und dumm vor.

»Er wird sich schon Mühe geben,« sagte die Mutter und strich mit linder Hand über sein blondes Bürstenhaar. »Bleib nur immer fromm und brav, Vitusche und kümmere dich nicht um die anderen Jungen. Da lernst du nur dummes Zeug!«

Während des ganzen Abendessens hatte Vitus ein unheimliches, schuldbewußtes Gesicht bei der Ahnungslosigkeit der Mutter. Er sah verstohlen von ihrem hübschen lebhaften Gesicht auf die ernsten, etwas leidenden Züge des Vaters, dessen blonder Vollbart schon leicht angegraut war. Aber er senkte rasch den Blick vor den hellblauen forschenden Augen, die ihm oft verrieten, daß dieser ein besserer Kenner seiner Seele sei. Aber auch der Vater konnte nicht wissen, wie es in Wahrheit mit ihm stand. Wenn er ein einzigesmal Gesprächen gelauscht hätte, wie Vitus sie mit seinen Freunden führte! Als der Sohn die Eltern zur Gutenacht küßte, war es ihm, als ob der Kuß seines Mundes, aus dem soviel Unflat kam, ein Verrat und eine Befleckung sei. Er wußte auch, daß jetzt über ihn gesprochen werden würde.

In der Nacht träumte er von Susanne. Sie stand vor seinem Bett in einem weißen Hemd, in dem sich ihre kleinen Brüste abzeichneten und beugte sich über ihn. Er schrak auf und glaubte noch eine helle Gestalt zu sehen, die durch die leise knarrende Tür verschwand. Aber er schlief gleich wieder ein. Häßliche und brünstige Dinge tauchten in wüsten Bildern auf.


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